Es war einmal ein Mädchen namens Sihee. Sie war ein Seelensammler. Ein Wanderer der Zeit, ein unsterbliches Wesen, welches die Seelen der Sterbenden einsammelte. Sie beruhigte sie, half ihnen in die Geisterwelt einzutauchen. Sie liebte ihren Job, auch wenn er für immer in Einsamkeit getaucht war. Schließlich war sie glücklich, wenn sie einer Seele den Übergang erleichtern konnte. Nur dank ihr fanden sie ihren Frieden und darauf war sie stolz. Ihre lange Wanderung fand nie ein Ende und sie ruhte sich nie aus. Sie war ihrer Arbeit auch nie müde.

Eines Tages traf sie auf einen kleinen Jungen. Er spielte gerade mit seinem Vater im Garten. Sie lachten und tobten, doch Sihee wusste, dass dieses Glück bald ein Ende nehmen sollte.
Die Uhr des Jungen würde bald anhalten, viel zu zeitig in seinem noch jungen Leben. Aber es war eine Tatsache, denn sonst wäre sie nicht hier. Der Vater setzte den Jungen auf eine Schaukel und stieß ihn an. Sihee setzte sich auf die Wiese und sah den Beiden zu. Was würden sie wohl machen wenn sie wüssten, dass dies ihre letzten Stunden zusammen wären? Würden sie weiter so vergnügt spielen oder würden sie weinen? Würden sie es akzeptieren oder versuchen es zu verhindern? Was auch immer, niemand konnte dem Unvermeidlichen entkommen.

Die Zeit verging und Sihee freute es immer mehr der jungen Familie zuzusehen. Der kleine Junge spielte im Sand. Seine Eltern saßen auf einer kleinen Holzbank und sahen ihm zu. Sie lächelten, man konnte ihnen ansehen, wie sehr sie den Jungen liebten.
Dann stand der Vater auf und ging ins Haus. Die Mutter sah noch einmal zu ihrem Sohn, dann nahm sie das Buch zur Hand, was neben ihr lag.
Das war der Zeitpunkt, als die Zeiger der Uhr schneller liefen. Sie drehten sich unaufhaltsam auf das Ende zu.

Der kleine Junge sah auf und erblickte einen Schmetterling. Schnell stand er da, versuchte ihn zu fassen, doch der Schmetterling flog weg. Der Junge setzte sich in Bewegung und folgte ihm. Seine Mutter sah ihm kurz zu, dann widmete sie sich wieder ihrem Buch.

Sihee konnte sie hören, sie hörte die Zeiger der Uhr. Sie fingen an zu rotieren, immer mehr, immer schneller.
Der Schmetterling flog höher und immer höher, das machte den kleinen Jungen traurig.
Das Rotieren der Zeiger war so ein schmerzlichen Geräusch, Sihee hätte sich am Liebsten die Ohren zugehalten. Es wurde lauter und immer lauter, das Ticken der Uhr war nicht mehr zu überhören.

Tick Tack ... Tick Tack ... Tick Tack ...

Sihee stand auf, folgte dem Jungen. Am liebsten hätte sie ihm zugerufen, ihn aufgehalten, aber das durfte sie nicht.

Der Junge fing an zu hüpfen, sah nach oben zu dem Schmetterling. Er flog weiter, nicht mehr so hoch, fast zu erreichen. Der Junge lief schneller, hüpfte und hüpfte, immer dem Schmetterling hinterher. Die Uhr, das Ticken, ein unerträgliches Geräusch.

Tick Tack ... Tick Tack ... Tick Tack ...

Der Junge lief und lief, hüpfte und hüpfte. Hinaus aus dem Garten, die Mutter saß da, laß ihr Buch, bemerkte nichts. Sihee folgte dem Jungen, sah zu wie der Schmetterling weiterflog, so schön, so unerreichbar. Die Uhr tickte, die Zeiger wurden langsamer.

Tick .. Tack ... Tick .. Tack ... Tick .... Tack

Sie schienen schon fast stehen zu bleiben. Der Junge lief weiter, die Zeiger wurden immer langsamer, doch das Ticken verstummte noch nicht.

Dann geschah es, Sihee sah das nahende Auto. Der Fahrer telefonierte, bemerkte den Jungen nicht, wie er auf die Straße lief. Die Uhr, sie ticket immer noch.

Tick .... Tack ... Tick .... Tack ... Tick ....Tack ... Tick ..... Tack ......

Dann verstummte sie. Endlich war es vorbei, dieses entsetzliche Geräusch. Tränen rannen Sihee über die Wangen, es war ein trauriger Moment. Dieser Moment lag außerhalb der Zeit, er schien unendlich. Sie hörte den Fahrer, wie er das Auto zum halten brachte, zu spät .... Sie hörte die Mutter schreien, sie rannte herbei, zu spät ... Der Fahrer stieg aus, schmiss sein Telefon weg, rannte zu dem Jungen, zu spät ...
Die Mutter weinte, hielt ihren Sohn in den Armen. Das Blut bahnte sich seinen Weg, der Fahrer trat mit seinem Schuh hinein, fasste sich an den Kopf, raufte sich die Haare, ging vor dem Kind auf die Knie und schüttelte immer wieder seinen Kopf.

"Was ist passiert?"
Der Junge stand neben ihr, das Blut tropfte ihm aus der Nase.
Sihee lächelte ihn an, wischte sich die Tränen weg, nahm den Jungen bei der Hand.
"Es ist Zeit, wir müssen los."
"Los? Wohin? Wer bist du?"
"Mein Name ist Sihee, ich bin hier um dich abzuholen."
Der Junge sah zu seiner Mutter, wie sie das tote Kind im Arm hielt und sich das Herz aus dem Leib schrie.
"Was wird aus Mama und Papa wenn ich jetzt gehe?"
"Die Beiden müssen weitermachen, doch deine Zeit ist um. Komm mit, ich helfe dir."
Der Junge nickte und wischte sich das Blut von der Nase.
"Ich bin Luca."
"Ein sehr schöner Name."
Sihee lächelte und die Beiden drehten sich um. Gingen fort, weg von den Schreien, weg von den sich näherten Sirenen. Der Junge lachte und sah Sihee an, dann verschwanden sie zusammen im aufsteigenden Nebel.

Ende


© Lysann Blackmoon


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Kommentare zu "Unvermeidlich"

Re: Unvermeidlich

Autor: Kathleen   Datum: 29.05.2022 18:12 Uhr

Kommentar: Wunderschön, traurig aber auch tröstend geschrieben liebe Lysann,

die Geschichte geht unter die Haut. Manches im Leben möchte man so gern vermeiden, aber man weiß nicht, dass es passieren wird. Diesen Moment hast du in eine wunderschöne Geschichte des Abschiednehmens gepackt. Hut ab!

Liebe Grüße

Kathleen

Re: Unvermeidlich

Autor: Lysann Blackmoon   Datum: 29.05.2022 18:17 Uhr

Kommentar: Dankeschön für deinen Kommentar :)

Re: Unvermeidlich

Autor: CrazyHälp   Datum: 29.05.2022 21:36 Uhr

Kommentar: Der Abschied...Du hast die Dramatik des Moments auf sehr tragische Weise eingefangen und auf deine Art geschildert was mich schon so lange beschäftigt. Sehr bewegend geschrieben!

Re: Unvermeidlich

Autor: Lysann Blackmoon   Datum: 29.05.2022 22:01 Uhr

Kommentar: Danke, es freut mich das es dich bewegt. Ich versuche immer mit ganzem Herzen zu schreiben :)

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