Das laute Knistern des Feuers ließ Mia hochfahren. Verschlafen rieb sie sich die Augen und sah sich im Wohnzimmer um. Die Schatten der Nacht hatten sich über die wenigen Möbel gelegt, die Mia bei ihrem Einzug liebevoll angeordnet hatte. Sie erinnerte sich schwach an den Moment, wo Thomas sie gebeten hatte, bei ihm einzuziehen.
Mia lauschte dem abendlichen Konzert der Grillen vor dem Fenster. Eine Hand legte sich sanft auf ihre Schulter. Thomas war heimgekommen. Freudig umarmte sie ihn und zog ihn zu sich auf die Couch.
„Endlich bist du da“, sagte sie, während sie sich in seine Arme kuschelte. „Ich habe dich so vermisst. Es ist so einsam hier ohne dich.“
Thomas küsste sie liebevoll auf die Stirn.
„Es war heute wieder viel los im Büro. Ich wäre am liebsten schon viel früher weggefahren, aber dann kam ein Stammkunde zur Tür herein und meinte, er müsse noch schnell ein Konto für seine Tochter eröffnen. Und dann noch der ganze Papierkram, der auf meinem Schreibtisch lag…“
„Das Leid eines Bankkaufmanns“, witzelte Mia.
Thomas drückte sie lachend an sich und küsste sie. Mia verlor sich ganz in seinem Kuss. Als es plötzlich an der Tür klingelte, zuckten beide zusammen.
Stirnrunzelnd sah Thomas auf die Uhr. „Es ist doch schon kurz nach neun. Wer ist das denn so spät noch? Erwartest du jemanden?“
„Nein, nicht, dass ich wüsste. Ich geh‘ schon.“ Sie stand auf und ging in den Flur.
Als Mia die Tür öffnete, blieb sie wie angewurzelt stehen. In der kalten Nachtluft stand eine große, muskulöse Gestalt, die sich nun zu ihr hinunterbeugte. Braune Haare fielen in ein wohlgeformtes Gesicht. Blaue Augen sahen sie unentwegt sein. Mia wusste kaum zu atmen.
„Rick? Was tust du hier?“, stammelte sie.
„Dir auch einen schönen guten Abend. Ich hörte, dass du vor einiger Zeit nach Hannover gezogen bist und dachte, ich besuche dich mal.“
Rick sah sie mit einem breiten Grinsen an und gab ihr das Gefühl, klein und wehrlos zu sein. Seine breiten Schultern füllten den ganzen Türrahmen aus. Mit einer Hand stützte er sich an der Tür ab, damit Mia sie ihm nicht einfach vor der Nase zumachen konnte. Mia musste schlucken.
„Liebling, alles in Ordnung bei dir? Wer ist das denn?“, hörte sie Thomas aus dem Wohnzimmer rufen.
„Liebling?“, keifte Rick. „Du wohnst hier also nicht allein? Hätte ich mir doch gleich denken können. Warum solltest du auch? Aber pass‘ auf, meine Liebe. Ich werde nicht so einfach aufgeben.“
In seinen Augen sah sie ein wütendes Flackern, seine Zähne knirschten. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und verschwand zwischen den Schatten der Bäume.
Noch immer konnte Mia sich nicht aus ihrer Schockstarre lösen. Fünf Jahre war es her, seit sie Rick zum letzten Mal gesehen hatte. Fünf Jahre war es her, dass sie vor ihm geflohen war. Ein kalter Windstoß ließ sie erschauern. Langsam schloss sie die Tür und schlich ins Wohnzimmer. Ihre Gedanken überschlugen sich und in ihren Augen standen Tränen.
„Mia, was ist denn passiert? Du bist ganz weiß. Liebling, rede mit mir!“, rief Thomas erschrocken aus. Er kam auf sie zu und nahm sie in den Arm. Nun ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Thomas drückte sie fester an sich und strich ihr über den Rücken.
Nach einer Weile hatte Mia sich beruhigt. Thomas hatte sie zur Couch gebracht und sich neben sie gesetzt. Dann hatte Mia angefangen zu erzählen. Von einer großen Liebe, ihrem Ex-Freund Rick, ihrer Flucht vor ihm und das ewige Versteckspiel. Rick hatte sie auf einem Dorffest kennengelernt. Sie hatte im Dorf ihre Mutter und ein paar alte Freunde besucht. Ihre Freunde hatten sie mit zum Dorffest genommen und ihr Rick vorgestellt. Sie hatten sich auf Anhieb gut verstanden und kamen nach einiger Zeit zusammen. Nach wenigen Monaten war sie schon zu ihm gezogen und mit ihm verlobt. Kurz vor der Hochzeit war Mia aber klar geworden, dass Rick nicht so toll sein konnte, wie sie immer gedacht hatte. Abends kam er fast nur noch betrunken nach Hause. Manchmal hatte er sogar die Hand gegen sie erhoben. Als sie ihn verlassen wollte, sperrte er sie ein. Sie konnte sich durch einen glücklichen Zufall befreien und floh so weit sie konnte. Dort begann sie ein neues Leben und drängte ihn und seine Taten in den Hintergrund. Dann traf sie Thomas.
Lange saß Thomas still neben ihr und hielt einfach nur ihre Hand. Sein Schweigen machte Mia zusehends nervös.
„Ich weiß weder, was ich dazu sagen, noch, was ich dazu denken soll.“, gestand Thomas.
„Ich hätte nicht gedacht, dass er hier auftauchen würde. Als ich mein neues Leben anfing, habe ich alles an mir verändert. Mein Aussehen, meine Gewohnheiten, meinen Nachnamen. Sogar meine Mutter habe ich nicht mehr besucht. Ich dachte, dass er mich so nicht finden würde. Natürlich hatte ich Bedenken, als ich zu dir gezogen bin, aber ich habe sie abgetan. Ich habe mich daran festgehalten, dass er fünf Jahre nicht wusste, wo ich war.“
Thomas fuhr sich nervös durch die Haare und lockerte seine Krawatte. Sie konnte sehen, wie es in seinem Kopf arbeitete.
Plötzlich gab es ein lautes Klirren. Mia klammerte sich an Thomas. Ihr entfuhr ein Schrei. Das große Panorama-Fenster im Wohnzimmer lag zerborsten vor ihren Füßen. Spitze Kanten und Ecken lagen verstreut auf dem Teppich. Mittendrin ein Stein. Ein Zettel war an ihm festgebunden. Mia wusste sofort, dass Rick dafür verantwortlich war.
„Du gehörst mir, denk dran!“, las Thomas. In Mia tobte die Angst. Rick wollte sie wieder haben. Komme, was da wolle.


© a.k.heidmann


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