Ich erwachte, als das sanfte Vibrieren des Wagens, das mich in den Schlaf gewogen hatte, aufhörte. Das Auto war stehengeblieben. Ich hob langsam und verschlafen den Kopf, und brauchte einen Moment, bis ich mich orientiert hatte. Ich lag im Kofferraum auf meiner warmen, bunten Kuscheldecke. Im nächsten Moment wurde es hell, als der Kofferraumdeckel geöffnet wurde und ich sah in das Gesicht meines Frauchens.
„Nero, wir sind da! Komm raus, mein Guter!“, sagte sie und streichelte mir zärtlich über den Kopf.
Ich blinzelte müde ins Sonnenlicht. Am liebsten wäre ich wieder in den sanften Schlummer gesunken. In letzter Zeit war ich ständig erschöpft und verschlief einen Großteil des Tages. Aber ich glaube in meinem Alter ist das keine Schande. Ich bin 14 Jahre alt, für einen Schäferhund wirklich steinalt.
Jetzt trat auch mein Herrchen an den Kofferraum und begann mich zu tätscheln. Die beiden sind wirklich mein Ein und Alles, und seit sie merken, dass mir mein hohes Alter so sehr zu schaffen macht, kümmern sie sich liebevoller als jemals zuvor um mich.
„Komm, Nero, aussteigen!“, sagte mein Herrchen. Er griff unter meinen Bauch und umfasste mein Hinterteil, um mir beim Aufstehen zu helfen. Ich hatte mittlerweile schon ziemlich Schwierigkeiten aus dem Liegen hochzukommen. Herrchen stützte meine schwachen Hinterläufe und so schaffte ich es langsam und mühevoll mich zu erheben. Ich fing an etwas zu keuchen. Frauchen kraulte mir zärtlich das Kinn und nahm mich dann am Halsband und zusammen führten mich die beiden die Rampe, die vom Kofferraum auf den Boden führte, hinunter. Schon nach diesen paar Schritten spürte ich wie meine Beine zu zittern begannen und ich vor Anstrengung bebte. Unten angekommen ließ Herrchen mich los und fast augenblicklich knickten meine wackeligen Hinterläufe ein und ich sank zu Boden.
„Ist gut, mein Alterchen, jetzt hast du es erstmal geschafft!“, sagte mein Herrchen und klopfte mir anerkennend auf die Flanke. Ich begann mich umzusehen.
Der Wagen parkte auf einem großen, mit Kies bedeckten Platz. In der Ferne erkannte ich unscharf einige Gebäude, die einem Bauernhof ähnelten. Auf der anderen Seite des Kiesplatzes stand eine große Scheune, die von einigen Bäumen umringt wurde. Ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals schon einmal hier gewesen zu sein.
Plötzlich hörte ich das Knirschen von Schritten auf dem Kies und sah, wie ein hochgewachsener, fremder Mann auf uns zukam. Herrchen und Frauchen schienen ihnen zu kennen, denn sie begrüßten sich herzlich und schüttelten die Hände und tauschten freundliche Worte aus, und das beruhigte auch mich etwas. Dann beugte sich der fremde Mann zu mir herunter, tätschelte meinen Kopf und sagte: „Und du musst Nero sein! Ich hab ja schon einiges von dir gehört! Willkommen!“ Seine Stimme war warm und freundlich und in seinen Augen lag ein gütiges Schimmern und er war mir auf Anhieb sympathisch. Ich versuchte mich zu erheben, um ihn zu begrüßen, aber meine schwachen Beine versagten den Dienst.
Der Mann sah, wie ich mich abmühte und meinte sanft: „Schon gut, mein Alter! Bleib liegen!“ Ich senkte den Kopf. Wenn ich doch nur nicht so gebrechlich wäre.
Herrchen und Frauchen begannen dann sich mit dem Mann zu unterhalten, aber ich konnte ihnen nicht lange zuhören, weil ich schon wieder so unfassbar müde wurde.









Ich spürte, wie mein Kopf ganz schwer wurde, meine runzligen Lider glitten über meine Augen und obwohl der Kiesboden nicht sonderlich bequem war und ich meine weiche Decke vermisste, begann ich in einen leichten Dämmerschlaf zu fallen. Die Luft war warm und angenehm, es war ein schöner Sommertag. In der Ferne hörte ich schwach das Gezwitscher der Vögel und es roch nach frischem Gras.
Plötzlich hörte ich die Stimme meines Frauchens ganz nah an meinem Ohr und sie streichelte mich zärtlich. Ich hob langsam den Kopf und blinzelte sie noch etwas verträumt an. Sie kniete vor mir auf dem Boden und hielt meinen alten, grauen Kopf in ihren Händen.
„Oh mein Nero!“, sagte sie, doch etwas in ihrer Stimme beunruhigte mich. Sie klang nicht mehr so fröhlich wie vorhin, sondern traurig und betrübt. Ich winselte verunsichert.
Jetzt beugte sich auch mein Herrchen zu mir herunter und begann mich zu tätscheln. Die ganze Situation war mir mit einem Mal nicht mehr geheuer. Was war los mit den beiden? Wo hatten sie mich hingebracht und wieso verhielten sie sich jetzt so seltsam?
„Es tut mir so leid, Nero!“, sagte Frauchen und ihre Stimme klang ganz seltsam und zittrig, „es tut mir so leid, aber es ist das Beste für dich. Hier hast du es schön und ruhig und du wirst wunderbar gepflegt werden. Es ist das Beste für dich, hier zu bleiben. Du wirst sehen, es ist wundervoll hier, ganz anders als Zuhause, wo du die Treppen nicht mehr steigen kannst und auf dem Boden ausrutschst. Oh, bitte, sei uns nicht böse, lieber Nero!“
Ich verstand nichts von dem, was sie mir sagte und wurde immer unruhiger. Was ging hier vor sich? Ich versuchte auf die Beine zu kommen, aber meine Hinterläufe waren zu schwach und ich kam nicht hoch. Zitternd zog ich mich mit meinen Vorderläufen soweit es ging in eine aufrechte Position und versuchte Frauchen mit der Schnauze zu berühren. Aber sie wich zurück und ich sah, wie ich Augen ganz feucht wurden.
„Es ist Zeit, dass wir uns verabschieden, Nero“, schluchzte Frauchen und streichelte mich immerzu. Mein altes Herz schien einen Moment auszusetzen. Was bedeutete das, Abschied? Wollten sie ohne mich zurück nach Hause fahren? Das durfte nicht sein! Sie konnten mich doch nicht alleine lassen! Herrchen und Frauchen, sie waren alles für mich! Ich winselte verängstigt.
„Wir werden dich bald besuchen kommen, mein Alter!“, sagte jetzt mein Herrchen.
„Ja, hörst du, Nero? Wir kommen dich besuchen und sehen nach dir!“, flüsterte Frauchen mit tränenerstickter Stimme.
Sie wollten also ohne mich aufbrechen. Sie wollten mich hier in der Fremde, bei diesem fremden Mann zurücklassen und ohne ihren alten Nero nach Hause fahren. Was hatte ich getan? Womit hatte ich das verdient? War ich ihnen nun letztendlich so zur Last geworden, dass es nicht mehr ertrugen mich um sich zu haben?
In meinem Kopf drehte sich alles und ich war zu Tode verängstigt. Was sollte nur aus mir werden? Herrchen und Frauchen, sie konnten mich doch nicht im Stich lassen! Liebten sie mich denn kein bisschen mehr?
Ich musste wirklich einen herzzerreißend mitleidserregenden Eindruck machen, denn Frauchen weinte nun hemmungslos und Herrchen nahm sie in den Arm, als sie sich erhoben. Ein letztes Mal fuhr er mir zärtlich über den Kopf und sagte: „Machs gut, mein Alter! Du wirst sehen, es ist wirklich das Beste für dich! Und wir kommen dich bald besuchen! Leb wohl!“








Dann stiegen sie beide in den Wagen. Verzweifelt versuchte ich nun auf die Beine zu kommen, ich winselte und keuchte vor Anstrengung, doch es war vergeblich. Mein alter Körper wollte mir einfach nicht gehorchen und ich war dazu gezwungen, mitanzusehen, wie mein Ein und Alles, meine über alles geliebten Besitzer ohne mich nach Hause fuhren.
Ich fühlte mich, als wäre mir der Boden unter den Füßen weggerissen worden. Noch vor einer Stunde war noch alles in Ordnung gewesen, wir waren zusammen in den Wagen gestiegen und losgefahren und ich war glücklich mit den beiden unterwegs sein zu dürfen.
Jetzt war ich der unglücklichste alte Hund der Welt. Nie hätte ich damit gerechnet. Wie hatte mir das nur zustoßen können? Wie war das möglich?
In meiner Angst und Verzweiflung konnte ich kaum einen klaren Gedanken fassen, und doch suchte ich fieberhaft nach einer Antwort auf diese alles bestimmende Frage. Die Schuld musste bei mir liegen. Herrchen und Frauchen waren die wundervollsten, vollkommensten Menschen, die man sich vorstellen konnte. Es musste an mir liegen. Ich schätze, ich war ihnen einfach zu sehr zur Last geworden, sodass sie mich nun endlich abgeschoben hatten. Vielleicht ertrugen sie es nicht mehr, wie hinfällig und gebrechlich ich mit der Zeit geworden war. Sie hatten es mich nie spüren lassen, waren immer so zärtlich und verständnisvoll mit mir umgegangen, und doch hatten sie wohl nun den Entschluss gefasst, das sie mich nicht mehr in ihrer Nähe ertrugen, den Verfall ihres alten Hundes nicht mehr mit ansehen konnten. Jetzt wurde mir es alles auf einmal klar. Wie sehr sie sich doch immer mit mir abmühen mussten und wie wenig ich ihnen zurückgeben konnte.
Ich glaube, ich war immer ein guter Hund gewesen. Sicherlich, in der langen Zeit, die ich bei meiner Familie verbracht hatte, gab es auch schwierige Momente, aber ich hatte immer das Gefühl gehabt, dass sie mich liebten und mehr konnte mein Hundeherz nicht verlangen. Das alles lief nun wie ein Film vor meinem inneren Auge ab und machte mich unendlich traurig. All die sorglosen Stunden im Spiel mit den beiden Kindern, für die ich jahrelang Spielgefährte und Beschützer und Freund gewesen bin. Die Wanderungen mit meinem lieben Herrchen, mit dem ich stundenlang unterwegs war. Und mein geliebtes Frauchen, die doch nie streng zu mir sein konnte und es auch nie ausgehalten hatte, mir lange böse zu sein, wenn ich wieder einmal den Garten umgegraben oder das Haus dreckig gemacht hatte.
Oh, wie ich all diese Momente vermisste. Und jetzt wurde mir bewusst, dass sie unwiederbringlich vergangen waren. Die Kinder waren erwachsen geworden und sie brauchten keinen Beschützer und Spielgefährten mehr, schon gar nicht einen wie mich, zahnlos und kaum dazu in der Lage noch alleine aufrecht zu stehen. Was hatte mein Herrchen noch von mir, wo ich doch kaum noch laufen konnte und am liebsten auf meiner warmen Decke döste und den halben Tag verschlief. Und was war ich für eine Last für mein Frauchen, wenn ich wieder einmal zu langsam gewesen bin und es nicht rechtzeitig ins Freie geschafft hatte.
Nein, ich konnte ihnen nicht böse sein. Wer wollte schon einen uralten, gebrechlichen Hund wie mich, der einem doch nur Sorgen und Kummer macht? Ich hatte ihnen alles gegeben, was ich hatte, hatte meine Aufgaben erfüllt so gut ich konnte, war meiner Familie ein treuer Freund und Begleiter in all ihren guten und schwierigen Zeiten gewesen. Aber wie konnte ich von ihnen verlangen, dass sie sich jetzt noch mit mir abgaben, wo ich so alt und nutzlos geworden war?








Obwohl mich diese Erkenntnis schmerzte und mein Herz sprengen wollte vor Kummer, so half sie mir doch aus der tiefen, bodenlosen Verzweiflung zurückzukehren in die Gegenwart, ins Hier und Jetzt.
Meine Familie hatte mich verlassen, alleine in der Fremde ausgesetzt, aber es war meine Schuld alleine und jetzt musste ich das Beste daraus machen.
Es erschien mir nun fast grausam, wie strahlend die Sonne schien, wie vergnügt und unbeschwert die Vögel sangen und wie idyllisch die Szenerie, in der ich mich befand, wirkte, bei dem Verlust, den ich eben zu bewältigen hatte.
Auf einmal fiel mir der fremde Mann wieder ein. Er stand immer noch neben mir, hatte meine bunte Decke unter dem Arm und sah mit seinen gütigen Augen auf mich herab.
„Mach dir keine Sorgen, mein Alterchen. Du wirst es gut hier bei uns haben!“, sagte er mit freundlicher Stimme, „du wirst schon sehen, nach ein paar Stunden, wenn du das alles vergessen hast, dann siehst du wie schön es hier ist. Deine Besitzer haben dich nur aus Liebe hierher gebracht, weißt du? Und du wirst sie wieder sehen, versprochen!“
Die Wärme in seinen Worten beruhigte mich tatsächlich. Er schien in der Tat ein ganz vortrefflicher Mensch zu sein, so wie er mit mir umging und auch Herrchen und Frauchen schienen ja ganz angetan von ihm zu sein. Sie mochten mich verlassen haben, aber in mir wuchs die Gewissheit, dass es nur zu meinem Besten war und sie mich niemals in schlechte Hände gegeben hätten.
Jetzt beugte sich der freundliche Mann zu mir herunter und tätschelte meinen Kopf.
„Komm, mein alter Freund! Ich möchte dir jemanden vorstellen!“, sagte er und ging ein paar Schritte voraus. Ich beschloss, so gut es ging, meine schlimme Situation zu verdrängen und mich auf das Neue, was mich hier erwarten mochte einzulassen. Was hatte ich denn auch für eine Wahl? Ein alter Hund wie ich muss froh sein über alles, was er noch erleben darf.
Ich versuchte auf die Beine zu kommen und dem Mann zu folgen, aber ich war noch immer zu geschwächt und schaffte es nicht. Immer wenn ich mich ein wenig erhoben hatte, verließ mich die Kraft und ich sank erschöpft zurück. Meine nutzlosen Beine setzen mir am meisten zu. Ich begann wieder hilflos zu winseln.
Der Mann drehte sie zu mir um, und sah, dass ich nicht aufstehen konnte. Er lächelte verständnisvoll und fasste dann mit seinen Händen unter mein Hinterteil, wie es auch mein Herrchen immer gemacht hatte, um mich zu stützen. „Du hast es nicht leicht, mein Alterchen“, sagte er sanft, „aber wir schaffen das!“ Er ließ mich vorsichtig los und mit größter Mühe schaffte ich es, mich aufrecht auf meinen wackligen Beinen zu halten. Der Mann machte einen Schritt und ich folgte ihm mit zitternden Läufen. Er ging ganz langsam vor mir her und doch schaffte ich es kaum, ihm hinterherzulaufen. Mit jedem Schritt knickten meine Hinterläufe ein und ich spürte wie sie gefühlloser und zittriger wurden. Ich wusste nicht, wie lange ich mich noch auf den Beinen halten konnte. Mein Atem ging keuchend und stoßweise von der Anstrengung. Immer wieder sah sich der Mann um, ob ich ihm noch folgte.
Ich sah, dass wir uns langsam auf die Scheune zu bewegten. Es war kein weiter Weg, aber für mich war es eine enorme Herausforderung. Etwa nach der Hälfte der Strecke versagten meine Hinterläufe wieder vollends und ich sank winselnd zu Boden. Der Mann half mir geduldig wieder hoch und hielt mich solange fest, bis ich mich einigermaßen alleine auf den Beinen halten konnte. Er ging wieder einige Schritte voraus und ich humpelte hinterher.







Schon nach wenigen Metern knickte ich wieder ein und kam nicht wieder von selbst hoch. Der Mann ließ sich nichts anmerken, half mir wieder vorsichtig auf die Beine und sprach mir gut zu.
Mit letzter Kraft erreichten wir schließlich die Scheune. Ich zitterte am ganzen Körper wie Espenlaub und keuchte erbärmlich. Der Mann nickte mir freundlich zu und sagte dann:
„Siehst du, wir haben es gemeinsam geschafft! Egal wie lange es gedauert hat.“
Dann öffnete er das große Holztor, das quietschend aufschwang. Aus der Scheune wehte ein Schwall warmer Luft, die nach getrocknetem Heu roch. Es war ein schummriges Dämmerlicht dort drin und ich konnte nicht erkennen, was sich dort befand. Der Mann nahm mich am Halsband und führte mich vorsichtig einige Schritte hinein. Dann streichelte er mich und sagte: „Ich lasse dich jetzt erstmal alleine! Schau dich ruhig etwas um!“
Damit drehte er sich um und ich hörte seine Schritte zurück über den Kies knirschen.
Ich spürte, wie meine erschöpften Beine langsam wieder einknickten und mein Hinterteil zu Boden ging. So saß ich nun, heftig schnaufend und noch immer am ganzen Körper bebend, im gedämpften Licht der Scheune und wartete, bis sich meine Augen daran gewöhnt hatten. Schließlich erkannte ich, dass zu beiden Seiten bis an die Decke riesige Mengen an Heuballen aufgeschichtet waren. Auch der Boden war mit einer Lage Stroh ausgelegt, das knisterte und angenehm duftete. Das wenige Licht, das durch die Ritzen in den Holzwänden und die angelehnte Tür drang und das warme, wohlriechende Stroh beruhigten mich und die Erschöpfung ließ mich müde werden. Es wäre eine Wohltat gewesen, sich in dem Heubett niederzulegen.
Ich versuchte vorsichtig auf die Beine zu kommen und nach einigen Versuchen gelang es mir auch. Mit wackeligen Läufen machte ich einen Schritt vorwärts. Das Stroh fühlte sich angenehm an unter meinen Pfoten.
Plötzlich hörte ich eine fremde Stimme: „Wer ist da?“
Ich erschrak. Ich dachte, ich wäre alleine in der Scheune gewesen. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte ich im gedämpften Licht um mich herum etwas zu erkennen. Einige Meter vor mir lag ein großer Strohballen und ich sah, dass mit einem Mal eine Gestalt dahinter hervorkam. Angespannt wartete ich, wer oder was sich da auf mich zu bewegte. Meine Hinterläufe begannen zu zittern und ich konnte mich nur mühevoll aufrecht halten.
Als die Gestalt näherkam, erkannte ich, dass es auch ein Hund war, der da auf mich zukam. Mir fiel auf, dass sich der fremde Hund sehr langsam näherte und ich glaubte ihn angestrengt schnaufen zu hören. Wenige Schritte vor mir kam er zu stehen und ich sah überrascht, dass es auch ein Schäferhund war, dem ich hier begegnet war.
„Wer bist du?“, fragte der fremde Hund und da bemerkte ich, dass es eine weibliche Stimme war. Es war eine Schäferhündin.
„Mein Name ist Nero“, sagte ich, „ich bin gerade erst hier angekommen. Ich hoffe, ich störe dich nicht. Man hat mich hierher geführt.“
„Nein, keineswegs!“, antwortete die Hündin, „freut mich, dich kennenzulernen, Nero! Mein Name ist Emma.“
Mit diesen Worten machte sie noch einen Schritt auf mich zu, und ich konnte sie besser erkennen. Sie sah sehr alt aus, ihr Gesicht war ganz weiß und ich bemerkte, dass auch ihre Hinterbeine zitterten. Ihre Augen sahen trüb und müde aus, und waren von einem milchigen Schleier überzogen.








„Freut mich auch deine Bekanntschaft zu machen, Emma“, sagte ich.
„Deine Stimme klingt, als ob du schon sehr alt bist, Nero?“, fragte Emma. Auch ihre eigene hörte sich greisenhaft an und war etwas zittrig.
„Ja, du hast Recht, Emma. Ich bin 14 Jahre alt“, antwortete ich.
„Ich denke mir hört man es auch an“, meinte Emma lächelnd, „denn wir sind gleich alt.“
Ich war überrascht und gleichzeitig darüber froh, dass Emma schon so betagt wie ich war. Oftmals, wenn ich jetzt jungen Hunden begegnete, schämte ich mich für meine Verfassung und ich bemerkte auch, dass mich viele bemitleideten.
Ich spürte, wie meine Beine langsam einknickten und ich auf den Boden sank. Ich versuchte wieder hochzukommen, aber es gelang mir auch nach mehreren Versuchen nicht.
Emma hatte es bemerkt und sagte: „Es ist gut, Nero, plage dich nicht. Ich weiß, wie es dir damit geht. Meine Beine lassen mich auch immer öfters im Stich.“ Wie auf Kommando knickten Emmas zitternde Hinterläufe ein und auch sie schaffte es nicht, sich dagegen zu wehren.
„Siehst du?“, lachte sie, „jetzt sitzen wir beide hier und kommen nicht mehr fort. Du sagst, du bist gerade hier angekommen?“
„Ja“, meinte ich und mit einem Mal überrollte mich wieder eine Welle der Verzweiflung und der Einsamkeit. Herrchen und Frauchen waren fort und ich wusste nicht wann und ob ich sie je wiedersehen würde.
Emma schien bemerkt zu haben, was in mir vorging, denn sie sagte: „Nero, ich weiß gut, wie du dich fühlst. Mir ist es zu Beginn genauso gegangen. Ich wurde hierher gebracht und ich dachte meine Welt bricht zusammen. Ich konnte nichts mehr fressen und war todunglücklich. Ich konnte einfach nicht begreifen, dass mich meine geliebten Menschen alleine zurückgelassen haben.“
Ich nickte. Sie sprach mir aus dem Herzen. Aber von Emma zu hören, dass es ihr genauso ergangen war und sie meine Gefühle und Gedanken nur zu gut kannte, machte es mir leichter.
Ich fühlte mich von Anfang an mit ihr verbunden. Es war, als ob wir uns schon eine Ewigkeit kannten.
„Wie lange bist du denn schon hier? Und wo genau sind wir denn?“, wollte ich wissen.
„Ich wurde auch hierher gebracht, als ich immer schwächer und gebrechlicher wurde und meinen lieben Menschen nur noch zur Last gefallen bin. Aber wir können ihnen dafür nicht böse sein. Auch wenn du am Anfang denkst, du müsstest verzweifeln und du es nicht verstehen kannst, deine Liebsten bringen dir hierher, weil es dir nirgendwo sonst besser gehen könnte.“
„Was ist das hier?“, fragte ich verunsichert.
„Auf diesem Hof hier leben nur alte Tiere wie wir, Nero“, erklärte Emma, „der freundliche Mann, der dich hergebracht hat, und seine Frau kümmern sich um uns, wenn wir für unsere Besitzer zur Bürde werden. Du wirst sehen, es ist ganz wundervoll hier. Ich denke kaum noch an zuhause, Nero. Das hier ist mein neues, letztes Zuhause geworden.“
Ich senkte den Kopf. Ich konnte und wollte mir einfach noch nicht vorstellen, dass ich für immer hier bleiben sollte. Ich hatte doch ein wunderschönes Zuhause gehabt. Insgeheim hoffte ich, dass im nächsten Moment die Scheunentür aufgehen würde und man mich abholen und nach Hause bringen würde.








Emma schien meine Gedanken lesen zu können. „Ich habe zu Beginn auch nicht wahrhaben wollen, dass meine lieben Menschen mich hier zurückgelassen haben. Aber ich verspreche dir, du wirst dich sehr schnell an dein neues Zuhause hier gewöhnen. Ich könnte mir keinen schöneren Ort für meinen Lebensabend mehr vorstellen“, sagte sie.
„Aber vermisst du nicht dein Herrchen und Frauchen?“, fragte ich verwirrt.
„Aber sicher, Nero“, erwiderte Emma sanft, „das ist ganz natürlich. Zu den Menschen, mit denen wir so viel Zeit verbringen, werden wir immer ein ganz besonderes Verhältnis haben. Aber du wirst sehen, der Mann und seine Frau hier sind so gütig. Sie kümmern so gut sie nur können um uns.“
„Ich denke, ich brauche einfach noch etwas Zeit“, sagte ich leise.
„Es wäre mir eine Freude, dir beim Übergang zu helfen, Nero“, sagte Emma und lächelte mich an. Ich war gerührt von der Wärme und Freundlichkeit, die mir hier entgegenkam. Der gütige Mann, der mir so geduldig immer wieder geholfen hatte und nun Emma, die mein Schicksal teilte und es so bereitwillig angenommen hatte. Sie machte mir Hoffnung, dass es mir bald genauso gehen könnte und auch ich die tiefe Zufriedenheit, die sie ausstrahlte, verspüren konnte.
„Danke, Emma“, sagte ich mit zitternder Stimme. Sie nickte verständnisvoll und versuchte dann aufzustehen. Es machte mich traurig zu sehen, wie viel Kraft sie das zu kosten schien und es erinnerte mich an meinen eigenen Zustand. Unser hohes Alter war nicht immer nur ein Geschenk, es war bisweilen nur schwer zu ertragen. Mit zittrigen Läufen stand Emma schließlich da, sie keuchte vor Erschöpfung und ihre Beine drohten jeden Moment nachzugeben. Langsam machte sie einen Schritt auf mich zu. Als sie direkt vor mir stand, knickten ihre wackligen Hinterbeine wieder ein und sie sank auf den weichen Strohboden.
Unsere Schnauzen waren nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt und wir sahen uns tief an, ich blickte dankbar in Emmas trübe, alte Augen. Dann stieß sie mich zärtlich mit ihrer Nase an und wir berührten uns sanft mit den Schnauzen. In dieser Haltung hielten wir still, Schnauze an Schnauze, zwei uralte Hunde, die voller Dankbarkeit und Glück waren, dass das Schicksal sie in der letzten, schweren Zeit, die ihnen noch verblieben war, zusammengeführt hatte.


© AgeingOrphan


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