Es hätte auch ein Topf Eis sein können…

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Jeder Mensch hat seine Ticks.
Neben mir steht eine Dose Ravioli – kalt, und mein Kompetenzverstärker – ein Gemisch aus in Doppelkorn aufgelösten NimmZwei-Bonbons und Eistee im Verhältnis eins zu drei, mit einem Spritzer Zitronensaft. Es ist zwei Uhr nachts und ich sitze im Wohnzimmer. Vollmond. Das bedeutet, ich kann nicht schlafen. Bin stattdessen vier Stunden spazieren gegangen und probiere jetzt, meine gesammelten Gedanken in eine Datei zu bannen, was nicht einfach ist, da schreiben für mich auch immer etwas mit lesen zu tun hat. Während ich lese brauche ich allerdings etwas zu essen und das ist der Grund, warum die Ravioli sich bald zu einem Marmeladenbrot, zwei Tassen Gemüsebrühe, ein paar Äpfeln und einem halben Dutzend Gewürzgurken gesellen werden. Ob mir schlecht ist? – Nein, noch nicht.
Der Laptop flimmert im dunkeln und mir geht sehr viel durch den Kopf. Ich bin nie schnell genug um es einzutippen. Das ist immer so, der erste Gedanke ist perfekt und noch während des aufschreibendes wird er durch Wortumwandlungen und Satzumstellungen schlechter. Das ist ein Problem, aber man kann immer irgend etwas schreiben. Wenn man gestört oder blockiert ist schreibt man eben über gerade das…

Ich sitze auf einer Holzbank. Die Sonne scheint und die Erleichterung versprechende Windbriese hat die Intensität eines Heißluftföhns. Meine Gedanken kreisen um den möglichen Aufbau einer KI, während ich langsam vor mich hin schmore. Überall summt es. Ich sauge alles auf, wie ein trockener Schwamm. Was ist ein Bewusstsein? Stechmückenangriff von links. Kann eine Ansammlung von Daten eine Seele besitzen? Ameisen zu meinen Füßen. Wieso wirkt eine Maschine, die nur improvisiert, intelligenter? Grillen in der Wildwiese zu meiner rechten, Singvögel in den Bäumen über mir. Zu viele Fragen und keine Antworten.
Ein junges Pärchen joggt vorbei, deren dröhnende Handy’s mich aus dem Konzept bringen. Ich falle ungebremst durch die Meta-Ebenen und schlage in meinem Körper auf. Sie verlangsamen ihr Tempo und beginnen Händchen zu halten. Mir wird übel. Um mich herum tobt das Leben. Ihre Blicke heften sich aneinander. Lange. Zu lange. Ich habe nichts gesehen. Ich halte noch immer die Illusion des Umschauens aufrecht, während das sorgfältig präparierter Kartenhaus meines psychologischen Gleichgewichts unter der Realität zusammenbricht und mich begräbt. Seine Finger fahren durch ihre Haare. Sie sieht zu ihm hoch. Aber von all dem bekomme ich nichts mehr mit. Aus dem Chaos in meinem Kopf kristallisiert sich eine einzige Frage heraus, als ich aufstehe und in die entgegengesetzte Richtung marschiere: Was stimmt mit mir nicht? Wie soll ich lernen, wenn ich keine Fehler mache? Fehler geschehen in der Praxis, nicht in der Theorie. All meine Eindrücke, Erfahrungswerte, Schlussfolgerungen, Überlegungen und Gedankengebäude – alles Theorie. Alles nutzlos. Sie kommen sich näher, bis zwischen ihren Lippen nur noch eine dünne Schicht erhitzter Luft vibriert. Die Zeit schrumpft zu einer unbedeutenden Größe. Vielleicht denke ich auch einfach nur schneller.
Mein Umfeld. Sie verlieben sich, feiern, fallen, rappeln sich auf, lernen – sie leben. Sie haben Erlebnisse. Ich habe nur einen Schädel voller wirrer Gedanken. Bin ehr ein Schatten als eine Person. Am Ende bin ich wohl meiner Idee, die aus Transistoren und Spulen und Drähten besteht und deren Gedanken ein schnelles schwingen von Elektronen sein wird, näher als mir selbst.

Neununddreißig Grad. Ich treffe eine weitreichende Entscheidung: tausche meine oliv-farbene, lange, vollgestopfte Hose gegen karierte Shorts, ziehe mir ein schwarzes Muskelshirt über die Rübe, entsorge meine Socken im Gefahrgutbehälter und bringe das letzte Eis in meine Gewalt. So gewappnet verdrücke ich mich für den Rest des Tages ins abgedunkelte Zimmer – wo den Aufzug niemand sehen kann.

Gelächter. Menschen laufen uns entgegen. Wir lassen den Parkplatz hinter uns und bewegen uns in Richtung Freibad. Quietschende Bremsen auf heißem Asphalt. Geplapper. Die Luft flimmert. Ich habe mich doch breitschlagen lassen.
„Denkst du eigentlich auch immer, wenn jemand hinter dir lacht, dass explizit du gemeint bist?“, frage ich Markus beim überqueren des Zebrastreifens.
„Ja“, antwortet er knapp und fügt nicht minder aggressiv hinzu: „Wie grade eben oder wie?“
Weit schweifend lasse ich meinen Blick zurück wandern, um die Spaßvögel kurz in Augenschein zu nehmen, während ich offenbare: „Ich habe dann immer das Gefühl, ich müsste irgendeine Großkaliberwaffe ziehen und ihnen den Inhalt des Magazins um die Ohren pfeffern.“
Er sieht mit gespieltem Erstaunen zu mir: „Oh, du auch!“
Wir grinsen.
Das Wasser plätschert vor sich hin und der mit Chlor versetzte Wasserdampf brennt in meiner Lunge. Kinder spielen, toben, plantschen. Es ist kalt.
„...und er hat doch überhaupt nichts gesehen.“
„Woher willst du das wissen?“
„Ist doch jetzt auch egal, warum interessiert es dich?“
Mir ist kalt. Ich habe zwar wirklich nichts gesehen, aber ihre geflüsterten Gesprächsfetzen, die ich aufschnappe, helfen mir, diese kleine Unaufmerksamkeit auszugleichen. Ich lehne, den Blick starr ins leere gerichtet, am Beckenrand.
Mia und Markus paddeln unbeholfen, da eng umschlungen, neben mir. Ich sehe sie rechts von mir verschwommen am Rand meines Blickfeldes. Ich war mit ihm alleine angekommen und wusste nicht, dass er sie auch noch überredet hatte. Das musste er geschafft haben, bevor sein wasserfestes Handy zu meiner Freude den Geist aufgab. Dann war Mia plötzlich da. Das war vor etwa drei Stunden.
„Tino?“, höre ich sie fragen, „Hast du etwas gesehen…“
„Nicht wirklich“, entgegne ich, „ aber habt ihr schon einmal darüber nachgedacht, dass ich nicht taub bin?“
Sie lachen. Ich lache. Was sollen sie schon getan haben? Zwei Teenager, die ineinander verschossen sind, es nicht auf die Reihe bekommen zusammen zu sein, aber sich in aller Öffentlichkeit verhalten, als ob es so wäre.
Was haben sie getan? Sie haben sich geküsst. Natürlich. Es war unvermeidbar.
„Momentmal, das bedeutet also, dass du es nicht gesehen hast.“, hakt Markus nach.
Ich erkläre ihm scherzhaft: „Mein Blickfeld umfasst beinahe Hundertachtzig Grad und du übersiehst den Unterschied zwischen ‚nicht hinsehen‘ und ‚nicht sehen‘.“
Er wird still. Endlich.
Mir geht es sehr gut. Sarkastisch könnte man sogar sagen blendend, solange ich nicht sehe, was ich nicht habe – Glück. Also geht mir aus dem Weg und lasst mich in Ruhe! Ich komme mir vor, wie eine dämliche Absicherung, die nur existiert, damit Markus seine Traumfrau auch ja nicht übersieht. Markus. Eine Person die noch nie ernsthaft etwas von sich aus getan hat. Sie hat ihn geküsst, wette ich innerlich – als ob es eine Rolle spielen würde. Ich wollte es nicht sehen!
Wasser leitet wärme 150 mal besser als Luft. Das bedeutet, das wenn ich mich nicht bewege, ich in fünfzehn
Minuten tot bin — ein verführerischer Gedanke. Was will ich hier eigentlich noch?

Ich bin wieder zuhause. Langer Blick in den Spiegel. Sonnenverbrannte Schultern. Hass frisst sich durch meine Eingeweide. Mein Vater klopft an die Tür.
„Was!“, ätze ich und doch hofft ein tiefliegender Teil von mir, dass er es nicht so verstanden hat, wie ich es fühle. Auch wenn ich es noch so darauf anlege.
„Telefon, Stephanie.“
Ich entspanne mich und öffne die Tür — nehme ihm den Apparat aus der Hand. Er grinst allwissend und geht ins Wohnzimmer.
„Wie war es im Schwimmbad?“, fragt sie mit ironischem Unterton in der Stimme.
„Frag nicht“, seufze ich und begrabe alle Aggressivität, „Im Grunde hätte ich es vorhersehen müssen.“
„War es so schlimm?“
„Ja, weißt du, ich hätte jedem dahergelaufenen Passanten dort drei Fragen stellen können, wie ‚Scheint heute die Sonne?‘, ‚Ist das Wasser nass?‘ und ‚Sind die zwei dort zusammen?‘. Ironischer Weise habe ich vorheriges Wochenende mit ihm geredet, unter anderem, dass ich auf keinen Fall das ‚Fünfte-Rad-am-Wagen‘ spielen werde.“
Und stieß auf Unverständnis, fügte ich im Stillen hinzu.
„Wieso bist du nicht direkt gegangen, wie du es angekündigt hattest?“
„Ich bin mit ihm gefahren, das ist ja das Dumme“
„Grade du hättest doch einfach zu Fuß gehen können…“, bohrte sie nach.
„Bei der Hitze.“, erwiderte ich.
Schachmatt.
„Anderes Thema“, wich ich aus, „wie war deine Woche so?“
Sie überlegte zuerst und begann mit einer längeren Ausführung darüber, dass sie schon zwei Wochen bei ihrem Freund sei, ihr Bruder währenddessen ihre Mutter verkuppelt hätte und sie endlich Gesangsunterricht bekommen würde. Wie ich mir selber eingestehe hörte ich nur mit halbem Ohr hin und genoss es, mich in das Leben eines anderen Menschen fallen zu lassen. Auch wenn es unmittelbar mit der Gefahr verbunden ist, zu begreifen, wie arm man eigentlich dran ist. Aber in diesem Fall war es Ablenkung von Dingen, die sehr viel düsterer sind.

Ich fühle mich seit dem Schwimmbad immer mehr ausgelaugt, müde und trostlos, leide zunehmend unter Schlafstörungen, bin antriebslos und nehme die Zeit kaum noch als solche war. Mir wurde erst Minuten vor sechs Uhr klar, dass wir schon Freitagabend hatten – davor hatten wir Dienstag. Man könnte meinen Zustand mit ‚Es ist nicht das Ende der Welt – aber ich kann es von hier sehen‘ beschreiben. Unwissenheit ist halt ein Segen. Vergessen. Ich will es einfach nur vergessen…

„Du könntest ja Mia überreden mit ihm zusammen zu kommen.“ , schlug sie scheinheilig vor.
Stephanie hat mich heute noch einmal angerufen und wir sind auf kurz oder lang wieder bei diesem verfluchtem Thema gelandet, nur gut, dass mein Standpunkt klar ist.
„Bin ich bescheuert?!“, versuche ich ihr klar zu machen, „Als ob ich seine Probleme löse.“
„Aber es ist nicht Markus’s sondern Mia’s Problem.“
„Ja und? Markus trägt doch die Konsequenzen, oder?“ gab ich zurück und entgleise endgültig verbal, als ich hinterher donnerte: „Ich werde es garantiert nicht lösen, selbst wenn ich den Schlüssel der Weisheit hätte. Nicht bei einer Person, deren bisheriges Leben perfekt verlaufen ist – ohne mich!“, und nach einer Verschnaufpause als ob ich wüsste was sie denkt, „Das hat mit Eifersucht rein gar nichts zu tun. Es ist einfach mein Recht. Mit jahrzehntelanger Erfahrung bin ich auch der Einzige der sich so ein Urteil über ihn erlauben darf, ohne böse zu wirken.“
„Du hast ja recht…“, zog sie sich sofort zurück.
Allein der Gedanke bringt mich auf die Palme, brauchen sie unbedingt Bestätigung und erdreisten sich, Probleme zu erschaffen, wo überhaupt keine sind? Markus zieht für die nächsten drei Jahre weg und deswegen zögern sie zusammen zu kommen? Es kann doch überhaupt gar nichts schief gehen. Er hatte noch nie eine Beziehung, genau wie sie und beide sind intelligent genug, sich diese Chance nicht zu verbauen. Also ein verdammtes Pseudo-Problem.

Null Uhr und neunundzwanzig Minuten. Es herrscht monumentale Stille. Ich bin seit fast drei Tagen wach. Auf dem Weg zum Bett kommt mir mein Bruder entgegen. Wieso ist der nicht im Bett? — Ist ja auch egal. Während ich auf einer Wolke aus Melancholie an ihm vorbei schlurfe, erkläre ich, mehr zu mir selbst als zu ihm: „Weist du, jetzt ist es endlich vollbracht! – zwei Fakten. Mia und Markus sind zusammen. Ich bin so depressiv wie noch nie.“, dramatische Kunstpause meinerseits, „Wenn du glaubst, dass das eine etwas mit den anderen zu tun hat – dann liegst du verdammt richtig. Ich habe mich selbst in die Hölle katapultiert.“
Ich taufe es Heil… Ähm ich meine: Glücksbringer-Syndrom. Markus ist halt ein Macher der zu wenig nachdenkt und ich bin ein Denker der zu wenig macht. Es war also völlig klar, dass früher oder später der eine den anderen überholt. Da er wenigstens einen Zufallstreffer landen kann. Ich habe sein kleines perfektes Universum, in dem er vor sich hin vegetiert, gerettet — und mich gleichzeitig selbst daraus fort rationalisiert.
Markus war ziemlich verdattert gewesen, dass ich es schon wusste. Es hielt sich in Grenzen, da ich die Sache ja initiiert hatte, denn Mia hat diesen Schritt nur gemacht, weil Stephanie ihr die Bedenken ausgeredet hat. Ihr persönlich war die Sache aber immer egal gewesen. Wer hat sie animiert? — Ich.

( … und immer schön verhüten … )
„Stephanie sollte man wirklich teeren und federn für diese Bemerkung.“
„Wie? War sie dir etwa zu gehässig?“, witzle ich, „Du kannst es ihm ja an ihrem Geburtstag heimzahlen. In etwas so ‚Herzlichen Glückwunsch… Pafff!‘ verstehst du?“
„Ja, genau.“
Und während Mia noch Luft holt schiebe ich eilig hinterher: „Jetzt hab ich aber Gewissensbisse, dass ich nicht allzu gehässig zu dir war.“
„Nein, Tino. Du hast allen Grund so zu reagieren.“
„Ach wirklich?“
Wieso wusste ich, dass sie das sagen würde.
„Während wir alle Händchen haltend im Sonnenschein über die Wiese tänzeln, sitzt du in deinem Zimmer und beobachtest die Regenwolken – armer Kerl.“
Ach so ist das. Na, wenn du wüsstest was ich mir schon alles von der Seele geschrieben habe, was ich euch hätte an den Kopf schmeißen können, denke ich. Manchmal hab ich aber das Gefühl, dass Mia fast mehr unter meiner Situation leidet als ich und versuche das sich ausbreitende Unbehagen einzudämmen: „Gott muss ja schon eine menge Angst vor mir haben — also vor dem, was ich werde, oder einst war — wenn er so darauf abzielt mir unlösbare Aufgaben zu geben und mich klein zu halten.“, lache ich und probiere sie etwas aufzuheitern, „Und überhaupt“, gebe ich zu bedenken, „Wenn man von dem stark christlichen Weltbild ausgeht, dann erwarte ich von einem allwissenden, allmächtigen, gütigen, und menschlichen Gott, dass er mir hilft. Wenn er das nicht tut ist er laut meiner Empathie-Theorie ein einfaches Arschloch.“
Das erinnert mich spontan an ein Zitat von Watchmen, als Rorschach über ein ermordetes und vergewaltigtes Mädchen spricht: „Entweder hat Gott nicht hingesehen, oder es war ihm egal…“
Plötzlich stellte sie fest: „Weißt du, ich frage mich manchmal, wie du darüber eigentlich denkst.“
Also dachte ich nach.
Zuerst über ‚Elektrische Signale interpretiert von meinem Verstand, also nichts als Biochemie, aber ich weiß, dass wenn man da drinsteckt und es erlebt, ist es das genaue Gegenteil davon.‘. Eine aus Matrix und Total-Recall zusammengeschusterten Antwort. Entschied mich dann aber doch kurzfristig, ihr Braveheard um die Ohren zu schlagen.
Ich blickte also fragend drein und sagte: „Liebe? — von Liebe weiß ich nichts…“


© Me


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Kommentare zu "Es hätte auch ein Topf Eis sein können…"

Re: Es hätte auch ein Topf Eis sein können…

Autor: Jamie   Datum: 21.08.2015 20:12 Uhr

Kommentar: Hey,
danke für diese interessante Geschichte :)
LG, Jamie

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