Die Eintreibung nach der Austreibung I

© EINsamer wANDERER

Diane fuhr eines Abends mit ihrem Auto von der Arbeit nach Hause. Sie arbeitete als Anwaltsgehilfin und verdiente gut genug um davon zu leben. Doch ihr reichte das nicht. Sie langweilte sich furchtbar. Ein Tag war wie der zuvor und der davor und der Tag vor dem Tag zuvor. Es fühlte sich an als ob sie ihr Leben verschwenden würde. Nie erlebte sie etwas und nie geschah etwas. Sie arbeitete nur und verbrachte ihre Freizeit damit sinnlose Dinge zu tun, wie etwa der Buchclub in dem sie jetzt schon seit drei Jahren war. Oder der Töpferkurs. Alles Zeitverschwendung. Sie hatte sogar angefangen diesen Rock-Sender auf den Fahrten zu hören, damit wenigstens etwas unerwartetes geschah, da dieser Radiosender gerne auch mal exotischere Titel spielte. So wie im Moment, als der Song einer deutschen Punkrock Band lief. Sie verstand kein Wort der hässlichen Sprache, vermutete aber dass er etwas mit einem Alex und einer Horrorshow zu tun hatte. Nur ein beschissener Song. Nichts allzu aufregendes also. Wenn doch nur etwas passieren würde, dass sie für einen kurzen Moment von ihren öden gewöhnlichen Leben ablenken würde und sei es auch nur für eine Nacht, wäre sie glücklich.

    Früher hatte sie noch Angst vor der Ampel gehabt die gefährlich nahe an dem Napoleon Bonaparte Komplex stand. Man hörte allerlei Gerüchte und wüste Geschichten über diese Einrichtung. Illegale Experimente, okkulte Rituale und schrecklichere Dinge. Doch inzwischen war diese Ampel zu etwas völlig gewöhnlichem verkommen. Was sollte hier schon passieren? Der Komplex war für Ausbruchsfälle und ähnliches ausgerichtet. Als ob jemand einfach so bei ihr einsteigen würde und-

    »Die Hände hoch, bitte«, sagte plötzlich eine Stimme völlig ruhig.

    Diane drehte sich zur Seite und sah einen Mann in ihrem Alter der eine Pistole durch das offene Fenster auf sie richtete. Er trug die Wachuniform besagter Irrenanstalt, doch das Gesicht passte nicht zu den auf dem Namensschild. Also tat sie was die meisten in so einer Situation taten: Sie geriet in Panik. »Ohmeingottbittetunsiemirnichtsichgebeihnenalleswassiewollenbloßtunsiemirnichtsmeinmannistbeidermafiadertötetsieohnemitderwimperzuzucken!«

    Der Fremde stieg mit gezogener Waffe ins Auto ein. »Beruhigen Sie sich bitte und fahren Sie los. Wenn sie ruhig bleiben und keine Dummheiten machen, geschieht Ihnen nichts.«

    »A-aber die Ampel ... sie ist rot.«

    »Nein, ist sie nicht.«

    Diane schaute nach vorne und stellte fest, dass sie wirklich inzwischen auf Grün gesprungen war. Sie fuhr los. Völlig verkrampft saß sie am Steuer und verfluchte ihr Leben. Warum hatte sie sich so etwas nur gewünscht? Wobei so etwas hatte sie nie gewollt. Ein attraktiver Mann wäre vollkommen ausreichend gewesen. Auch wenn der Mann schon ziemlich süß war und, oh Gott seine Augen, sie waren so dunkel und grün, dass man sie einfach lieben musste. Und obwohl er sie entführt hatte, war er völlig gelassen und ruhig.

    »W-wo soll es hingehen?«

    »Fahren Sie einfach. Ich sage Ihnen schon wann sie wo abbiegen müssen.«

    Ein Moment der Stille trat ein. Schließlich hielt Diane die Anspannung nicht mehr aus. »Wie heißen Sie?«

    »Mein Name ist Alex. Und ihr Name?«

    »Diane.«

    »Freut mich Diane. Die nächste Möglichkeit rechts, bitte.«

    »W-was wollen Sie?«

    »Von Ihnen möchte ich nichts. Ich brauchte nur eine Mitfahrgelegenheit.«

    »Hätten Sie denn keinen Freund fragen können?«

    »Ich habe keine Freunde«, gestand Alex völlig ungerührt.

    »Tut mir leid.«

    Als ihr Kidnapper entnervt seufzte zuckte Diane zusammen. Sie hatte etwas Falsches gesagt, dass wusste sie instinktiv. Doch was? Allerdings wusste man bei diesen Verrückten nie. Sie waren krank und verhielten sich unberechenbar.

    »Warum denken eigentlich immer alle, dass wir Menschen über dieselben Bedürfnisse verfügen?«

    »W-was?!« Diane wusste, dass er sie nun erschießen würde. Sie hatte ihn verletzt und nun würde er es an ihr auslassen.

    »Wenn manche Menschen viele Freunde brauchen und manche nur einige, wieso ist es dann so unvorstellbar, dass es Menschen gibt die mit sozialen Bindungen nichts anzufangen wissen? Nun links, bitte.«

    Die Straßen wurden um einiges leerer. Hier würde sie sterben. Sterben ohne je wirklich gelebt zu haben. Sie hatte immer zu viel Angst gehabt und nie den Mut gehabt so zu leben, wie sie es eigentlich gewollt hätte.

    »N-na ja«, wollte Diane anfangen, wurde allerdings von Alex unterbrochen.

    »Was ist so toll daran normal zu sein?«

    Jetzt wusste sie gar nichts mehr. Er blieb die ganze Zeit ruhig und nicht das geringste Maß an Bedrohung ging von ihm aus, wenn man mal von der Pistole absah. Die Art und Weise wie er über die Dinge direkt sprach, als wären sie das normalste der Welt, das hatte schon etwas beeindruckendes.

    »Ich weiß nicht was Sie meinen. Normal zu sein ist doch etwas Schönes.«

    »Langweilig, genau das ist es.« Diese Worte trafen sie direkt ins Mark. Er hatte es einfach so ausgesprochen, was sie es ihr Leben lang im Herzen getragen hatte. Er selbst schien es allerdings nicht zu merken, da er ungerührt fortfuhr. »Es ist nichts schlimmes an Langeweile, doch letztlich ist die Normalität nichts als ein Luftschloss. Ein größenwahnsinniger Versuch des Menschen das Leben nach seinen Vorstellungen zu verbiegen. Überlegen Sie doch mal, früher war es normal, dass Mann und Frau heiraten, Kinder bekommen und wie in einem Bilderbuchmärchen leben. Homosexualität galt damals als etwas abnormes, sofern sie überhaupt wahrgenommen wurde. Meistens hat man sie nur verdrängt. Sie war da und doch nicht existent, weil es mit den Vorstellungen über Normalität nicht vereinbar war. Ich für meinen Teil lebe lieber in der Realität die so viel mehr bietet als diese Traumfantasie einer amerikanischen Vorstadt.«

    Obwohl es sich verrückt anhörte, verstand Diane was er damit meinte. Sie hatte das Leben noch nie so betrachtet. Für sie war Normalität immer ihr Alltag gewesen, dass etwas außerhalb dessen existierte hatte sie mehr am Rande wahrgenommen. Aber das konnte sie so nicht sagen. Ihr kamen nur die Worte: »Ich verstehe« über die Lippen.

    Ein Moment des Schweigens trat wieder ein.

    »Dürfte ich nun endlich erfahren, wo wir hin fahren?«

    Alex zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.«

    »Was soll das heißen, keine Ahnung?! Sie haben doch gesagt wo ich abbiegen soll!«

    »Regen Sie sich nicht so auf. Ich folge nur meinen Instinkten.«

    Na toll, er war doch nur ein ganz gewöhnlicher Irrer. »Und wohin führen Sie ihre Instinkte?«

    »Ich bin auf der Suche nach meinen Dämonen.«

    Jetzt wurde es richtig schräg. »Nach ihren Dämonen, aber natürlich.«

    »Ja, oder nennen Sie es Psychosen, wenn Sie so wollen. Ich habe sie in der Psychiatrie verloren.«

    Hatte Diane das gerade richtig verstanden? »Sie haben Ihre Geisteskrankheiten während der Behandlung verloren? Wow. Das muss ja ein richtig mieses Gefühl sein.«

    »Kein Grund gleich schnippisch zu werden.« Diane zuckte zusammen. Sie hatte ganz vergessen, dass sie mit einem gefährlichen Kerl sprach. Sie kannte diese Psychos aus dem Fernsehen. American Psycho war ihr Lieblingsfilm gewesen. Diese Leute taten in der einen Sekunde völlig harmlos und dann schlugen sie zu und töteten einfach alle. »Der Punkt ist, dass meine Dämonen jetzt frei sind. Sie haben mich dort zwar geheilt, aber zu einem viel zu hohen Preis. Wenn meine finsteren Seiten auf andere überspringen, kann das ziemlich übel werden. Hier gleich rechts.«

    »Wie sollen Psychosen auf andere Menschen überspringen?«

    Wieder zuckte Alex nur mit den Schultern. »Keine Ahnung. Das müssen klügere Köpfe als ich herausfinden. Biegen sie in diese enge Gasse ein. So, wir sind da. Sie bleiben im Auto und rühren sich nicht. Ich meine es ernst. Sie fahren nicht weg! Egal was passiert. Ich erledige den Rest.«

    
Fortsetzung folgt...


© EINsamer wANDERER


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Beschreibung des Autors zu "Die Eintreibung nach der Austreibung I"

Hiermit eröffne ich die große Rʼlyeh-City-Offensive. Es werden sehr viele ineinander verschachtelte Storys erscheinen und da mir eine simple Reihenfolge zu langweilig ist, mache ich etwas interessanter. Die Storys werden nämlich in einer anachronistischen Reihenfolge veröffentlicht. So kann es sein, dass hier schon Charaktere behandelt werden, die eigentlich in einer anderen Story erst eingeführt werden. Aber Storys wie diese hier werden in der numerischen Reihenfolge publiziert. Heißt, dass es nächste Woche den zweiten Teil geben wird.

Darüber hinaus wird es nun vier verschiedene Cover geben, die zeigen sollen, wie die Handlung einzusortieren ist. Es wird in Vergangenheit, Gegenwart (welches das aktuelle Cover ist) und Zukunft unterteilt. Die letzte Unterteilung ist allerdings mein kleines Geheimnis. Das klingt jetzt erst einmal verwirrend, doch es sollte sich eigentlich mit der Zeit von selbst erklären. Also freut euch schon die Stadt aus den verschiedensten Blickwinkel zu erkunden.

Next: https://www.schreiber-netzwerk.eu/de/2/Geschichten/13/Kurze/65284/Die-Eintreibung-nach-der-Austreibung-II/


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Kommentare zu "Die Eintreibung nach der Austreibung I"

Re: Die Eintreibung nach der Austreibung I

Autor: Verdichter   Datum: 08.11.2018 20:02 Uhr

Kommentar: Das war schon mal nicht übel.

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