VOR DER TISCHLEREI


VON ANDY STRÄSSLE


Die schwarze Mercedes-Limousine passte nicht recht in den Kleinbasler Hinterhof. Trotzdem bemerkte Marc zufrieden das satte Schnurren des Antriebs, nachdem der Wagen stillstand. Marc stellte sich eine Katze, nein, einen Tiger unter der Motorhaube vor, jederzeit bereit, das Kunstwerk aus Kunststoff und Stahl vorwärts zu jagen. Anzutreiben, besser, schneller als alle anderen.
„Holst du uns hier raus, oder sollen wir hier hinten noch lange warten?“ Natascha hatte den Wagen noch nie gemocht, für sie war er ein teures Monster, mit allzu tiefen Lederpolstern und einer Stereoanlage, die sie erschreckte auch wenn sie nur leise spielte. Seit Natascha Marc in einer Sitzung hatte anrufen müssen, weil sie bei einem Rotlicht nicht mehr weiterfahren konnte, weil der Fernseher ausgeklappt blieb – er sah sich immer Eishockey an, wenn er irgendwo warten musste – nahm sie es persönlich und glaubte, dass Auto hätte etwas gegen sie.
Aber heute war die Bewegung, nur schon die Bewegung im zähen Stadtverkehr eine Erleichterung gewesen. Zwar hatte sich Marc zwei Mal im Gewirr der Einbahnstrassen verfahren, doch so lange sie unterwegs waren, so lange sie in Bewegung blieben, schienen sie sicher. Auf dem Weg zur Tischlerei, die für Georginas sechsten Geburtstag ihr Puppenhaus anfertigen sollte, blieb die Balance erhalten. Auf dem Rücksitz spielte das Mädchen mit ihrem Lieblingsbären. Das Stofftier war eine Konstante. Seit sechs Jahren begleitete es die drei wohin sie auch gingen.
Schliesslich hatte Marc die Einfahrt gefunden. Unterdessen klingelte sein I-Phone dauernd vor sich hin. Er sah dann aufs Display, überlegte kurz und nahm manchmal ab und grunzte etwas. Natascha fühlte sich unsicher als ihr Marc die Türe aufhielt. Eigens ein Puppenhaus anfertigen zu lassen, erschien ihr als extravagant. Natascha wusste, wie es war, wenig Geld zu haben, die Erinnerung in ihr war lebhaft, wie ihre Mutter soviel Gemüse wie möglich kaufte, um am Ende des Monats noch Suppe kochen zu können.
Marc hielt die Türe auf und blieb einen Augenblick lang, seine Frau bewundernd, stehen. Sie trug Jeans, eine einfache Bluse, mittlerweile trug sie manchmal sogar seine alten Hemden, jene die er als Topmanager nicht mehr anziehen konnte, an ihr aber wie neu aussahen.
„Ich habe mit ihm dreihundertfünfzig abgemacht, er hat keine Mail, drum konnte ich ihm die Pläne nicht schicken, aber der Schreiner wird dir zeigen, was sie machen können, aber lass dich nicht über den Tisch ziehen“, sagte Marc mit seiner Managerstimme. Er wusste, dass sie bei seiner Frau nicht gut ankam, aber ihm schien nichts anderes zu bleiben, um die Kontrolle zu behalten.
Natascha half Georgina aus dem Auto, die über die hinteren Ledersitze robbte. Ihr Mann hatte einen viel zu teuren Haarschnitt, der Preis für seinen Anzug wäre dem Schreiner wohl als Monatseinkommen durchaus willkommen gewesen. Georgina sah sich aufmerksam um, immer noch selbstverständlich kuschelte sie sich ans Bein ihres Vaters.
„Meinst du nicht es ist übertrieben? Wir könnten ihr doch etwas im Supermarkt kaufen, da gibt es auch tolle Sachen?“
„Schau es dir doch mal an, ich weiss nicht, warum du meine Ideen immer Scheisse findest?“
Georgina schüttelte sein Hosenbein: „Scheisse sagt man nicht, das darf man nicht sagen.“
„Entschuldigung, das wollte ich nicht... Aber ich weiss, die Kindergärtnerin hat’s gesagt.“
Einen Augenblick grinsten alle drei, vereint in die Sonne dieses klaren Novembermorgens und irgendwo erhob nun schrill eine Säge ihre Stimme. Niemand durfte die Autorität der Kindergärtnerin hinterfragen. Erschrocken ob dem jähen Kreischen sprang Georgina von ihrem Vater weg und hielt sich die Ohren zu.
„Ihr wartet hier, es wird nicht lange dauern.“
„Mami, warum dürfen wir nicht mitkommen?“
„Hier draussen ist es doch auch nicht schlecht“, sagte Marc: „Und zudem müssen wir die Prinzessin dort drüben in diesem Turm bewachen.“
„Ich will aber mit Mami gehen!“ Georgina war unentschieden. Ihr Mund schmollte, doch sie hatte noch nicht entschieden, ob sie weinen sollte oder nicht. Natascha nutzte den Moment: „Macht es gut ihr zwei, ich bin gleich wieder da.“
„Ich gehe mal nachsehen, ob die Prinzessin da ist...“ Georgina sah mit ihrem Mantel und den schwarzen Lackschuhen wie eine zu kleine Dame aus, die ihren alten, von der Zeit zerfledderten, aber trotzdem heissgeliebten Bären unter dem Arm trug. Die kleine Dame widerstand der ersten Pfütze, die ölig in den Farben des Regenbogens schimmerte. Marc und seine Tochter fielen aus dem Rahmen. Es war keine Umgebung für Lackschuhe und Anzüge. Es war keine Umgebung für die schwarze Limousine.
Von dem Haus, in dem die Prinzessin wohnte, blätterte die Farbe ab. Auf allen Balkonen standen Velos, Topfpflanzen, die blauen städtischen Müllsäcke und vergessene Tische und Stühle. Ein schmuddelig wirkender Junge, der irgendwie zu dünn aussah, weil er so schnell gewachsen war, kam lachend in den Hinterhof gerannt.
Geraldine rannte ihm nach und rief: „Hast du die Prinzessin entführt.“
Der Junge drehte sich nur kurz um, schüttelte den Kopf: „Nein, das nicht, aber ich habe den Schatz versteckt.“
Er rannte weiter, war wohl spät dran für die Schule dachte Marc. Als sein I-Phone wieder klingelte, sah er sich nach einer Sitzgelegenheit um. Aber auf dem Hof lagen nur einige kaputte Trottinetts, Teile von Plastikspielzeug und in einer Ecke war ein Sandkasten, an dem sich nur noch die Katzen freuten.
-Sie wird mich verlassen. Sie muss mich verlassen. Da steht meine Tochter soeben in dreckigste Pfütze von allen und ich kann ihr nicht einmal sagen, dass mich meine Frau verlassen wird. Dass wir einfach nicht mehr weiterkönnen.
Natascha machte im ersten Stock ein Fenster auf, sie lehnte sich hinaus: „Es geht nicht mehr lange, meine Süssen.“
„Was macht Mami eigentlich da? Besucht sie die Prinzessin?“ Georgina schüttelte den Kopf, entschlossen jetzt endlich selbst nachzusehen, wo die Prinzessin sei: „Kommst du mit Papa?“
Sie hielt ihm ihre Kleine Hand hin, er sah, dass sie dreckig war und nahm sie trotzdem. Langsam gingen sie auf das Haus zu. „Müssen wir jetzt flüstern, Papa?“
„Ja, das müssen wir, wir wollen die Prinzessin nicht wecken, falls sie noch schläft.“ Georgina wollte auf die Tür einer Waschküche oder eines Kellers zu gehen. Sein Telefon klingelte. Sie blieben stehen. Der Zauber war jetzt weg, der Novembermorgen war wieder ein Novembermorgen und selbst für Georgina erschien es nun unwahrscheinlich, dass in dem Mietshaus eine Prinzessin wohnte. Vater und Tochter standen einen Moment ratlos da. Marc trat gegen einige Steine, Georgina nutzte die Gelegenheit und machte es ihm schnell nach.
Du weißt, dass dich Natascha verlassen wird, du weißt, dass sie es selbst noch gar nicht weiss, weil sie immer noch hofft, aber du weißt, die Uhr lässt sich nicht zurückdrehen. Zwischen euch ist nichts mit einem lauten Knall zerbrochen, es hat keine spektakulären Verletzungen oder schlimme Vertrauensbrüche gegeben. Wie Sand ist das, was euch verband nach und nach zwischen euren Fingern zerronnen. Immer noch versucht ihr ihn aufzuwischen, Erklärungen zu finden oder mindestens herauszufinden, wann es geschehen ist.
„Mami mag das Auto nicht...“ sagte Georgina. „Ich aber schon.“ Das kleine Mädchen reckte ihr Kinn in die Höhe. Das Mädchen zog sich einen Moment in eine kindliche Welt zurück, sie spielte mit den Armen des Bären und eigentlich hätte Marc die Gelegenheit nutzen müssen, um zu telefonieren.
Natascha war langsam die Treppe hinaufgegangen, nachdem sie unten in der Werkstatt niemanden vorgefunden hatte. In der Schreinerei war alles still. Sie fand es seltsam, dass die Säge irgendwo anders heulte und nicht hier. Durch die Fenster des Treppenhauses sah sie wie Marc mit Georgina sprach, wie er tatenlos zusah, als sich ihre Tochter in die Pfütze stürzte. Sie schüttelte den Kopf. Die Traurigkeit und die Vergessenheit auf Marcs Gesicht sagten ihr, dass er sich immer an diesen Moment erinnern würde. An diesen Hinterhof, in den sie so gar nicht passten.
An die Tage vor Georginas sechstem Geburtstag. An jenen Morgen als sie vor seiner Arbeit zur Schreinerei hatten fahren müssen, um ein Puppenhaus zu bestellen. Weil der Schreiner keinen Computer hatte. Während sie vorsichtig die Stufen im dunklen Treppenhaus hochging betrachtete sie den Mann, den sie verloren hatte da draussen in der weissen Wintersonne. Sie meinte seinen Verlust zu sehen, meinte zu sehen, wie er vergeblich versuchte den Moment festzuhalten. Als sie im ersten Stock die Türe aufstiess roch es nach Holz und nach Wachs.
Ein älterer Mann sah von seiner Zeitung auf, meinte, es sei schön, dass sie da sei und deutete auf einen Stuhl. Natascha wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie ging zum angelehnten Fenster und rief hinunter, dass sie nicht lange brauchen würde. Der ältere Schreiner bot ihr Kaffee oder Tee an. Natascha schüttelte nur ihren Kopf.
„Wissen Sie“, sagte der alte Mann mit seinen auffallend schwieligen Händen und grauen Augen hinter dicken Brillengläsern: „Wissen Sie, ein Puppenhaus bedeutet selten etwas Gutes.“
„Ich verstehe nicht“, sagte Natascha. Sie hatte sich vorsichtig auf den Stuhl gesetzt und den Impuls nicht unterdrücken können zu kontrollieren, ob die Sitzfläche sauber war.
„Ein handgefertigtes Puppenhaus bedeutet das Ihnen etwas fehlt, es bedeutet nichts Gutes“, sagte der alte Mann mit entschlossener, fester Stimme.
Sie hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Sie schüttelte seine Einwände ab. Erklärte sie hätten sich ein dreistöckiges Haus mit einem Dachstock vorgestellt. Sie wollte ihm Marcs Ausdrucke geben. Der alte Mann rührte sich nicht. Seine Hände blieben vor ihm gefaltet und sie legte die Entwürfe neben die Zeitung.
„Noch nie hat mit einem Puppenhaus etwas begonnen. Es ist kein Zuhause, es ist eine Täuschung. Ein Puppenhaus. Kein Zuhause. Das müssen sie doch wissen, sie waren auch einmal ein Mädchen.“
Es reichte ihr. Die Luft schien ihr zu dick. Der Geruch nach Holz, das Wachs und der Staub störten sie nun. Sie wischte ihre Oberschenkel mit den Jeans ab. Georginas Lachen war von draussen zu hören.
Der schwarze Wagen glitt lautlos in den Verkehrsstrom hinein. Solange sie sich bewegten waren sie in Sicherheit. Marc hatte das Radio an und wieder ausgemacht. Vor dem Nordtangententunnel war ein Stau.
„Wenn du nicht fahren willst, organisiere ich dir einen Firmenwagen. Es reicht mir nicht mehr, euch nach hause zu fahren.“ Seine Stimme klang hohl.
„Er hat gesagt, er macht uns das Haus nicht. Er macht es einfach nicht“, sagte Natascha. Vor ihnen war die Fahrbahn frei. Es waren nur noch ein paar Tage bis zu Georginas Geburtstag. Marcs und Nataschas Tochter war mit dem Bären als Kissen eingeschlafen.
Hinter ihnen erhob sich ein Hupkonzert. Marc blieb einfach stehen. Er flüsterte: „Die Prinzessin. Wir haben dort hinten einfach die Prinzessin vergessen.“ Noch eine Geschichte, die er Natascha nicht mehr erklären konnte.


© Andy Strässle


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Kommentare zu "Vor der Tischlerei"

Re: Vor der Tischlerei

Autor: Karwatzki,Wolfgang   Datum: 07.05.2012 22:53 Uhr

Kommentar: Bin begeistert. Weiter so.
Gruß
Wolfgang

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