Die Stimmen aus dem Nebel riefen meinen Namen, doch ich hatte sie noch nie zuvor gehört – ein Flüstern, das durch die feuchte Luft kroch, mal nah, mal fern, wie ein Echo, das keinen Ursprung hatte. Ich stand auf der Veranda meines alten Hauses am Rand des Moors, die Nacht war schwer und kalt, der Nebel so dicht, dass er die Welt verschluckte. Es war kein Ort für Gesellschaft, kein Ort für Stimmen – ich lebte allein hier, seit meine Schwester vor zwei Jahren verschwunden war, verschluckt von diesem verdammten Sumpf, ohne eine Spur, ohne einen Abschied. Die Einsamkeit hatte mich ausgehöhlt, aber ich blieb, weil ich nicht wusste, wohin sonst.
„Jacob…“ Es war kein Wind, der meinen Namen trug, sondern etwas Lebendiges, etwas, das in den Schwaden lauerte. Ich zog meine Jacke enger, meine Hände zitterten, als ich die Taschenlampe vom Haken nahm. Der Strahl schnitt durch den Nebel, doch er zeigte nichts – nur weiße Leere, die sich bewegte, als hätte sie einen Puls. Ich hätte die Tür verriegeln sollen, ins Haus zurückgehen, die Fensterläden schließen – aber dieses Flüstern, es war wie ein Haken in meinem Fleisch, es zog mich raus, in die Nacht, in den Sumpf.
Meine Stiefel sanken in den Schlamm, jeder Schritt ein schmatzendes Geräusch, das die Stille zerriss. Die Stimmen wurden lauter, ein Chor aus Zischen und Murmeln, und doch war da keine Klarheit – sie riefen „Jacob“, aber es war kein Ton, den ich kannte, kein Klang, der aus menschlichen Kehlen hätte kommen können. Meine Lampe zitterte in meiner Hand, der Strahl tanzte über das brackige Wasser, die verdrehten Bäume, deren Äste wie Knochen aus dem Nebel ragten. Ich hatte diesen Sumpf mein Leben lang gekannt, hatte als Kind mit meiner Schwester hier gespielt, doch jetzt war er fremd, ein Ort, der mich nicht wollte.
„Jacob… komm…“ Die Worte schlichen sich in meinen Kopf, und ich stolperte, fiel fast, als ein Schatten über den Boden glitt – kein Umriss, keine Form, nur ein Fleck aus Dunkelheit, der sich bewegte, ohne dass etwas ihn warf. Mein Herz schlug gegen meine Rippen, ein dumpfer Schmerz, der mich an die Tage erinnerte, als ich nach ihr gesucht hatte, nach meiner Schwester, ihre Schreie im Ohr, die abrupt verstummten. War das sie? Waren das ihre Stimmen? Nein, das konnte nicht sein – diese Töne waren zu roh, zu verzerrt, als würden sie durch etwas hindurchgepresst, das nicht menschlich war.
Ich ging weiter, die Lampe vor mir, der Schlamm saugte an meinen Beinen, als wollte er mich halten. Der Schatten war überall und nirgends – er huschte über das Wasser, kroch die Bäume hinauf, verschwand, wenn ich hinsah, nur um sich wieder zu zeigen, wenn ich blinzelte. „Wer seid ihr?“ rief ich, meine Stimme brach, ein heiseres Krächzen, das der Nebel verschlang. Die Antwort war ein Lachen – kein fröhliches, sondern ein hohles, leeres Geräusch, das meine Knochen vibrieren ließ. Es kam von vorn, von links, von hinten – es war im Nebel, war der Nebel, und ich spürte, wie es näher kam.
Meine Taschenlampe flackerte, der Strahl wurde schwächer, als würde die Dunkelheit ihn ersticken. Ich drehte mich um, suchte den Weg zurück, doch das Haus war weg – keine Lichter, kein Umriss, nur Nebel, endloser Nebel, und dieser Schatten, der nun Form annahm, aber keine, die ich fassen konnte. Er war lang, dünn, dann breit und wabernd, wie Rauch, der sich verdichtete, ohne je fest zu werden. „Jacob… sieh uns…“ Die Stimmen waren jetzt in meinem Kopf, ein Flüstern, das meine Gedanken zerfraß, und ich fiel auf die Knie, der Schlamm kalt gegen meine Hände.
Ich erinnerte mich an die Nächte nach ihrem Verschwinden – die Albträume, die mich heimgesucht hatten, von Schatten, die über die Wände krochen, von Stimmen, die aus der Tiefe des Moors kamen. Ich hatte sie ignoriert, sie dem Wahnsinn der Trauer zugeschrieben, doch jetzt wusste ich: Sie waren echt. Der Schatten schwebte näher, und ich sah – oder glaubte zu sehen – Augen darin, winzige, glühende Punkte, Dutzende, die mich anstarrten, mich kannten. Es war kein Wesen, kein Tier, kein Geist – es war etwas anderes, etwas, das der Sumpf geboren hatte, etwas, das wartete, lauerte, seit Jahrhunderten vielleicht.
„Was wollt ihr?“ Meine Stimme war ein Wimmern, Tränen liefen über mein Gesicht, salzig und warm gegen die Kälte. Der Schatten antwortete nicht mit Worten, sondern mit Bildern – sie fluteten meinen Verstand, roh und unbarmherzig. Ich sah meine Schwester, ihren letzten Moment, wie sie in den Sumpf trat, wie der Schlamm sie zog, wie der Schatten sie verschlang, ihre Schreie in ein Flüstern verwandelte, das nun zu mir sprach. „Jacob… wir sind sie… sie ist wir…“ Ich schrie, schlug um mich, doch meine Fäuste trafen nur Nebel, der sich um mich schlang, schwer und feucht wie ein Leichentuch.
Der Boden unter mir bebte, als würde der Sumpf atmen, und der Schatten wuchs, breitete sich aus, bis er alles war – die Luft, das Wasser, die Nacht. Meine Lampe fiel, versank im Schlamm, und die Dunkelheit schloss sich über mir, doch ich sah ihn noch, diesen Schatten, wie er sich um mich wand, mich umarmte, mich rief. „Jacob… bleib…“ Es war keine Drohung, kein Befehl – es war ein Flehen, und das machte es schlimmer. Ich fühlte, wie meine Beine nachgaben, wie der Schlamm stieg, meine Knie, meine Hüfte, meine Brust, und die Stimmen wurden lauter, ein Chor aus meiner Schwester, aus mir, aus etwas, das weder war.
Ich sank, der Schatten zog mich tiefer, und in meinem letzten Atemzug hörte ich sie – klarer jetzt, ihre Stimme, meine Stimme, vermischt in einem unheiligen Klang: „Jacob… wir sind hier…“ Und dann war da nur noch Stille, nur noch Nebel, nur noch der Schatten, der mich nahm. Doch als die Dunkelheit mich verschluckte, spürte ich einen Ruck – ein Licht, fern, schwach, und eine Hand, die nach mir griff. War das Rettung? Oder etwas Schlimmeres, das noch lauerte?
„Jacob wird von Stimmen aus dem Nebel gerufen, die seinen Namen flüstern – fremd, doch vertraut. In der Einsamkeit seines Hauses am Moor, gezeichnet vom Verlust seiner Schwester, wagt er sich hinaus. Ein Schatten, formlos und lauernd, erhebt sich aus dem Sumpf, ein Grauen, das sie verschlang und nun nach ihm greift. Zwischen Trauer und Wahnsinn sinkt er in die Dunkelheit – bis ein Licht und eine Hand ihn packen. Rettung oder ein neuer Schrecken?“
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Meine Gedanken fließen ins Uferlose.
Mein Herzblut fließt warm hinterher.
Ich liebe dich, hast du gesagt.
Mir blieb der Atem stehen.
Und ich fühlte in mich hinein.
Und zuallererst vernahm ich [ ... ]
Ich schließe die Augen
und zähle bis hundert.. geh... versteck dich..
ich werde dich an deinen Fußspuren.. am Meer...
und an der Blickrichtung der Kraniche finden..