Elsa ging, wie üblich, auf einen Kaffee ins Bürgertreff. Ein paar bekannte Leute treffen, ein Schwätzchen halten, das tat der Rentnerin gut in ihrem Alltag.
Diesmal war Gudrun da, eine schlanke Mittfünfzigerin, mit Sportmütze, langen Haaren, die ihr bis in die Mitte des Rückens reichten, rotbraun mit Henna gefärbt, und einem großen Rucksack.
Gudrun saß normalerweise bei der Bastelgruppe, nähte, schneiderte und kam nur zum Kaffeeholen in den großen Raum. Diesmal war sie gesprächig, sie suchte jemanden, und ihre Wahl fiel auf Elsa.
„Ich habe keine Wohnung mehr“, sagte Gudrun unvermittelt. „Ich wohne auf der Straße“, fügte sie hinzu. Elsa war betroffen. „Aber hattest du nicht eine Wohnung, von der du erzählt hast?“, entgegnete Elsa. „Ja,“ sagte Gudrun, „aber die ist ausgebrannt. Es gab einen Kurzschluss in den elektrischen Leitungen. Jetzt habe ich eine Kündigung bekommen und stehe auf der Straße. Meine ganzen Sachen sind in einem Container in der Stadt. Zwei mal drei mal drei Meter, darin ist alles, was ich habe,“ raunzte sie. Ihre Stimme war vom Rauchen knarzig und klang etwas angegriffen.
Elsa war betroffen. Ihr Leben lief in geordneten Bahnen ab, Aufstehen, Kontakte pflegen, Aufgaben suchen und finden und zufrieden sein. Sie hatte wieder eine Aufgabe gefunden.
„Du kannst bei mir von Donnerstag bis Sonntag bleiben und wohnen“, bot sie ihr an. Gudrun hielt sich an ihrer Seite und nach dem Kaffeetrinken ging sie mit ihr in ihre Zwei-Zimmer-Wohnung. Darin war Platz für Zwei. Am Abend wollte sie noch in einen Verein und würde erst in der Nacht nach Hause kommen. Sie richtete Gudrun das Bettzeug und quartierte sie im Wohnzimmer auf dem Sofa ein. In der Wohnung gab es nichts von Wert und auch nichts zum Stehlen. Darum war sie beruhigt, Gudrun in der Wohnung allein zu lassen. Nur den Zimmerschlüssel gab sie ihr nicht.
Als sie mitten in der Nacht nach Hause kam, schlief Gudrun fest und tief. Diese hatte ihre Jeans im Bad zum Lüften aufgehängt. Sonst war alles ordentlich geblieben und aufgeräumt.
Am nächsten Morgen freute sich Elsa aufs Frühstück. Sie machte ein Prachtfrühstück mit Orangensaft, Toastbrot und weichgekochten Eiern. Elsa war nicht mehr allein und endlich mit jemandem frühstücken und reden zu können, das tat ihr gut.
„Seit wann bist du arbeitslos?“, fragte Elsa. „Vor zwölf Jahren habe ich zuletzt in meinem Beruf gearbeitet. Dann gab es nur noch Gelegenheitsjobs und Zeitverträge. Seit fünf Jahren finde ich nichts mehr und Zeitverträge mache ich nicht mehr.“, sagte Gudrun. Elsa war irritiert. Fünf Jahre waren eine lange Zeit. „Und die Wohnung?“, fragte Elsa. „Du hast bei Kündigung Anspruch auf eine Ersatzwohnung. Oder eine Sozialwohnung.“ “Nein“, sagte Gudrun entschieden, “Da gehe ich nicht hin, da sind nur Alkoholiker und Fixer.“ Es wurde schwierig. „Und deine alte Wohnung?“, fragte Elsa. „Die Miete geht weiterhin an die Adresse“, meinte Gudrun. Elsa war nicht klar, ob sie wegen Mietschulden weiter zahlte oder was das ganze sollte. Sie bekam keine Antwort. Und die Ersatzwohnung, ging auch nicht, denn sie hatte ja noch eine verrauchte und geschwärzte Wohnung, die hergerichtet werden musste. Elsa verstand gar nichts. Dann erzählte Gudrun von ihrem Leben auf der Straße. Mit dem 9-Euro-Ticket war sie an den Bodensee gefahren und hatte sich ans Ufer gelegt und die Aussicht auf das Wasser genossen. Schlafen würde sie normalerweise in den Zügen, das sei nicht so gefährlich wie auf der Straße. Der Bodensee sei fantastisch, sie solle auch einmal hinfahren. Und dann Esslingen, es gäbe Leben in der Stadt bis in die Morgenstunden, überall Leute, die feierten, da mache es Spaß, sich hinzusetzen und innezuhalten und dem Treiben zuzuschauen. Kalt werden würde es erst um vier Uhr.
Elsa war überrascht, was Gudrun aus ihrem Leben auf der Straße machte. „Du kannst immer von Donnerstag bis Sonntag bei mir bleiben, bis du eine Wohnung und Arbeit gefunden hast“, bot Elsa ihr an. „Die restliche Woche musst du woanders unterkommen.“ Der Bruder, Ja aber der Bruder habe Schimmel im Bad, meinte Gudrun, da wolle sie nicht so gerne hin. Dann solle sie Schimmelspray kaufen, Elsa könne ihr auch eine Sprayflasche mitgeben. Die hätte sie auch schon, meinte Gudrun. Dann suchte sie mit ihrem Handy nach Wohnungen, es war aber bei den Angeboten nichts dabei.
Elsa wollte eine Freundin treffen und lud Gudrun ein, mitzukommen. Und sie diskutierten zu dritt, ob Gudrun zuerst eine Wohnung oder eine Arbeit bräuchte. Diese Freundin war der Meinung: zuerst eine Arbeit. Als Elsa meinte, das würde lange dauern, wollte Gudrun davon nichts mehr hören.
Am Sonntag traf sich Elsa mit einer anderen Freundin. Wieder war Gudrun zum Treffen eingeladen. Wieder diskutierten sie darüber, ob sie zuerst eine Wohnung oder eine Arbeit bräuchte. Diese Freundin war der Meinung: zuerst eine Wohnung. Als Elsa meinte, das würde bestimmt ganz schnell gehen und nicht lange dauern, schließlich suche Gudrun ja jeden Tag eine Stunde lang nach Wohnungen, war Gudrun verändert. Sie machte es sich recht behaglich auf dem Sofa. Später kam eine abwartende Haltung bei Gudrun beim Abendessen dazu. Elsa hatte gekocht. Als sie danach Gudrun verabschiedete, hatte sie den Eindruck, diese wäre gerne länger geblieben.
Die nächsten Tage schickte Elsa ihr ein paar Wohnungsangebote, aber Gudrun hatte immer Einwände: zu abgelegen, zu klein, zu alt. Und sie sah sich die Wohnungen gar nicht an. Elsa resignierte. Zuletzt sprach sie mit einer Sozialarbeiterin über Gudrun. „Ach ja die, die kennen wir,“ meinte diese. „Da stimmt einiges nicht“, „“kontrolliert abstürzen lassen“, mehr geht da nicht.“, sagte diese. Elsa war wieder voller Mitleid und wollte mit Gudrun reden, als sie diese zufällig sah. „Das geht dich überhaupt nichts an, wo ich schlafe und was ich mache“, herrschte sie Elsa an, die nachgefragt hatte. „Ich lasse mich nicht kontrollieren. Wer bist du denn, warum spielst du dich so auf?“ Damit war die Hilfsbereitschaft von Elsa beendet. Manchmal sieht sie Gudrun noch zufällig im Bürgertreff.
Gudrun lebt immer noch auf der Straße.


© Karin Schaffer


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