Sie saß auf ihrem Bett. Um sie herum verteilt lagen Unmengen gefaltete Zettel, Fotos, Kinokarten und noch viele andere Gegenstände. Bei den gefalteten Zetteln handelte es sich um Briefe. Erinnerungen, von denen sie sich nicht trennen konnte. Sollte sie all das nun doch endgültig vernichten? Es war ein Teil ihrer Vergangenheit, den sie schon lange Zeit hütete wie einen Schatz und den sie immer wieder hervor holte. Sie griff ein Foto am oberen Rand und wollte es zerreißen, aber dann legte sie es wieder ab. Das Foto war so abgegriffen und wirkte, als stamme es aus einem anderen Jahrzehnt. Wie auch diesen Augenblick zuvor, hatte sie es bereits viele Male in der Hand gehabt. Immer und immer wieder, wie den Lieblingsstift, mit dem man für gewöhnlich immer schrieb. Mit den Briefen verhielt es sich ebenso. Sie griff nach einem und las ihn. Erst einen, dann den nächsten, bis sie letztlich alle erneut gelegen hatte. Mit wutverzerrtem Gesicht fegte sie plötzlich alles mit einer einzigen Handbewegung auf den Boden, nur um es sofort danach beinahe panisch wieder aufzusammeln. Direkt folgend verspürte sie den unbändigen Drang es entweder erneut fein säuberlich um sich herum zu verteilen, manchmal aber auch es wieder in die Kiste einzuordnen. Dabei achtete sie peinlichst genau darauf, dass alles in der richtigen Reihenfolge und nicht durcheinander in der Kiste aufbewahrt war. In Momenten wie diesen, in denen ihre Gefühle wie im Sekundentakt wechselten, war sie geneigt, die Kiste direkt an die Wand zu werfen. Ihre Gefühle und ihre Mimik glichen dann einer Achterbahn. Lächeln und Strahlen, wenn sie die Erinnerungen zuließ, die Kribbeln im Bauch verursachten. Noch taten sie das. Tränenüberströmtes Gesicht und Schmerz, wenn sie das Bewusstsein für die Realität zuließ. Alles war jetzt anders als damals, aber sie wollte diese Veränderungen nicht. Sie wollte den Schmerz nicht, der sie gerade wieder zu überrollen schien. Sie wollte nicht an ihn denken. Sie wollte sich nicht gerade jetzt damit auseinandersetzen, wie sie beide zueinander standen. Sie wollte sich nicht von ihrer Vergangenheit und ihren Erinnerungen trennen. Sie hatte viel zu viel Angst davor. Was wenn nie wieder etwas so sein würde, wie einst das?

Wieder nahm sie die Kiste, die sie gerade geschlossen hatte. Der Weg zum Mülleimer war nicht weit. Nur ein paar Schritte. Spuckweite, hätte sie früher gesagt, aber sie konnte sich nicht rühren. Bewegungslos, einer Statue gleichend, saß sie auf dem Bett. Nicht fähig sich in irgendeiner Weise zu rühren. Einzig ihr Atem verriet, dass sie lebte. Sie atmete tief ein, um die Illusion zu vertreiben, keine Luft zu bekommen. Natürlich bekam sie Luft, aber in Momenten wie diesen fühlten sich Schmerz und Einsamkeit an, als könnten sie ihr jegliche Möglichkeit zum Atmen nehmen. Konnte emotionaler Schmerz so sein? Oder war sie einfach nicht normal? Würde es irgendwann mal aufhören? Könnte sie mit all diesen Erinnerungen irgendwann mal abschließen? Langsam beruhigte sie sich soweit, dass sie sich wieder zu Bewegungen fähig fühlte. Jetzt nahm sie ihre Schachtel in die Hand und schritt langsam in Richtung des Papierkorbes.

Dort angekommen, stand sie wie angewurzelt vor dem offenen Eimer, die Kiste in der Hand. Wegwerfen war ihr aber dennoch nicht möglich. Es war als hielt eine unsichtbare Hand, die ihre zurück. Das deutete sie als Zeichen. Sie war noch lange nicht soweit sich von der Vergangenheit zu trennen. Mit diesem Entschluss hatte sie für diesen Moment ihre Fassung wieder gefunden.

Sie besann sich darauf, dass sie sich abends mit ihm treffen würde. Mit ihm, dem Grund für ihre emotionalen Höhen und Tiefen. In diesem Augenblick, in dem sie daran dachte ihn zu treffen wurde aus dem Tief und dem Abgrund ein Höhenflug, der mit einem Gefühl der Wärme einherging. Sie sah die Uhrzeit und beschloss, dass es an der Zeit war sich fertig zu machen. Kurz nachdem sie mit ihrem Spiegelbild einigermaßen zufrieden war, ertönte der Klingelton ihres Handys. Der Inhalt der Nachricht umfasste die Information, dass es nun bald soweit war. Das augenblicklich einsetzende trommeln ihres Herzens übertönte jedes andere Geräusch. Auch solche Gefühle verband sie mit ihm. Dazu kamen noch Halt, Ruhe, Aufmerksamkeit und jemand zum Reden. Kaum hatte sie die Nachricht gelesen, klingelte es auch schon. Sie zuckte zusammen. Wo war die Zeit hin? War sie so in Gedanken versunken mit dem Handy in der Hand stehen geblieben?

Schnell öffnete sie die Tür und ging ihm entgegen. Während sie gemeinsam spazieren gingen, unterhielten sie sich zum Teil über belanglose und alltägliche Themen. Sie konnten jedoch auch durchaus ernste Gespräche führen. Was hatte jeder von ihnen am Tag oder in der Woche erlebt? Jetzt war in ihren Augen ein Stahlen zu erkennen. Ein Stahlen, das mit dem Leuchten der Sterne am wolkenlosen Nachthimmel zu vergleichen war. Ihr Leuchten musste sie wie eine Aura umgeben und nichts ließ in diesem Augenblick darauf schließen, dass Sina kurze Zeit zuvor noch völlig aufgelöst und verheult war. Jeglicher Schmerz und die Traurigkeit waren wie vom Winde verweht. Jetzt da sie an seiner Seite einen Schritt vor den anderen setzte und seiner Stimme lauschte, die auf sie grundsätzlich wie Meeresrauschen wirkte , trommelte ihr Herz beinahe unaufhörlich. Sie genoss es sich mit ihm auszutauschen. Jetzt war die Welt in Ordnung und nichts konnte sie aus den Angeln heben. Jetzt war alles perfekt. Er war da, sie war da. Genau das brauchte sie zum Glücklich sein, genau das wollte sie für Zufriedenheit. Sie wollte diese Vertrautheit immer. Sie wollte wieder intensiver zu seinem Leben gehören.

Kurz hielt sie in ihren Gedanken inne. Verdammt, jetzt hatte sie ihm nicht richtig zugehört. Das war jetzt aber peinlich. „Ähm sorry, was hattest du gesagt“, fragte sie etwas verlegen, „ich war gerade etwas abgelenkt.“ Natürlich wollte er jetzt wissen, was sie abgelenkt hatte. Hm… dumm, was sollte sie jetzt sagen? Sie konnte ja schlecht damit herausplatzen, dass sie darüber nachgedacht hatte, wie sie ihn wieder für sich gewinnen konnte, so dass er wieder so Teil ihres Lebens wurde, wie sie sich das vorstellte. Sie wusste doch, dass ihm das nicht gefallen würde. Sie entgegnete: „ich war gerade in Gedanken und jetzt sag mir doch bitte noch mal, was du gerade gesagt hast.“ Dabei hoffte sie, dass sie so das Gespräch wieder umlenken konnte und er nicht weiter darauf einginge.

Zu ihrem Leidwesen klappte das nicht. An was sie gedacht habe, wollte er jetzt wissen. „An früher“, gab sie kleinlaut zu. „Es hat sich gerade so vertraut angefühlt und so gut.“ Doch schon im selben Augenblick bereute sie ihre ehrliche Antwort. Hätte sie doch einfach etwas anderes gesagt, etwas völlig an den Haaren herbeigezogenes. Sicherlich würde das Gespräch jetzt in eine Richtung laufen, in die sie nicht wollte. Es gäbe eine Wendung, die wirklich unangenehm werden konnte.

Nach einem Moment des Schweigens, welche sich anfühlte wie eine Ewigkeit, schienen sich ihre Befürchtungen zu bestätigen. „Das ist Vergangenheit, das weißt du?“ Diese Worte, sie hallten wie ein Echo wieder. Sie hatte sie schon oft gehört, aber sie wollte sie nicht hören. Sie zerstörten alle ihre Illusionen. Sie wollte sich jedoch weder ihre Illusionen noch ihre Erinnerungen nehmen lassen. Um die Schwere, die plötzlich ihre Unterhaltung überlagerte, aufzulockern antwortete sie: „ Ja, ich weiß, aber du hast nach meinen Gedanken gefragt und auf Grund dieses vertrauten Gefühls, das ich eben verspürt habe, musste ich unweigerlich an früher denken.“

Sie war erleichtert festzustellen, dass er sich mit dieser Erklärung besänftigen ließ und zu seiner ursprünglichen Erzählung zurückkehrte.

Für sie aber stand fest, sie wollte das was sie in der Vergangenheit hatten auch in der Gegenwart haben. Sie musste ihn wieder für sich gewinnen. Die Vergangenheit musste wieder zu Gegenwart werden. Ganz gleich wie... und sie wollte das schaffen.


© Tatjana


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