Die Straße war so lang, dass ich gar nicht mehr wusste, wie lange ich schon gelaufen war; genauso machte ich mir keine Gedanken mehr darum, wie lange ich noch laufen würde. Ich hatte mir ebenfalls abgewöhnt, schnell zu laufen, ich lief langsam und gemütlich, sodass ich mich kaum anstrengte. Den Anblick der wunderbar bunten Herbstbäume, die an der Straße standen, genoss ich nicht mehr, denn es war zu anstrengend, etwas so genau zu betrachten und genießen. Ich tat fast nichts Anstrengendes mehr, nur was unbedingt nötig war. Denn ich war schon so lange ein und dieselbe Straße entlnaggelaufen, dass ich mich an nichts anderes als diese Straße erinnern konnte. Da tat ich eben nichts, was auch nur ein wenig unnötig war, da dachte ich auch nicht nach, nur über das Allernötigste. Ich trottete also schon seit Ewigkeiten die Straße entlang, beachtete nicht, was um mich war und um mich geschah, obwohl nicht viel um mich geschah, weil kaum einmal ein Mensch diese Straße betrat und wenn, dann nur, um sie zu überqueren. Ich konnte mich also an keine andere Vergangenheit erinnern und mir keine andere Zukunft vorstellen. Ich wusste nicht warum ich hier war, wie ich hier hergekommen war, den Namen der Straße wusste ich nicht, den Namen von mir selbst auch nicht. Ich wusste nicht richtig, wer ich war. Aber um das herauszufinden, müsste ich nachdenken, und das wäre auf die Dauer viel zu anstrengend. Nur manchmal kamen mir bestimmte Worte in den Kopf, die mir einmal jemand gesagt hatte, bevor ich auf diese Straße gekommen war. Ich hatte nur keine einzige Erinnerung daran, wie dieser jemand aussah, doch das war genauso unwichtig wie das Aussehen von mir selbst oder dieser Straße, dass ich dieser Frage keine Beachtung schenkte. Die Worte lauteten: „Deinen Weg hast du bereits gefunden. Diese Straße ist dein Weg, und das Ziel dieses Weges ist es, dieses zu finden. Weiche nicht von deinem Weg ab, denn dann wirst du nur damit zu tun haben, wieder zu ihm zurückzufinden. Verschwende deine Gedanken nicht dafür, über etwas anderes nachzudenken, als über ein Ziel, das du finden musst um schließlich zu ihm zu gelangen.“
Doch ich glaubte schon seit langer Zeit, das Ziel gefunden zu haben, denn wenn ich weit in die Ferne schaute und meine Augen sehr anstrengte, dann sah ich eine Welt, die nicht Herbst war, die auch keine Straße war, sondern irgendetwas Unbekanntes. Es sah vielleicht so aus wie Frühling, wie eine wunderschönde, von der Sonne beschienene Blumenwiese. Ich glaubte schonseit fast immer, dass es das Zeil war, in diese Welt zu kommen. Der Grund dafür, dass ich das Zeil noch nicht erreicht hatte, war, dass ich, auch wenn ich schon seit Ewigkeiten Schritt für Schritt machte und immer weiterlief, der Welt nicht einen eizigen Zentimeter näher kam. Sie blieb immer gleichweit von mir entfernt, egal wie schnell oder langsam und wie weit ich lief. Aber darüber nachzudenken würde viel Anstrengung kosten, also tat ich es nicht.
In diesem Zustand wäre ich noch bis in alle Ewigkeit geblieben, wenn nicht etwas Besonderes passiert wäre, etwas, das ich nicht so schnell wieder vergaß. Eines Tages gab es einen mächtigen Sturm und ein gewaltiges Gewitter. Der Sturm war so stark, dass auch dicke Äste von den Bäumen vielen, ich alöso einer großen Gefahr ausgesetzt war. Der Donner grollte ohrenbetäubend, Blitze schlugen fast ohne Pause tief bis fast in die Straße, trtafen auch manche Bäume und der Regen prasselte so stark hernieder, dass ich überhaupt nichts mehr sah. Ich musste also stehenbleiben und stellte mich unter einen Baum. Das war eine sehr dumme Entscheidung, denn dieser Baum war gerade einer von den wenigen, die von einem Blitz getroffen wurden. Mich schien der Schag auch getroffen zu haben, denn ich fiel bewusstlos zu Boden. Wie durchein Wunder überlebte ich diesen Schlag. Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis ich wieder aufwachte. Doch ich war aufgewacht, und das konnte ich als als ein Wunder ansehen. Ich setzte sofort meinen Weg fort zum vermeintlichen Ziel. Alles war wie früher, die Straße und das Ziel, das ich in der Ferne sah, und überhaupt alles. Aber irgendtewas hatte sich doch verändert. Der Blitzschlag musste es gewesen sein, der bewirkt hatte, dass ich plötzlich nachdachte und begann, mich selbst und die Umgebung zu erkunden. Wer bin ich? Was ist diese Straße? Was ist mein wirklicher Weg? Was ist mein wirkliches Ziel? Warum bin ich? Warum ist diese Straße? Ich sie für mich oder durch mich? Ich sah in die Ferne, strengte meine Augen an. Ich sah den Frühling, die Blumenwiese, die Sonnen, aber alles so fern, so fern wie schon immer. Ist es nicht, so, dass die Welt mit mir wandert? Wie wandert genauso schnell, genauso langsam wie ich, und bleibt stehen, wenn ich stehen bleibe, nur viele Kilometer voraus. Ist sie nicht ein Abbild, von meinem Weg, den ich gehe? Ist es nicht mein Weg selbst? Ist also das Zeil auch mein Weg? Dann müsste der Weg auch mein Ziel sein. Ich betrachtete den Weg. Die Straße war asphaltiert, doch hatte keinen Bürgersteig. An beiden Rändern standen Bäume über Bäume; es war wie eine Allee. Und seit ich mich erinnern konnte, war hier Herbst, was besonders an den Bäumen zu sehen war. Ihre Blätter waren braun, orange, gelb rot, bis hin zu lila und auch ein bisschen grün. Es war geradezu idyllisch. Warum hatte ich nur unterlassen, das zu genießen! Alle Anstrengungen wären es wert gewesen. Aber nun wusste ich plötzlich, dass ich mein Ziel erreicht hatte. Dieser Weg war auch mein Zeil, doch das Ziel. Das ich in der Ferne sah, war auch mein Weg. Denn das Ziel konnte ohne den Weg nicht bestehen, doch der Weg konnte auch ohne das Ziel nicht bestehen. Also war ich, während ich den Weg ging, gleichzeitig im Ziel, und während ich im Ziel war, ging ich gleichzeitig den Weg. Ich hatte mein Zeil erricht, indem ich es gefunden hatte. Doch war ich nicht schon die ganze Zeit, während ich den Weg, die Straße gegangen war, im Ziel gewesen. Nein. Denn ich war nur den Weg gegangen, und mir keinem Ziel bewusst gewesen. Der Weg und das Ziel kamen allein aus meinem Inneren heraus.


© Hanka Fritz


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