Die Schulglocke läutete das erste Mal. Ich stand mit Annika neben dem kleinen eisernen
Eingangstor zur Schule. Wir sahen uns tief in die Augen. Ich sah in Annikas bräunlich-grünen Augen und sie in meine Blauen.
Ich hob meine rechte Hand und strich Annika sanft mit meinen Fingerspitzen über ihre
leicht gerötete Wange, die sie versuchte unter ihren schulterlangen Haaren zu verstecken.
„War er das?“, fragte ich sie.
Annika sah beschämt zu Boden und antwortete mit einem kurzen Ja.
Ich tat einen Schritt näher an meine Freundin heran und nahm sie in den Arm. Annika
vergrub ihr Gesicht in meiner Schulter und schluchzte kurz. Ich strich ihr sanft über den
Rücken.
„Wir müssen rein.“, sagte Annika und löste sich von mir.
„Ich liebe dich Annie.“
„Und ich liebe dich Johnny.“
Für einen kurzen Augenblick sahen wir uns noch in die Augen, bevor wir Hand in Hand
durch das Eisentor gingen und uns auf zum Chorraum im vierten Stock machten.
Annika ging in meine Parallelklasse. Wir hatten lediglich Chor und Sport gemeinsam, wo
wir uns sahen und das auch nur zwei Mal die Woche. Montags Chor und donnerstags
Sport für je neunzig Minuten. Ansonsten sahen wir uns nur in den Pausen, zumindest was
die Schule betraf.
Wir saßen eng aneinander geschmiegt auf der granitgrauen Treppe, mit dem Rücken zu
unseren Mitschülern.
Annikas mahagonifarbene Haare hingen ihr ins Gesicht, während sie die Stufen der
Treppe hinunter starrte. Sie lächelte, als ich ihr über das rechte Knie strich.
„Denk nicht so viel nach.“, sagte ich zu Annika und versuchte das Stimmengewirr hinter
mir zu ignorieren, was nicht so leicht war, wenn fast vierzig Teenager wild umher
quasselten.
Annika sah mich an und schenkte mir ein bezauberndes Lächeln, was mich dazu
veranlasste auch zu lächeln und ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen.
Die Schulglocke läutete ein zweites Mal.
Die nächsten neunzig Minuten vergingen wie im Flug, obwohl ich mir Sorgen um meine
Freundin machte.
Sekunden nach dem Pausenklingeln strömten Annika und ich mit den anderen aus dem
Chorraum, als Frau Fägel, unsere Chorlehrerin, Annika zu sich bat.
„Ich würde gern mal mit dir reden Annika. Alleine bitte.“
Ich sah Annika an und versicherte ihr, dass ich vor der Tür auf sie warten würde.
Nach wenigen Minuten hörte ich, wie Annika etwas lauter wurde, aber nicht laut genug,
dass ich hätte etwas verstehen können.
Ich war zwar noch nicht so lange mit Annika zusammen, wusste aber, dass sie liebevoll
sein konnte. Genauso war mir auch bewusst, dass sie Temperament besaß, welches sich
während der Schulzeit gerne mal beobachten ließ.
Annika kam aus dem Chorraum und hatte einen etwas verunsicherten, aber auch
verärgerten Gesichtsausdruck.
„Was ist los?“, wollte ich wissen.
„Egal, komm jetzt.“, entgegnete sie mir und nahm meine Hand.
„Nun warte doch mal Annika.“, sagte ich und zog Annika den Schritt wieder zurück, den sie
gemacht hatte.
„Ich habe zwar keine Ahnung, was die Fägel von dir wollte, aber ich habe da so ´ne
Ahnung.“, richtete ich das Wort an meine Freundin und fuhr fort, „Ich bin doch längst nicht
mehr der einzige, dem dein blauen Flecken aufgefallen sind. Bitte vertraue dich jemandem
an. Wenn du es schon nicht für mich tust, dann tu es für dich selbst. Das kann so nicht
weiter gehen. Ich ertrag das nicht mehr dich so zu sehen.“
„Das klingt so, als willst du mit mir Schluss machen wollen. Wenn ja, dann tu es gleich!“,
zischte Annika mich an und sah mich dabei intensiv an.
„Ich will nicht mit dir Schluss machen Annie, aber weißt du wie es für mich ist? Abend für
Abend im Bett zu liegen, ohne dich und Sorge zu haben ob oder was gerade bei dir, mit
dir geschieht.“
Annika senkte ihren Blick.
„Und wenn ich an heute Morgen denke, vor der Schule ...“
Annika hob ihren Blick und Tränen rollten über ihr Gesicht. Sie trommelte mit ihren flachen
Händen auf meinen Brustkorb ein und fauchte mich dabei an. „Das ist mein Leben und ich
weiß was ich tu.“ Da war ihr Temperament.
Nur mit Mühe konnte ich Annikas Handgelenke umfassen und sie davon abhalten,
weiterhin auf mich einzutrommeln.
„Ruhig Annie, bitte beruhige dich.“
Immer mehr Tränen kullerten über ihr Gesicht.
„Ich ertrag das nicht mehr Johnny.“, schluchzte Annika und ich ließ ihre Handgelenke los.
Sie fiel mir regelrecht in die Arme und ließ ihren Gefühlen freien Lauf.
„Ich will … ich kann das nicht mehr.“
Ich drückte meine Freundin an mich.
„Du bist nicht alleine Annie. Wir stehen das gemeinsam durch.“
In diesem Moment wurde mir bewusst, wie verletzlich Annika eigentlich war.
Es vergingen einige Momente bis Annika sich von mir löste und mich wieder ansah. Ihre
Augen waren leicht gerötet und ihre Wangen noch etwas feucht von den Tränen.
„Ich habe jetzt Geschichte und du Erdkunde? Komm meinetwegen nicht zu spät Johnny.“,
sagte Annika und schniefte kurz, während ich ihr die Tränen von den Wangen wischte.
„Ist das deine einzige Sorge die du gerade hast?“, sagte ich und konnte mir ein kurzes
Lächeln nicht verkneifen.
Annika lächelte und ließ, etwas kichernd ihren Kopf gegen meine Schulter sinken.
„Nein Johnny, natürlich nicht.“
Ich legte meine Arme um Annikas Hüfte und strich ihr mit der linken Hand über den
Rücken.
Getrampel und Stimmengewirr halten durch das Treppenhaus. Die Pause schien gleich
vorbei zu sein.
Ein Räuspern erklang hinter uns, welches meine Aufmerksamkeit auf sich zog und Annika
über ihre Schulter blicken ließ.
„Frau Fägel ...“, sagte Annika. Ich ließ sie los, damit sie sich unserer Lehrerin zuwenden
konnte.
„Ich bin nicht drumherum gekommen, euch beiden mit halben Ohr zuzuhören.“, sagte Frau
Fägel.
„Los Annie, sprich mit ihr.“, flüsterte ich meiner Freundin zu und stupste sie in die Richtung
der Lehrerin.
Verunsichert sah Annika mich an.
„Aber wir hätten doch gleich Unterricht.“, wandte sich Annika an Frau Fägel.
„Lasst das mal meine Sorge sein. Ich kläre das für euch. Ich hab dich doch richtig
verstanden, dass du Johnny dabei haben willst, oder?“, sagte Frau Fägel verständnisvoll.
„Gut.“, sagte Annika und sah mich an.
Ich strich über Annikas Rücken und schob sie Richtung Chorraum.
„Johnny, ich glaub ich kann das nicht.“,sagte Annika und ging an mir vorbei auf die Treppe
zu.
„Aber Annie …. warte doch.“, sagte ich und ging meiner Freundin hinterher.
Die Schulglocke läutete zum Unterrichtsbeginn.
Annika ging eine halbe Etage tiefer. Sie drückte ihren Rücken gegen die
Panoramafensterscheibe und ging dabei in die Knie. Ich zögerte kurz bevor ich zu ihr ging.
„Annie ...“, sagte ich und kniete mich neben sie.
„Was findest du eigentlich an mir Johnny?“, fragte mich Annika in einem ernsten Ton.
Dabei sah sie mich an, während Tränen ihr Gesicht hinunter kullerten. „Wieso Johnny,
wieso gerade ich?“
In dem Moment wo ich Annika in den Arm nahm, brach sie in Tränen aus.
„Ich kann´s dir nicht sagen Annie.“, ich hielt kurz inne, „Ich hege einfach starke Gefühle für
dich. Ich liebe dich dafür, dass du so bist wie du bist.“
Eine einzelne Träne rollte mir über das Gesicht.
Annika sah mich an und wischte mir die Träne von der Wange.
„Weißt du Annie, du machst mich einfach glücklich und … sprachlos.“
„Liebe braucht keine Worte Annie.“, sagte Frau Fägel auf das Geländer der Treppe
gestützt und sah uns an. Ich sah kurz zu ihr hoch und dann wieder zu meiner Freundin.
„Du hast hin und wieder angedeutet, dass du Stress zu Hause hast, mit deinem Vater.“
„So wie du dich in letzter Zeit verhärtest, Annika, brauchst du dringend Hilfe.“, sagte Frau
Fägel und ging die ersten Stufen der Treppe hinunter.
„Aber ich liebe doch meinen Vater.“, sagte Annika.
„Mehr wie mich?“, kaum hatte ich die Worte ausgesprochen wurde mir klar, was ich da
gerade gesagt hatte und wusste, dass ich das hätte nicht sagen sollen.
Entsetzt sah Annika mich an.
„Annie … das war so nicht gemeint.“, sagte ich.
Annika stand auf und schüttelte langsam den Kopf.
„Ich kann das nicht glaub. Mir zuerst die Liebe gestehen und jetzt das.“
Auch ich erhob mich. In diesem Moment scheuerte mir Annika ein paar.
„Du kannst mich mal du scheiß Idiot!“, schrie sie mich an, wirbelte herum und sprintete die
Treppen nach unten.
Ich ignorierte unsere Lehrerin und rannte Annika hinter her.
„Annie, Annie!“, rief ich ihr hinterher.
Japsend blieben wir draußen vor dem Haupteingang stehen.
„Annie ...“
Annika drehte sich um und scheuert gab mir noch eine Ohrfeige.
„Am liebsten würde ich dir die Eier abschneiden du scheiß Idiot.“, sagte sie und drehte mir
den Rücken zu.
„Es tut mir leid Annika.“, ich wusste nicht, was ich hätte anderes sagen sollen.
„Weißt du Eigentlich, dass du mein ein zigster Hoffnungsschimmer bist Johnny?
Ich legte meine rechte Handfläche auf Annikas Rücken. Sie trug dieses hellblaue Shirt
welches mir an ihr so gefiel.
„Ich weiß nicht was ich sagen soll Annie. Ich ...“
„Halt einfach die klappe Johnny.“
Annika drehte sich zu mir und warf sich regelrecht um meinen Hals.
„Lass uns gehen.“, sagte Annika.
„Wohin?“ fragte ich.
„Irgendwo … hin.“, sagte Annika, als wäre sie sich nicht ganz sicher.
„Ich verstehe nicht.“, sagte ich.
Ich liebte zwar ihr Temperament und ihre Liebenswürdigkeit, aber mir gefiel irgendwie
nicht worauf das ganze hinauslaufen könnte.
Genervt ließ Annika von mir ab und ließ ihren Blick etwas schweifen.
„Manchmal bist du echt schwer von Begriff Johnny. Ich will mir die abhauen. Weg von
hier.“
„Und wohin?“, fragte ich wie ein treu doofer Hund.
„Das spielt doch keine Rolle man! Ich kann das hier einfach nicht mehr. Ich ertrag es nicht
mehr!“, fuhr Annika mich an und hob dabei ihr Shirt soweit hoch, das ihr Bauch zu sehen
war.
Ihr Bauch war übersät mit blauen Flecken und …
„Sind das Schnittverletzungen?“, fragte ich und zog meine Augenbrauen zusammen.
Annika wandte mir wieder den Rücken zu.
Ich zögerte nicht und legte meine Hände um Annikas Hüften. Legte meine Hände auf ihren
Bauch und schmiegte mich an sie. Stupste meinen Kopf gegen ihren, was Annika zum
Lächeln brachte.
„Ich liebe dich Annie und ich könnte mir ein Leben ohne dich nicht vorstellen.“


© Jens Goldenbaum


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