Hotel mit Meeresblick

© yupag chinasky

Noch eine Stunde und die Sonne würde im Meer versunken sein, dachte er. Obwohl selbst ihm die Phrase „im Meer versinke“ reichlich abgedroschen vorkam, fand er sie dennoch treffend. Genauso treffend, wie die Bezeichnung Farbenpracht für das, was sich am Himmel abspielte. Diese Farbenpracht aus intensivem Rot, strahlendem Orange und aggressivem Gelb würde nach einer weiteren halben Stunde verschwunden und einem samtenen Dunkelblau gewichen sein. Mit dem Schwinden der Sonne würden sich auch die unzähligen, hellen Lichtreflexe auf den kleinen Wellen auflösen und das Stahlgrau des Wassers würde in ein tiefes Schwarz übergehen, bis Wasser und Himmel eine Einheit bilden und nur noch einige kleine rosafarbenen Säume an den dunklen Wolken an die „Farbenpracht“ des Sonnen­untergangs erinnern würden.

Er saß auf der Terrasse des Hotels, genoss das prächtige Schauspiel, lauschte der dezenten Musik, atmete die salzhaltige Luft tief ein, trank einen Schluck Champagner und freute sich auf das Essen, das genauso erlesen sein würde, wie es der weiß gedeckte Tisch war, wie das formidable Zimmer, wie das ganze Hotel. Das Hotel bestach nicht nur durch seine Küche, sondern auch durch sein Ambiente und den exzellenten Service. Es war eines dieser sündteuren Häuser, die keine große Reklame machen mussten und dennoch immer ausgebucht waren. Er war mit sich und der Welt zufrieden, in einem Maße zufrieden, dass diese Zufriedenheit schon Züge won Hybris annahm, der man sich nicht ungestraft hingibt.

Als die erste Vorspeise kam, Lachs-Carpaccio mit Senf-Kapern, ging er in Gedanken zum wiederholten Mal die Ereignisse der letzten Wochen durch. Nach langen, harten Verhandlungen hatte er endlich einen großen Auftrag erhalten, der ihm in den nächsten Monaten viel Arbeit, aber auch ein ansehnliches Einkommen bringen würde. Nicht auszudenken, wenn sein Angebot nicht angenommen worden wäre. Dann hätte er seine neue Wohnung vergessen können, dieses Schnäppchen in bester Lage, das normalerweise nur unter der Hand gehandelt wird. Sie wäre bestimmt weg gewesen, wenn er gezögert und abgewartet hätte. Es war ein va-banque-Spiel gewesen, aber es hatte geklappt. Nun hatte er beides, den Auftrag und die Wohnung und am Montag würde er einziehen. Bevor er sich der Arbeit, der Wohnung und seinem neuen Leben voll widmen musste, hatte er noch einen langgehegten Traum verwirklichen, den Luxus eines Wochenendes in einem solchen Hotel.

Das Orange der Sonnenscheibe war in ein dunkles Rot übergegangen, als die zweite Vorspeise vor ihm stand, eingelegte Entenbrust an Trüffelsoße. Der Wein, den der Sommelier ausgesucht hatte, veranlasste ihn zu einem wohlwollenden Nicken, das aufmerksam registriert wurde. Beim Essen kam ihm die Musik, die er bisher kaum beachtet hatte, bekannt vor. Es war dieselbe wie auf der CD, die ihm seine Freundin zum Geburtstag geschenkt hatte. Er musste eine Weile überlegen, bis ihm der Titel einfiel, der Frühling aus den Vier Jahreszeiten von Vivaldi. Die Musik hatte seine Gedanken auf diese Frau gelenkt, die auch ein wichtiger Teil seines neuen Glückes sein würde. Er hatte sie, nach langem Drängen seinerseits und ebenso langem Zögern ihrerseits, endlich überzeugt - oder wohl doch nur überredet - zu ihm zu ziehen, zumindest probeweise. Die neue Wohnung war sicher ein überzeugendes Argument, er wusste aber auch, dass sie nicht nur deswegen bereit war, einen großen Teil ihrer Freiheit aufzugeben. Sie war in einem Alter, in dem die grenzenlosen Möglichkeiten, die man zu haben glaubt, nicht mehr ganz so grenzenlos sind und in dem man sich vermehrt nach einer festen Bindung umsieht. Ganz konkret, sie fürchtete, dass ihre Stelle an der Uni einer neuen Sparwelle zum Opfer fallen würde.

Bei der Consommée hatte sich die Sonne dem Meer schon sehr genähert und bei Vivaldi war es Sommer geworden und er fragte sich, auch nicht zum ersten Mal, ob diese Frau überhaupt zu ihm passte. Er, der für sich in Anspruch nahm, intelligent und schlau zu sein, den andere aber auch als skrupellos, egoistisch und draufgängerisch bezeichneten. Er sollte zu dieser Frau passen, die immer höflich und zurückhaltend war, die ihr Studium mit Bravour bestanden und eine gute Erziehung genossen hatte? Er wusste, dass sie seine Defizite nicht mochte, sein mangelndes Einfühlungs­vermögen, seine bescheidene Bildung und seine schlechten Manieren. Er hatte die Schule mit Ach und Krach abgeschlossen, war gleich in seinen Beruf eingestiegen, der ihm kaum freie Zeit ließ. Und in dieser, seiner spärlichen Freizeit, wollte er Ablenkung und Konsum, Vergnügen und Spaß, keine Oper, keine Bücher, keine klassische Musik. Wenn sie mit den Freunden seiner Freundin zusammen waren, er selbst hatte keine Freunde, schwieg er meistens wohlweislich. Er zog sich dann in eine Austernschale zurück und schottete sich weitgehend ab. Als er nach der Consommée merkte, wie unangenehm ihm seine Gedanken geworden waren, verdrängte er sie abrupt.

Er widmete stattdessen seine ganze Aufmerksamkeit dem ersten Hauptgang, einem rosa gebratenen Lammfilet mit Aligot, einer raffinierte Mischung aus Kartoffelbrei und Käse aus der Auvergne. Er aß mit gutem Appetit, lauschte dem Herbst von Vivaldi und beglückwünschte sich selbst zu seinem Entschluss, dieses Wochenende am Meer ganz allein zu genießen, bevor sich sein Leben so drastisch ändern würde. Es waren zwei schöne Tage gewesen, mit langen Spazier­gängen am Nachmittag und einem aufregenden Abend, der im Spielcasino begann und in einem verschwiegenen Nachtclub endete.

Die Sonne war nur noch die Andeutung eines Halbkreises knapp über dem Horizont, die Verschmelzung des Himmels mit dem Wasser hatte begonnen und der Herbst war in den Winter übergegangen, als der vorletzte Gang serviert wurde. Es war eine ganze, sanft über Seetang gegrillte, zuvor marinierte Dorade, ein Gedicht von einem Fisch mit genau der richtigen Konsistenz und dank der außergewöhnlichen Behandlung mit einem einmaligen Geschmack. Der Wein, der dazu serviert wurde, war ebenfalls sein Geld wert. Er hörte auf, über das nachzudenken was war und wollte sich nur noch darauf konzentrieren, was kommen würde. Er würde die nächsten Wochen tatkräftig, voller Energie und Optimismus angehen, jetzt aber, jetzt wollte er sich erst einmal voll dem Fisch widmen.

Er hatte ihn schon halb gegessen, da passierte das Missgeschick. Eine seiner schlechten Angewohnheiten war es, jeden Bissen mit einem kräftigen Schluck Wein hinunter zu spülen. Für seine Freundin ein Zeichen mangelnder Manieren, aber er behauptete, dass dies notwendig sei. Er habe in einem Life-style-Magazin gelesen, dass die Aromen der Speisen und das Bouquet des Weins auf diese Weise zu einer optimalen Geschmacksentfaltung kämen. Er glaubte diesen Unsinn, weil er seine Essgewohnheiten bestärkte. Aus dem selben Grund schlürfte er auch Suppen laut schmatzend, unter Hinweis auf die Chinesen, die bekanntlich große Feinschmecker sind und dies auch täten. Er stopfte sich also ein großes Stück Fisch in den Mund und spülte es, ohne zu kauen, mit dem Wein hinunter, als er die Gräte spürte. Sie war sehr kräftig und blieb in seinem Hals stecken. Er hustete und würgte und wurde puterrot, aber die Gräte bewegte sich keinen Millimeter. Die Ober kamen angerannt, schlugen ihm mit der flachen Hand auf den Rücken und sagten, er solle husten und einen Finger in den Hals stecken. Er tat es, aber die Gräte bewegte sich nicht.

Die Lage des Hotel war genauso exquisit wie seine Ausstattung und sein Service und es dauerte daher sehr lange, ehe der Notarzt kam. Man hatte ihn in einen Nebenraum gelegt, er keuchte und röchelte und vor seinem inneren Auge lief immer wieder derselbe Film ab. Er zeigte seine Zukunft in rosaroten Farben, aber das Rosarot wurde immer blasser, ging in ein verwaschenes Grau und dann in ein samtenes Dunkelblau über und dann versank er schließlich in tiefem Schwarz, so wie die Sonne im Meer versunken war und der Winter bei Vivaldi geendet hatte.


© yupag


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