Es war eine verregnete Gewitternacht. Ikol rannte pitschnass auf das Gasthaus „der wandernde Krug“ zu. Er hatte schon viel davon gehört und war neugierig, was von dem Erzähltem der Wahrheit entsprach. Er beschleunigte seine Schritte. Sein Magen gab ein lautes Knurren von sich, denn Ikol hatte schon seit einiger Zeit nichts mehr zu sich genommen.
Mit einem schnellen Ruck stieß er die Tür auf, was vom krachenden Donner begleitet wurde. Er nahm seinen nassen grünen Hut mit der großen Feder und wrang ihn aus. Das Wasser plätscherte auf die trockenen Dielen als er verlauten ließ: »Ich hasse Gewitter.« Mit einem Tritt schloss er die Tür ohne sich umdrehen zu müssen.
Sofort näherte sich ihm ein Herr, der ohne Zweifel auf die Beschreibung von Ohleg passte. »Seid mir gegrüßt, mein Herr. Willkommen im wandernden Krug. Ich bin Ohleg der Betreiber dieses Gasthauses. Dürfte ich auch Euren Namen erfahren?«
Ikol sah sich neugierig die Gäste an. Alle stammten sie aus den verschiedensten Schichten und Winkeln dieser Welt. Von Nah und Fern waren sie angereist. Hier würde Ikol sich sehr wohl fühlen. Nach einem schnellen Blick zur attraktiven Bedienung, wandte er sich an Ohleg.
»Mein Name ist nicht so wichtig.«
»Es gibt hier nur wenige Regeln und eine davon ist, dass man sich mir vorstellt«, sagte der Wirt nun mit etwas Nachdruck.
»Mein Name ist …«, Ikol hielt inne. Er war inkognito unterwegs und wollte dass es so blieb. Er musste einen seiner vielen Decknamen benutzen. Niemand musste unbedingt wissen, wer er war. So wie niemand wissen musste, dass er von den Toten zurückgekehrt war. Nie wusste man, ob nicht irgendwo ein Spion war. Überall hatten die Wände Ohren, dass wusste er nur zu gut aus eigener Erfahrung. »Ikol. Mein Name ist Ikol. Ikol der … der Geschichtenerzähler. Verzeiht mein Zögern. Das Gewitter hat mich doch mehr erschreckt als gedacht.«
Ohleg hob verwundert eine Augenbraue. »Ihr fürchtet Euch vor einem kleinen Gewitter?«
Ikol grinste verschmitzt und zuckte mit den Schultern. Dann wurde er wieder ernst. »Ich …«, er schaute sich im Raum um. Alle starrten ihn an. Er hatte weiße Strumpfhosen mit einer grünen Tunika an. Der Hut saß zerknittert auf seinem Kopf und die Feder baumelte abgeknickt hin und her. Er musste gar einen erbärmlichen Anblick bieten. »Ich fürchte ich habe kein Geld, um mir ein Zimmer zu leisten. Wisst Ihr, mir war das Schicksal nicht besonders hold. Ich … ich hatte gerade eine schwere Zeit hinter mir.«
Ohleg sah ihn von oben bis unten an. »Das kann ich mir durchaus vorstellen.«
Ihr habt ja keine Ahnung, dachte Ikol.
»Na das stellt kein Problem dar. Einer armen Seele helfe ich immer gerne. Ihr dürft …«
»Nein, nein«, fuhr Ikol ihm mit abwehrenden Bewegungen ins Wort. »Das kann ich nicht annehmen.«
»Doch, Ihr könnt.«
Ikol hielt sich das Kinn als er vorschlug: »Wie wäre es mit einem kleinen Handel? Ich unterhalte Eure Gäste mit einer Geschichte und zahle damit Unterkunft und Mahlzeiten? Eine Geschichte für eine Nacht? Das Gewitter dürfte sich bis dahin verzogen haben.«
Ohleg hielt die Hand hin. »Abgemacht.«
Ikol schlug ein. »Ihr seid ein guter Mann.«
So schritt der wandernde Geschichtenerzähler in die Mitte des Raumes und stellte sich dort auf einem Tisch. Mit einem charmanten Augenzwinkern brachte er die Bedienung Salina zum Erröten. Sie versuchte ihr Kichern hinter dem Tablett zu verstecken, doch es gelang ihr nicht so recht.
Ikol bemerkte nicht, wie zornig der neue Knecht Skalet ihn anstierte. Die Eifersucht stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Der Geschichtenerzähler hoffte mit seiner Arbeit die Bedienung ins Bett zu bekommen, also wollte er eine seiner besten Geschichten erzählen. Er überlegte sich das mit dem Stehen. Er war wirklich sehr erschöpft und so setzte sich lieber im Schneidersitz auf dem Tisch. Inzwischen hatten die Gäste mit ihren Gesprächen aufgehört und lauschten dem charismatischen Mann.
»Es gibt eine Welt,«, begann Ikol und rief sich innerlich zur Ordnung. Er verbannte sämtliche unerwünschten Gedanken und ging vollkommen in seiner Geschichte auf. Es gab nichts anderes. Nur die Geschichte, wie sie sich vor seinem geistigen Auge abspielte. Mit seiner Gestik verlieh er dem Gesagten mehr Ausdruck. »eine Welt genannt Midgard. In dieser Welt gibt es andere Götter als hier. Und sie liefern sich einen grausamen Krieg unter einander. Und einer dieser Schauplätze war ein kleines Königreich. Der Name ist nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass es einst fruchtbar und grün war. Aber dann starb der König durch die Hand seines eigenen Sohnes und er riss die Macht an sich. Damit begann die Tragödie. Der Königssohn errichtete eine Schreckensherrschaft und ließ sich mit Mächten ein, die viel zu groß für ihn waren. Das einst blühende Königreich wurde von den bösen Mächten mit Finsternis, Kälte und Hass überzogen. Diese Mächte waren sehr gegensätzlich und hätten einen allesvernichteten Krieg ausgelöst, … aber dann kam eines Nachts eine Gestalt aus der Dunkelheit. Sie …«

Es war eine sternenlose Nacht, obwohl keine einzige Wolke den Himmel verdeckte. Kein Getier gab ein Laut von sich. Einzig das saugende und matschende Geräusch von Schritten die den Matsch durchwateten unterbrach die Stille. Allein zog die Gestalt durch die Dunkelheit dem Schloss entgegen, welches sich wie ein stummer Riese in die Nacht erhob.
Stumm durchlief sie ein kleines Dorf. Der Boden war immer noch matschig und das Dorf mehr als verarmt. Die Hütten waren mit Mühe und Not aus ein paar Ästen zusammengebaut worden. Die ausgemergelten Menschen schauten die Gestalt mit unverhohlenem Hass an. Sie hatten kaum noch etwas von Menschen. Sie wirkten wie Schatten. Bösartige Schatten. Lauernde Schatten in der Dunkelheit. Diese Menschen hatten schon vor langer Zeit vergessen, wie das Licht aussah. Noch nicht einmal eine einzige Kerze brannte in einem der vielen Fenster. Dieser Ort war wirklich von allen Göttern verlassen.
Die Gestalt sah das Elend mitleidig an und fragte sich, wie es nur soweit gekommen war. Man hätte längst reagieren müssen. Zwei zwielichtige Gesellen stellten sich ihr in den Weg. Jeder hatte ein stumpfes Messer in der Hand. Sie mussten wirklich verzweifelt sein, wenn sie so schlecht bewaffnet Reisende ausraubten. Wahrscheinlich setzten sie auf die Dunkelheit und dass sie die Stumpfheit ihrer Waffen verbarg.
»Geld oder Leben!«, knurrte die größte unter den Gestalten wie ein ausgehungerter Hund.
»Geht beiseite«, sagte die fremde Gestalt mit einer seltsamen Stimme. Sie hätte ebenso einem Mann wie einer Frau gehören können. Auch ihr vermummtes Aussehen ließ keinen Schluss auf Geschlecht und Alter zu. Ihre Kleidung war aus dunklem Leder gefertigt. Überall waren kleine Taschen an ihrem Wams genäht. Ein Mantel mit Kapuze komplettierte das Ganze und gab ihm eine melodramatische Note.
Die Räuber wollten ihre vermeidliche Beute niederwerfen, doch noch in der Bewegung zog die Gestalt zwei Dolche unter ihrem Umhang hervor und drückte sie gegen die Kehlen der beiden.
Mit einem Kopfnicken gab sie den Räubern zu verstehen, dass sie verschwinden sollten. Mit eingekniffenen Schwänzen rannten die beiden davon, als wäre die Todesgöttin Hel selbst hinter ihnen her.
Die Gestalt sah ihnen einen Moment lang stumm hinterher, bis sie sich wieder auf den Weg zum Schloss machte. Es galt eine Aufgabe von größter Wichtigkeit zu erfüllen, von der ihr Leben abhing und dass der anderen Menschen. Aber hauptsächlich ihr eigenes.

Am Schlosstor angekommen, betätigte die Gestalt die großen Türklopfer. Ein kleines Guckfenster am Tor wurde nach einiger Zeit geöffnet.
»Wer da?«, keifte eine unfreundliche Stimme, die man wahrscheinlich aus ihren Träumen gerissen hatte.
»Ich«, antwortete die Gestalt nur.
»Veräppeln kann ich mich allein!«, keifte der Torwächter. »Was ist Euer Begehr?«
»Eine Audienz beim König. Ich will ihm meine Dienste anbieten.«
Der Wächter seufzte. »Wem darf ich ankündigen?«
»Einen Meuchelmörder«, war alles was die Gestalt sagte.

Am nächsten Morgen stand die Gestalt vor dem König dieses heruntergekommenen Landes. Die Nacht über hatte sie auf nassem Stroh in einem Stall schlafen müssen. Es hatte ewig gedauert das Stroh von der Kleidung zu bekommen.
Der Thronsaal war prächtig ausgeschmückt mit den teuersten Wandteppichen, Gemälden und Prunk. Überall glänzte und glitzerte es, während das Volk im Schatten schmachtete. Den Meuchelmörder blendete das ganze Gold schon fast. Zum Glück gab es in diesem Land kein Licht mehr, das durch die Fenster scheinen konnte und somit die glitzernden Oberflächen reflektierte.
Auf den mit Edelsteinen besetzten goldenen Thron saß ein dicker Jüngling. Seine Schweinsäuglein sagten alles über sein Wesen. Habgierig und böse, aber auch dumm. Ein gerissenes Lächeln umspielte die Lippen der Gestalt, doch unter der Holzmaske sah man es nicht.
Die Maske war aus der abgestoßenen Rinde des Weltenbaumes geschnitzt worden. Die Augen waren hinter schmalen Schlitzen verborgen. Ein großer gebogener Schlitz verdeckte den Mund. Somit war das Gesicht vollkommen hinter der Maske versteckt. Nichts deutete auf die Identität der Person hin.
»Was verschlägt einen Meuchelmörder in mein Schloss?«, fragte der Junge, während er gerade einen Hähnchenschenkel aß. Dann betrachtete er seine Mahlzeit genauer und warf den Schenkel wütend in eine Ecke. »Habe ich nicht verlangt, dass das Hähnchen köstlich schmecken sollte?«
Neben dem Balg stand ein älterer Diener mit einem grauen Kranz auf dem Haupte in schwarz gekleidet. Auch ihn umgab der Gestank der Bosheit. »Das habt Ihr Euer Hoheit«, pflichtete er ihm bei.
»Aber dieses Hähnchen war nicht gut. Man richte den Koch sofort hin!«
»Aber, aber, Majestät. Was haben wir gelernt?«
Der König seufzte. »Ein König soll bloß Verräter hinrichten lassen.«
»Richtig«, sagte der hohe Gestalt. »Ich denke zwei Jahre im Kerker bei Folter würden den Koch anspornen es besser zu machen.«
»Also schön«, seufzte der König.
Die Gestalt sah das ganze stumm mit an. Die Lage war schlimmer als gedacht. Hier war der Tod eine Erlösung und keine Strafe.
»Wozu sollte ich einen Meuchelmörder brauchen?«, fragte der Jüngling wieder an die Gestalt gewandt.
»Ich hörte, dass erst vor kurzem ein Anschlag auf Euer Leben begangen wurde.«
Der Jüngling stocherte gelangweilt mit den Fingern in den Zwischenraum seiner Zähne nach hängengebliebenen Fleisch. »Ja, aber wir konnten den Eindringling festnehmen. Zum nächsten Vollmond wird er gehängt.«
»Also in drei Tagen«, stellte die Gestalt nüchtern fest. »Aber wer sagt, dass das der letzte Anschlag sein wird? Männer in Eurer Position werden immer das Ziel machthungriger Neider sein.«
Der Mann in Schwarz beugte sich zum König hin. »Da hat er leider recht, Euer Hoheit. Ein Meuchelmörder weiß, wie solche Leute arbeiten und wie wir uns darauf vorbereiten können.«
Einen Moment überlegte der Jüngling, so gut es bei seiner Idiotie ging. »Also gut. Ihr seid engagiert. Dürfte ich auch den Namen meines Meuchelmörders erfahren?«
Die Gestalt schwieg einen Moment. Sie überlegte was sie sagen sollte. »Ich trage viele Namen. Aber Euch sollte Silberzunge reichen, mein Lehnsherr.«
»Habt Ihr denn auch eine echte Silberzunge?«, fragte der König. Auch wenn er es nicht zeigen wollte, so hatte Silberzunge wohl seine Neugierde geweckt.
»Nein, mein Lehnsherr.« Die vermummte Gestalt verbeugte sich. »Mit Eurer Erlaubnis würde ich gerne mit dem Gefangenen reden, der Euch stürzen wollte. Vielleicht erfahre ich dadurch etwas, was Euch später nützen könnte. Wir müssen die rebellierenden Elemente in Eurem Reich so schnell wie möglich Eleminieren.«
Der Junge drehte sich zur Gestalt neben ihn. »Olaf, führt ihn … oder seid Ihr eine Frau? Egal. Führt Silberzunge in den Kerker.«

Olaf – mit einer Fackel bewaffnet – führte Silberzunge durch die Tiefen des Kerkers. Überall dröhnte das Schreien der Gefangenen auf die Ohren von Silberzunge ein. Das Knallen von Peitschen und das Zischen von heißen Schürhacken auf nackter Haut verstörten den Meuchelmörder sehr. Es hallte von den Wänden wider, als wären sie beide auf dem direkten Wege nach Helheim. Am liebsten wäre Silberzunge ganz woanders.
»Auch wenn der König offiziell über das Reich herrscht, so ist es meine Wenigkeit die seine Schritte in die richtige Richtung lenkt.«
»Er ist also Eure Marionette«, stellte Silberzunge trocken fest.
»Nein, so würde ich es nicht nennen. Er ist mein Schützling, der erst wissen muss, wie man herrscht.«
»Und ich nehme an, Eure Wenigkeit bringt ihn auf den richtigen Pfad.«
»Ihr habt es erraten.«
»Und das Ihr Eure Interessen dabei durchsetzt ist reiner Zufall«, sagte Silberzunge betont beiläufig.
»In der Tat. Wenn ich fragen darf, wie kommt es, dass eine Frau als Meuchelmörder arbeitet?«
»Wie kommt Ihr darauf, dass ich eine Frau bin?«, fragte Silberzunge tonlos.
»Ich kenne die Bewegungen einer Frau. Welchen Grund hättet Ihr sonst Euch zu vermummen und Eure Stimme zu verstellen?«
Silberzunge lächelte hinter der Maske. Ein Plan nahm Gestalt an. Niemand würde sie kommen sehen. »Wer weiß,«, antwortete sie geheimnisvoll. »vielleicht bin ich ja eine Frau.«
»Wir sehen uns später in meiner Kammer. Ein Nein akzeptiere ich nicht. Oder soll ich unserem König erzählen, dass der angeheuerte Meuchelmörder hier ist, um ihn zu töten?«
Silberzunge schwieg, ob dieser Drohung wo jedes Wort ihr letztes sein könnte.
Plötzlich machte der Ratgeber halt und zeigte auf die Zelle vor der sie standen. Im Inneren lag ein Berg aus Muskeln mit dem Rücken zu ihnen gewandt schnarchend in der Ecke auf nassem Stroh. Durch die Ritzen der Decke tropfte Wasser auf seinen nackten Oberarm deren Muskeln so dick waren, dass sie mit ihren kaum merklichen Bewegungen die Haut zu sprengen drohten. Seine Haare waren feuerrot. Als er sich schmatzend zur Seite drehte sah man seinen ebenso roten Bart, welchem er zu Zöpfen geflechtet hatte.
»Wer hat alles einen Schlüssel zu dieser Zelle?«, fragte Silberzunge, ohne sich von dem Gefangenen zu wenden.
»Ich bin der Einzige. Allen anderen kann man nicht trauen.«
»Wohl wahr«, pflichtete Silberzunge bei. »Wir leben in gefährlichen Zeiten, in denen der Verrat nur so um sich greift, einer Seuche gleich.« Jetzt wandte sie sich wieder Olaf zu. »Ich möchte ihn gerne allein verhören.«
»In Ordnung. Dafür erwarte ich Euren süßen Meuchelmörder-Hintern in meinem Bett.« Mit einem Klaps verabschiedete Olaf sich.
Silberzunge wartete bis der Ratgeber außer Hörweite war. Dann erhob sie ihre Stimme. »Er ist weg. Du kannst nun aufhören so zu tun, als wenn du schlafen würdest.«
Mit einem wütenden Brüllen sprang die Gestalt auf. Silberzunge versuchte sich trotz der Angst nicht zu bewegen. Nur Haaresbreite vor ihrem Gesicht blieben die Finger vor Wut zitternd in der Luft stehen.
»Wenn ich hier rauskomme, breche ich dir dein Genick«, knurrte er.
»Als du Asgard – das Reich der Asen – verlassen hast, hast du deine Kräfte für eine Zeit lang abgegeben. Ohne sie wirst du hier nicht gewinnen können. Zumindest nicht ohne Hilfe.«
»Woher weißt du …«
»Ich weiß alles über dich Thor – Odins Sohn. Gott des Donners. Beschützer der Menschen. Soll ich auch noch deine anderen Titel und Beinamen aufsagen?«
»Wer bist du?«
Silberzunge kam ganz nah an die Gitterstäbe um ihren Worten mehr Gewicht zu verleihen. »Ich bin deine einzige Hoffnung.«
»Wieso sollte ich dich brauchen? Ich habe die Menschen schon seit unbedenklichen Zeiten beschützt. Warum solltest du eine Hilfe sein?«
Silberzunge verschränkte die Arme und lief vor der Zelle auf und ab. »Richtig. Wenn die Menschen einen Helden und Krieger brauchen bist du die erste Wahl. Aber im Moment brauchen sie keine Helden. Sie brauchen jemanden wie mich.«
»Einen Meuchelmörder«, schnaubte Thor verächtlich.
Silberzunge gluckste. »Sie brauchen jemanden der mit einer so heiklen politischen Lage fertig wird.«
»Wenn du die Riesen meinst, mit denen werde ich spielend alleine fertig«, grölte er los.
»Stimmt auch wieder. Die Riesen sind ein Teil des Problems. Zwischen ihnen und den Asen herrscht gerade ein brüchiger Waffenstillstand. Die Riesen hier sind zwar nur eine Splittergruppe, die mit dem Waffenstillstand nicht einverstanden sind, aber wenn sie von Asenhand getötet werden, könnte man dies zum Vorwand missbrauchen wieder gegen Asgard in den Krieg zu ziehen.«
»deshalb habe ich ja auch …«, donnerte der Ase gleich wieder los.
»Deshalb hast du deinen geliebten Mjölnir zuhause gelassen und deine göttliche Kraft eingebüßt. Im Moment bist du nur ein Sterblicher. Ein kluger Schachzug, das muss ich schon sagen. Aber die Riesen kennen dein Gesicht. Ob nun mit göttlichem Beistand oder nicht, du bist immer noch Thor. Dein Hammer hat Armeen der Riesen zerschmettert und das haben sie nie vergessen und das werden sie auch nie. Dein Ruhm wird dir in diesem Fall zum Verhängnis.«
Thors Züge erschlafften. Ihn schien ein Licht aufzugehen.
»Dem dümmlichen Gesichtsausdruck nach, verstehst du die Lage in der wir uns befinden. Und es kommt noch besser.«
Thor stierte sie ungläubig an.
»Der König – dieser fette Bengel – will einen Krieg gegen das Nachbarreich führen. Aber die Riesen scheinen ihm nicht genug zu sein, deshalb schloss er ein Abkommen mit Helheim. Er versprach Hel die Seelen von hundert Menschen – weiß Odin was sie damit will. In Austausch erhielt er eine Legion ihrer Armee. Und jedes Kind weiß, man kann nur einmal sterben. Und diese Legion ist bereits tot.«
»Hel hat also auch ihre Finger im Spiel?! Das übertrifft ja meine schlimmsten Befürchtungen!«
»Es wird ja noch besser«, sagte Silberzunge, als erzähle sie einen guten Witz. »Der König hat seinen Part der Abmachung nicht eingehalten. Jetzt will Hel ihre Legion und den Königsbengel nach Helheim zerren. Und wir beide wissen, dass es ihr nicht gefällt, wenn man ihr dabei in die Quere kommt. Was bedeutet, der kleine König darf nur von ihr getötet werden. Ansonsten dürfte sie ziemlich … ich will jetzt nicht sagen `wütend werden´, aber sie wäre bestimmt ziemlich verstimmt. Und wer weiß, auf wem sich diese Verstimmtheit dann richtet? Wahrscheinlich auf denjenigen der das kleine Schweinchen erschlagen hat. Die Seele des kleinen Ekels kommt dann zwar auch wahrscheinlich nach Helheim, aber Hel würde es gerne persönlich tun.
Und da haben wir das Problem. Wir haben drei große Parteien hier. Asgard, das bist du übrigens, die abtrünnigen Riesen und eine Legion aus Helheim. Sollte bloß eine Partei aus der Reihe tanzen, gibt es Krieg der alles vernichten wird. Und ich bin hier, um das zu verhindern. Mehr oder weniger.«
Thor griff mit seinen fleischigen Pranken zwischen die Gitterstäbe. »Ich traue dir nicht. Du erinnerst mich viel zu sehr an … Loki.« Er sprach den Namen mit unverhohlenem Hass aus.
»Ja«, meinte Silberzunge. »Ich mag ihn auch nicht besonders. Er schuldet mir noch dreißig Kupferstücke vom letzten Kartenspiel. Eines muss man ihm ja lassen, mumm hat er. Er hat mir deinen Mjölnir als Einsatz beim Kartenspielen dargeboten. Ich habe abgelehnt. Was soll ich mit einem Hammer, der noch nicht einmal ihm gehört? Du solltest auf Mjölnir aufpassen, sonst klaut ihn dir eines Tages dieser Schurke vor der Nase weg. Und das wäre gar nicht toll. Dann würde Asgard die Hälfte seiner militärischen Stärke einbüßen.« Silberzunge machte sich auf den Rückweg. »Jedenfalls. Wenn du ihn mal wieder triffst, quetsch meine Schulden aus ihm raus, ja?«
»Du willst mich doch nicht etwa hier verrecken lassen?!«, brüllte Thor durch die Stäbe. Hätte er seine göttliche Macht gehabt, hätte er die Stäbe wie Strohhalme verbogen. Aber auch so besaß er eine beeindruckende Stärke, die die Stäbe zum Wackeln brachte.
Silberzunge drehte genervt um und schritt noch einmal vor die Zelle. »Wir brauchen erst einmal einen Plan. Solange hältst du hier die Füße still, mein Freund. Ich hol dich hier schon raus, versprochen.«
Damit verschwand Silberzunge und ließ einem verächtlich schnaubenden Thor zurück in seiner Zelle.

Silberzunges Kammer war im obersten Raum des höchsten Turmes. Wahrscheinlich, weil sie hier weniger Fluchtmöglichkeiten hatte. Ihr machte das aber nichts aus. Im Gegenteil. Hier oben konnte ihr Freund sie leichter finden. Silberzunge saß auf dem Dach des Turmes. Leise rieselte der Schnee auf die Welt herab. Neben ihr saß ein Rabe. Er erstattete ihr krächzend Bericht, während sie die Beine baumeln ließ.
»Ungefähr hundert Meilen nördlich von hier, hält sich eine kleine Widerstandsgruppe auf«, wiederholte sie das Gekrächzte, um sicherzugehen, dass sie ihren schwarzgefiederten Freund auch richtig verstanden hatte. »Bloß ein paar Bauern mit Mistgabeln.« Nachdenklich starrte Silberzunge gen Himmel. »Die Bauern müssen ausgebildet und angeführt werden. Genau das Richtige für Thor. Aber erst einmal muss er entkommen. Dann muss er sich verkleiden, damit niemand merkt, dass er es ist, wobei … bei seinem Riesenappetit? Es dürfte schwer werden.« Seufzend verschränkte Silberzunge die Arme hinter den Kopf und ließ sich aufs Dach fallen.
Warum kann man mich nicht einfach mal in Ruhe lassen?, fragte sie sich entnervt.
»Hey!«, rief eine ihr nur allzu bekannte Stimme zu. Bekannt, denn es war ihre eigene. Aus dem Fenster sah eine Gestalt – genauso vermummt wie sie – zu ihr herauf. Geschickt schwang Silberzunge sich vom Dach durchs Fenster in die Kammer. Vor ihr stand sie selbst.
»Wie weit ist er gegangen?«, fragte Silberzunge.
»Er hat mich ausgezogen, geschlagen und anschließend genommen«, sagte die zweite Silberzunge monoton.
»Hat er gemerkt, dass du bloß eine Fälschung warst?«
»Nein.«
»Hast du die Maske abgenommen?«
»Nein.«
Silberzunge seufzte erleichtet. Nie und nimmer hätte sie sich diesem Olaf hingegeben. Also hatte sie zu einem alten Zaubertrick gegriffen und sich eines Doppelgängers bedient. Kaum einer merkte den Unterschied.
»Gut, dann kannst du dich jetzt auflösen«, meinte sie.
Mit einer angedeuteten Verbeugung tat der Doppelgänger wie ihm geheißen.
Nachdenklich ging Silberzunge im Zimmer auf und ab. Wie sollte sie es anstellen? Sie schaute zum Fenster hinaus. Die weißen Flocken kündeten von den Riesen, die wieder zurückgekehrt waren. Aber sie durfte sich im Moment nicht davon ablenken lassen.
Der König war die Schlüsselfigur. Eine Schlüsselfigur die vom Berater wie eine Marionette bewegt wurde. Wäre er weg, könnte Silberzunge seinen Platz einnehmen und dann alles nach Belieben lenken. Aber wie sollte sie es anstellen? Scheinbar hatte Olaf eine Schwäche für sie. Vielleicht konnte man ihm die Kehle durchschneiden und anschließend im Schnee vergraben. Nein, man könnte zu leicht über die Leiche stolpern – im wörtlichen Sinne – und bei ihrem Glück fand man sie mit Sicherheit. Wahrscheinlich würde der dümmlichste Wachmann über sie stolpern. Dann würde es Fragen geben. Unangenehme Fragen. Außerdem musste sie dann das ganze Blut loswerden. Eine durchgeschnittene Kehle kam somit nicht infrage. Es musste etwas sein, das weniger Spuren hinterließ. Gift? Das war eine Überlegung wert. Aber wo sollte sie …?
Silberzunge hielt mit ihren Gedanken und Gehen inne. Sie hatte ja einen schwarzen Ofen in der Kammer. Der war ihr noch gar nicht aufgefallen. Mit einer abtuenden Handbewegung, versuchte sie sich wieder zu konzentrieren. Aber dann nahm sie den Ofen doch genauer in Augenschein. Ein Sack Kohle daneben ihr fiel auf. Silberzunge nahm ein kleines Stück Kohle in die behandschuhten Fingern. Das Leder färbte sich unter der Kohle schwarz. Vielleicht konnte sie ja …
Lautes Gebrülle auf dem Schlosshof brachte sie wieder aus ihrer Konzentration. Sie trat ans Fenster, um sich zu erkundigen, was dieser ganze Lärm sollte. Ihr blieb das Herz stehen. Zwölf große, pelztragende Riesen mit Schnee und Eis verziertem Körper schlürften gebückt durch das Tor, während sie ausgerissene Bäume als Waffen schulterten. Neben ihnen schritten, humpelten und schlürften die toten Soldaten von Helheim.
Silberzunge schluckte schwer. Wie sollte sie mit alldem fertig werden? Sie war allein. Einen direkten Kampf konnte sie nicht gewinnen. Sie musste sich ihrer Finesse bedienen. Aber erst einmal brauchte sie mehr Informationen.

Unten im Schlosshof versammelten sich die Untoten und Riesen. Vor ihnen stand der kleine König mit seinen Berater Olaf an der Seite.
Silberzunge wollte sich gerade neben Olaf stellen, als sie im matschigen Schnee ausrutschte und in eine Pfütze fiel. Alle lachten sie aus, doch Silberzunge ertrug es schweigend, stand wieder auf und klopfte sich den dreckigen Schnee ab.
Einer der Untoten kam auf sie zu. Er beschnüffelte sie wie ein Hund, nur dass Hunde nicht halb verwest waren und auch so rochen. »Du bewegst dich wie eine Frau, aber riechen tust du, wie ein Jüngelchen mit nicht mehr als sechszehn Sommern auf dem Buckel. Sag mir, wer bist du?«
Der Jüngling verbeugte sich. »Ich bin Silberzunge der neue Meuchelmörder des Königs.«
Der Untote lachte röchelnd auf. Es klang, als wenn er jeden Moment sterben würde, nur dass er bereits schon tot war. »Das ist gut. Ein Meuchelmörder, der noch nicht einmal geradeauslaufen kann. Das ist wirklich gut. Wir sollten mal einen heben gehen. Komm später zu uns in die Taverne zum einarmigen Banditen, wenn dir die Gegenwart stinkender Kadaver nichts ausmacht.« Lachend humpelte er davon.
Die Armee löste sich auf, als der König seine langweilige und nicht erwähnenswerte Ansprache beendet hatte. Silberzunge fiel dabei ein besonderer Mann in der Menge auf. Eine Wasserleiche. Sein toter Körper wies Merkmale von Folter auf. Die Art und Weise wie er Silberzunges Blicke erwiderte, ließ ihn etwas nachdenklich werden. Etwas unterschied ihn von den anderen Untoten. Vielleicht war es die Traurigkeit in seinem Blick. Die meisten anderen schienen eher erfreut zu sein. Auf eine hasserfüllte Weise. Aber in dem Blick dieser Wasserleiche lag nur Traurigkeit. Vielleicht war es gar keine schlechte Idee sich zum einarmigen Banditen zu begeben.

Obwohl die Untoten aufgehört hatten zu leben, so tranken sie doch noch wie zu Lebzeiten. Sie grölten Lieder. Alte, vergessene Lieder aus Zeiten weit vor dem heutigen Tage.
Silberzunge setzte sich neben dem Krieger, der ihn beschnüffelt hatte. Wie sich herausgestellte, war er ihr Hauptmann.
»Wer ist dieser Krieger dort?«, fragte der Meuchelmörder nach einiger Zeit und zeigte auf die Wasserleiche die allein an einem langen Tisch saß.
Der Hauptmann zuckte nur mit den Schultern. »Keine Ahnung. Du kannst ihn ja gerne Fragen, Jüngelchen. Ich glaube nur, dass er dir nicht antworten wird.«
»Wieso nicht?«
»Ihm ist die Zunge herausgeschnitten worden, bevor er starb. Er wird dir nur wenig mitteilen können.«
Silberzunge erhob sich mit einem »Das wollen wir doch erst einmal sehen.«
Er schritt hinüber zu der einsamen Gestalt am Tisch und setzte sich ihr genau gegenüber. »Hallo. Wie geht es Euch? Blöde Frage, ich weiß. Ihr seid tot, wie soll es Euch da schon gehen? Aber irgendwie muss ich ja mit unserem Gespräch beginnen.«
Die Wasserleiche sah ihn entnervt an.
»Ihr könnt mich nicht leiden. Ist schon in Ordnung. Viele können mich nicht leiden. Aber irgendetwas sagt mir, dass wir gemeinsame Interessen haben. Am König zum Beispiel.«
Jetzt horchte der Untote doch auf. Er gab kein Wort von sich, aber Silberzunge wusste, dass er nun seine ungeteilte Aufmerksamkeit hatte.
»Da unsere Konversation sich durch Eure Wortkargheit etwas … schwierig gestalten könnte, schlage ich vor wir spielen.«
Die Wasserleiche schaute ihn verwundert an. Man musste kein Hellseher sein, um zu wissen, dass er Silberzunge für verrückt hielt.
»Wir spielen ein einfaches Ratespiel. Ich stelle eine Frage und ihr nickt entweder oder schüttelt mit dem Kopf, ja?«
Die Wasserleiche nickte langsam. Sie schien verwirrt.
»Ausgezeichnet. Ihr habt ein Interesse am König. Kanntet ihr ihn Lebzeiten persönlich?«
Der Untote antwortete mit einem sehr energischen Nicken.
»Wunderbar. Ach. Es macht so einen Spaß Ratespiele zu spielen. Nächste Frage. Ist er für Eurer Ableben und die Merkmale der Folter verantwortlich?«
Wieder ein Nicken. Diesmal etwas trauriger.
»Standet Ihr ihm im Weg?«
Das Nicken wurde immer trauriger und sein Kopf sank immer mehr auf die Brust. Seine Trauer musste wirklich sehr schwer wiegen.
»Was habt ihr getan? Eine Rebellion gegen ihn geführt, hm?«
Diesmal ein Schütteln.
»Ihr standet ihm im Wege. Ihr seid niemand der das Feuer der Revolution geschürt hat. Aber dennoch standet Ihr ihm im Weg. So stark, dass er Euch die Zunge herausgeschnitten und ins Wasser …«
Diesmal schüttelte der tote Mann wieder.
»Nicht ins Wasser?«
Wieder ein Schütteln.
»Also hat er Euch im Moor versauern lassen. Ist es das?«
Ein Nicken.
Silberzunge betrachtete den Mann genauer und versuchte sich mit seiner Vorstellungskraft ein Bild von ihm zu machen, bevor er gestorben war. Mit den Augenblicken kristallisierte sich ein Bild des Mannes heraus. Weg mit der Blässe und weg mit der Feuchtigkeit. Die einst so trüben Augen müssen stählern gewesen sein. Die Haare gekämmt. Das Kinn hocherhoben wie ein stolzer König in der Schlacht. Ein König?
Silberzunge hielt inne. Er zeigte mit dem Finger auf die Leiche. »Seid Ihr der Vater von dieser Plage?«, er deutete bei letzteren Part mit den Finger hinter sich.
Wieder ein Nicken.
Vor Freude, dass er dieses Rätsel gelöst hatte, sprang Silberzunge auf und rief: »Ich hab es geschafft! Ich habe das Geheimnis gelüftet! Ich bin der Beste!«
Ein Krug Met traf seinen Kopf und riss ihn zu Boden. Seine Maske fiel von ihm ab, wie seine geheimniskrämerische Fassade und darunter befand sich das Gesicht eines Jungen von knapp sechszehn Sommern. Er hatte leichte Sommersprossen und kurzes braunes Haar.
Der Hauptmann stand über ihn gebeugt. »Genauso habe ich mir dein Gesicht vorgestellt. Ein Bengel der noch Grün hinter den Ohren ist.«
Schnell setzte Silberzunge seine Maske wieder auf. »Dieser Ausbruch tut mir leid. Ich habe wohl ein wenig zu viel getrunken.«
Alle in der Taverne lachten. Silberzunge lachte leicht nervös mit.
Er beugte sich zum Hauptmann vor. »Tut mir einen Gefallen. Es muss niemand unbedingt wissen, dass …«
Der Hauptmann hob abwehrend die Hände. »Hey, hey. Bleib ruhig. So wie ich das sehe, bist du jemand der hier richtig für Staubaufwirbeln sorgen wird.«
Silberzunges Mut schwand. Er spürte, wie ihm sämtliches Blut aus dem Gesicht wich. Zum Glück trug er eine Maske.
»Und mir gefällt das«, fuhr der Hauptmann weiter.
Silberzunge atmete erleichtert aus.
»Das was der König, sein Berater und all die anderen Narren hier abspielen, habe ich schon tausend Mal miterlebt. Es ist immer das Gleiche und es langweilt mich. Aber du«, er stupste Silberzunge freundschaftlich an die Schulter, »du bringst die Würze mit ins Spiel. In all den Jahrtausenden, in denen ich schon Königreiche kommen und gehen sah. All die Intrigen und all diese verwinkelten Schachzüge habe ich noch nie einen Kerl wie dich erlebt. Du willst uns und all die anderen bezwingen und das ganz allein, ohne wirkliche Erfahrung.«
Unter der Maske lächelte Silberzunge verschmitzt. Er hätte diesen toten Mistkerl niemals so eingeschätzt.
»Egal wie dein Spiel aussieht, ich mach mit und verrat niemanden etwas.« Mit einer ausholenden Bewegung, durch die sein voller Krug Met auf dem Boden verschüttete, fügte der Hauptmann hinzu: »Ich will schließlich wissen, wie das Ganze ausgeht.«
Dankbar verbeugend zog sich Silberzunge an seinen Platz gegenüber dem alten König zurück. Verschwörerisch zog er eine Landkarte hervor. Dabei achtete er darauf, dass niemand sie beobachtete. »Ich weiß wie es läuft. Ihr hattet sicherlich einige Mätressen.«
Der alte König nickte etwas irritiert.
»Dann habt ihr sicherlich auch ein paar Bastarde da draußen. Wir setzen einfach einen von denen auf den Thron. Das funktioniert, vertraut mir. Solange auch nur ein Tropfen königliches Blut in ihm ist, wird er als Herrscher akzeptiert. Ich war schon bei einigen Putschen dabei. Ihr müsst mir nur sagen, wo ich unseren zukünftigen Thronfolger finden kann.«
Der alte König tippte auf ein kleines Städtchen im Norden.
Silberzunge drehte die Karte zu sich, um es besser Lesen zu können. »Eislauf«, las er laut. Dort in der Nähe sollte sich auch der Widerstand befinden. Es war schon fast zu einfach. Jetzt wusste Silberzunge, wie er vorgehen musste.
Übermütig sprang er von seinem Platz auf und schrie: »Die nächste Runde geht auf mich!«, was mit einem lauten Zuspruch angenommen wurde.

Silberzunge lauerte im Schatten als der Berater ins Zimmer kam. Olaf erschrak, als er sie aus dem Schatten treten sah. »Oh Odin. Was wollt ihr hier?«, fragte er, während er sich mit der rechten Hand ans Herz fasste.
Silberzunge sagte kein Wort, stattdessen nahm sie die Maske ab.
Olaf fiel die Kinnlade herunter. »Ihr seid ja noch schöner, als in meinen kühnsten Träumen.«
Wie eine Raubkatze umrundete Silberzunge den Berater. »Ich bin, was ich immer ich sein will«, sagte sie geheimnisvoll. Sie packte den Berater am Handgelenk und presste ihre Lippen ganz fest auf die seinen.
Zuerst war Olaf verblüfft, aber er ließ sich auf das Spielchen ein.
Silberzunge warf ihn aufs Bett und setzte sich auf ihm. Ihre Körper schmiegten sich aneinander.
Während sie sich innig küssten begann Olaf sie auszuziehen. Silberzunge schielte zur Seite und griff nach der Schlinge, welches sie unter dem Kopfkissen platziert hatte. In einer geschickten Bewegung legte sie die Schlinge um seinen Hals, ohne dass er etwas davon merkte.
Nach ein paar Momenten zog sie mit aller Kraft die Schlinge zusammen. Der Berater merkte, wie mit ihm geschah, doch es war zu spät. Silberzunge war zu stark für ihn. Er keuchte und stöhnte. Seine Zunge hing widerlich aus seinem Mund. Schließlich erschlafften seine Arme die nach Silberzunges Kehle streckten.
Erschöpft setzte sie sich für einen Moment auf einem Stuhl in der Ecke. Vielleicht hätte sie doch eine etwas kräftigere Gestalt wählen sollen. Aber jetzt war es zu spät. Sie setzte die Maske wieder auf und zog aus einer Ecke einen dunklen Sack aus groben Leinen hervor.
Bevor sie die Leiche darin versteckte, nahm sie sich den Schlüssel zu Thors Zelle.

Klackend öffnete sich das Schloss. Thor schreckte auf, aber Silberzunge bedeutete ihm leise zu sein. Alles musste still und heimlich erfolgen.
»Hier«, sagte Silberzunge und drückte Thor einen von zwei Säcken in die Hand, »Nimm dies und verstecke es im Sumpf, damit es niemand findet.«
»Wer ist das?«, fragte Thor und schaute in den Sack hinein.
»Der Berater Olaf, falls du vergessen hast wie er aussieht. Nordwärts von hier haben sich einige Bauern zusammengetan. Du wirst sie ausbilden und später in die Schlacht führen, hast du verstanden?«
Thor nickte. Ein fragender Blick galt den zweiten Sack in Silberzunges Hand.
»Das ist ein Sack mit Kohle. Reibe dir damit Haare und Bart ein, dann wird dich niemand erkennen. Die Riesen kennen dich nur vom Hörensagen her. Sie erkennen dich erst, wenn sie deine Haarfarbe sehen oder du deine Waffe den Mjölnir dabei hast. Letzteres fehlt dir natürlich, trotzdem könnte man dich anhand deiner rotten Haare leicht erkennen. Drum färbe sie mit Kohle ein.«
»Was wirst du unterdessen tun?«
»Ich bleibe hier und treffe alle weiteren Vorbereitungen. Wir bleiben per Luftpost im Kontakt. Ich werde dich noch zum Tor begleiten, von dort aus bist du auf dich alleine gestellt, mein Freund. Du musst einfach nur Nordwärts gehen und dich etwas durchfragen, aber pass auf, dass du keine Aufmerksamkeit erregst, verstanden?«
Thor nickte und fragte dann: »Was ist mit den Wachen?«
»Um die habe ich mich bereits gekümmert.«
Silberzunge hatte ihren Doppelgänger losgeschickt, der die Wachen betrunken machte. Wahrscheinlich schliefen sie bereits ihren Rausch aus.
Es verlief alles nach Plan. Thor entkam mit den beiden Säcken ohne aufzufallen. Am Haupttor meinte er noch: »Ich habe mich in dir getäuscht. Es tut mir leid, dass ich dir nicht getraut habe.« Er hielt die Hand zur Versöhnung hin.
Zögerlich schlug Silberzunge ein. »Mach das du hier wegkommst, wir wollen kein unnötiges Risiko eingehen.«
Thor rannte los in die undurchdringliche Finsternis und winkte Silberzunge zum Abschied zu. Sie winkte zurück. Konnte es nicht immer so sein?

Ein paar Monate später.
Inzwischen war der gefangene Mann, der einen Anschlag auf den König verüben wollte vom verräterischen Berater Olaf befreit worden. Beide waren sie geflohen. Wohin wusste niemand. Silberzunge nahm Olafs Platz als Berater des Königs ein und half ihm so gut es ging bei den Regierungsgeschäften.
Aber die Unruhen im Lande nahmen zu. Hätte der König die nötigen Streitkräfte gehabt, hätte er sie blutig niedergeschlagen. Aber immer mehr Banditen streiften im Lande umher und die Soldaten waren fleißig damit beschäftigt sie im Schach zu halten. Niemand wusste aber, dass Silberzunge ein geheimes Abkommen mit ihnen geschlossen hatte. Er ließ ihnen ab und zu Informationen zukommen und dafür versprachen sie, die einfachen Leute nicht zu behelligen und konzentrierten sich stattdessen auf die Patrouillen des Königs.
Der König hatte darauf seine untoten Krieger und gewaltigen Riesen auf sie hetzen wollen, aber Silberzunge hatte ihn davon überzeugen können, dass sie sich die Kräfte lieber für den nächsten Feldzug gegen das Nachbarreich aufsparen sollten.
Während das Land im Chaos versank und der König sich nur noch von Invasoren umgeben sah, ward der Widerstand immer stärker. Thor bildete die Bauern Tag und Nacht aus. Silberzunge unterstützte sie mit Waffen, Rüstungen, Nahrung und vielen anderen Dingen, die er finden konnte.

»Schon wieder ein Angriff auf meine Patrouillen!« Wütend schlug der König auf die Armlehne seines Thrones.
Hinter ihm ging Silberzunge auf und ab. Immer im Schatten, flüsterte er dem König sein Gift ins Ohr. »Wie können sie es wagen, sich mit Jemand von Eurer Herrlichkeit anzulegen. Ihr könntet sie mit einem Nicken vernichten. Ihr müsstet nur einen Finger krumm machen, um dieses Geschmeiß zu zerquetschen.«
»Es reicht, das Maß ist voll! Ich werde die Riesen losschicken, sie zu zerschmettern.«
»Aber sind diese Würmer es überhaupt wert, dass wir die Riesen auf sie hetzen? Es gibt immer noch etliche Feinde, die es mehr wert sind. Unsere Nachbarn im Osten zum Beispiel. Sie glauben, sie hätten die stärkste Streitmacht von ganz Midgard, doch denen werden wir es zeigen. Nur noch ein paar Tage und dann sind wir bereit zum Zuschlagen.«
»Aber…«, wollte der König aufbegehren.
»Ein altes Sprichwort lautet: Spar dir deine Kraft im Kampf, dann hast du sie in der Not.«
Wieder wollte der König protestieren. Silberzunge hatte schon die passende Antwort parat, auch wenn er das Argument noch gar nicht kannte, aber es sollte anders kommen.
Plötzlich brachen die großen Flügel des Thronsaales auf und die Leibwächter des Königs betraten mit grimmigen Mienen den Saal. »Euer Majestät! Wir werden angegriffen!«
»Wie ist das möglich?!« Vor Schreck stand der kleine König auf.
»Jemand hat das Tor geöffnet, die Rebellen konnten ohne Umstände eindringen.«
Silberzunges Augen blickten unschuldig zur Decke, da seine Maske sie verbargen, durfte er sich diese Farce ruhig erlauben. Niemand sah es.
»Wir haben einen Verräter unter uns!«, schrie der König.
Eine der Wachen zeigte auf Silberzunge. »Das alles hat mit seinem Auftauchen begonnen!«
Silberzunge zeigte verblüfft auf sich. »Wer? Ich?«
»Wir haben ihn beobachtet. Er hat mit den Banditen verhandelt. Er hat wahrscheinlich auch den großen Kerl befreit, der jetzt im Hof wütet, wie ein tobendes Gewitter. Euer Berater ist wahrscheinlich von ihm ermordet worden. Eure untote Legion hat er ausgeschaltet, auf die können wir auch nicht mehr zählen.«
»Wie das? Wie kann man die Toten aufhalten?«, fragte der König zornig, während Silberzunge immer weiter zurückschritt in Richtung Ausgang.
»Er hat sie betrunken gemacht. Selbst die Toten müssen ihren Rausch ausschlafen.«
Der König wollte sich zu seinem verräterischen Berater drehen, doch der war schon fast beim Ausgang angelangt.
Einer der Leibwächter sah nach oben zur Decke. »Jetzt!«, schrie er.
Eine gewaltige blaue mit Eisverkrustete Hand, größer als die Tür, brach durch eben jene und griff nach dem fliehenden Silberzunge. Der machte einen Hechtsprung zur Seite und lief zurück in die Halle.
Die Hände brachen durch die Decke und versuchten den Flüchtigen zu fassen. Plötzlich bekam eine Hand Silberzunge zu fassen. Bevor sie sich schloss, entschlüpfte er aber den Fängen wie ein glitschiger Aal.
Die Leibwächter versperrten ihn dem Weg nach vorne. Hinter ihm waren die Eisriesen. Silberzunge zog seine beiden Dolche und tanzte durch die Wachen hindurch. Im Laufen bewegten sich seine Arme fließend wie Wasser und schnitten durch die Kehlen wie durch Papier. Blut sprudelte auf den kalten Steinboden.
Silberzunge hatte die Tür fast erreicht, als ihn eine Hand kalt wie der Tod grob umklammerte. Sie zog ihn zu sich hoch und sah mit ihren schneeweißen Augen in sein Gesicht.
Silberzunges Maske fiel herunter, als er sich wie eine gefangene Ratte in der riesigen Hand windete um sich zu befreien.
Der Riese lachte. »Nur ein alter Greis mit Bart kann verschlagen und listig genug sein, um solche Intrigen zu spinnen.«
Sein Griff verstärkte sich. Einige von Silberzunges Rippen knackten weg. Schreiend ließ er den Schmerz raus. Der Riese lachte.
Silberzunge hatte keine andere Wahl. Er musste sich enttarnen – die wahre Maske fallen lassen.
Plötzlich tauchte sich sein Körper in wilden Flammen ein, die all das Eis zischend zum Schmelzen brachte.
Vor Schreck schreiend ließ der Riese den Meuchelmörder los. Im freien Fall veränderte sich die Gestalt von Silberzunge. Sie schrumpfte zusammen. Aus Kleidung wurde feuerrote Pelz. Die Hände und Füße wurden zu weichen Tatzen. Dem Meuchelmörder wuchs ein rot-weißgestreifter Schwanz. Die Katze drehte sich im Fall und landete Artgerecht auf allen vieren.
Der König schaute verdutzt auf die pelzige Kreatur, die sie anstarrte. Aus der Katze wurde sofort wieder die Gestalt von Silberzunge. Mit eisblauen Augen starrte der Greis grimmig zu dem König, der die Flucht ergreifen wollte, doch der Fettsack war zu langsam für dem schnellen Silberzunge. Er packte den König am Schopfe.
Im ruhigen Tonfall sagte er: »Da ist jemand, der Euch gerne sprechen möchte, Majestät«, das letzte Wort spuckte er voller Verachtung aus. Die Riesen beobachteten stumm das Spektakel. Auch sie schienen verwirrt über die plötzlichen Wendungen zu sein.
Silberzunge holte eine schwarze Kugel hervor. In ihr jammerten die verdammten Seelen aus Helheim. Er zerschmetterte die Kugel auf dem Boden, um sie zu rufen. Wie der leibhaftige Tod der sie war, tauchte die Todesgöttin Hel aus dem schwarzen Nebel auf.
»Ich habe den Hosenscheißer«, sagte Silberzunge.
»Ausgezeichnet. Ich wusste, dass man sich auf dich verlassen kann.«
»Sind wir damit Quitt?«, fragte Silberzunge.
»Ja. Ich verzeihe dir deine Tat. Du brauchst Helheim nicht mehr zu fürchten. Aber stell dich mir nie wieder in den Weg, Loki! Du magst mein Vater sein, aber das bedeutet nicht, dass du gegen meine Urteile gefeilt bist.«
Der König starrte den Gott des Feuers fassungslos an, aber der ignorierte ihn.
»Schon klar, Töchterchen.« Loki schubste den kleinen König in die Arme seiner Tochter.
Hel packte ihn unnachgiebig mit ihrer Skeletthand an der Gurgel. »Ich sagte dir, was passiert, wenn du versuchst mich zu hintergehen, kleiner Mann«, zischte sie den Herrscher an, bevor sie ihn in einer schwarzen Wolke nach Helheim schickte.
Loki wollte gar nicht wissen, was aus dem kleinen Giftzwerg wurde. Welche Strafe sich Hel für ihn erdacht hatte.
Sie wandte sich nun an die Riesen. »Ihr solltet besser verschwinden.«
Panisch ergriffen sie die Flucht. Niemand legte sich ungestraft mit der Todesgöttin an. Jeder fürchtete sie und das hatte seine Gründe.
Ohne die Riesen und die Untoten – welche von Hel sofort zurückbeordert wurden – gaben die restlichen Wachen auf und ergaben sich den Rebellen, die von einem mysteriösen Krieger angeführt wurden, der kämpfte wie ein urgewaltes Gewitter. Silberzunge jedoch verschwand genauso schnell in der aufziehenden Nacht, wie er aufgetaucht war …

»Und was ist dann passiert?«, fragte einer der Gäste der Schenke.
Ikol gähnte. All das ganze Erzählen hatte auch seine letzten Kraftreserven aufgebraucht. »Thor kehrte zurück nach Asgard der Heimat der Götter. Selbstverständlich siegreich. Auf den Thron kam ein einfacher Bauerntölpel, der natürlich nichts von seiner Herkunft gewusst hatte und als ein gerechter Herrscher in die Geschichte einging. Die alte Leier. Ihr wisst schon. Ein glückliches Ende. Die Guten gewinnen die Bösen verlieren.«
»Und Silberzunge oder Loki oder wer auch immer. Was ist aus ihm geworden? Er war auch ein Gott, warum diese ganze Scharade?«
Ikol seufzte. »Loki war kein Kämpfer. Vielleicht hatte er Angst vor der Rache der Parteien. Vielleicht machte es ihm auch nur Spaß sich zu verkleiden.
Was seinen Verbleib betrifft, so munkelt man, dass er in einem Zweikampf mit Thor unterlag. Manche behaupten Thor der Gott des Donners hätte Loki getötet. Andere meinen, Loki hätte sich selbstgerichtet, um der Rache Thors zu entgehen. Und wieder andere meinen er sei noch am Leben. Aber ich glaube das nicht. Ich glaube eher der ersten Variante. Thor hat Gerechtigkeit walten lassen oder so. Das Gute hat gesiegt«
Ikol nahm noch einen Schluck Ale, bevor er endete und sich zur Ruhe bettete.

Am nächsten Morgen schon reiste er weiter.
Das Gewitter hatte aufgehört.
Niemand wusste, woher dieser Geschichtenerzähler kam oder wohin er gegangen war. Auch wart man ihn danach nie wieder gesehen.
Doch dies ist eine andere Geschichte, die ein andermal erzählt werden wird. Vielleicht.

The End


© EINsamer wANDERER


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Beschreibung des Autors zu "Ikol und die Geschichte von Silberzunge"

Hier eine Geschichte für ein Gemeinschaftsprojekt von Ragin bei Geschichten123.de, wo eigentlich jeder ein Kapitel hinzufügen darf, so lange die Taverne `zum wandernden Krug´ irgendwie darin vorkommt.

Wer mehr von Loki möchte kann gerne die Jagd nach Mjölnir lesen: https://www.schreiber-netzwerk.eu/de/2/Geschichten/12/Fantasie/43403/Der-Verlust-von-Ragin/

Ohleg, seine Angestellten und Taverne. Diese Rechte liegen bei Ragin.
Ikol und seine Geschichte gehören mir.




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