Sein Name war „Fritz“, aber alle nannten ihn „Hannes“. Keiner wusste wirklich, wie es dazu gekommen war. Am ehesten noch hielt sich die Erklärung, jemand habe irgendwann einmal gesagt: „Hannes, ja der kann es!“ Und das stimmte. Hannes war schon immer die Anlaufstation für ungelöste Probleme. Er war der Fährmann auf der Seilfähre.

Besonders in den Abendstunden kam schon mal jemand, um nur so mit ihm über den Fluss zu fahren. Es waren stille Minuten, in denen der Strom unter der Fähre dahin zog und sie im gemächlichen Tempo auf die andere Uferseite schob. Manchmal verzauberte ein roter Sonnenuntergang die Fahrt. Hannes schob dann seine speckig abgegriffene Schiffermütze nach hinten, lehnte mit dem Rücken neben der geöffneten Türe am Fahrstand und schaute nach oben zum dicken Drahtseil, das den Fluss überspannte. An ihm liefen auf Rollen zwei Schleppseile, die unten mit der Fähre verbunden waren. Die untergehende Sonne hatte Hannes im Rücken. Er kannte seine Sonnenuntergänge. Die wenigen Fahrgäste standen ihm gegenüber und schauten verzückt in die Abendstimmung. Am Bug plätscherten die Wellen.

Gelegentlich stand auch ein Auto auf der Fähre. Die jungen Leute blieben meist im Wagen sitzen. Wenn dann die Lautsprecher dröhnten, ging Hannes hin und schlug mit seiner breiten Pranke auf das Autodach, dass es krachte. Sofort war Ruhe und man hörte die Fahrtwellen wieder. Ohne Sonnenuntergang ließ er sie dröhnen, ging am Wagen vorbei und schaute durch die Windschutzscheibe. Meistens wurde es auch dann still. Hannes war eine Instanz. Das galt für alle, die ihn kannten. Aber auch die Anderen waren von seiner Erscheinung beeindruckt. Er passte gerade mal so durch die Türe seines Fahrstandes. Seinen Kopf musste er nach vorne neigen, wenn er hinein ging. Über der schwarzen Hose trug er ein verblasstes, blau-weißgestreiftes Fischerhemd mit stets offenem Kragen, aus dem ein Büschel seiner grauen Brusthaare hervorquoll. „Hannes, wenn du die Streifen nicht mehr siehst, dann musst du es waschen“, hörte er öfter. Hinter seinem grauen Vollbart konnte man dann ein leichtes Grinsen vermuten.

Hatte er während der Überfahrt alle abkassiert, dann störte es ihn nicht, wenn jemand an Bord blieb und nicht über die heruntergelassene Ausfahrtklappe von der Fähre ging. Manche fuhren so mit ihm mehrmals über den Fluss. Er lächelte dann.

Auch heute Abend lächelte er, als Renate zu ihm auf die Fähre kam.
„Wo hast du denn dein Fahrrad gelassen?“, fragte er, denn sonst kam sie immer zu dieser Zeit, um noch einmal drüben in der alten Fischersiedlung am Fluss ihre Mutter zu besuchen. Vor ein paar Jahren hatte Renate Peter, den Sohn des Dorfschmiedes, geheiratet. Auf der anderen Seite, gute zwei Kilometer vom Fluss entfernt, standen ein paar Bauernhäuser, die Kirche in der Mitte und die Schmiede. Sonst gab es da nur das Gasthaus an der Straße, von dem man sagte, es sei das älteste Gebäude im Dorf. Das Fährhaus, in dem Hannes wohnte, lag am Fluss und gehörte zur Fischersiedlung. Die meisten der wenigen kleinen Fischer-Häuschen waren zu Ferienwohnungen umgebaut worden. Gelegentlich angelte noch jemand.

„Ich bin gelaufen, Hannes“, sagte sie und lehnte sich an den Fahrstand. Ein Auto ratterte über die Rampe und blieb vor der Schranke stehen. Hannes kassierte und kurz darauf legte die Fähre vom Fluss geschoben ab. Nach ein paar Minuten stiller Überfahrt verließ der Wagen die Fähre und Hannes blieb mit Renate zurück.

Nun saßen sie auf der kleinen Bank neben dem Fahrstand und schauten auf den Fluss, der mit kräftiger Strömung an ihnen vorbeizog.
„Warum hast du eigentlich nie geheiratet?“, fragte Renate. Hannes schaute gedankenverloren eine Weile auf die Verwirbelungen des Wassers, die an vielen Stellen kleine Strudel bildeten.
„Weiß nicht“, antwortete er, „hat sich nicht ergeben“.
Er kannte solche Besuche von Leuten aus dem Dorf. Sie kamen, um bei ihm über ihre Sorgen zu sprechen, auch über ihre Hoffnungen. Deshalb schwieg er. Renate würde schon anfangen.

„Bei mir hat sich das nicht ‚ergeben’“, brach es aus ihr heraus. „Ich ‚wollte’ den Peter heiraten, weil ich ihn liebte!“ Sie war erschrocken über ihre Heftigkeit und fasste Hannes fest am Arm. Der spürte, wie die kleine Hand zitterte und sich an seinem Arm festhielt wie an einem Rettungsring. Sie schauten beide auf den Fluss und schwiegen. Renate lockerte ihren Griff, ließ aber die Hand auf Hannesens starkem Unterarm liegen.
„Ich weiß“, sagte er nach einer Weile.
„Ach du weißt gar nichts“, fuhr Renate auf und entschuldigte sich sofort dafür. „Hannes, ich wollte Kinder und habe damals meinen Job in der Stadt aufgegeben. Aber Peter meint, dass die Zukunft der Schmiede ungewiss sei und vielleicht müssten wir fortziehen. Da würde uns ein Kind nur ein Klotz am Bein sein. Hannes! Hörst du? Ein Klotz am Bein hat er gesagt. Ist das nicht schrecklich? Vielleicht bin ich ja auch nur so ein Klotz für ihn?“ Sie sank in sich zusammen und atmete tief. Er spürte, wie sie sich bemühte, die Fassung zu bewahren. Aber er sagte nichts, denn sie war noch nicht zu Ende gekommen. Mit einem Mal reckte sie sich auf und schaute Hannes ins Gesicht. Aus ihren Augen funkelte Empörung. „Stell dir vor, auch eine Arbeit in der Stadt für mich zu suchen, das ginge nicht. Ich müsste im Geschäft sein, wenn er bei den Kunden arbeite. Er macht jetzt draußen auch Schlosserarbeiten und Wasserinstallationen. Die Schmiede alleine bringt es nicht mehr.“ Sie schaute weg von Hannes - irgendwohin - aber sie sah hier nichts. „Ich habe aber doch Peter geheiratet und nicht diesen blöden Handwerksbetrieb.“ Mit einem hoffnungslosen Seufzer sank sie in sich zusammen und stille Tränen begannen aus ihren Augen zu fließen. Der Fluss verschwamm vor ihrem Blick zu einem einzigen Tränenmeer.

Hannes legte seinen Arm um ihre Schultern. Ihr Kopf sank auf seine Brust und wie ein Dammbruch begann sie zu schluchzen. Hannes schaute auf das Wasser und drückte das zitternde Bündel in seinem Arm fest an sich. Langsam erschöpften sich das Zittern und die Tränen, so als wäre ein See leer gelaufen.

Die Sonne hatte fast den Horizont erreicht. Einige Radfahrer mit Gepäck fuhren auf die Fähre, erklärten, dass sie in ein paar Kilometern am Ende ihrer heutigen Etappe angekommen sein werden und wurden dann von der friedlichen Stimmung der abendlichen Überfahrt eingefangen.

Renate war aufgestanden, hielt sich mit beiden Händen am Geländer der Fähre fest und schaute scheinbar ziellos in die untergehende Sonne. Sie sah sich und ihre Träume mit ihr untergehen. Und doch fühlte sie die Kraft des Stromes, der die Fähre zum anderen Ufer trug. Sie drehte sich um und sah hinauf zum dicken Drahtseil, an dem die beiden Halteseile mit der Fähre entlang glitten. So fühlte sie mehr als sie sah. Ihr ganzes Leben lang war sie mit der Fähre gefahren, aber heute war es anders. Heute war sie mit ihrem ganzen Leben hier unterwegs.

Nach dem Anlegen trat Hannes neben sie. „Wolltest du nie fort von hier?“, begann sie das Gespräch wieder.
„Als ich noch Fritz hieß…“, begann Hannes.
„Jetzt verarsch mich bitte nicht!“, unterbrach Renate ihn.
„Doch! Ich heiße eigentlich ‚Fritz’. Johannes hieß mein Vater.“
Renate stieß ihm mit ihrem Ellenbogen in die Seite und schaute mit dem Anflug eines Lächelns zu ihm auf.
Hannes begann noch einmal: „Also - als ich noch Fritz hieß, wollte ich nach der Schule fort und heuerte dann auch in Duisburg als Schiffsjunge bei einem Binnenschiffer an. ‚Partikulare’ nannten sich die Schiffseigner, die mit ihrem eigenen Frachtkahn den Rhein und alle anderen Flüsse und Kanäle befuhren.“ Sie setzten sich wieder auf die Bank und Hannes erzählte weiter. „Ich befuhr die Welt zwischen Rotterdam und Basel. Später machte ich mein Binnenschifferpatent und dann wurde es doch immer schwerer, eine Heuer zu finden. Und so romantisch, wie ich es einmal erwartete, war es dann auch nicht. Aber ich hatte noch meinen Traum von der weiten Welt.“
Renate hörte ihm aufmerksam zu und vergaß schon bald ihr Unglücklichsein, als Hannes erzählte, wie er das Einerlei auf den Frachtkähnen leid wurde und in Rotterdam auf einem Containerschiff anheuerte. Als Matrose hatte man ihn genommen. Aber nur, weil er den Billiglohn akzeptierte, den man der sonstigen Mannschaft zahlte, die ausschließlich aus Asiaten bestand. Nur der Kapitän und die Offiziere waren Europäer. Sie verließen Rotterdam auf der Route durch das Mittelmeer, den Suez-Kanal und weiter bis Singapur. „Dann fuhren wir auf der gleichen Route zurück“, erzählte Hannes. „Aber außer dem Schiff und dem Wasser habe ich fast nichts gesehen. In den Häfen wurde entladen und beladen und schon ging es weiter. Ich glaube, ich war nur einmal an Land. Aber frag nicht wo. Ich habe es vergessen.“
„Und dann?“ Renate fand seine Geschichte spannend.
„Dann“, erzählte er weiter, „waren wir zurück in Rotterdam und da lag ein Brief vom Amt. Mein Vater, der Fährmann, sei im letzten Monat verstorben und ob ich die Fähre weiter betreiben wolle, es fände sich sonst niemand. Dass mein Vater gestorben war, hatte mir die Reederei schon auf der Fahrt durchgeben lassen. Damals hatte ich die Seefahrt verflucht.“ Hannes machte eine Pause. „Ja Mädchen“, er legte wieder seinen Arm um sie, „ich hatte zugesagt, weil ich es meinem Vater wohl schuldig war und weil ich froh war, wieder ein Zuhause zu haben. Weit in der Welt ist es auch nicht besser als hier.“
„Hannes“, Renate schaute zu ihm auf, „das habe ich ja alles gar nicht gewusst. Ich dachte, du bist schon immer hier.“
„Ich war auch nie wirklich weg“, sagte der Fährmann mit einem breiten Grinsen im Gesicht, „ich habe ja bloß mal ein bisschen aus dem Fenster in die Welt geschaut.“

Die Sonne war inzwischen untergegangen.
„Komm Kleines, für heute ist hier Feierabend. Ich bringe dich ins Dorf zurück und wir trinken mit Peter noch ein Bier.“
Renate sprang auf, so als habe sie auf der Fähre eine neue Lebendigkeit zurückbekommen.
„Ja Hannes! Komm, das machen wir.“

Copyright Gerhard Falk, 2011


© Gerhard Falk


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