Wie jede Geschichte fing auch diese ganz harmlos an.
Ein fünfjähriger Junge mit braun zerzaustem Haar spielte einsam und verlassen in der kleinen rechteckigen Sandkiste im Garten seiner Eltern. Er besaß weder Freunde, noch Geschwister mit denen er spielen konnte.
Niemand hatte sehen können, wie er großen Mut bewiesen hatte indem er ohne zu weinen mit aufgeschürften Knien zu seiner Mutter gerannt war, damit sie ein Pflaster auf die Wunde tat. Niemand hatte sehen können, dass ihm währenddessen keine einzige Träne die Wange herunter geronnen war.
Doch dann kam sie und alles änderte sich …


Der Schriftsteller schreckte aus seinem unruhigen Schlaf auf. Er musste mitten in seiner Arbeit eingeschlafen sein. Obwohl er mit seiner Frau in den Flitterwochen war, hatte er darauf bestanden seine Schreibmaschine mitzunehmen, um nebenbei seiner Tätigkeit nachzugehen.
Ihm ging nämlich das Geld aus, da er schon seit Monaten nichts Vernünftiges mehr zu Papier gebracht hat. Es hatte sie große finanzielle Mühe gekostet, diese einsame Berghütte im Wald für zwei Wochen zu mieten. Früher als er noch erfolgreich war, wäre es für ihn nur Kleingeld gewesen. Doch diese Zeiten waren seit langer Zeit vorbei.
Das ist schon so, seitdem ich meine Frau kennengelernt habe, dachte er unwillkürlich, doch er schüttelte diesen Gedanken ab. Es wäre unfair ihr an allem die Schuld zu geben. Es stimmte schon. Ihm waren seit dem ersten Treffen langsam aber sicher die Ideen ausgegangen, aber inwieweit sollte es ihre Schuld sein?
Seine Eltern hatten ihm schon mit fünf Jahren das Schreiben beigebracht. Seitdem hatte er sehr viel zu Papier gebracht. Es fing mit Gedanken an und was er so den lieben langen Tag machte. Er hatte einfach Spaß daran gehabt.
Dann aber entwickelte der kleine Junge in seiner Einsamkeit eine Fantasiefreundin. Sie war eine Ausgeburt an Leben und Einfallsreichtum gewesen. Die beiden hatten die verrücktesten Abenteuer bestanden. Einmal waren sie in ihrer Fantasie auf gewaltigen Regenwürmern zu einem Strand aus Zuckerwatte und Kakao geritten. Oder damals wie sie in das Schloss des Riesen am anderen Ende des Gartens eingebrochen waren.
Mit der Zeit war der Autor jedoch dieser Phase entwachsen und aus ihm wurde ein erfolgreicher Schriftsteller für Kinderbücher, den viele wegen seiner Kreativität verehrten.
Schließlich lernte er seine Frau kennen. Die beiden verliebten sich, worauf der Autor nur noch an sie denken konnte. Später fühlte er sich, als wenn er beim Schreiben ein Brett vor dem Kopf hätte oder ein schwarzes Loch, welches die Ideen einfach aufsaugte. Seine Muse schien sich ihm zu verweigern. Ständig zeigte sie ihm die kalte Schulter.
Sollte er doch mal eine Idee haben, war es immer dasselbe. Es fing ganz harmlos an, aber ab einem gewissen Punkt verdrehte sich die Geschichte immer. Statt dem erhofften Happy End ertrank alles im Blute der Figuren, die untereinander wahnsinnig wurden und sich gegenseitig abschlachteten. Die fröhliche Kinderstory veränderte sich und wurde zu etwas grausigem. Hätte der Schriftsteller es gekonnt, hätte er es veröffentlicht, aber sein Agent meinte nur, dass er nun in dieser Kinderbücher-Schublade feststecken würde und dort nicht rauskam. Niemand würde etwas anderes von ihm lesen wollen. Er steckte damit in einer Sackgasse fest. Er konnte nicht mehr so schreiben wie früher, aber das neue wollte auch niemand.
Die Kritiker würden es zerreißen. All die monate- bis jahrelange Arbeit, all die viele Mühe würde in nur wenigen Zeilen auseinandergerissen und zerfetzt werden. So waren sie nun mal, die Kritiker. Widerliche Kreaturen.
Aber noch hatte der Autor nicht aufgegeben. Er würde es schaffen. Das Hindernis beseitigen. Er brauchte nur die richtige Inspiration.
»Schatz, kommst du?«, rief seine Frau von unten. »Das Essen wird sonst kalt.«
Der Schriftsteller zog die halbfertige Seite aus der Maschine. Er warf einen kurzen sowie auch kritischen Blick über das Geschriebene, dann knüllte er es auch schon zusammen und warf es hinter sich weg zu den anderen Knöllchen auf dem Holzboden, die den vollen Mülleimer verfehlt hatten.
Er stieg die hölzerne Treppe herunter in die kleine Küche. Die Stufen ächzten unter seinem Gewicht. Plötzlich tauchte das Bild einer Frau vor seinem geistigen Auge auf. Der Autor hielt inne und rieb sich murrend mit Daumen und Zeigefinger die müden Augen. Auch wenn er wusste, die Frau nicht zu kennen, so hatte sie doch etwas Vertrautes. Vielleicht hatte er von ihr geträumt. Diese saphirblauen Augen und diese blonden Zöpfe … Zwei Zöpfe auf derselben Seite des Kopfes … Woher kannte er das gleich nochmal? Er tat es mit dem Gedanken ab, es wahrscheinlich schon einmal im Fernsehen gesehen zu haben.

Die Ehefrau sah ihren Mann schweigend an. Lustlos kaute er auf seinem Essen herum. Er hatte ihr versichert, dass es ausgezeichnet schmecken würde und sie glaubte ihm. Seine Arbeit machte ihm gerade sehr zu schaffen. Es nagte an ihm nicht schreiben zu können.
Als sie ihn kennengelernt hatte, war er lebenslustig und sehr humorvoll gewesen. Heute war davon nur noch ein trauriger Rest übrig. Irgendwie gab sie sich selbst die Schuld dafür. Sie hatte mit angesehen wie er mit jedem Tag seine Arbeit immer weniger bewältigen konnte. Zuerst hatte sie sich nichts dabei gedacht. Doch als es schlimmer wurde und sie feststellte wie viel er zu Papier gebracht hatte, bevor sie ihn kennengelernt hatte, war die Saat des Zweifels gesät worden, die nun mit jedem Tag wuchs.
Es tat ihr im Herzen weh, ihn so zu sehen und die Ahnung selbst schuld daran zu sein, war schlimmer als jede Gewissheit. Wie viel würde er jetzt noch schaffen, wo sie doch vermählt waren?
Es klingelte an der Tür und die Frau stand auf und ließ ihren stummen Mann allein zurück. Er schien es nicht zu merken.
Draußen war es inzwischen stockduster. Das nächtliche Zirpen der Grillen unterbrach als einziges die Stille der Nacht.
Vor der Tür war keiner.
Man hatte nur ein abgerissenes Stück Papier zurückgelassen. Auf ihm stand in geschwungener Handschrift: »Ich liebe dich. Muse« Der Brief schien von einem leidenschaftlichen Fan ihres Mannes zu sein, denn hinter das letzte Wort war ein großes, geschwungenes Herz gemalt worden. Wer sonst würde einen solchen Brief mit blutrotem Lippenstift schreiben? Aber die Signierung machte ihr Kopfzerbrechen. Das Wort „Muse“ war jener Name mit dem ihr Mann sie gerne rief. Er hatte immer gemeint, sie wäre seine Muse, obwohl er weniger zu Papier brachte. Vielleicht machte sich dieser Fan aber auch nur wichtig.
Zurück in der Küche überbrachte sie ihrem Mann den Brief. Er warf einen kurzen Blick drauf, runzelte die Stirn und warf die Liebeserklärung in den Mülleimer.
»Was war es?«, fragte sie ihn. Nicht dass sie es nicht wüsste oder einfach nur fragte um seine Reaktion zu sehen. Sie fragte nur, um überhaupt endlich das unerträgliche Schweigen zu brechen.
»Gar nichts«, antwortete ihr Mann und aß schweigend weiter, während eine leise Stimme in ihrem Hinterkopf meinte, er habe vielleicht eine andere. Aber die Frau ignorierte sie – ließ das Gift nicht heran.

Erschöpft ließ sich der Schriftsteller auf das Sofa sacken. Verschlafen rieb er sich die Augen.
»Geht es dir gut?«, fragte seine Frau die im Türrahmen stand.
Der Autor wandte sich ihr zu. Sie stand in einem hautenger Korsett mit Spitzen und Strapsen vor ihm.
»Brauchst du etwas Entspannung?«, fragte sie sinnlich.
Sein Mund wurde ganz trocken. Diese Seite kannte er noch gar nicht von ihr. Etwas verdutzt wich er zurück, da er nicht wusste was er davon halten sollte.
Sie schien es nicht zu stören. Sie ging hüftenschwingend auf das Sofa zu. Jede Bewegung, jeder Faser sprühte über vor Lust, aber sie schien sich genug zu beherrschen um sie nicht die Oberhand gewinnen zu lassen – zumindest noch nicht. Langsam kniete sie sich auf allen vieren auf das Sofa nieder, dabei gab sie ein leises Schnurren von sich. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Er schluckte, da er diese Situation nicht einschätzen konnte. Etwas an ihr stimmte nicht. Waren ihre Augen nicht Mandelbraun gewesen, statt Saphirblau?
Seine Frau schlug ihre Finger in seine Brust, ein leiser Schmerz ließ den Schriftsteller keuchen. Sie riss sein blaues Hemd auf und küsste ihn inniglich. Ihre Lippen waren warm und süßlich, während ihre heiße Zunge die seine umschlang und sie wild tanzen ließ. Der Autor merkte wie die Erregung sich bemerkbar machte. Seine Frau störte das nicht, packte sie doch seine Schwellung fest in die Hand, während er ihren Hintern mit beiden Händen festzupackte. Ihre Körper brannten vor Energie und Hitze. All der Trott war wie weggewischt. Plötzlich änderte der Schriftsteller seine Taktik. Er packte seine Frau fest zu und stand mit ihr auf. Sie ließ sich darauf ein und schlang ihre Arme um ihn. Sie kamen zum Kamin. Mit einem Schwung stieß seine Frau die Ablage darüber frei von dem sinnfreien Plunder. Ihre Zunge zog sich aus seinem Mund zurück. Sofort misste er ihre Berührung. Er wollte es wieder spüren. Diese Erfahrung war so … intensiv gewesen. Seine Frau lachte. Sie starrte ihn mit der Gier eines Raubtieres an. Ihre saphirblauen Augen blitzten auf. Dem Autor fiel das kalte Feuer welches in ihnen loderte auf. Es brannte sich in sein Gehirn. Dass sie ihn förmlich auszogen, merkte er nicht. Als er zögerte, drang ihre Zunge mit Gewalt wieder in den Mund ein.
Der Schriftsteller wollte alles vergessen. Vor allem dem Kummer den ihm seine Arbeit inzwischen bescherte. Doch plötzlich schien es kein Problem mehr zu sein. Sein Kopf explodierte vor Ideen. Es war als wenn die Samen seiner Fantasie wieder gediehen und innerhalb von Sekunden voll ausreiften. Er fühlte das berauschende Gefühl der Unbesiegbarkeit. Das Gefühl mit allem fertig zu werden und das Unmögliche machbar zu machen. Das Feuer der Inspiration war wieder entfacht.
Er wollte seiner Frau auf die Nase küssen und sagen: »Du bist meine Muse«, weil sie all diese Regungen in sein Leben gebracht hat.
Ihre Lippen berührten sich noch immer, als er seine Augen wieder aufschlug. Die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen, stellte er fest, dass er eine andere küsste. Er stieß sie verwirrt von sich.
Es war die Frau mit den langen blonden Haaren und den zwei Zöpfen auf einer Seite. Ihre saphirfarbenen Augen hatten immer noch dieses stete kalte Feuer. Die Augen sowie die Lider waren schwarz geschminkt und es gingen viele Striche nach unten, so klein und zart wie die Beine einer Spinne. Die Haut war bleich, fast wie Porzellan. Ihre Lippen waren roter als Blut. Sie schluchzte.
»Du bist es!«, sagte der Schriftsteller erschreckt.
Seine ehemalige Fantasiefreundin rappelte sich auf. Die Tränen rannen über ihr Gesicht, vermochten aber nicht ihr Make-up zu verwischen. Sie streckte sehnsüchtig die Hand nach ihm aus. »B-bitte verlass mich nicht!«, flehte sie ihn an. »Bitte! Ich habe dir alles gegeben.« Sie brach zusammen.
Der Schriftsteller wusste nicht, was er sagen sollte. Wurde er langsam verrückt? Konnte das sein? War es wirklich die Verkörperung seiner Muse, die da in Fleisch und Blut vor ihm stand?
Sie schaute aus verquollenen Augen zu ihm auf. Er brachte es noch immer nicht über sich etwas zu sagen. Es war einfach zu unwirklich, als das sein Verstand es akzeptieren konnte. Diese Frau, dieses … Ding war nichts weiter als eine uralte Metapher seines Unterbewusstseins. Ein Ausdruck seiner jahrelangen Einsamkeit.
Während der Schriftsteller immer noch zu begreifen versuchte, was hier überhaupt vor sich ging, appellierte die Muse weiter an ihm.
»Bitte! Lass mich nicht wieder allein. Ich werde dir auch bei der Arbeit helfen. Wir werden beide ein Werk erschaffen, dass seinesgleichen sucht, nur bitte komm zu mir zurück. Bitte!« Inzwischen kniete sie vor ihm und faltete die Hände wie zum Gebet. Ihre Unterlippe bebte. Etwas Rotes tropfte von ihnen ab. Der Schriftsteller war immer noch wie gelähmt, konnte er doch nur auf diesen Fleck sehen. Rot wie Blut. Neben dem Fleck gesellte sich schnell ein zweiter. Der Autor blickte wieder in das flehende Gesicht von etwas oder jemand der eigentlich gar nicht da sein sollte. Entsetzt sah er auf ihre zitternden Lippen, die leise vor sich hin schmolzen. Er hob die Stimme um etwas zu sagen, wurde allerdings unterbrochen.
»Schatz, ist alles in Ordnung?«, fragte seine echte Frau.
Der Autor sah während er sich umdrehte aus den Augenwinkeln rasch noch wie sich die Miene seiner Muse verfinsterte, bevor er in das Antlitz seiner Ehefrau sah.

»I-ist das da Lippenstift?«, fragte sie leicht schockiert.
Ihr Mann tastete an die gefärbten Lippen. Es war derselbe Farbton, wie auf dem Fan-Brief. Er sah an seine Fingerspitzen. Es schien, als wenn er sich in Trance befände, als er sagte: »J-ja?«
Wieder hörte sie diese Stimme im Hinterkopf, diesmal war sie lauter denn die Frau ließ sie dieses Mal zu.
Sie wurde auf die zerstörten Objekte am Boden aufmerksam. Es war nichts Besonderes. Ein paar Schneekugeln und Figürchen aus Holz. Aber dennoch machte sie dieser offensichtliche Ausbruch der Emotionen bei ihrem Mann unvermittelt wütend.
»Sag mal, spinnst du?! Du kannst hier doch nicht einfach alles kurz und klein hauen!«
»Aber …«, begehrte ihr Mann kleinlaut auf.
»Aber, aber«, äffte sie ihn nach. Unwillkürlich hatte sie die Hände an die Hüften gestemmt. »Wir haben diese Hütte hier gemietet. Mitten im Nirgendwo, weil unser ach so großer Schriftsteller unbedingt seine Ruhe vor lärmenden Straßen und Kindern haben wollte.«
»Jetzt wirst du aber …«, nahm er einen erneuten Anlauf, diesmal mit mehr Nachdruck.
»Was?! Warum sagst du nicht einfach das es meine Schuld ist, dass du nicht schreiben kannst!«
Ihr Mann machte eine verdutzte Miene.
»Es tut mir leid, okay?«, sagte sie in einem säuerlichen Tonfall. »Es tut mir leid, dass du dich mit einer Arbeit herumschlägst, die keine ist. Um ehrlich zu sein, habe ich es nie verstanden, wie du so große Freude an diesem Kinderkram haben kannst. Das ist doch alles Zeitverschwendung! Sieh es endlich ein, dass du nie wieder schreiben wirst und such dir gefälligst einen vernünftigen Job!«
Damit schien sie einen empfindlichen Nerv getroffen zu haben, denn ihr Mann rannte wutentbrannt in sein kleines Kämmerchen.
Die Stimme meinte, es sei gut, dass er sich in seine Festung der Einsamkeit zurückgezogen hatte. Wahrscheinlich war da auch seine Geliebte.
Die Frau vergoss bittere Tränen der Wut. Sie bereute bereits ihre Worte. Schluchzend ließ sie sich auf das Sofa nieder und krallte ihre Hände in ein Kissen, das sie sich ins Gesicht drückte. Er hatte eine andere, da war sie sich jetzt absolut sicher. Der Lippenstift war der eindeutige Beweis. Das Schlimmste aber war, dass sie ihn noch immer liebte und der bloße Gedanke er könnte eine andere haben versetzte ihr einen brennenden Stich ins Herz. Sie dachte die ganze Nacht über ihre Worte nach und was sie als nächstes Tun würde. Sie würde mit ihm reden und alles richtig stellen, danach würden sie über seine Affäre sprechen. Kampflos würde sie ihren Ehemann nicht aufgeben.

Am nächsten Morgen war die Welt in ein dunkles Grau gehüllt, welches einen baldigen Regenguss ankündigte. Der Schriftsteller hatte die ganze Nacht über geträumt wie er von seiner Muse liebkost wurde. Er versuchte immer noch alles auf einen Traum zu schieben, was ihm aber nicht so recht gelingen wollte. Es war einfach zu verrückt, als das man es hätte erträumen können.
Verschlafen und mit nichts weiter als seiner Unterhose und einem weißen T-Shirt bekleidet ging er wieder die Treppe nach unten. Er hörte Fett in einer Pfanne brutzeln und der angenehme Geruch von gebratenem Fleisch stieg ihm in die Nase.
Seine Frau stand mit dem Rücken zu ihm in der Küche und schnitt das noch rohe Fleisch zurecht.
Sie wandte sich zu ihm um, dabei fiel auf das sie eine Sonnenbrille trug.
»Morgen, Schatz«, sagte sie.
»Was soll denn die Sonnenbrille?«, fragte der Autor etwas misstrauisch von gestern.
Seine Frau hielt sich schmerzzischend den Kopf. »Bitte nicht so laut«, sagte sie mit einer beruhigenden Geste. »Nach unserem Streit gestern musste ich … nun ja … meinen Zorn in Alkohol ertränken.« Sie ging mit etwas von dem Fleisch von der Arbeitsplatte zum Tisch, wobei sie am Durchgang zum Wohnzimmer vorbei kam, wo überall leere Weinflaschen auf dem Boden verstreut lagen.
Der Schriftsteller atmete bei ihren Anblick erleichtert aus. Es schien keine neue Falle seiner Fantasiefreundin zu sein. Sichtlich beruhigt kostete er von dem Fleisch, das seine Frau ihn anbietend hinhielt. Es schmeckte lecker und besaß einen leicht süßlichen Geschmack. Aber er wusste nicht, was es war. Also fragte er nach.
»Ach das?«, sagte mit einem kecken Lächeln. »Versuch es zu erraten.« Sie beugte sich verschwörerisch vor. »Eine gute Köchin ist wie ein guter Zauberer. Sie verrät niemals ihre Geheimnisse.«
Sie wandte sich wieder dem Herd zu. »Sieh es als Entschuldigung für gestern an. Ich habe Dinge gesagt die … Ich dachte schon du hättest eine Affäre, wegen dem Brief und so.«
Unterdessen war der Autor hinter sie getreten. Er schlang seine Arme um ihre Taille und wiegte sie leicht hin und her. »Alles gut«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Ich war selber in letzter Zeit auch nicht einfach. Die Arbeit … und der damit verbundene Druck … Ich glaube du hattest Recht. Ich sollte mir eine andere Arbeit suchen. Wenigstens Halbtags damit ich mal wieder aus der Wohnung komme. Wer weiß, vielleicht kann ich nach der Arbeit schreiben … oder vielleicht auch etwas anderes.« Er knabberte an ihrem Ohrläppchen. Sie zuckte darauf kichernd zusammen.
»Nicht jetzt«, lachte sie. »Hör auf, Schreiberling, sonst werde ich noch ausversehen das Frühstück umwerfen. Jetzt … jetzt hör schon auf.«
Er drehte seine Frau zu sich um und sah ihr Fest in die Augen, die er hinter ihrer Sonnenbrille erahnen konnte. Ganz leicht hob er ihr Kinn an, so dass sie ihm in die Augen sehen musste. »Ich liebe dich«, sagte er. »Ich liebe dich und werde dich immer lieben.« Ihr schoss die Röte ins Gesicht.
Er wollte sie küssen. Als seine Lippen sich spitzten und ihr immer näher kam, fiel ihm etwas an ihrem Hals ins Auge. Unverhofft hielt er inne. War das da Blut? Und tatsächlich lief ihr ein einzelner Blutstropfen den Hals hinunter. Er stieß die Fremde mit der Haut seiner Frau von sich.
»Ich … ich wollte doch nur, dass wir für immer zusammen sind«, antwortete es immer noch mit der Stimme seiner Frau.
Das schwarze Top färbte sich langsam einen Ton dunkler unter dem Rot des Blutes. Die Sonnenbrille riss es sich vom Gesicht. Am Boden zersprang sie in hundert pechbringende schwarze Scherben. Das Etwas riss sich den Kopf entzwei. Wie ein Kleidungsstück fiel die Haut seiner Frau zu Boden. Getragen war sie von seiner imaginären Freundin. Seiner Muse, die ihn mit einem schamvollen Blick bedachte. Sie verschränkte die Hände beschämt hinter ihren Rücken, dabei ging sie einen halben Schritt zurück und stellte sich auf die Zehenspitzen. Immer noch trug sie das Korsett vom gestrigen Abend, nur dass es jetzt blutverschmiert war. Sie biss sich verkniffen auf die Unterlippe.
Der Schriftsteller bebte vor Wut. »Wo ist meine Frau?!«, schrie er Fuchsteufelswild.
»Sie ist …«, antwortete die Muse zögerlich und blickte verlegen zur Schranktür über dem Herd.
Der Schriftsteller folgte ihrem Blick und ging wutentbrannt darauf zu. Es tropfte Blut aus den Ritzen des Küchenschrankes. Wäre er nicht so wütend gewesen, hätte der Autor noch einmal tief durchgeatmet, doch der Zorn hatte ihm unerwartete Kraft gegeben. Mit einem Ruck öffnete er die Tür zu seinem eigenen Grauen.
Im Innern lag nur blutiges Fleisch. Es war sauber gehäutet und zerhackt im Schrank gestapelt worden. Er sah hinab zur Arbeitsfläche unter dem Schrank die vom Blut vollgetropft war, noch bevor er selbst den Raum betreten hatte.
Eine Stimme in seinem Kopf ohrfeigte ihn für diese Unachtsamkeit. Er hätte die Zeichen sehen müssen!
Sein Blick wanderte weiter zur heißen Pfanne in der das Fleisch immer noch leise vor sich hin brutzelte. Eine erschreckende Erkenntnis bahnte sich ihren Weg in sein Bewusstsein. Er blickte noch einmal zum Fleisch im Regal, anschließend wieder auf die Pfanne und zurück.
Unwillkürlich erbrach er sich auf die Arbeitsfläche. Nun wusste er, was er da gegessen hatte.
»Jetzt ist wenigstens immer ein Teil von ihr in dir«, versuchte die Muse scheinbar die Situation zu retten. Aber ihr zerknittertes Lächeln war kein Trost.
Der Autor sah zum blutigen Fleischermesser, welches direkt neben der Pfanne lag. Er nahm es fest in die rechte Hand, drehte sich wutentbrannt um und ging mit einer düsteren Miene auf seine Muse zu. Das Funkeln in seinen Augen, mit welchem er sie bedachte, grenzte schon fast an Wahnsinn.
»Oh, nein«, flehte sie und wich ängstlich vor dem verrücktgewordenen Schriftsteller zurück. »Bitte nicht!«
»Doch«, knurrte der Autor wie ein tollwütiger Hund der gerade von der Leine gelassen worden war.
Die Muse versuchte sich mit wilden, beteuernden Gesten zu retten, indem sie sagte: »Bitte, versteh doch! Ich habe das nur für dich getan. Für uns! Sie hat dich doch nur immer aufgehalten. Sie hat sogar gesagt, dass du …«
»Ich habe sie geliebt«, erwiderte er. »Und du hast sie getötet«, er zeigte mit dem Fleischermesser auf sie. Blut tropfte von der Klinge.
Die Muse machte erneut den Mund auf um ihre eigene grauenvolle Tat zu rechtfertigen, doch sie rutschte auf einer der leeren Weinflaschen aus. Schreiend fiel sie nach hinten.
Der Schriftsteller nutzte den Moment, um sich auf sie zu stürzen. Er rammte ihr das Messer in den unbedeckten Bauch. Wieder und wieder versank das harte Metall in dem weichen Fleisch des Dings. Dabei entstieg dem Künstler ein hysterisches Lachen. Er zerschnitt ihre Fratze, zerriss die Bänder der Strapse und kratzte ihr die Augen aus, während es entsetzlich schrie und um Gnade bettelte. Sie stieß auf taube Ohren.
Als die unmenschliche Tat vollbracht war, verflog sein Anfall von Wahnsinn. Der Geist des Schriftstellers klärte sich und er konnte wieder klar denken. Überall war er mit Blut bespritzt. Das Messer steckte immer noch im Bauch seines wehrlosen Opfers. Er wich verängstigt zurück und hielt sich das Gesicht mit den blutbeschmierten Händen. Was hatte er nur getan?
Er stand auf und überlegte was er nun tun sollte. Es war ihm immer noch unbegreiflich was passiert war. Warum? Warum passierte all das? Es war nicht zu erfassen. Wer würde ihm all das glauben? Zu wem könnte er gehen?
Während er wie ein Tiger im Käfig auf und ab lief, stand sein Opfer wieder auf. Der Autor erbleichte bei ihrem Anblick. Vorher mochte sie wunderschön gewesen sein, doch sie schien nun ein zerstückeltes Bild ihrer selbst zu sein. »Du hast mich umgebracht!«, kreischte sie anklagend. Mit einem Ruck zog sie das Messer aus ihrem eigenen Leib heraus und rannte auf ihn zu.
Plötzlich war der krankhaft eifersüchtigen Muse auch der letzte Rest von Verstand geraubt worden.
Panik stieg in dem Autor auf. Er konnte nicht anders, als entsetzt zu fliehen. Er rannte durch die Küchentür nach draußen in den Wald. Inzwischen hatte es angefangen zu regnen.
Die blutbefleckte Muse folgte ihm mit hysterischem Gezeter. Sie gab nun ihm an allem die Schuld und erwähnte immer wieder wie sehr sie ihm doch hatte helfen wollen.
Blind vor Angst rannte der Schriftsteller immer weiter von der Hütte fort.
Er rutschte im kalten Matsch aus.
Den Instinkt sich umzudrehen unterdrückend, stand er schnellstmöglich wieder auf.
Er spürte wie die Klinge sein schmutzig-nasses Shirt zerschnitt. Der Luftzug des Metalls ließ den Autor an jener Stelle eine Gänsehaut bekommen. Aber es blieb keine Zeit sich darüber Gedanken zu machen.
Plötzlich hielt ihm etwas am Bein fest und brachte ihn erneut zu Fall.
Die Muse war ebenfalls ausgerutscht und hatte sich dabei in sein Bein gekrallt. Schmerzhaft stachen ihre langen Nägel in sein Fleisch. Sie drehte den Schriftsteller auf den Rücken und nagelte ihn am Boden fest. Sie lag auf ihm, das Messer dramatisch erhoben, bereit zuzuschlagen. In ihren saphirblauen Augen funkelte es heimtückisch vor Wahnsinn.
Das Messer sauste unbarmherzig auf ihn nieder.
Geistesgegenwärtig fing der Schriftsteller den Arm ab.
Die Muse drückte die Klinge knurrend nach unten in sein Herz, während er es zu verhindern versuchte. Es war ein ewiges Gerangel. Keiner konnte die Oberhand gewinnen.
Mit der freien Hand tastete der Schriftsteller nach etwas, was das Blatt zu seinen Gunsten wenden konnte.
Die Muse nutzte nun sowohl den zusätzlichen Arm als auch ihr eigenes Körpergewicht. Es war unvermeidlich, dass der Dolch nicht weiter sank, wenigstens konnte der Autor sich mit seinem Arm etwas Zeit erkaufen.
Schließlich bekam er einen Stein zu fassen. Mit aller Macht ergriff er den Gegenstand und schleuderte ihn gegen die Schläfe der Muse. Sofort sackte sie bewusstlos zusammen.
Der Autor sah an sich hinab. Es war wirklich in letzter Sekunde geschehen. Die Klinge hatte bereits von seinem Fleisch gekostet. Aber die Wunde war nur Oberflächlich. Nach diesem kurzen Augenblick rannte er bereits weiter.
Der Regen tropfte ihm in sein Gesicht. Das Wasser fiel in seine Augen und nahm ihm die Sicht. Er merkte nur, dass sich der verschwommene Wald lichtete. Sein Herz schlug höher in Aussicht diesen verfluchten Ort zu verlassen und eine bewohnte Gegend oder wenigstens eine Straße zu erreichen.
Plötzlich blieb der Boden unter seinen Füßen weg. Mit einem Fuß in der Luft, schaute der Autor in eine gähnende Schlucht. Unten tummelte sich ein Bächlein, aber aus dieser Höhe hätte es genauso gut ein reißender Fluss sein können.
Er drohte zu fallen, wäre da nicht eine Hand aus dem nichts gekommen, die ihn in letzter Sekunde am Kragen festhielt.
»Oh! Ich bin ja so dankbar, dass Sie …«, er wollte weiter reden, aber der Anblick seiner blutbesudelten und völlig wahnsinnigen Muse ließ ihm den Atem stocken.
Ohne große Worte zog sie ihn so zu sich, dass er gerade mal an der Kante zum Abgrund stand, der bereits schon unter seinen nackten Fußsohlen abbröckelte.
Als sie ihm das Messer ins Herz stach, gingen ihn die Augen über.
Eine ungewohnte Ruhe übernahm von ihm Besitz. Im Augenblick seines Todes sah er das große Ganze klar ersichtlich vor ihm ausgebreitet.
Als er seine Muse getroffen hatte, war sie genauso einsam gewesen, wie er. Die beiden hatten Freundschaft geschlossen. Die Zeit verging und der Autor gewöhnte sich an sie – nahm sie für selbstverständlich, ebenso wie ihre verrückten Einfälle. Sie waren beide glücklich gewesen. Doch mit zunehmendem Alter verlor er den Glauben an sie. Sie war keine Person mehr, sondern nur eine Metapher oder ein Werkzeug seiner Arbeit. Er hatte den Respekt vor ihr verloren. Als seine Ehefrau kam, verlor auch die Muse die ihm in den schlimmsten Zeiten beigestanden hatte, den Glauben an ihren geliebten Schriftsteller. Es verletzte sie, ihn mit einer anderen zu sehen. Ihr brach das Herz – das war ihr Tod. Gestorben an gebrochenem Herzen. Aber selbst in ihren letzten Augenblicken hatte sie versucht das alte Feuer zu entfachen. Sie wusste, was aus ihr werden würde, wenn sie es nicht schaffen sollte. Eine leere Hülle und wahrscheinlich wäre ihm dasselbe auch passiert. Der Wahnsinn hätte sie beide davon gespült. Aber am Ende hatte sie sich zu seinen Gunsten geopfert. Sie hatte seinen Wahnsinn für ihn in sich aufgenommen.
Jetzt sah er in Augen die gleichzeitig so vertraut und doch ganz anders waren. Ihre liebevollen Saphiraugen. Das Feuer in ihnen war erloschen und zurück blieb nichts als Dunkelheit. Das war nicht das Ende, dass der Schriftsteller sich für die Geschichte seines Lebens ausgedacht hätte. So beschloss er es zu ändern. Es umzuschreiben. Selbstverständlich würde er sich selber nicht retten können. Sie aber schon.
Er umschlang seine Muse mit den Armen und drückte sich mit ganzer Kraft von der Kante ab.
Sie fielen wie Steine dem Wasser entgegen.
Seine Muse war nicht mehr. Alles Leben war aus ihr gewichen. Er würde sterben, damit sie leben konnte. Der Schriftsteller wusste immer noch nicht, warum das alles passiert war. Aber inzwischen schien es auch vollkommen trivial zu sein. Er sah in die starren Züge seiner besten Freundin und der einzigen die ihn jemals wirklich verstanden hatte. Er gab ihr einen Kuss auf die toten Lippen.
Der Tod ereilte ihn noch, bevor er den Boden erreichte.
Die zweite Leiche hat man nie gefunden. Noch weiß man, was aus ihr wurde.

Aber eine Frage bleibt.
Was wäre wenn …?
Was wäre, wenn der Autor seine Muse nicht wie ein Ding, sondern wie ein lebendes und liebendes Wesen behandelt hätte?
Was wäre wenn …

The End


© EINsamer wANDERER


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Beschreibung des Autors zu "Autor und Muse – für immer vereint"

Ja, ich weiß, dass da Elemente enthalten sind, die King gerne für sich nutzt. Aber nein, das ist nicht beabsichtigt.

Ich widme diesen Text jedenfalls meiner Muse, ohne die all das Geschaffene überhaupt nicht möglich gewesen wäre. All die Geschichten mit all diesen Figuren wären sonst nie entstanden. Das ist für die Frau/Metapher die mich bis zum geht-nicht-mehr mit ihren Einfällen und Ideen genervt hat.
Und jetzt mal Ernsthaft!: Es ist nicht schön, wenn man immer gleich den Kopf auf die Tischplatte geschlagen bekommen, bloß weil man sagt: "Sorry, keine Zeit." Ernsthaft! Wer tut so etwas?!
Die Antwort darauf kenne ich schon.

Jetzt habe ich aber noch eine Frage an die weiblichen Leser. So fern solche bei mir existieren.
Findet ihr es nicht auch etwas befremdlich, dass Musen durchweg weiblich sind? Also so würde ich mich zumindest fühlen, wenn es andersherum wäre. Also wenn ich eine Frau wäre oder alle Musen "elf Finger" besäßen. Oder hat sich das inzwischen geändert?
Schreibt mir einfach eure Meinung dazu.




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