Es war Nachmittag. Es war Zeit zu gehen. Er bewegte, wie jeden Tag, seinen massigen Körper in einem schwarzen, verwaschenen Feincord-Anzug, drapiert mit einem fast schon ausgebleichten, ehemals bordeauxroten Schal, mittels der schwerfälligen Füße aus dem Haus hinaus auf die Straße. Hinaus auf die frisch asphaltierte, breite, graue Straße, die sich durch das noch viel grauere Viertel zog und ihn von seinem Haus zu der Bar führte. Achja... die Bar von immer. Beim Gehen klebten die Füße am frischen Asphalt. Sie versanken bei jedem Schritt förmlich darin, nur um sich beim Anheben des Beins sofort wieder zu lösen und beim nächsten Schritt wieder in die glühende schwarze Masse einzutauchen.
Während die Füße mit dem Asphalt kämpften, folgte ihm das unentrinnbare Ticken der schwarzen, durchsichtigen Uhr, die sein Leben bestimmte wie ein Metronom das Spiel der Musik. Sie war sein unbarmherziger Freund, der stets nichts anderes verkündete als die Wahrheit. Sagte sie nicht, er solle den Asphalt verlassen? Er sah sich um. 1, 2, 3, 4, 1, 2, 3, 4, , tic, tac, tic, tac, tic, tac, 1-tic, tac-2, 3, 4, tic...
Vor dem Kopf die Uhr, in dem Kopf die Noten. Von rechts nach links, von oben nach unten, Takt um Takt, Zeile um Zeile, Minute um Minute. Kunstvoll begleiteten seine Hände diese Vorstellung und wirbelten auf dem Brett umher ? immer und immer wieder, kreuz und quer. Die Farben lösten einander in (zu?) raschem Wechsel ab. Das Eine verdrängte das Andere. Immerfort; die Essenz seines Lebens ? weiß auf schwarz ? immerfort, während die Ecke der weiß gesäumten Straße auf ihn zu schnellte. Rasch wie gewöhnlich kam sie, diese weiße Ecke der Straße voll weißer Fassaden. Stofflich weiß war sie, die Straße ? doch vom Gemüt her tiefgrau.
Und auf dem Bürgersteig kam mal wieder der Mann in weißem Woll-Anzug mit der Frau in wehendem Safran. Ein ?Hallo!?, zwei Arme schnellten empor. Einer in weißer Wolle, der andere in schwarzen Feincord. Daneben stumm und feurig ein schwarzer Blick auf kaltem Stein. Sie senkten die Arme. Vor der Fassade der gleiche Blick auf den gleichen Stein. Zuletzt glitten sie rasch aus seiner Sicht ? die Trauer empfand er, merke es nicht. Seine Füße kämpften nicht mehr. Des Asphalt wurde älter und älter, so alt, dass er ihn gar nicht mehr fühlte. Er sah auf den Boden. Inzwischen nur tic............ tac............ tic............ tac............ tic. Die Noten in seinem Kopf passten sich an ? wurden leiser, immer leiser und noch leiser. Dann sah er wieder auf und erstarrte ? den Fuß in der Luft, den Arm im Schwingen. Vor ihm erschien eine türkise Säule, gekrönt von Gold, besetzt mit Saphiren. Die Säule glitt die Straße hinab. In die entgegengesetzte Richtung. Warum hatte sich diese Säule gelöst aus der weißen Häuserfront, in die sie durch ihren Macher unerbittlich gemeißelt worden war? Warum? Warum???
Er blieb, schaute und staunte. Es erschien ihm klar, dieses türkise Kunstwerk des Meisters, verziert mit Gold und Saphiren. Das Gold, gewoben aus tausenden Fäden, und das Türkis verschwammen und formten sich neu mit jedem überwundenen Meter. Dann war es vor ihm. Stein, Metall und Farbe glänzten und blendeten ihn. Schmerz durchfuhr ihn, doch sich abwenden konnte er nicht und vor seinen Augen erschien ein Meer aus weißen Lilien und Nachthyazinthen. Er sah auf die Saphire, groß wie die Portale der heiligsten Kirche und so weit wie das ewige Himmelstuch.
Dann verschwamm das Türkis und brannte durch sein verwaschenes Hosenbein. Die Säule glitt aus seinem Blick und verschwand. Er sah sich um. Sah wehendes Gold. Entziehen konnte er sich dem Kleinod des grauen Viertels nicht. Doch der verwaschene, schwarze Feincordanzug und der ausgebleichte, bordeauxrote Schal drehten ihn um. Er ging.
Die Ecke war überwunden; die Tür geöffnet. In seinem Kopf spielte Musik. 1,2,3,4; 1,2,3,4; 1,2,3,4. Doch kein Metronom tickte mehr. Er sah durch den Raum. Ein nur scheinbar freundliches Nicken, verraten durch einen Blick aus Eis. Er schritt nach vorn, auf das dunkle Parkett; das Holz federte und er sah hinab zu seinen Füßen. Sein Freund hatte Recht gehabt. Er berührte die Decke und nahm Platz auf einem hölzernen Stuhl, bezogen mit blutrotem Samt. Vor ihm Schwarz und Weiß. Ach, sein Metier war der Asphalt einfach nicht! Es begann ein neues Stück. Weiß auf zweifaches Schwarz. Und doch: er starb.


© GaladorCMW


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