Er lief langsam durch die dichten Reihen der Haselnussbäume. Sie waren nicht groß aber sie standen dicht an dicht. Es war schwer jemanden ausfindig zu machen in diesen dichten Baumkronen. Der Wind fing an heftiger zu wehen und ihm wurde langsam kalt. Die ersten bunten Blätter wehten ihm um die Füße. Es war still. Er schluckte. Der dunkle Hain war ihm unheimlich und er wollte nachhause,
als ihn von oben etwas traf und er zu Boden ging.
?Bist du wahnsinnig, mich so zu erschrecken!?
Thomas war sauer. Er lag in einer Pfütze. Doch Karsten lachte nur.
Da hörten sie einen Schrei.
Sie sahen sich an. ?Das ist Ammelie!?
?Verdammt! Wo ist sie??
?Der Schrei kam von dort drüben!? Thomas zeigte in Richtung des Hauses.
Schnell liefen beide los.
?Ammelie!? riefen sie. ?Ammelie, wo steckst du??
Als Thomas gerade um den nächsten Baum rannte stand er plötzlich dem alten Jakob gegenüber. Jakob war nicht nur groß, er war riesig und mit seiner großen Knollnase und den breiten Lippen wirkte er wie ein Riese aus einem Märchenbuch.
Erschrocken standen beide wie angewurzelt da und wagten nicht sich zu bewegen:
Der Kinderfresser! Ausgerechnet. Hatte er Ammelie gefressen?
Jakob sagte nichts, er stand nur da und sah die beiden Jungen an.
Thomas zog Karsten am Ärmel und augenblicklich setzten sich die Beiden in Bewegung. Sie rannten. Nur weg hier.
Als sie den Hain verlassen hatten trafen sie auf Ammelie.
?Da bist du ja!? sagte Karsten erleichtert. ?Was war denn los? Warum hast du so geschrieen?? ,wollte er atemlos von ihr wissen.
Sie sagte tränenüberströmt ?Da war der Kinderfresser..? mehr brachte sie nicht hervor. Mit ihren sechs Jahren war Ammelie vielleicht noch zu jung um im Hain mit ihnen zu spielen fand Thomas. Er nahm seine Schwester an die Hand und die drei gingen nach Hause. Es wurde langsam dunkel und ihre Mutter wartete schon ungeduldig mit dem Essen.
?Da seit ihr ja endlich! Und wie seht ihr wieder aus??
Thomas Mutter sah seine Hose an und schüttelte den Kopf.
?Wart ihr wieder im Hain?? ,Thomas Mutter sah ihn streng an. Sie wussten, das sie dort nicht spielen sollten. Unter den strengen Blicken seiner Mutter senkte er seinen Blick und nickte schuldbewusst.
Ammelie weinte leise und ihre Mutter ließ von ihrem Bruder ab.
?Warst du auch dort, Ammelie?? ,ihre Stimme klang jetzt schon besorgter.
Ammelie schniefte ein leises ?Ja.?
Müde und genervt kommandierte sie beide ins Bad, sich die Hände zu waschen. Am Tisch schwiegen alle drei. Das war ungewöhnlich für diese Familie, die sich immer etwas zu erzählen hatte. An diesem Abend las ihre Mutter ihnen nichts vor. Stattdessen setzte sie sich zu den Beiden, die ein Zimmer teilten, ans Bett und redetet mit ihnen.

Als Thomas Karsten am nächsten Morgen in der Schule traf, wollte Karsten nachmittags zum Hain, aber Thomas weigerte sich.
Seine Mutter hatte ihm gestern Abend von Jakob und Hella, seiner Frau, erzählt. Im Dorf hieße es, dort würden grausige Dinge vor sich gehen und sie sollten dort nicht mehr spielen, schon gar nicht mit Ammelie. Das hatte ihm, mit Androhung drakonischer Strafen, seine Mutter verboten.
Jetzt aber war Karstens Entdeckerfreude erst recht geweckt. Dann würde er ohne Thomas dort hin gehen. Dieser Riese konnte ihm gar nichts anhaben.
Doch als er am späten Nachmittag über den Zaun des Haines krabbelte, fühlte er ein dumpfes pochendes Gefühl in der Magengegend. Langsam und leise schlich er zum Haus. Niemand war zu sehen. Ihm wurde kalt. Er war jetzt fast elf Jahre alt und seine Zeit verbrachte er mit Fahrradfahren und Tischtennis. Es viel ihm schwer seine Aufmerksamkeit lange auf eine Sache zu richten.
Dies hier war anders, das merkte er. Ein Abenteuer wartete auf ihn und wenn Thomas zu feige war, dann würde er es alleine erleben.
Langsam ging er um das Haus herum. Es war einmal blau gewesen, doch der Putz bröckelte an jeder Stelle des Hauses ab und das nicht erst seit ein paar Jahren. Hier war seit Jahrzehnten nichts gemacht worden. Der Misthaufen vor dem Haus sah dagegen recht frisch aus und er roch auch so.
Ein Huhn kam auf ihn zu gerannt. Es schwankte nach rechts und links. Aus seinem Hals schoss das Blut in Strömen. Der Kopf fehlte. Hinter ihm kam Jakob angelaufen. Auf seinen dicken großen Beinen wirkte der Riese als wären seine Beine dicke Baumstämme die sich staksend durch das Gras kämpften.
Als Karsten das Tier sah, wie es erst rannte und dann einfach in sich zusammenfiel wurde ihm schlecht. Aber bevor er sich übergeben konnte, bekam er Angst.
Der Riese! Er machte auf dem Absatz kehrt und rannte. Dabei ging ihm das Bild des armen Huhns nicht mehr aus dem Kopf.
Hatte der Riese ihn gesehen? Schnell kletterte er über den Zaun, dabei riss er sich seine Hose am Bein auf, als er am Zaun hängen blieb. Er dachte es wäre der Riese den ihn eingefangen hätte und nun an seinem Bein zerrte. Panisch vor Angst schrie er und riss sein Bein los. Dabei bohrte sich ein dicker Holzsplitter tief in seinen Oberschenkel. Karsten wollte nur weg. Schreiend und humpelnd machte er sich auf den Heimweg.

Eine Woche lang traute sich keiner der Kinder zu dem Haselnusshain. Am darauf folgenden Montag allerdings schien die Sonne wieder und es wurde etwas wärmer und damit auch der Mut der Kinder. Ammelie bettelte ihren Bruder an sie mitzunehmen und versprach, mit Spucke besiegelt, das sie nicht schreien, weinen oder petzten würde.
So machten sich die drei wieder auf zum Hain. Verstecken würden sie heute nicht spielen. Sie wollten die Wahrheit über die Kinderfresser heraus finden.
Sie kletterten an ihrer Stelle über den Zaun und schlichen sich zum Haus. Schon von Weitem hörten sie ein wehleidiges Jammern. Ammelie wollte schon fast umkehren, aber dann würden die beiden das Abenteuer alleine erleben und das konnte sie nicht zulassen. Also schluckte sie ihr Unbehagen herunter und grinste ihren Bruder mutig an. Dieser nickte beiden zu und sie schlichen weiter, dem Jammern entgegen. Vielleicht konnten sie einem gefangenem Tier oder sogar einem Kind helfen zu entkommen? Das Jammern kam eindeutig aus der Scheune. Der große Traktor stand vor der Tür und sie gingen langsam um ihn herum und schauten vorsichtig durch die Stalltür, die halb offen stand. Was sie sahen verschlug ihnen den Atem. Da saß Hella. Dünn und bis auf die Knochen abgemagert kniete Hella mit einem Stück Stoff im Arm auf dem kalten Lehmfußboden und weinte. Nein, es war ein Kleid. Rosafarben und mit weißer Spitze besetzt. Stumm standen die drei Mutigen an der Tür und betrachteten Hella. Diese drehte sich um und starrte die Kinder an. Augenblicklich wurde aus dem leisen Wimmern ein lautes Kreischen, das ohrenbetäubend den Kindern die Gänsehaut unter die Kleider trieb. Sie wollten weg aber der Riese Jakob stand in der Tür.
?Sie ist traurig.? Das war alles was er sagte. Da erhob sich Hella und wollte sich auf Ammelie stürzen. Ammelie erschrak und rannte los. Der Blick in den Augen der Greisin, ließ die reine Panik in ihr hochsteigen. Als sie um den Misthaufen rannte, drehte sich im Laufen um. War die Kinderfresserin ihr auf den Fersen? Dabei übersah sie das Loch und fiel in die Güllegrube. Schnell gab der flüssige Mist unter ihr nach. Sie sackte unter einem spitzen Schrei tiefer und tiefer.

Karsten hatte versucht Hella aufzuhalten, damit Ammelie einen Vorsprung hatte. Er warf sich ihr in den Weg und hielt sie fest.
?Lauf Ammelie!? ,hatte er ihr nachgerufen.
Doch Hella hatte keine Kraft mehr. Sie ließ sich widerstandslos von Jakob auf den Arm nehmen. Er wiegte und tröstete sie wie ein kleines Kind.
?Schnell? wisperte Karsten Thomas zu und zeigte auf die Richtung in die Ammelie gerannt war. Sie liefen los und riefen nach ihr, aber niemand antwortete.
?Vermutlich ist sie längst zuhause?, meinte Thomas und die beiden kletterten wieder über den Zaun und schlichen nach Hause. Doch zuhause war Ammelie nicht.
Als Thomas Mutter am Nachmittag vom Einkaufen nach Hause kam, war ihr sofort klar das etwas passiert war. Thomas stand bleich und verschwitzt in der Tür.
?Ammelie..? war alles was er sagen konnte.
?Wo ist sie??, seine Mutter war bleich geworden. Ihre Knie wurden weich und sie schüttelte Thomas.
?Wo ist sie??
?Sie ist weg!? Entgeistert sah seine Mutter ihn an. Er hatte den Weg nach Ammelie abgesucht und war den ganzen Weg noch einmal zum Hain gelaufen und hatte dabei die ganze Zeit nach ihr gerufen.
Sie war einfach weg.
Seine Mutter rief die Polizei an. Mit einer Hundestaffel ausgerüstet kamen ein Dutzend Beamte und befragten Thomas. Er erzählte zum Schrecken seiner Mutter, wo sie gewesen waren und seit wann Ammelie verschwunden war.
?Ihr ward auf dem Grundstück der Kinderfresser??, Thomas Mutter sah ihn fassungslos an.
?Kinderfresser??, der befragende Beamte sah sie nur an.
?Was sind denn das für Märchen??, er erzählte von dem Schicksalsschlag der Jakob und Hella Wohlraab 1970 wiederfahren war. Das nämlich die beiden Töchter, Zwillingsschwestern, in der alten Scheune zu Tode gestürzt waren, als sie dort gespielt hatten. Da aber die Töchter nicht getauft waren, durften sie auch nicht in geheiligter Erde beigesetzt werden. Man hatte den Eltern damals erlaubt die Asche der beiden in ihrem Garten zu bestatten, deswegen gäbe es kein öffentliches Grab.
Allerlei Spekulationen über den Verbleib der beiden ungefähr sechs jährigen Mädchen kamen damals in Umlauf und das Dorf hatte sich seine eigene Geschichte gebastelt.
Als am Abend die Hunde an der Güllegrube anschlugen und diese ausgepumpt wurde, fand man ein totes sechsjähriges Mädchen mit einem rosafarbenen Anorak und einer weißen Hose bekleidet.


© A.Friedrich


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Beschreibung des Autors zu "Der Haselnusshain"

Gerüchten sollte man nicht glauben , denn sie werden von denen in die Welt gesetzt die Angst haben ein ähnliches Schicksal erleiden zu müssen...

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Kommentare zu "Der Haselnusshain"

Re: Der Haselnusshain

Autor: MonjaBenMessaoud   Datum: 29.12.2010 18:32 Uhr

Kommentar: Dies ist eine stimmige Anekdote über die Eigendynamik von Vorurteilen und fehlender Kommunikation, was gut nachvollziehbar, NIE in ein gutes Ende mündet!
Interessant ist auch der Verweis auf eine durch Spenden aufgebaute Schule
für Kinder. Siehe hierzu auf der verlinkten Homepage der Autorin.

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