Prolog

Ich gehe in den Raum und sehe ihn. Seine eisblauen Augen sehen durch mich hindurch, er sieht mich nicht. Er kann nicht fokussieren. Seine Augen rollen ziellos in den Augenhöhlen und sehen doch nichts. Er ist auf einen alten Holzstuhl gefesselt und blutet. Sein Blut ist überall, auf den Wänden, dem Boden und auch auf mir. Ich berühre ihn auf der Schulter, versuche ihn ins hier und jetzt zurück zu holen. Doch es hilft nicht. Ich schreie seinen Namen, er hört mich nicht. Ich bitte ihn, zu mir zurück zu kommen. Er sagt etwas, das zu leise für meine Ohren ist.
Ich schrecke hoch. Ich bin schweißnass und meine Haare kleben mir im Gesicht. Ich schreie. Bryan kommt in mein Zimmer und zieht mich auf seinen Schoß. Er drückt mich fest an seine Brust und schaukelt uns vor und zurück. Er flüstert leise in meinen Nacken um mich zu beruhigen. Ich blicke zu ihm hoch. Seine eisblauen Augen sehen mich besorgt und traurig an.

1. Kapitel
Bryan

Es ist 2:00 Uhr in der Nacht. Ich höre ihren markerschütternden Schrei durch die Wände. Wie jede Nacht wacht sie nicht auf, bevor sie nicht auf meinem Schoß ist. Das ist das einzige was hilft. Viele Therapeuten haben schon versucht eine Art Heilmittel zu finden. Jedoch geholfen hat nichts. Ich stehe auf und geh zu ihr. Ich bin nicht genervt, es ist nur anstrengend. Als sie auf meinem Schoss ist, hört sie auf zu schreien, nur mehr ein ruhiges wimmern ist noch zu hören. Fest an meine Brust gedrückt beruhigt sie sich langsam. Ihr Atmen wird langsamer und ihr Herzschlag beruhigt sich. Ich spüre ihre Tränen auf meiner nackten Brust. Ich schaukel uns vor und zurück und rede leise in ihren Nacken. Was ich sage, weiß ich nicht. Aber danach hört sie auf und legt sich zurück in ihr Bett und schläft. Doch heute nicht. Heute schlingt sie ihre Arme um meinen Bauch. Sie klammert sich an mir fest. „Ich will nicht“, flüstert sie leise. „Was willst du nicht, Joey?“, frage ich. „Mich immer wieder zu erinnern. Ich will´s nicht mehr.“ Ich nicke. Ihre Stirn ist in Falten gezogen und sie presst ihre Lippen fest aufeinander. Sie versucht nicht zu weinen. Ich streiche über ihren Rücken. Langsam nimm ich sie von meinem Schoß und leg sie in ihr Bett. Ich decke sie zu, drücke ihr einen Kuss auf die Stirn und flüstere: "Schlaf, Joey. Morgen wird ein besserer Tag." „Bryan? Bleib bitte“, ihre Stimme ist so zerbrechlich. Ich protestiere nicht, weil ich weiß, dass sie gewinnen wird. Unter der Decke kuschel ich mich an sie und leg meinen Arm um ihre Mitte. Leise singe ich ein Lied.
Die Sonne scheint in ihr Zimmer als ich meine Augen öffne. Es ist ein schöner Frühlingstag. Langsam ziehe ich meinen Arm zurück und gleite aus dem Bett. In der Küche mache ich frischen Kaffee. Joey mag ihren Kaffee mit viel Milch und zwei Löffel Zucker. Ich bringe ihr eine Tasse und stelle es auf ihren Nachtkasten. Ich streiche ihr über die Haare und sage: „Joey, der Kaffee ist fertig. Komm frühstücken.“ Sie dreht sich auf den Bauch und seufzt. Zurück in der Küche werfe ich zwei Toastscheiben in den Toaster. Ich decke den Tisch und stell zwei Gläser mit Orangensaft auf den Tisch. Erdnussbutter und Butter stelle ich dazu. Ich kann Erdnussbutter nicht ausstehen, aber Joey liebt das süße Zeug. Ich geh schnell ins Badezimmer um mir meine Sachen vom Vortag anzuziehen. Eine Jeans und ein dunkel blaues T-Shirt. Sie sitzt schon am Tisch und streicht ihren Toast. Ich setzte mir ihr gegenüber und beginne ebenfalls mein Brot zu streichen. Joey hat noch ihren Pyjama an. Er besteht aus meinem alten T-Shirt und einer langen Pyjamahose. Das T-Shirt hatte ich an als wir uns kennenlernten vor sieben Jahren. Ihr hat es so gut gefallen, dass sie es, wie wir zusammengezogen sind geklaut hat. „Bryan? Was machst du heute?“, damit reist sie mich aus meinen Gedanken. „Ahm, ich muss den Spätdienst im Pub übernehmen. Aber bis 18Uhr hab ich frei. Willst du was unternehmen?“, frage ich und spüre wie mein Herz schneller anfängt zu schlagen. Ich mag sie wirklich sehr, aber sie mag mich nicht so wie ich sie mag. Ich weiß es ist kompliziert. Sie hat langes dunkel braunes Haar, grüne Augen die leuchten wie zwei Smaragde. Ihr Gesicht hat zarte Züge. Ihre Lippen sind rot und voll. Ich verspüre das Verlangen in mir sie zu küssen. Ich schüttle meinen Kopf. „Bryan, hast du mir zugehört?“, ich schüttelte meinen Kopf, „Also nochmal von vorne. Würdest du mit mir heute mit zu meinen Eltern zu fahren? Sie haben mich eingeladen und ich möchte nicht alleine zu ihnen. Es wäre nur für ein paar Stunden. Und du weißt, dass meine Mutter gut kochen kann“, sagt Joey lächelnd. Ich überlege kurz, aber stimme ihr zu. Ich mach alles für sie. Joey ist meine beste Freundin und ich bin ihr bester Freund. Ich wasche das Geschirr und Joey trocknet es ab. Das Haustelefon läutet. Joey und ich schauen uns an. Sie geht dran. Ich geh in mein Zimmer und räume es etwas zusammen. Überall liegt dreckige Wäsche herum. Ich bin ein Chaot. Die Wäsche schmeiß ich in die Waschmaschine und schalte sie ein. Joey sitzt auf mein Bett und sieht mich an, als ich ins Zimmer komme. Sie lächelt. Ich hebe erwartungsvoll meine Augenbrauen. „Okay. Ich sag‘s dir. Ich hab den Platz auf der Uni.“ Ich heb sie von meinem Bett und drehe uns. Sie schreit und lacht. Als ich sie abgesetzt habe, schling ich meine Arme um sie und sag ihr, wie stolz ich auf sie bin. Sie hat sich so angestrengt für diesen Platz. Sie will Anwältin werden, schon seit dem sie klein ist. Sie lacht. „Hey, du zerdrückst mich noch, mit all deinen Muskeln“, sagt Joey zwischen dem Lachen. Ich lass sie los und wir ziehen uns an, um zu ihren Eltern zu fahren.

Wir nahmen meinen alten Mustang. Ich bekam ihn von meinem Opa vererbt. Joey hatte ein dunkel blaues Kleid an. Darüber hatte sie eine schwarze Lederjacke an. Sie sah unwiderstehlich aus. Sie hatte hohe schwarze Schuhe an, mit denen sie kaum laufen konnte. Ich hatte eine Jeans, ein weißes Hemd – bei dem die obersten drei Knöpfe offen sind – und ein schwarzes Sakko. Wenn wir zu ihren Eltern fahren, müssen wir uns „aufbrezeln“. Ihre Eltern bestehen darauf. Wir müssen noch eine Stunde fahren bis zu ihren Eltern. Sie leben am Land. Dort ist es ruhig, das mögen sie. Joey stellt zum zehnten Mal den Radiosender um. „Joey, lass es. Du machst mich noch wahnsinnig. Lass den Sender jetzt. Wenn dir es nicht gefällt kannst du eine Kassette einwerfen. Im Handschuhfach sind welche. Aber bitte, tu es nicht mehr. Du weißt, dass es mich vom fahren ablenkt wenn du die ganze Zeit den Radiosender wechselst“, sag ich ihr und lächle sie an, damit sie weiß, dass es nicht böse gemeint ist. Sie schmollt. Sekunden später haut sie mich auf die Schulter. „Aua. Für was war das?“frage ich sie und sie entgegnet mir: „Weil du, du bist.“ Das sagt sie jedes Mal.
Als wir bei ihren Eltern angekommen sind, atmen wir beide tief durch und klingeln. Ihre Mutter, Evelyn, öffnet uns. Sie nimmt uns beide in den Arm und küsst uns auf die Wange. Ihr Vater, Cole, ist noch bei der Arbeit, bedauert ihre Mutter. Dann also nur zu dritt. Joey hat keine Geschwister. Das Esszimmer ist rechts vom Eingang. In der Mitte des großen Raumes steht ein langer Holztisch mit acht Stühlen. Eine Vitrine befindet sich im Raum. Darin ist teures Geschirr für besondere Anlässe. Auf dem Tisch steht einen großer Blumenstrauß und drei Gedecke sind bereitgestellt. Evelyn erzählt uns von ihrer Woche. Sie arbeitet in einem Altenpflegeheim als Krankenschwester. Sie liebt ihren Beruf. Joey seufzt. „Liebling, was hast du denn? Du bist heute so leise“, wendet sich Evelyn ihrer Tochter zu. „Ach, Mom. Du weißt schon. Die Sache was vor fünf Jahren war. Ich träume wieder“, antwortet Joey. Ihre Mutter macht einen sorgenvollen Gesichtsausdruck und sieht mich an. Ich nicke. Sie weiß, dass ich für ihre Tochter da bin. Ich nicke noch einmal. Ich verstehe sie. Sie macht sich sorgen. Wir essen unser Eis. Joey’s Mutter macht selber Eis. Es ist wunderbar. Es ist 16Uhr als ich das erste Mal auf die Uhr sehe. Ich berühre Joey am Arm und sage ihr, dass wir los müssen. Wir verabschieden uns von Evelyn und versprechen bald wieder zu kommen. Auf dem Heimweg ist Joey ruhig. Sie redet nicht und stellt auch nicht den Radiosender um. Ich lege meine Hand auf ihren Oberschenkel und drücke leicht. „Alles in Ordnung?“ „Ja. Ich denke nur an den Tag. Du weißt schon“, antwortet mir Joey. Ihre Stimme ist belegt. Ich drücke ihren Oberschenkel ein zweites Mal, damit sie weiß, dass ich sie verstehe.
Als wir zu Hause angekommen sind, zieh ich mir schnell eine alte Jeans und ein altes weißes Hemd an. Ich küss Joey auf die Stirn und sage: „Wenn was ist, komm zu mir. Du weißt, ich würde alles liegen und stehen lassen für dich. Oder ruf einfach an. Ich muss jetzt los. Bin um 2Uhr zuhause okay?“ Sie nickt und umarmt mich. Ich drehe mich bei der Türe nochmal um und lächle sie an. Als die Tür hinter mir ins Schloss fällt, höre ich wie sie sie verschließt.
Im Pub angelangt fragt mich George, mein Chef, ob ich die erste Bar übernehmen könnte. „Ja klar. Ist viel los gewesen?“ frage ich. „Ach, so viel war noch nicht los. Aber es werden schon noch Gäste kommen. Nebenan ist eine College-Party“, sagt er. George verschwindet im Büro und ich gehe an die Bar und schick Mary nach Hause. „Aber ich hab noch eine halbe Stunde“, wehrt sie sich. Ich sehe sie an und sie gibt nach und geht. Es ist nicht viel zu tun heute Abend. Ich stehe meist herum und unterhalte mich mit den Gästen. Einige sind schon betrunken. Die College – Kids sind nicht gekommen wie George prophezeit hat. Gegen Mitternacht läutet mein Handy. Ich nehme es aus meiner hinteren Jeanstasche und sehe auf den Bildschirm. Joey. Ich gehe ran. Sie ist aufgelöst und weint. „Hey, Joey. Ganz ruhig. Atme tief ein und aus. Und jetzt erzähl mir was passiert ist“, fordere ich sie auf. „Ich... Ich hab das Gefühl, dass jemand vor dem Haus ist und herumschleicht. Ich habe Stimmen gehört. Da war schon wieder dieses Geräusch“, sagt Joey. „Ich bin gleich da, okay? Verschließe alle Türen und Fenster. Lass die Jalousien runter. Am besten du gehst in dein Schlafzimmer und sperrst dich ein. Ich klopfe fünfmal ok?“, ich warte nicht auf ihre Antwort und gehe zu George um ihm Bescheid zu geben. Ich verlasse den Pub und laufe nach Hause.
Zuhause angekommen, sah ich, dass unsere Wohnungstür aufgebrochen war. Ich ging langsam hinein und sah mich um. „Hallo? Ist hier jemand?“, rief ich in die Wohnung. Niemand antwortete mir. Es war still. Ich ging auf Joeys Schlafzimmertür und drückte mein Ohr gegen die Tür. Es war nichts zu hören. Ich klopfte fünfmal. „Hey, Joey. Mach die Tür auf. Ich bins, Bryan.“ Ich hörte Schritte hinter der Tür. Der Schlüssel wurde im Schloss gedreht und sie öffnete sich einen Spalt. „Bryan, ich hatte solche Angst“, flüsterte Joey. Ich schob sie ins Zimmer, schloss die Tür hinter uns und nahm sie in die Arme. Sie klammert sich an mir fest und beginnt zu weinen. „Alles ist gut. Ich bin da, Joey“, wiederholte ich immer wieder. Ich geh mit ihr zum Bett, setze mich hin und ziehe sie auf meinem Schoß. Meine Hand gleitet über ihr langes Haar und über ihre Schulter. Ihre Hände liegen auf meiner Brust. Ich küss sie auf die Stirn. „Joey? Ist es okay, wenn ich raus gehe? Ich sollte nachsehen ob noch alles da ist“, meine Stimme klang ein wenig rau. Sie nickte und rutschte von meinem Schoß. Es war alles noch an seinem Ort. Es fehlte kein Cent. Was auch immer der Einbrecher wollte, es waren keine Wertgegenstände oder Geld. Ich ging zurück zu Joey und sagte ihr, dass alles noch da sei und dass ich das Schloss austauschen lassen würde. Wahrscheinlich würde ich auch noch ein Sicherheitsschloss anbringen lassen. Die Polizei konnte uns auch nicht wirklich weiterhelfen. Joey saß an unserem Esstisch. „Willst du was essen?“,frage ich sie und berühre ihre Schulter. Sie antwortet nicht. Trotzdem machte ich ihr einen Käse-Schinken Toast. Sie zupft herum und steckt sich ein, zwei Bissen in den Mund. „Ach, Joey. Ich weiß nicht was ich tun soll. Dieser Mann wird mich immer verfolgen, solange er nicht hinter Gittern sitzt. Wir sind schon zweimal Umgezogen und noch immer folgt er mir. Und du wirst immer mit reingezogen in diese Sache“, ich geh auf sie zu, zieh sie hoch und schling meine Arme um ihre Taille. Jetzt bin ich der, der Trost und Halt braucht. Irgendwie bin ich wütend, traurig und hilflos zugleich. Ihre Arme liegen um meinen Hals. Joey versteht mein Bedürfnis nach nähe. Später sitzen wir vor dem Wohnzimmerfenster und sehen uns die Sterne an. Es ist gegen drei Uhr in der Früh, aber es ist nicht an Schlaf zu denken. Ich werde morgen meine Schicht absagen und Joey wird nicht zu den Kursen gehen. Einen Tag frei zu haben, tut uns sicherlich gut. Die Sterne leuchten vom Himmel und strahlen etwas wie Standhaftigkeit aus. Einige von ihnen sind schon Milliarden von Jahre alt, aber sie stehen noch immer am Himmel. Genauso ist es mit mir und Joey. Wir waren am dunkelsten Punkt unseres Lebens, aber wir stehen noch aufrecht. Ich lebe noch. Dafür werde ich Joey in alle Ewigkeit dankbar sein.
Irgendwann später sage ich gute Nacht zu ihr und geh in mein Zimmer. Mein T-Shirt und meine Jeans zieh ich aus und häng sie über den Stuhl. Nur in Boxershorts schlüpf ich unter die Decke. Kurz bevor ich einschlafe, höre ich nackte Füße, die über den Holzboden gehen. Das Bett hinter mir sinkt etwas ein und ich spüre einen kleinen, zarten Körper an meinen Rücken. Joeys Arm legt sich um meinen Bauch. Ihr Gesicht presst sie zwischen meinen Schulterblättern und so schlafe ich ein.


© Marion Felber


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Beschreibung des Autors zu "Momente, die bleiben"

Irgendwann verlieren Erinnerungen ihre Schärfe. Sie lassen dich nicht mehr bluten. Sie schneiden nicht mehr ins Fleisch; stattdessen wühlen sie dich auf.
(Der Todeskünstler - Cody McFadyen)

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Kommentare zu "Momente, die bleiben"

Re: Momente, die bleiben

Autor: noé   Datum: 11.03.2014 19:31 Uhr

Kommentar: Gigantisch...!
noé

Re: Momente, die bleiben

Autor: Marion   Datum: 11.03.2014 19:40 Uhr

Kommentar: Danke Noé! :)

Marion

Re: Momente, die bleiben

Autor: Lucy   Datum: 16.03.2014 22:43 Uhr

Kommentar: Respekt. Deine Geschichte ist wirklich spannend und gut verständlich geschrieben. Rechtschreibfehler habe ich keine gefunden. Du kannst die Dinge sehr gut vormulieren und mit einfachen Worten klar ausdrücken. Ich freue mich schon auf die Fortsetzung. :)

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