Ich saß in dem Warteraum des Stuttgarter Bahnhofs. Das Wartehäuschen war aus Glas mit umlaufenden Stadtlandschaften in weißer Farbe aufgemalt und einem großen Bildschirm für die Zughinweise.
Draußen hetzten Menschen mit Rollkoffern vorbei. Ein paar Tauben liefen auf dem Bahnsteig entlang und pickten bedachtsam Krümel vom Asphalt. Sie waren wohlgenährt.
Draußen war es kalt und im Wartehäuschen gut geheizt. Ein älteres Ehepaar kam herein. Gerade zeigte der Bildschirm Verspätungen an: Salzburg 110 min., nach Karlsruhe 150 min., 60 min. Erfurt und ein anderer Zug war ausgefallen. Es war eine Insel der Zeit, die man hatte oder sich nehmen musste., dieses Wartehäuschen.
Der Mann ging für eine lange Zeit hinaus, während die Frau das Gespräch mit mir suchte.
„Wir sind schon seit zehn Uhr unterwegs und kommen von Venedig. Dort haben wir unseren Hochzeitstag gefeiert. Den 50 sten. Ach, wissen Sie, das war damals eine spannende Sache, diese Hochzeitsreise vor 50 Jahren.“, plauderte die Frau.
„Mein Mann hatte mir damals nicht verraten, wo es hinging. Dann schürte er: „Was willst du mitnehmen?“ Ich sagte: „Ein schönes Kleid.“ „Und wenn wir wandern gehen?“ O.k., ich packte Wanderstiefel ein. „Und was, wenn wir einen Badeurlaub machen?“ „Also gut, für einen Bikini war auch noch Platz. Ich hatte zum Schluss zwei Plastiktüten voll mit Kleidung, die ich in den Koffer nicht mehr hineinbekam. Und dann kam der Abreisetag und es ging nach Venedig. Und nicht in eine Hütte, sondern ins beste Hotel am Platz. Ich hatte gestaunt. Und als ich meine Plastiktüten dem Portier überreichte, nahm er diese mit einer Eleganz und Vornehmheit, die mich heute noch erröten lässt.“ „Darf ich der Dame ihr Gepäck abnehmen“, hatte er in lupenreinem Deutsch gefragt.
„Vieles von dem, was ich dabeihatte, konnte ich verwenden, aber nicht alles. Aber mein Mann hatte mir damals schon beigebracht, für alle Fälle gerüstet und vorbereitet zu sein. Damals hatte ich mir noch Bettwäsche mit aufgedruckten Gondeln gekauft, um mich lange an meine Hochzeitsreise zu erinnern.
50 Jahre später war Venedig immer noch schön. Der Nebel, der im November eine Decke bildet, gibt eine andere Atmosphäre als die Stadt in den Sommermonaten hat. Den Campanile zu besteigen, um das Herbstlicht zu sehen, ist einmalig. Oder am Dogenpalast nicht Schlange zu stehen, das hat etwas. Natürlich ist die Oper im Theater La Fenicel einzigartig und die vielen Feste im November, begonnen von Allerheiligen über das San Martino-Fest mit Süßigkeiten. Es ist ein Fest im Schatten des venezianischen Karnevals im Februar. Und natürlich auch die Bienale von Venedig, die wichtigste Kunst- und Architekturausstellung.“
Ihr Mann kam zurück und meinte, ihr Zug sei eingefahren. Sie verabschiedeten sich und brachen auf.
Ich träumte noch ein wenig von venezianischen Vaporettos als Transportmittel, den schönen Innenräumen des Theater La Fenicel mit dem Atrium und den Apollonischen Sälen, bis auch mein Zug kam.
Dann stieg ich in den warmen Zug ein und fuhr nach Hause.


© Karin Schaffer


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Kommentare zu "Im Wartehäuschen"

Re: Im Wartehäuschen

Autor: Wolfgang Sonntag   Datum: 20.11.2022 20:37 Uhr

Kommentar: Liebe Karin,
ich habe deine Geschichte sehr gern gelesen. Während des Lesens hatte ich das Gefühl auch in dem Wartehäuschen zu sitzen ... und war traurig, als die Geschichte zu Ende war.
Liebe Grüße Wolfgang

Re: Im Wartehäuschen

Autor: Karin Schaffer   Datum: 20.11.2022 22:24 Uhr

Kommentar: Lieber Wolfgang,
danke dir für deine guten Worte, dein Interesse und deine Treue als Leser.
Ich finde deine Texte auch sehr gut.
Liebe Grüße
Karin

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