Das erste, was ich sah, als ich erwachte, war eine Blume. Eine weiße Lilie, um genau zu sein. Sie schaute mich an, von oben herab, aber neugierig. ‚Wo bin ich?‘, fragte ich in Gedanken, doch natürlich antwortete sie nicht. Sie betrachtete mich nur weiter neugierig.
Ich schaute mich um, soweit mein Kopf es mir erlaubte. Ich las auf einer Wiese, umgeben von Blumen. Tulpen, Rosen, Dahlien - alles, was man sich nur vorstellen konnte. Ich konnte nicht aufstehen. Meine Gliedmaßen wollten mir nicht gehorchen, dabei hätte ich mich gerne etwas umgeschaut. Langsam nahm ich mehr wahr. Ich hörte Vögel zwitschern und das Rauschen eines Wasserfalls drang an mein Ohr. Ich versuchte den Kopf zu drehen, doch das gelang mir nicht, also musste ich ihn in meinen Nacken legen und versuchte den Wasserfall zu erspähen. Tatsächlich sah ich in einiger Entfernung einen schmalen Silberstreifen vertikal herabfallen, umgeben von zartem Nebel. Erst jetzt merkte ich, wie heiß es hier eigentlich war. Ich konnte mich immer noch nicht bewegen und so schaute ich wieder zu der weißen Lilie. Sie musterte mich immer noch. Ich lächelte ihr zu und schloss dann meine Augen. Schnell schlief ich in dieser ruhigen Atmosphäre ein.

Es war laut um mich herum. Ich verstand nichts von den gesprochenen Worten. Träumte ich noch? Ich wusste es nicht. Als ich schließlich die Augen aufschlug, war ich umgeben von vielen Gesichtern, die mich durchdringend anstarrten. Ich konnte die Szenerie nicht ganz einordnen, musste mich aber noch auf der Wiese befinden, denn im Hintergrund rauschte noch immer der Wasserfall. Ich schaute zu der Lilie hinüber. Ein Glück, sie war noch da. Sie stand wie eine Wächterin neben mir, ihr Köpfchen weiterhin zu mir gedreht.
Ich wurde angestupst. Ich wandte mein Gesicht wieder den Gesichtern zu. Ich sah nun auch, dass die Menschen knieten. Aber warum? Erneut wurde ich angetippt. Ich versuchte die Quelle ausfindig zu machen, doch die Menschen mit den farbigen Gesichtern verzogen keine Miene. Als ich sie nun näher betrachtete, erinnerten sie mich mit den bunten Farben an die Blumenwiese selbst. Schon wieder wurde ich angetippt, doch dieses Mal hatte ich die Bewegung gesehen und schaute nun die betreffende Frau an. Die Blicke der anderen veränderten sofort. Ich war mir nicht ganz sicher, ob sie die Frau wegen ihrer Aktion nun besonders dumm oder mutig fanden. Ich wusste ebenfalls nicht, was sie nun von mir erwarteten. Ich schaute die Frau weiterhin und legte meinen Kopf ein wenig schräg. Es passierte nichts weiter und mir schoss durch den Kopf wie surreal die ganze Situation doch war.
In einiger Entfernung näherten sich Stimmen. Ich hörte drei Menschen heraus. Einige meiner Beobachter wandten die Köpfe, scheinbar unsicher, was nun zutun ist. Ich atmete schwer aus und schaute wieder zur weißen Lilie. Ihre ganze Aufmerksamkeit lag immer noch auf mir. Plötzlich legte sich ein Schatten über mein Gesicht. Die Farbe der Lilie erschien nun grau. Ich schaute verdutzt auf. Ein einfarbiges Gesicht schaute mich an mit Augen so durchdringend wie Messerspitzen. Zwei weitere Gesichter tauchten neben dem einen auf. Sie musterten mich kurz und herablassend, wechselten ein paar Worte zu dritt und zogen dann bis auf das Erste wieder ab. Ich sah, dass die knienden Menschen sichtlich unsicher und verängstigt dreinschauten. Auf ein Wort von dem einfarbigen Gesicht über mir verzogen sie sich alle blitzschnell.
Vor mir stand ein Mensch in Jeans und Shirt, wie ich ihn aus meiner Welt kannte. ‚Was macht er hier?‘, ging es mir durch den Kopf. Auf der anderen Seite: Was mache ich hier überhaupt? Der Mann schaute weiterhin auf mich herab. Seine Augen erschienen mir wie kleine Dolche, die mich unaufhaltsam durchbohrten. Er machte einen Schritt auf mich zu und ohne, dass ich wusste, was ich tat, schnellte meine Hand vor und schützte die weiße Lilie, die er ansonsten zertrampelt hätte. Überrascht hielt er inne, auch wenn sich seine Überraschung in feinster Weise auf seinem Gesicht widerspiegelte. Er betrachtete meine Hand, beugte sich herunter und hob sie an, sodass die Lilie wieder frei lag. Er musterte die Blume ebenfalls sehr durchdringend, sodass ich fast Angst bekam, dass sie in tausend Teile zerspringen würde. Ich wand meine Hand aus seinem Griff und hielt sie erneut schützend über die Pflanze. Er stand wieder aufrecht, warf einen kurzen Blick auf mich und die Pflanze und ging dann davon. Ich schaute ihm irritiert hinterher. „Folge mir.“, sagte er ohne anzuhalten oder sich umzudrehen. Ich war mir nicht sicher, ob ich das wirklich machen sollte, denn dieses Wölkchen erschien mir nicht gerade sehr freundlich. Außerdem wollte ich die weiße Lilie nicht einfach ungeschützt dort stehen lassen, auch wenn ich wusste, dass das albern war, denn sie kam auch vorher gut ohne mich zurecht.
Ich raffte mich hoch, bedachte die Lilie noch mit einem letzten Blick und folgte dann dem Mann, der zu meinem Erstaunen meine Sprache sprach. Als ich ihn eingeholt hatte, war er gerade in einer Höhle verschwunden, oder zumindest glaubte ich, dass es eine Höhle war, doch sie erstreckte sich dafür zu lang. Vielleicht konnte man es auch als Tunnel bezeichnen, auch wenn ich nicht wusste, wohin dieser führte.

Wir liefen durch tiefschwarze Dunkelheit. Ich sah nichts, doch hörte ich seine Schritte und orientierte mich daran. Ich versuchte den Hall meiner Schritte so gering wie möglich zu halten, damit meine Orientierung nicht unnötig gestört wurde. Mir kam es vor wie eine Ewigkeit, die wir dort durch den Höhlentunnel gingen. Ich hatte auch keine Ahnung, wie die Höhle wohl aussah, denn wir bogen so oft ab, dass ich schnell den Überblick verlor.
Nach einer Weile wurde es langsam heller. Sehr schwaches Licht drang von irgendwoher hinein. Es wurde nach ungefähr fünfzig Schritt immer ein Stück heller. Nach gefühlten zehn Minuten erreichten wir das Ende der Höhle. Vor uns lag ein Tal, in dem ein Dorf seinen Platz fand. Wir standen hoch über dem Tal. Die Sonne schien genau im Zenit auf das Tal hinab. Es war atemberaubend.
„Komm.“, sagte der Mann zu mir und folgte den bemalten Menschen eine Treppe am Hang hinunter. Mir war nicht wohl dabei diese schmalen Stufen entlangzugehen, doch blieb mir keine andere Wahl. Der Wind pfiff umso stärker, je weiter wir uns vom Höhleneingang entfernten. Ich fühlte mich wie eine Bergblume, die krampfhaft darum bemüht war Halt zu finden. Wie es der Lilie wohl ging?
Auf halber Höhe umkreisten uns Vögel, die in diesen luftigen Höhen nach Nahrung Ausschau hielten und wir gaben die perfekte Beute ab. Auch wenn die Vögel nicht sehr groß waren, waren sie umso angriffslustiger. Das bunte Volk hielt Stöcke mit geschnitzten Spitzen in die Luft, um die Angreifer fernzuhalten. Die Vögel blieben sichtlich unbeeindruckt, selbst wenn sie getroffen wurden. Ich fragte mich, in welcher Welt ich wohl gelandet war, dass die Vögel so furchtlos waren.
Als wir endlich unten angekommen waren, wurden die Einheimischen freudig empfangen. Frauen und Kinder umarmten ihre Männer, die Frauen der Truppe suchten ihre Verwandten. Der Eingang zum Dorf war festlich geschmückt. Der große Bogen, der den Eingang symbolisierte, zeigte prächtige Blumen und Früchte in den verschiedensten Formen und Arten. Ich fragte mich, ob der Torbogen immer so geschmückt war. Angesichts der bunten Gesichtsbemalungen der Menschen wäre dies durchaus denkbar. Das Volk marschierte wie eine wogende Welle in das Dorf. Ich wagte nicht auch nur einen Fuß ohne Aufforderung in das Dorf zu setzen. Die Szene am Berghang hatte mich zu sehr erschüttert, als dass ich das Wohlwollen der Dörfler austesten wollte.
Ich stand da und wusste nicht, was ich tun sollte. Ich schaute mich um und sah, dass auch der Mann außerhalb des Dorfes stand. Ich hatte ihn völlig vergessen. Er wandte seinen Kopf zu mir und unsere Blicke kreuzten sich. Für einen Moment schoss mir durch den Kopf, wie schön er doch war. Plötzlich kam ein kleines Mädchen angelaufen und unser Blickkontakt brach ab. Sie zappelte und zog am Ärmel des Mannes, bis er schließlich anfing ihr zu folgen. Ich blieb lieber stehen, bevor ich mir noch Ärger mit den Einheimischen einfing. Die zwei verschwanden im Dorf, während ich ihnen nachsah.
Ich überlegte, ob ich mich ein wenig umschauen sollte. Andererseits kannte ich mich hier nicht aus. Am liebsten wäre ich zurück zu der Wiese gegangen und zu der kleine, stolzen, weißen Lilie. Ich schaute zu dem Weg, den wir gekommen waren, doch noch bevor ich überhaupt mit dem Gedanken spielen konnte wieder zurückzugehen, stand mein Begleiter hinter mir, um mir Einlass in das Dorf zu gewähren. Ich folgte ihm ins Dorf hinein, vorbei an den festlich geschmückten Behausungen, hin zu der jubelnden Ansammlung der Dorfbewohner. Ich fühlte mich völlig fehl am Platz und sehnte mich geradezu nach der Stille der Blumenwiese und dem wachsamen Blütenkelch der Lilie.
Aus einer etwas höher gelegenen Behausung trat dann ein stämmiger älterer Herr hinaus und die Menschen verstummten. Er schien wohl so etwas wie das Oberhaupt des Volkes zu sein. Er redete recht schnell auf die Bewohner ein in einer Sprache, die ich nicht verstand, die ich jedoch als Hauptsprache des Volkes wiedererkannte. Hinter ihm traten anschließend zwei Männer heraus, die zu meiner Überraschung die gleichen waren, die mich vorhin zusammen mit meinem unfreiwilligen Begleiter gemustert hatten. Ich wusste nicht recht, ob ich die zwei als Beschützer oder als Söhne des Oberhaupts einordnen sollte. „Es sind seine Söhne.“, sagte mir der Mann mit den faszinierenden Augen. Ich nickte und warf ihm einen Seitenblick zu. Er schaute nach vorne und lauschte den Worten des Stammoberhauptes.
Ich sah mich um. Alle Dörfler schauten in gespannter Erwartung zu den Männern dort oben. Ich seufzte und wünschte mich zurück auf die Wiese. Mein Begleiter griff nach meinem Arm und zog mich zur Seite. Völlig perplex ließ ich mich mitziehen und schaute ihn an, während er weiterhin dem Oberhaupt zuhörte. Er fing an mir die Ansprache zu übersetzen. Leise und nah an mein Ohr gebeugt, erzählte er mir, dass das Oberhaupt und seine Söhne den Kriegern für ihren Mut dankten und sie dazu animierten, auch weiterhin im Geiste des Volkes mit Kraft und Stolz für dieses Dorf zu kämpfen. Während ich ihm zuhörte, wurde mein lückenhaftes Bild nur bedingt gefüllt. Kämpfen? Wogegen? In meinem Kopf arbeitete es und ich hatte mehr und mehr Mühe ich zu konzentrieren und die Teile zusammenzusetzen. „Seine Söhne sollen heiraten.“ Heiraten? Wahrscheinlich war das Dorf deshalb so festlich geschmückt. „Du bist müde.“ Ich starrte ihn an. Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Sein durchdringender Blick ruhte auf mir. Ein gehauchtes Ja erklang von meinen Lippen. Mehr brachte ich nicht heraus, ich war zu verwirrt dafür. Mein Kopf surrte mittlerweile wie ein Bienenstock. Ich bekam gerade noch mit, wie die Menschen um mich herum zu jubeln begannen, bevor ich erst den grünen Boden sah und anschließend nur noch schwarz.

Ich schlief unruhig. Ich träumte wild und verworren. Meine Träume schienen mir genauso ein Strudel zu sein, wie mein Kopf es zuletzt gewesen war. Ich wachte auf. Eine Dämmerung umfing mich. Schwer ächzend richtete ich mich auf und bemerkte, dass ich in einem Bett aus geflochtenen Blättern und Ästen lag. Ich erinnerte mich wieder, dass ich mich in dem Dörfchen befand und dass ich unglaublich müde gewesen war. Ich schaute mich um. Ein Tisch, eine Truhe, ein Regal. Die Behausung war spärlich eingerichtet, aber dennoch gefiel sie mir irgendwie. Der Eingang und die Fenster waren mit Tüchern und Stoffen verkleidet und ich war mir sicher, dass man diese anheben konnte, um das Sonnenlicht hineinzulassen.
Gerade, als ich das dachte, schlug mir ein heller Strahl entgegnen. Ich kniff die Augen zusammen und wartete, bis das Licht an Intensität verlor. Anschließend blinzelte ich mehrmals, um mich erneut an die Dämmerung zu gewöhnen. „Du bist wach.“ Erschrocken schaute ich ihn an. Die Messerspitzen seiner Augen durchbohrten mich erneut, aber jetzt erschienen sie mir nicht mehr so feindselig. Sie hatten etwas glänzendes an sich. Sie sahen aus wie Diamanten und dennoch waren sie so spitz, dass ich das Gefühl bekam, nichts verbergen zu können. Ich löste mich von seinem Blick und schaute an ihm hinunter. In den Händen trug er eine Schale und diverse Früchte. Wie auf das Stichwort knurrte mein Magen laut und vernehmlich. Leicht beschämt senkte ich den Kopf. Ich wollte den Menschen hier nicht zur Last fallen, gehörte ich hier doch gar nicht her. „Hunger?“ Ich nickte. Klang er etwa belustigt? Er drehte sich ab und kniete sich an den Tisch. Anschließend fing er an die Früchte abzuschälen und zu zerkleinern, bevor er sie in der Schüssel zu einem Brei zusammenquetschte.
Ich beobachtete ihn vorsichtig. Er schien routiniert zu sein und kannte die Bewegungsabläufe, die nötig waren, um die Früchte zu öffnen. Ich fühlte mich hungrig und unwohl, war ich doch hier anscheinend in seiner Behausung und verursachte unnötige Umstände. Mir wurde die Schüssel vorgesetzt. Ich sah einen rotbraunen Brei in einer hellbraunen Schüssel, daneben lag ein Holzlöffel. Ich schaute kurz auf und sah, wie der Mann mir gegenüber mich beobachtete. Schnell senkte ich den Blick und nahm den Löffel, um die Masse zu kosten. Sie war wirklich lecker! Ich schaufelte mir den Früchte-Brei hinunter, als hätte ich drei Tage lang nichts mehr zu mir genommen. Wann hatte ich eigentlich tatsächlich das letzte Mal etwas gegessen? Ich wusste es nicht mehr und es war mir im Moment auch egal. Mein Magen bedankte sich schnurrend für dieses Mahl und ich wagte nicht aufzuschauen, ahnte ich doch, dass ich belustigt gemustert wurde. Als ich fertig war, trat eine ungemütliche Stille ein. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte, doch traute ich mich nun endlich aufzusehen und bereute es sofort. Diesen Augen konnte nichts verborgen bleiben, vor allem konnte ich ihnen nichts verheimlichen. Ich sah auf meine Schüssel und bekam schließlich doch noch ein „Danke.“ heraus. Ich sah, wie sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln verzogen und meine taten es ihm zögerlich gleich, doch ich versuchte sie so schnell wie möglich wieder unter Kontrolle zu bekommen.
Er stand auf und nahm meine Schüssel samt Löffel mit, bevor er sich nach draußen begab. Ich hörte Kinderlachen, als er das Tuch des Ausgangs zur Seite nahm, und schaute in diese Richtung, musste mich aber sofort wieder abwenden, da mich das Sonnenlicht erneut blendete. Ich saß allein in dem Häuschen und befand, dass ich mich endlich etwas bewegen musste, vor allem sollte ich aus dem Bett raus. Ich schlug den Stoff zurück, der mir als Decke gedient hatte und versuchte diesen so gut es ging zusammenzufalten. Ich kämpfte noch mit dem Stoff, als ich merkte, wie jemand das Haus betrat, ein wenig von mir entfernt stehen blieb und mich beobachtete. Ich seufzte leise. Es war offensichtlich, wer hinter mir stand, aber dass ich ständig von ihm beobachtet wurde, setzte mir doch zu. Ich mochte es nicht im Mittelpunkt zu stehen und schon gar nicht mochte ich es beobachtet zu werden. Ich fühlte mich dann immer so ausgeliefert, so als könnte man alle meine Fehler sehen. Als ich fertig war stand ich vor dem Bett und begutachtete meine Arbeit. Ich war zufrieden. Dann drehte ich mich um und sah gerade noch, wie mein Begleiter erneut durch die Tür verschwand. Schnell ging ich hinterher.

Draußen stoppte ich abrupt. Ich hatte ja bemerkt, dass die meisten Behausungen in den Bäumen lagen, allerdings nur ein paar Meter vom Boden entfernt, doch das, was ich jetzt sah, ließ mich mehrere Schritte von der Kante zurückweichen. Von hier oben konnte ich alles sehen, das ganze Dorf lag mir zu Füßen. Ich war überrascht, dass die Dörfler ihre Behausungen höher als das Oberhaupt bauen durften, aber andererseits war ich mit ihren Riten und Gesetzen auch nicht bekannt. Ich suchte nach einem Weg nach unten und hielt gleichzeitig Ausschau nach meinem Begleiter. Ich fand ihn auf einem Ast entlanglaufend und anschließend ließ er sich an dem dicken Stamm des Baumes hinuntergleiten. ‚So elegant werde ich das wohl nicht hinbekommen.‘, dachte ich, doch mir blieb kaum eine andere Wahl, als mir ebenfalls einen Weg nach unten zu suchen.
Ich hangelte mich vorsichtig an der Plattform, auf der das Häuschen stand, hinunter auf einen der dicken Äste, die das Gerüst trugen. Ich traute mich kaum meine sichere Plattform loszulassen, doch ich musste zum nächsten Ast hinunter und das gelang mir nicht, solange ich dort oben Wurzeln schlug. Eine gute Balance half sicherlich, doch ich fühlte mich ein wenig wie ein Vögelchen bei seinen ersten Flugversuchen, die scheiterten. Mehr schlecht als recht krabbelte ich über den Ast und ließ mich auf den darunter liegenden hinuntergleiten. Leider war dieser noch dünner und ich robbte regelrecht über den Ast. So ging es weiter, bis ich schlussendlich den Stamm erreichte. Ich versuchte einen sicheren Halt zu finden, um mich dann ebenso elegant hinuntergleiten zu lassen, doch ich rutschte ab und purzelte den Stamm hinunter. Ich kullerte wie ein Ball mit dem Schwung vom Stamm durch die Gegend und wurde schließlich von einem anderen Bäumchen gestoppt.
Ich rappelte mich mühsam hoch und schaute mich zaghaft um, nur um gleich darauf feststellen zu müssen, dass ich von einer Reihe von Einheimischen angestarrt wurde. Ich wünschte sofort im Boden zu versinken. Ich hasste es im Mittelpunkt zu stehen. Ich sah, wie mein Begleiter kopfschüttelnd auf mich zukam. „Das musst du noch üben.“, sagte er lächelnd zu mir, während ich mir einmal mehr wünschte wieder auf der Blumenwiese zu sein. Beschämt senkte ich den Blick. „Komm.“, sagte er und reichte mir seine Hand. Zögerlich nahm ich sie und ließ mich von ihm mit gesenktem Kopf durch das Dorf führen.

Wir hielten vor einer großen Hütte, die nur ein Stück über dem Boden befestigt war. Ich inspizierte das Haus genau und hielt es zumindest von außen für eine Art Gemeinschaftsaal. „Wo sind wir?“, sprach ich meinen Gedanken laut aus und erntete dafür einen überraschten Blick meines Begleiters, da ich das erste Mal seit meiner Ankunft gesprochen hatte. Dann lächelte er, während er mir antwortete. „Das ist das Haus des Stammeshäuptlings. Erkennst du es wieder?“ Ich musterte das Haus nun noch genauer. Tatsächlich schlich sich eine Erinnerung des gestrigen Tages in meinen Kopf und ich nickte, denn das Haus schien dem aus meiner Erinnerung sehr zu gleichen. „Hochzeit“, flüsterte ich nachdenklich. „Genaus, seine Söhne sollen heiraten.“ Ich schaute ihn an. Sein Blick hatte sich verändert. Ich konnte ihn nicht deuten, aber er war irgendwie anders, nicht mehr so spitz, nicht mehr so musternd. Er war schon fast einladend.
Wir betraten das Haus und wurden sogleich von dem stämmigen Oberhaupt begrüßt, während seine Söhne mich erneut abschätzig von oben bis unten begutachteten, ehe auch sie sich erhoben, um uns zu begrüßen. Ich war überrascht, dass ich so freundlich aufgenommen wurde, hatte ich doch bisher nichts als Ärger verursacht, wenn auch in kleinen Maßen. Der Häuptling lud uns ein an seiner Besprechung teilzuhaben. Wir setzten uns zu den dreien auf den Boden an einen kleinen Tisch, auf dem mehrere Tassen und eine große Schale gefüllt mit Wasser stand. Mein Begleiter nahm sich zwei Tassen und füllte diese, ehe er eine davon vor mir abstellte. Ich sprach ein schnelles Danke und nahm vorsichtig einen Schluck, während ich inständig hoffte, dass mir das erlaubt war und dass ich dadurch nicht irgendeinen zeremoniellen Ritus verletze. Der Häuptling erzählte allerhand in seiner Sprache und diskutierte darüber mit seinen Söhnen, während diese mit Gesten ihre Zustimmung oder ihren Unmut ausdrückten. Der Mann neben mir hörte stillschweigend zu, ergänzte nur selten hier oder da etwas und fungierte mehr als eine Art Zeuge, der die Besprechung absegnete. Ich saß einfach nur da und schaute den Männern beim diskutieren zu, verstand ich doch weiterhin kein Wort. Irgendwann lenkte der Häuptling seinen Blick auf mich und seine Söhne taten es ihm gleich. Ich bekam das ungute Gefühl, dass sich dieses Gespräch jetzt um mich drehen würde und wahrscheinlich um meinen Nutzen für diese Gemeinschaft. War ich überhaupt nützlich? Seine beiden Söhne gestikulierten immer hektischer und auch die Lautstärke des Gesprächs steigerte sich mehr und mehr. Ganz klar, diese beiden wollten mich nicht hier haben. Ich sank innerlich mehr und mehr in mir zusammen und anscheinend muss ich auch äußerlich etwas gesunken sein, denn ich spürte eine Hand beruhigend auf meiner ruhen. Als ich aufsah, blickte ich in die Augen, die wie Messerspitzen funkelten, die mir nun aber Sicherheit suggerierten.
Das Gespräch über meine Wenigkeit wurde ziemlich schnell beendet, so führte es doch zu nichts, auch wenn ich mir dessen nicht wirklich sicher war. Ich ahnte, dass die beiden Söhne mich unbedingt loswerden wollten, hielten sie mich doch für gänzlich ungeeignet für ihre Gemeinschaft und sie machten auch keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen mich. Das Stammesoberhaupt beendete das Gespräch mit einer Geste, die von seinen Söhnen und meinem Begleiter erwidert wurde, bevor wir uns bis auf das Oberhaupt alle aus der Hütte begaben. Seine Söhne verschwanden schnell im Dorfgetümmel, sodass sie sich nicht länger als nötig mit mir abgeben mussten.
Ich atmete schwer aus und überlegte, was jetzt wohl aus mir werden würde, als mein Begleiter wieder meine Hand nahm und mich zu einem Platz etwas außerhalb des Dorfes gelegen führte. Ich kletterte mit seiner Hilfe auf einen Baum, auf dem uns ein sehr breiter Ast als Plattform diente, auf der wir uns niederlassen konnten. Von hier aus konnte man ebenfalls das gesamte Dorf sehen, das zur Zeit von der Sonne, die im Zenit stand, mit ihren Strahlen übergossen wurde.

Ich wusste nicht, wie lange wir dort schweigend saßen, aber irgendwann hatte ich das Gefühl etwas sagen zu müssen. Ich fragte ihn nach dem Gespräch, dem ich bewohnen durfte, und was es damit auf sich hatte. Er erklärte mir, dass es um die Festlichkeiten der Hochzeiten ging. Es wurde darüber diskutiert, wie und wo die Feier stattfinden sollte und wer die Organisation übernehmen sollte, wofür nur die engsten Vertrauten des Oberhaupts in Frage kamen. Ferner ging es um mich und meinen Platz hier. Er erzählte, dass die Männer überlegt hatten, wie sie mich in die Gesellschaft eingliedern konnte, sofern sie meine Anwesenheit überhaupt akzeptierten.
‚Ich gehöre nicht hierher.‘, dachte ich, während ich das Treiben im Dorf beobachtete. „Da bin ich anderer Meinung.“ Ich schaute ihn geschockte an. Hatte ich das etwas gerade laut gesagt? Er musterte mich durchdringend. Ich sah ihn unsicher an. In meinem Kopf drehten sich die Gedanken. Das hier war nicht meine Welt, ich wusste auch nicht, wie ich hierher kam oder was meine Aufgabe hier war, doch ich wusste, dass ich zurück in meine Welt wollte. „Nein, ich gehöre hier nicht her.“, sagte ich, während ich meinen Blick wieder auf das Dorf richtete. „Und das werde ich auch nie.“ „Woher weißt du das?“ Ich runzelte die Stirn. Was meinte er damit?
„Das ist doch offensichtlich. Ich bin auf dieser Blumenwiese aufgewacht und hätte nie gedacht, dass sich hier ein Dorf findet. Die Menschen aus diesem Dorf stehen mir skeptisch gegenüber und die Söhne des Oberhaupts wollen mich nicht hier haben. Ich kann mich nicht so grazil über die Bäume bewegen und kenne die Sprache nicht. Keine guten Aussichten, um hier leben zu wollen.“ Deprimiert über meinen eignen Gedankengang ließ ich den Kopf hängen. „Willst du das denn?“ Was will ich? Ich versuchte den Faden wiederzufinden. „Hier leben, meine ich.“ „Oh, das.“ Ich seufzte und dachte darüber nach, während unten im Dorf ein kleiner Tumult begann. „Ich weiß nicht.“, gelang ich schließlich zu einer Antwort und schaute ihn an. Sein Blick ruhte mal wieder auf mir und diese Augen schienen nun unergründlich. Ich schaffte es, seinem Blick standzuhalten und mich nicht unterkriegen zu lassen. ‚Ja, ich weiß es nicht, denn ich gehöre nicht hierher.‘, ging es mir wie ein Mantra durch den Kopf. Er legte den Kopf ein wenig schräg, während er mich weiterhin anschaute und irgendwie zu überlegen schien. Der Tumult im Dorf wuchs in der Zwischenzeit, es kamen mehr und mehr Stimmen hinzu und schon bald hallten laute Rufe durch das Dorf. Ich riskierte einen Blick nach unten, doch konnte ich die Quelle für diesen Tumult nicht ausfindig machen. Ich schaute ein Stück weiter durch die Bäume hindurch und sah die Söhne des Häuptlings blutüberströmt und mit einem großen Tier im Schlepptau. Anscheinend waren sie auf der Jagd gewesen.
„Das wird die Mahlzeit für die Hochzeit.“ Perplex schaute ich ihn an. „Wann soll denn das Fest stattfinden?“ „Morgen.“ Ich war wie in einer Schockstarre. Hatte ich gerade richtig gehört? „Das heißt, es steht schon fest, wen die Söhne heiraten werden?“ Er nickte und wandte seine Aufmerksamkeit wieder mir zu. „Darf ich überhaupt dabei sein?“, fragte ich, den Blick nachdenklich auf das Dorf gerichtet. Wer möchte schon eine Fremde auf seiner eignen Hochzeit haben? „Du machst dir viel zu viele Sorgen.“, flüsterte er dicht an meinem Ohr. Ich zuckte zusammen und spürte förmlich das Lächeln auf seinen Lippen.
Er stand auf, um sich an den Abstieg zu machen. „Warum hilfst du mir? Die Söhne des Häuptlings hätten am liebsten, dass ich wieder verschwinde und alle anderen wollen nichts mit mir zutun haben, aber dich scheint es nicht sonderlich zu stören, dass ich hier bin und dir zur Last falle. Warum?“ Hilflos auf der Suche nach Antworten schaute ich ihn an. Da war er wieder, dieser kalte musternde Blick mit dem messerscharfen Augen. Im Dorf brachen Freudenschreie aus und es begann eine Art Tanz. Wir schauten kurz hinunter und uns dann wieder an. Sein Blick war wieder ein ganz klein wenig weicher geworden. „Komm.“, sagte er nur und bot mir seine Hand an, um mir herunter zu helfen. Ich stand auf und tat wie geheißen. Ich kletterte einigermaßen gut von dem Baum herunter und sprang die letzten Meter von einem Ast herab. Mein Begleiter tat es mir gleich, stand nun hinter mir und gerade, als ich mich zum Dorf begeben wollte, hielt er mich mit einem Arm um meine Taille gelegt fest. „Du bist etwas besonderes. Darum.“, flüsterte er, bevor er mich losließ und schnellen Schrittes in das Dorf ging.

‚Ich und was besonderes?‘, dachte ich ungläubig, bevor mir ein anderer Gedanke in den Kopf kam: ‚Wer ist er?‘ Ich beschloss ihn bei Gelegenheit danach zu fragen. Ich folgte ihm in das Dorf, in dem die Bewohner mittlerweile voll in ihrem traditionellen Tanz aufgingen. Selbst die Kinder taten es den Erwachsenen gleich und bildeten einen kleinen Kreis neben dem großen der Eltern. Sie tanzten und sangen, sofern man das als singen bezeichnen konnte. Es klang eher, als wollten sie einen Gott oder Geist beschwören.
Ich suchte meinen Begleiter und fand ihn vor einer kleinen Hütte ein Stück abseits der Gruppe. Ich ging zu ihm. Er stand dicht genug an dem Feuer für das Festmahl, dass mir der beißende Rauch in die Nase stieg und ich husten musste. Er schaute mich an, lächelte kurz und richtete seinen Blick dann wieder auf die Bewohner, deren Tanz nun seinen Höhepunkt erreichte. „Was tun sie da?“, fragte ich ihn. „Sie danken den Geistern für das reiche Wild, ehren das Tier und sein Fleisch und beten für die Seele des armen Geschöpfes.“ Ich dachte kurz darüber nach und sah auf das tote Tier. „Ein sehr schöner Brauch.“, befand ich gedankenversunken. Aus dem Augenwinkel nahm ich sein Lächeln war. Das freute mich. „Warum hältst du mich für etwas besonderes?“, wagte ich mit leiser Stimme zu fragen. Ich sah, wie er schwer ausatmete. „Dafür brauchen wir mehr Zeit und einen ruhigen Ort. Lass uns das auf später verschieben.“ Ich nickte. So etwas in der Art hatte ich schon erwartet.
Das Freudenfest zur Ehrung des Tieres ebbte langsam ab. Nun wurde das geheiligte Tier in die Mitte des Kreises gebracht und die kleineren Kinder wurden in die Hütten verbannt. Ich ahnte, dass es nun zum unschönen Teil der Zeremonie kam. Die Söhne des Häuptlings kamen fast komplett entkleidet und mit messerähnlichen Gegenständen in die Mitte des Kreises und steckten die Glieder des toten Tieres nach außen. Weitere Krieger banden Seile herum und hielten die Glieder an Ort und Stelle.
Nach einem kriegsähnlichen Ausruf schlitzten die Söhne das Tier der Länge nach am Bauch auf. Blut quoll sofort hervor. Einige Frauen kamen mit Schüsseln und Gefäßen, um ein Teil des Blutes aufzufangen, doch der Großteil ergoss sich auf den Boden und verwandelte diesen in einen unheimlich roten See, der sich mit zarten Armen weiter seinen Weg suchte und sich vergrößerte. Die zwei Männer knieten nun vor dem Tier, um die Eingeweide herauszuschneiden. Als erstes landete der Magen auf dem Boden, der sofort von einem weiteren Mann angenommen und in eine Hütte gebracht wurde, gefolgt von dem Gedärmen und dem Herz, die ebenfalls in Hütten verfrachtet wurden. Die Männer befreiten das Tier so gut es ging von den übrigen überflüssigen Innereien, bevor sie sich an das restliche Fleisch wagten. Sie arbeiteten nun von zwei Seiten. Ich sah, wie die steinernen Messer durch das Fleisch ritzen, das penibel in Einzelteile zerlegt wurde. Es wurde ebenfalls sauber darauf geachtet, dass das Fell nicht beschädigt wurde. Die Fleischstücke wurden von den Frauen des Dorfes auf große hölzerne Bretter gestapelt und anschließend in die Hütten getragen. Die Zerlegung des Tieres dauerte seine Zeit, in der sich die Söhne des Oberhaupts fast rundum mit Blut beschmierten. Nachdem das kostbare Fleisch vom Rest getrennt war, nahmen sich die beiden Männer den Kopf vor. Ich sah, wie sie ihre Messer von der Kehle des Tieres nach außen zogen, immer und immer wieder, bis Sehnen und Muskeln durchtrennt und der Kopf abgetrennt waren. Die älteren Jungen des Dorfes wurden zu den Männern zitiert, die sie anwiesen, den Kopf aufzunehmen und ihn dem Oberhaupt zu übergeben. Voller stolz nickten die Jungen und vollbrachten ihre Aufgabe mit geschwollener Brust. Während ich ihnen noch nachsah, machten sich die Männer daran die Beine des Tieres von ihrem Fleisch zu befreien, das sie anschließend an die Gruppe verteilten, die es genüsslich aß. Zuerst bekamen die Krieger etwas von dem Fleisch, dann die übrigen Männer, bevor die Mütter und dann die restlichen Frauen in den Genuss kamen. Zuletzt aßen die Söhne selbst, die einen Großteil des gewonnene Fleisches einheimsten, bevor sie die Beine ebenfalls vom Körper trennten. Dann wurden die Füße abgetrennt, die an einige der Krieger übergeben wurden, während der restliche Körper samt Fell von Frauen aus dem Blut gerettet wurde. Keine Frage, daraus wurden später sicherlich prächtige Kleidungsstücke gefertigt.
Ich war sehr überrascht, als auch ich, wie die übrigen Frauen, ein Stück Fleisch bekam. Ich hatte noch nie rohes Fleisch verzehrt und war mir auch nicht sicher, ob ich das hinbekommen würde, schließlich hatte ich gerade zugesehen, wie das Tier ausgenommen und geschlachtet wurde. Ich hielt mein Stück daher bis zum Schluss in den Händen hinter meinem Rücken, damit es wenigstens so aussah, als hätte ich es gegessen, um niemanden zu beleidigen. Als die Schlachtung beendet war und alle geschäftig in ihren Hütten verschwanden, war die Blutlache der einzige Überrest und eine Art stummer Zeuge der Prozedur. Mir wurde extrem unbehaglich mit dem Fleisch in meinen Händen, während ich mir einbildete, dass das langsam versickernde Blut auf dem Boden mich regelrecht anstarrte. „Du solltest das Stück essen.“ Ich zuckte zusammen, als ich so aus meinen Gedanken gerissen wurde. Für einen Moment hielt ich es sogar für möglich, dass das verblutete Tier mit mir gesprochen haben könnte. Ich nickte nur und nahm meine Hände nach vorne, um das Stück zu betrachten. „Es schmeckt gut, wirklich. Und du ehrst das Tier, indem du von dem zehrst, was es uns zum Leben gegeben hat.“ Ich schaute ihn an. Er schien nicht zu lügen, seine Augen glitzerten sanft. Ich kostete zaghaft von dem Fleisch, nicht ohne, dass ich vorher in Gedanken dem Tier dafür dankte. Er hatte recht, das Fleisch schmeckte wirklich köstlich. Das mich vorher noch anstarrende Blut schien sich nun auch zufrieden zurückzuziehen, auch wenn ich mir das natürlich nur einbildete, aber das Ritual der Dörfler, indem sie dem Tier dankten, gefiel mir wirklich gut, sodass sich auch meine anfänglichen Schuldgefühle nicht mehr meldeten.

„Komm.“ Ich folgte ihm hinaus aus dem Dorf und rauf auf den Baum, der uns vorhin schon als ruhiges Plätzchen diente. Würde ich nun Antworten bekommen? Ich war erst seit ein paar Tagen hier, doch es fühlte sich an, als wäre eine Ewigkeit vergangen. Wie lange war ich wirklich schon hier? Ich ließ meine Gedanken schweifen, ließ sie kommen und gehen, bis wir uns oben auf einem dicken Ast niederließen. Gedankenversunken schaute ich auf das Dorf, dass immer noch im Glanzlicht der Sonne lag. Mir schien es, als würde die Sonne nie unter gehen, sondern sich immer nur hinter den Bergen auf der einen Seite verkroch, bis sie am anderen Ende des Tals wieder hervorkam.
„Weißt du, wie du auf unsere Wiese gekommen bist?“, fragte er mich und riss mich aus meinen Gedanken. „Nein.“ Ich schüttelte den Kopf. „Aber ich weiß, dass ich von der weißen Lilie beschützt wurde.“, fügte ich mit all meiner Überzeugung hinzu, auch wenn es ein wenig lächerlich klang. Ich schaute ihn an. „Was mache ich hier? Ich meine, warum bin ich hier?“ Er sah auf das Dorf, während er antwortete: „Das weiß ich nicht.“ Er schaute auf. „Du wolltest wissen, warum ich dir helfe, richtig?“ Ich nickte. „Die Lilie verbirgt das Geheimnis.“ Die Lilie? Ich verstand gar nichts. Was hatte denn die Blume damit zutun? „Es gibt eine Sage hier, die mit dieser Lilie zutun hat. Möchtest du sie hören?“ Wieder nickte ich.
„Die ersten dieses Volkes ließen sich hier nieder, ohne groß darüber nachzudenken. Das Tal war geschützt und sie fanden es nur durch Zufall. Der Tunnel im Berg, durch den wir gekommen sind, ist nur einer von vielen versteckten Eingängen zu diesem Tal, das sich weit erstreckt, aber von allen Seiten geschützt ist.
Bevor hier das Dorf entstand, war dies die Heimat von sehr vielen Blumen, große und kleine, alle, die man sich nur vorstellen kann. Für die Dörfler hatten die Blumen, die ihre Bedeutung für das Tal nicht kannten, keinerlei Relevanz und so zerstörten sie das Fleckchen Erde, um ihre Behausungen zu bauen. Schnell gerieten die Dörfler in große Not. Mal waren es Naturkatastrophen, mal die Tiere, die hier hausen, mal einfach Pech. Der Boden, den sie bestellen wollten, war nutzlos. Keine einzige Planzen wuchs mehr darauf. Er wurde durch starke Regengüsse und extreme Dürre lehmig, sodass ihre Häuser keinen festen Stand mehr hatten. Sie sanken ab und wurden von Boden verschlungen. Die ältesten Schamanen des Dorfes kamen schnell zu dem Schluss, dass sie diese Idylle, die einst herrschte, zerstört hatten und dass die Blumen, die einst wuchsen, das Fleckchen mit Leben erfüllt hatten. Es begann eine Reihe von Versuchen, in der die Menschen die Erde zurückverwandeln wollten in das, was sie einst war, doch alle Bemühungen schlugen fehl. Die Menschen fingen an, ihre Häuser in den Bäumen zu bauen, die ihnen Schutz boten vor den Racheakten der Natur, deren Zorn sie auf sich gezogen hatten. Sie schmückten ihre Hütten prächtig, lebten jedoch einfach, aber sie versuchten durch die Farbenvielfalt an die Pracht der Blumen heranzureichen, um die Natur zu besänftigen. Fortan achteten die Menschen das Tal und taten nichts, was nicht gut überlegt und wirklich notwendig war. Sie führten die Dankesriten ein und bemalten sich selbst in den hübschesten Farben, um den Blumen ihre Verehrung auszusprechen.
Das Volk war lange auf der Suche nach jeglichen Blumenarten, die früher auf ihrem Platz wuchsen. Sie ließen sich nicht von ihrem Plan abbringen, die Erde wieder so herzustellen, wie sie sie einst vorgefunden hatten. Doch schon bald merkten sie, dass nicht alle Blumenarten innerhalb des Tals wuchsen. Sie suchten über Generationen hinweg nach den fehlenden Arten und stießen irgendwann auf die Blumenwiese, auf der du aufgewacht bist. Dort wuchs alles, von einer warten Dahlie bis hin zur prächtigen Orchidee. Sie nahmen so viele Blumen mit, wie sie konnten und versuchten ihr Glück erneut, aber wieder waren alle Bemühungen vergebens. Sie achteten nicht genau auf das, was sie sahen. Es gab mehrere dieser Versuche, bis auch diese Blumenwiese ziemlich ausgezehrt vor ihnen lag. Die Dorfbewohner sahen nun ein, dass sie mehr Schaden als Nutzen anrichteten, wenn sie in die Pläne der Natur eingriffen. Sie verschafften sich einen Überblick über die Anzahl der Blumen, die noch lebten und hofften, dass sie sich weiter vermehren würden. Über weitere viele Generationen hinweg wurde die Wiese überwacht und immer wieder wurde nachgezählt und gehofft, dass die Blumen sich wieder erneuerten.

Eines Tages entdeckten sie einen weißen Fleck auf der Wiese. Es war keine Blume, sodass die Bewohner mutig hingingen, um den Fleck zu untersuchen. Je näher sie kamen, desto deutlicher wurden die Umrisse und sie erkannten, dass es sich um einen Menschen handelte. Das war die erste Ankunft eines anderes Menschen in diesem Dorf. Was die Bewohner nicht sahen, war die kleine weiße Blume, die neben dem Menschen blühte. Nach der Ankunft des Fremden wurde dieser sogleich in die Gemeinschaft integriert und wie durch ein Wunder schien der Zorn der Natur langsam zu verblassen. Es heißt, dass dieser erste Fremde den Dorfbewohnern beigebracht habe sich richtig mit der Natur zu verständigen. Er verbesserte die Riten, stützte die Häuser und erforschte das weitere Tal, das die Dorfbewohner nicht zu betreten gewagt hatten. Sie erschlossen neue Gebiete und wurden mit einem Reichtum an naturgegebenen Schätzen belohnt. Es war wie ein Wunder. Als dieser Mensch starb gab es sehr lange keinen neuen Fremden mehr in dieser Welt. Die Dorfbewohner trauerten lange und auch die von ihnen bewachte Blumenwiese fing an ihren Zauber zu verlieren. Die Blumenzahl sank stetig. Nun fiel einem kleinem Jungen die weiße Lilie auf, die mit aller Kraft ihren Platz zu verteidigen schien. Sie sprühte nur so vor Lebensenergie. Der Junge machte es sich zur Aufgabe diese Blume zu beobachten und jedes Mal, wenn er mit den Erwachsenen hinaus auf die Wiese ziehen durfte, hielt die Blume ihr Köpfchen in immer derselben Weise. Das fand der Junge merkwürdig und er beschloss nachzusehen, was wohl in der Richtung liegen mag, in die die Blume wies. Kurz darauf erhellte ein lauter Schrei nach den Erwachsenen die Wiese, die zu dem Jungen stürmten und nun genau wie er sahen, dass ein großer Felsen das Wasser der Wiese blockierte. Anfangs gab es keinen Wasserfall, so wie er heute zu sehen ist, es gab nur ein kleines Bächlein, der sich mithilfe von dünnen Verzweigungen über die gesamte Wiese erstreckte. Die Dörfler tüftelten tagelang an einer Lösung. Keiner weiß genau, wie sie es vollbracht hatten, aber sie machten aus dem kleinen Bach einen reißenden Wasserfall, der die Wiese alsbald wieder mit Leben versorgte.
Als der Junge älter wurde und schließlich ein Greis war, ging er noch ein letztes Mal mit den Bewohnern auf diese Wiese. Er suchte nach seiner Lilie, doch er fand sie nicht. Das einzige, was er sah, war ein kleiner, runder Hügel, gerade so groß wie ein Kieselstein. Da wusste er, dass die Lilie nicht für jeden blühte, sondern nur für die, die eine besondere Aufgabe zu erfüllen haben. Er erzählte niemanden von dieser besonderen Blume, die nicht für jeden bestimmt war. Einzig und allein seine Kinder mahnte er, dass sie jeden willkommen heißen sollen, der im Angesicht der Lilie das Dorf betritt.“

Er schaute mich an. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, musste ich doch erstmal das Gehörte verdauen. „Du hast ebenfalls eine Aufgabe zu erfüllen.“, sagte er, während er tief seufzte. Ich nickte nur, war ich mir dessen doch nicht sicher. „Was ist das für eine Aufgabe?“, fragte ich. „Das kann ich dir nicht sagen, das weißt nur du.“ Ich schaute ihn unsicher an. „Aber ich kann dir helfen herauszufinden, was es ist.“ Der Mann mit den Augen wie Messerspitzen hatte jetzt etwas komplett Fremdes an sich. Er schien gütig und zart. Ich war verwirrt.
„Ich verstehe das nicht. Die Söhne des Häuptlings wollen mich nicht haben, aber anscheinend bin ich doch wichtig für das Dorf oder nicht? Wie kann ich dann meine Aufgabe erfüllen, worin auch immer diese besteht, wenn ich nicht akzeptiert werde?“ Ich klang wie ein klagendes Kind, das seinen Willen nicht bekam und ärgerte mich anschließend selbst darüber. Ich atmete schwer aus. „Wann soll die Hochzeit sein?“, fragte ich ihn. „Morgen.“, antwortete er ruhig. In meinem Hirn arbeitete es nun auf Hochtouren. „Bring mich zu der Lilie.“, forderte ich. Zu meinem Erstaunen kam er meiner Forderung nach und half mir von dem Baum hinunter.
Wir gingen vom Dorf weg zu den Felsen hin, an denen wir uns dann an dem Aufstieg wagten. Ich nahm alles wie durch einen Schleier wahr und war mir überhaupt nicht bewusst, was ich eigentlich gerade tat. Die Vögel, die mir noch vor wenigen Tagen Angst einjagten, ließen mich jetzt kalt, ich vernahm sie nicht einmal, obwohl sie dich über uns kreisten, jederzeit zum Angriff bereit. Ich war in Gedanken nur bei der Lilie und ihrem Wesen. Wir erreichen den Höhleneingang und gingen hinein. Die hallenden Schritte erreichten mein Gehirn nicht und ich ging stur geradeaus, als ich plötzlich eine Hand an meiner spürte, die mich wegzog. Ich merkte gerade noch, wie ich mit der anderen Hand am Felsen entlang glitt, bevor ich wieder in meine Grübeleien verfiel, während ich von meinem Begleiter geführt wurde.
Als das Licht wieder heller wurde, wurde auch mein Kopf wieder klarer. Die Luft war frisch und rein, der Wasserfall war als silberner Streifen an Ort und Stelle und der seichte Nebel bedeckte die Wiese. Ich ließ meinen Begleiter los und ging über die Wiese, während ich versuchte die Stelle wiederzufinden, an der die Lilie stand. Ich orientierte mich an den Wasserfall, den ich auch beim Aufwachen gesehen hatte, und fand schon bald eine Stelle plattgedrücktes Gras. Ich rannte hinüber und kniete mich nieder. Da stand sie. Meine kleine Freundin die Lilie. Sie reckte ihr Köpfchen nach oben, als wolle sie mich begrüßen und schien sich zu freuen, dass ich wieder da war. Ich lächelte das kleine Geschöpf an und war mir meiner Sache immer sicherer. Ein Plan hatte sich in meinem Kopf festgesetzt, der mir genauso absurd wie gut erschien.

Ich bat die Lilie stumm um ihre Zustimmung. Sie antwortete nicht, aber mir schien es, als würde sie mich gewähren lassen. Ich fing an das zarte Geschöpf auszugraben und achtete dabei besonders auf ihre Wurzeln. Es entstand ein ziemlich großes Loch für solch ein kleines Lebewesen. Ich hob sie samt eine wenig Erde auf meine Handflächen. Nun benötigte sie noch etwas Wasser. Ich schaute mich um und befand, dass ich mir beim Wasserfall etwas von dem lebenswichtigen Element borgen würde. Ich stand auf, hielt die Lilie dabei gut fest und trug sie sanft zum Wasserfall hinüber.
Je näher wir kamen, desto lauter wurde das Tosen der Wassermassen. Der Nebel wurde ebenfalls dichter und eine starke Feuchtigkeit schwängerte die Luft. Es kam mir vor, als würde ich durch eine dichte Wolke laufen. Die kleine Lilie hielt sich tapfer. Ich sah, dass sich kleine Regentropfen auf ihr bildeten, die sie komplett benetzten. Ich betrachtete sie mitleidig und schritt schnell weiter, um dem Nebel zu entfliehen. Plötzlich wurde ich von feinem Sprühregen getroffen. Ich hielt die Lilie sogleich schützend an meine Brust und sah stark blinzelnd auf. Vor mir thronte ein gewaltiger Felsen, von dem silberne Wassermassen in einheitlicher Eleganz herunter strömten. Der Lärm war ohrenbetäubend und doch blieb ich wie angewurzelt stehen. Der Anblick war atemberaubend.
Als ich meinen Blick wieder von dem Naturschauspiel lösen konnte, bemerkte ich, dass die Blätter der Lilie mittlerweile schwer vor Wassertropfen meine Hände streichelten. Erneut schenkte ich ihr einen mitleidig-schuldbewussten Blick zu. Ich trat dicht an den Wasserfall heran, den Blick weiter auf die Lilie gerichtet, da der Sprühregen mich nicht aufsehen ließ. Ich flüsterte dem kleinen Geschöpf ein „Tut mir leid.“ zu, sammelte mich innerlich, schloss die Augen und hielt meine Hände für eine Sekunde unter die Wassermassen. Ich wagte kaum meine Augen wieder zu öffnen. Der Anblick traf mein Herz zutiefst. Meine kleine Blume ließ erdrückt den Kopf hängen, Wassertropfen purzelten von ihren weißen Blütenblättern herab und ihre grünen Hände sanken noch tiefer als zuvor. Es zerriss mir fast das Herz, als ich sah, dass ihr Köpfchen mehr und mehr sank und erschöpft fast auf meinen Händen lag. Schmerzlich wurde mir bewusst, dass meine Aktion ihr das Leben kosten könnte.
Ich merkte, wie mir Tränen die Wangen herunter kullerten. Ich schniefte und blinzelte meine Tränen weg, bevor ich mich schnellen Schrittes auf den Rückweg begab, weg von den Wassermassen, hinaus aus dem Nebel. Ich ging flott über die Wiese und sah, dass mein Begleiter am Höhleneingang stand und auf mich wartete. Er musterte mich kurz von oben bis unten, sah eine Weile auf die kleine Blume in meinen Händen und drehte sich dann auf dem Absatz um, um in der Höhle zu verschwinden. Ich eilte ihm schnell hinterher, doch war ich so darauf konzentriert meine Hände gerade zu halten, um möglichst keine Erde und wenig Wasser zu verlieren, dass ich seine Schritte in der Dunkelheit nicht wahrnahm. Verdutzt blieb ich stehen, als meine Nasenspitze plötzlich mit einer Wand aus Stein Bekanntschaft machte. Sofort schnellten meine Gedanken zu der armen Lilie in meinen Händen und ich hoffte inständig, dass sie den Aufprall unbeschadet überstanden hatte. Ich schaute mich um, auch wenn ich natürlich in der Dunkelheit nichts erkennen konnte. Ich seufzte tief. Wie konnten die Dorfbewohner sich hier nur so gut zurechtfinden? Als nächstes spürte ich einen Arm, der sich um meine Taille legte und ein geflüstertes „Komm.“ dicht an meinem Ohr, was mir eine Gänsehaut bescherte.

Am Höhlenausgang ließ er mich los. Wir kletterten nacheinander die schmale Felswand herunter, stetig beobachtet von den gierigen Vögeln. Ich hatte ein wenig Angst um meine kleine Freundin, die sich in meinen Handflächen ungeschützt etwas zu erholen schien. Unten angekommen führte er mich zurück zum Dorf. Ich bat ihn mich möglichst unauffällig durch das Dorfgeschehen in seine Hütte zu bringen. Wir wurden von neugierigen Augen verfolgt, doch schlichen wir zügig voran, sodass uns keiner ansprach. In der Hütte angekommen fragte ich meinen Begleiter nach einem kleinen Gefäß, in das ich meine Freundin vorerst absetzten konnte, damit sie etwas zur Ruhe kommen konnte. Er hielt mir einen kleinen Becher hin, während ich den Sand langsam durch meine Finger rinnen ließ und schließlich die kleine Pflanze behutsam absetzte. Vorsichtig klopfte ich den restlichen Sand von meinen Händen, bevor ich den Becher entgegennahm und ihn auf den kleinen Tisch stellte. Ich betrachtete meine kleine Beschützerin nachdenklich. Ihr Köpfchen hing immer noch ziemlich tief, doch ich hoffte, dass sich das bald wieder legen würde.
Ich verschwand schnell aus der Hütte, bevor mir meine Tränen erneut die Sicht verschleierte. Was, wenn mein Plan nicht funktionieren würde und ich sie umbrachte? Das hatte die weiße Lilie nun wirklich nicht verdient. Ich suchte mir meinen Weg raus aus dem Dorf und hinauf auf den Baum, von dem man aus diesen wunderschönen Blick auf das Dorf hatte. Ich wusste, dass ich schwerlich alleine wieder herunterkam, aber das war mir egal. Ich brauchte die Stille und die tröstenden Strahlen der Sonne, um mich etwas zu beruhigen.
Ich wusste nicht, wie lange ich gedankenverloren auf das in gelbes Licht getauchte Dorf schaute, doch irgendwann hatte ich meine Emotionen soweit unter Kontrolle, dass ich mich wieder zurück in die Hütte traute. Der Abstieg vom Baum gestaltete sich genauso schwierig, wie es vermutet hatte. Ich hangelte mich mühsam an den Ästen herab und rutschte wenig elegant am Stamm hinunter. Nachdem ich mir den Staub von meinen Klamotten geklopft hatte und aufsah, blickte ich direkt in zwei messerscharfe Augen. Die kleinen Dolche durchbohrten mich und ich musste den Blick kurz abwenden. Er musterte mich erneut von oben bis unten, schenkte mir ein kurzes Lächeln und nahm mich anschließend in den Arm. Ich wusste nicht recht, wie mir geschah, war dieses Seite an ihm doch neu für mich, doch irgendwie war ich auch dankbar für diese Geste. Wir sagten kein Wort. Ich genoss diese Wärme um mich herum, die mich von allem ablenkte, was sich eben noch in meinem Kopf breit machen wollte. Diese Berührung dauerte gerade lange genug, um nicht unangenehm zu werden und wir gingen anschließend zurück zur Lilie.

Am nächsten Morgen wachte ich schon mit einer enormen inneren Anspannung auf. War mein Plan wirklich so gut? Ich schaute zu der kleinen Lilie, die von einem zarten Strahl beschienen in ihrer vollen Pracht in ihrem Gefäß auf dem Tisch thronte und wieder einmal auf mich Acht gab. Ich konnte mein Lächeln nicht verbergen. Ich strich zart über ihre grünen Blätter und wünschte uns im Inneren viel Glück.
Mein Blick fiel auf einen Stapel hinter der Blume. Ich stand auf und nahm den Stapel und die Hände, bevor er mir im nächsten Moment halb entglitt und ein langes Kleid zum Vorschein kam. Es war haselnussbraun und hatte wunderschöne Ornamente, die in verschiedenen Farben darauf gesickt worden waren. Ich zog mich rasch um und schaute an mir hinunter. Ich vermisste einen Spiegel, um mich ganz in dem Kleid betrachten zu können, aber das, was ich sah, gefiel mir auf jeden Fall. Es war nicht zu eng, aber auch nicht zu weit. Es erinnerte mich ein wenig an bequeme Hauskleidung, nur dass dieses Kleid zu genau dem festlichen Anlass passte, der heute bevorstand.
Ich nahm meine kleine Freundin in eine Hand und begab mich nach draußen. Mit dem schicken Kleid war der Abstieg gleich um einiges gefährlicher. Ich konnte mich nur mühsam von einem Ast zum anderen hangeln und musste immer aufpassen, dass ich nicht jeden Moment in die Tiefe stürzte. Oder dass ich meine kleine Freundin fallen ließ. Oder das Kleid zerriss.Ich war mehr als dankbar, als ich mit beiden Füßen den Boden berührte. Ich taxierte mit kurzen Blicken das Kleid, das soweit heil geblieben war. Die Dorfbewohner waren bereits mit den letzten Vorbereitungen zu Gange. Hier wurden noch ein paar Girlanden aus Blütenkelchen angebracht, dort hüllten sich die letzten Bewohner in feierliche Kleidung. Ich ging durch das Dorf und betrachtete das Treiben um mich herum. Über der Behausung des Oberhaupts wurde das Tierfell angebracht, dass die Söhne von ihrer Jagd mitgebracht hatten. Ich blieb neugierig davor stehen. Ich musste eingestehen, dass sie Frauen ganze Arbeit geleistet hatten. Das Fell war wunderbar sauber geworden, die feinen Nähte waren regelrecht unsichtbar und die Aufhängung war stabil, doch strapazierte sie das Fell nicht unnötig.

Mit der Zeit sammelten sich mehr und mehr Dörfler um mich und ich beschloss, mir lieber einen ruhigeren Seitenplatz zu suchen. Ich stellte mich an den Rand der Gemeinschaft, die sich angeregt in kleinen Grüppchen unterhielt. Ich war überrascht, wie vielfältig gekleidet die Menschen waren. Nicht nur ihre Kleidung hatten bunte Figuren und Ornamente, auch ihre Gesichter zierten allerlei bunte Zeichnungen. Je mehr Menschen sich versammelten, umso unwohler fühlte ich mich. Ich drückte die weiße Lilie eng an meine Brust und musste mich hin und wieder zügeln, damit ich ihr Gefäß nicht aus Versehen zerquetschte. Ich suchte die Menge mehrfach nach meinem Begleiter ab, doch konnte ich unter all den Augenpaaren keine kleinen Dolche erkennen.
Ich bemühte mich um Fassung, als der Häuptling mit seinen Söhnen herauskam. Der Häuptling trug ein dickes Fell um seine Schultern und hielt einen schweren Stock in der Hand, der mit verschiedenen geschnitzten Tieren kunstvoll geschmückt war. Seine beiden Söhne trugen ebenfalls Felle, aber leichtere und kürzere, anscheinend von kleineren Tieren. Dazu hatten beide Kronen aus Blättern auf dem Kopf und auch ihre Handgelenke wurden von grünen Armreifen aus Blättern bedeckt.
Der Häuptling heilt eine Ansprache, die ich nicht verstand. Als nächstes traten zwei Frauen aus der Hütte, die nicht minder festlich geschmückt waren. Auch ihre Köpfe und Handgelenke zierten grüne Reife. Einige Kinder brachten den Frauen Gaben. Ich konnte Früchte ausfindig machen, dazu Blumen von der Wiese und einige Schüsseln, deren Inhalt sich nur erahnen ließ. Die Gaben wurden von den Frauen einzeln entgegengenommen, die sie dann vor sich abstellten. Anschließend nahmen sich die Pärchen an den Händen, während der Häuptling seine Ansprache fortsetzte. Ich nahm an, dass nun die Ehe geschlossen wurde. Beide Paare sahen äußerst glücklich aus und erst jetzt fiel mir auf, dass ich die Pärchen nie zusammen gesehen habe. Im Grunde hätte es jede Frau sein können, die heute heiratete. Die frischen Eheleute legten ihre Stirnen aneinander und gingen dann langsam ins Haus. Die Kinder, die vorhin die Gaben brachten, schnellten wieder nach vorne, um ebendiese ins Haus zu tragen und sich anschließend wieder der Dorfgemeinschaft anzuschließen.
„Schön mit anzusehen, nicht wahr?“ Mein Kopf ruckte herum und ich blickte in zwei messerscharfe Augen. „Ja.“, sagte ich und richtete meinen blick schnell wieder nach vorne, als ich bemerkte, dass der Häuptling mich beobachtete. Ich runzelte die Stirn und schaute zurück zu meinem Begleiter, den ich nun von oben bis unten musterte. Erst jetzt viel mir auf, dass er die gleiche Kleidung trug, wie die Söhne des Häuptlings. Ich zog die Augenbrauen hoch. „Willst du auch heiraten?“, fragte ich belustigt. Er sah mich ernst an. „Sofern es mir erlaubt wird.“ Nun zog ich die Augenbrauen zusammen. „Wie meinst du das? Und seit wann bist du eigentlich ein Sohn des Häuptlings?“ Meine Augen weiteten sich bei der Aussprache des letzten Satzes. „Du bist doch nicht etwas ein…?“ Ich konnte den Satz vor Überraschung nicht zu Ende bringen. Er lächelte mich an und winkte ab. „Nein, nein, ich bin nicht sein Fleisch und Blut.“ Ich nickte nur bedächtig.
Er kam dicht heran und legte einen Arm um mich. „Hör zu“, flüsterte er an meinem Ohr, „ich bin als Kind hierher gekommen und habe dem Oberhaupt große Dienste erwiesen, woraufhin er mich als Ziehsohn in seine Familie aufnahm. Das Dorf hat mich akzeptiert. Auch für mich blühte einst eine weiße Lilie.“ Er schaute mir in die Augen und lächelte mich an. Ich konnte nicht anders als ihn anzustarren. „Hey…“, flüsterte er wieder und strich mir sanft über die Wange. „Du hast doch eine Aufgabe, hm?“ Ich blinzelte mehrfach. Er hatte recht, ich musste meinen Plan umsetzen. Er sah mich immer noch an, diesmal mit einer Mischung aus Trauer und Angst. ‚Angst? Wovor?‘, dachte ich. „Vor deiner Antwort.“, sagte er. Ich starrte ihn überrascht an. ‚Hatte ich das gerade laut gesagt?‘, fragte ich mich. „Welcher Antwort?“, fragte ich ihn verwirrt. Seine Augen blitzten auf und meine Gedanken zogen ihre eigenen Schlüsse. „Ist das dein ernst?“, fragte ich zutiefst verunsichert. „Natürlich.“ Er grinste frech. „Ich muss heute so oder so heiraten und mir fällt niemand ein, den ich lieber an meiner Seite hätte.“ Ich zog die Stirn kraus. „Auch für den Rest deines Lebens?“ „Auch für den Rest meines Lebens.“, bestätigte er. Er kam wieder dicht heran und setzte hinzu: „Sie werden dich mögen, keine Sorge.“

Ich schaute auf die Lilie in meiner Hand. Sie hielt sich tapfer, aber sie benötigte Wasser, das wusste ich. Ich atmete schwer aus und schaute meinen Begleiter wieder an. Diese Augen hatten mich vom ersten Moment an fasziniert und ich wusste, dass ich sowieso keine Chance hatte. Das Bild von ihm und den kleinen Messerspitzen hatte sich längst tief in mein Gedächtnis gebrannt. Mein Blick schwang über die Ansammlung der Dorfbewohner hin zum Häuptling. Er wartete auf meine Entscheidung. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich ein kleines Mädchen, das mich ebenfalls ansah. Es war das Mädchen, dass ich am Tage meiner Ankunft schon einmal gesehen hatte. Sie lächelte. Ich nickte dem Häuptling zu und sah meinen zukünftigen Ehemann an. „Na gut, heiraten wir.“, sagte ich so ernst wie möglich und musste dann doch anfangen zu lachen. Er nahm mich in den Arm und führte mich hoch zum Oberhaupt.
Ich zerfloss innerlich fast vor Nervosität und fühlte mich dennoch sicher geborgen. Mein Begleiter gab mir Halt und die kleine Blume in meiner Hand zollte meiner Situation die nötige Ruhe und Würde. Der Häuptling sah mich wohlwollend an und setzte bei uns seine Ansprache fort. Er legte seine Hände auf meine Schultern und küsste meine Stirn, bevor er meine freie Hand in die seines Ziehsohnes legte. Dieser legte seine Stirn an meine, das Oberhaupt sprach einige Worte und dann war die Zeremonie auch schon vorbei. Das kleine Mädchen kam an und legte mir die grünen Reife um, bevor sie sich glücklich lächelnd zurückzog.
Ich fand, dass es nun an der Zeit war meiner kleinen Freundin ein neues Zuhause zu geben. Ich schritt durch die Menge in die Mitte des Platzes und stellte die Blume in ihrem Gefäß neben mir ab. Ich suchte das kleine Mädchen, das ich zu mir winkte und ihr durch Zeichen zu verstehen gab, dass sie mir helfen sollte ein Loch zu buddeln. Sie fing mit leuchtenden Augen an zu graben, bis ich das Loch für tief genug befand. Ich hob die Blume aus dem Gefäß und setzte sie vorsichtig in das Loch. Ich schüttete den losen Sand um die Blume herum, um ihr mehr Halt zu geben. Dort stand sie nun, meine kleine Beschützerin. Stolz wie eh und je reckt sie ihr Köpfchen in die Höhe und lässt sich von der Sonne küssen.

Das erste was ich sah, als ich auf den großen Platz kam, waren die Blumen. Tulpen, Rosen, Dahlien - alles, was man sich nur vorstellen konnte. Ich ging durch die Blumen auf der Wiese und dachte an meine erste Zeit hier zurück. Es war schwer sich vorzustellen, dass ich einst nicht hierher gehörte. Ich hörte das Lachen meines Mannes hinter mir und drehte mich um. Er stand in einer Gruppe von Kindern und hörte ihren Geschichten von erfundenen zukünftigen Abenteuern zu. Seine Augen, die immer noch Messerspitzen glichen, sahen mich an. Ich lächelte unwillkürlich und wandte mich dann wieder meinen Blumen zu. Mein Plan war aufgegangen. Die kleine weiße Lilie, die mir einst eine gute Freundin wurde, trug die Samen vieler Blumen mit sich und sorgte dafür, dass hier nach und nach die Erde zu blühen begann. Durch die neuen Bewohner wurde der Boden wieder fruchtbar und die Dorfbewohner mit ihren bunt bemalten Gesichtern begannen langsam kleine Stücke der Erde zu bestellen. Sie tasteten sich vorsichtig heran, damit der Boden genug Zeit hatte, um sich an die neue Aufgabe zu gewöhnen und sich auch davon zu erholen. Es war ein schönes Gefühl hier zu stehen, aber es brachte auch Trauer mit sich. Meine kleine Beschützerin hatte sich lange bemüht ihre Aufgabe voll und ganz zu erfüllen. Als ihr dies gelungen war, neigte sich ihr Leben dem Ende zu. Mein Mann trat zu mir heran und umarmte mich von hinten. Ich legte meinen Kopf an seine Brust. Eine Träne stahl sich meine Wange hinunter. Ein Lächeln lag auf meinen Lippen.


© Eisvogel


2 Lesern gefällt dieser Text.



Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Die weiße Lilie"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben zu "Die weiße Lilie"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.