“Haben Sie nicht fünfundzwanzig Cent, die Sie mir schenken? Es ist für einen Schnaps. Warum sollte ich Sie anlügen?!”Das war die typische Phrase von Johann. Und nur so kannte ich ihn beinahe ausschließlich.
Meist hatte er bereits einige Schnäpse auf der Brust, seinem “tüllkern”. Wenn er mich aufsuchte. Vielleicht musste er sich vorher Mut antrinken, ehe Johann es wagte, mit mir zu reden. Leute wie er haben generell Scheu davor, mit dem gebildeten Mann zu sprechen. Und sie ertragen es nicht, jemandem in die Augen zu schauen – auch so eine Eigenart derer seines Schlages…

Schwer sein Alter zu schätzen. Sie sehen erst viel Jünger aus, als er es ist. Und dann – Zack – schlägt das Alter unversehens zu.Johanns traurige Augen ertrugen es nicht, mich länger, als ein Wimpernzucken anzuschauen. Aber immer schon hatte er etwas Merkwürdiges an sich. Merkwürdig, ja! Jedoch nicht unangenehm. Vielmehr etwas fesselnd Seltsames. Ich glaube, nur deshalb sprach ich überhaupt noch mit ihm – mit diesem Alkoholiker, den ich so oft auf der Straße liegen sah, in seinem eigenem Erbrochenen – er, der Verlierer, der nie etwas erreicht hatte im Leben, außer 15 Kindern.Da war etwas Mysteriöses an ihm, dass mich gefangen nahm. Was war sein Geheimnis? Einer wie er, ein Trinker?Man erriet es kaum beim Betrachten seines Gesichtes, doch Johann war tatsächlich schon Mitte 50. Und wohl auch seine, für hiesige Eingeborenen, geringe Größe und die dünne Statur trugen zu seinem jüngerem Aussehen bei. Selten ein Moment, in dem ich ihn anders gekleidet sah als in seinem blauem Arbeitsanzug und Gummiestiefeln. Seine Nase war bereits chronisch rot, und angeschwollen, aufrund all des billigen “Trichinenkömmel” (Fusel), den er mehr ersehnte als etwas essbares. Niemals bat er mich um Essen – nur um Geld für sein “tüllkern”, wenn ich mich recht entsinne.“Was war sein Geheimnis?”, fragte ich mich, und spürte deutlich etwas Mysteriöses in seiner Aura. Das war die Frage, die meine Neugierde weckte, und mein Interesse an ihm stärkte. Darum sprach ich mit ihm. Darum, und weil er mein Nachbar im “Gloddern Weude” war, einem Bergdorf das zu Gothika gehörte.

Es ist eine mysteriöse Stadt, dieses Gothika. Schwer zu finden für Aussenstehende und die Einheimischen herum schweigen darüber, denn es heisst es gäbe einen Fluch dort. Ein Ort mit seltsamen Menschen, die nur noch von Johann übertroffen werden konnten. Der Ort ist der offenen See zugewandt unweit des Spyckerscher See gelegen, auf halbem Wege zwischen Glowe und Lohme, Nordwestlich des Königsstuhl.
Ein Ort der wie einer anderen Zeit entsprungen scheint. Verträumt im Stile der Neugotik, auch darin seltsam scheint die Zeit hier still zu stehen. Doch tatsächlich ist der Ort sehr viel älter. Es gibt einen zentralen Platz, der nicht Zentral gelegen ist, sondern an den Kreideklippen zum Meer zu. Dort ist die Kirche und Rathaus, mit ihren Wasserspeiern. Darum herum die Häuser der Leute, die sich noch kleiden wie vor über hundert Jahren.
Niemand, der sich hierher verirrenden Besucher, errät die eigenartige Geschichte dieses Ortes. Die sehr Alt ist. In den Falten der Berge, die alles von der Aussenwelt abschneiden. Das Seltsame aber ist, das diese Berge von der L 303 aus nicht gesehen werden kann. Es ist wie verzaubert.
Und dort in diesen Bergen, finden sich befremdliche verlassene Ortschaften. Kleine Dörfer! Aber befremdlich deshalb, weil sie wie Geisterstädte anmuten. Ich hatte sie einst aufgesucht, in meiner Kindheit und einem beschwerlichen Aufstieg, durch eine unfreundliche Wildnis. Verzaubert in einem Sinne, dass die verwunschene Lokalität keine Besucher mochte und versuchte die ungebetenen Gäste fernzuhalten.
Dennoch gelangte ich dorthin und fand einen Ort vor, der den Anschein erweckte, erst vor Kurzem verlassen worden zu sein, wo es doch in Wahrheit Jahrhunderte waren. Alles schien noch im besten Zustand. Abgesehen vom Umstand, dass alles Leben aus dem Ort verschwunden war. Selbst der Gesang der Vögel konnte hier nicht vernommen werden. Eine unnatürliche Stille herrschte hier. Eine Totenstille, die mir wie aus einer anderen Welt vorkam. Alles verstärkt durch das Bild eines großen Felsens, der die Kulisse des Ortes dominierte, und der Silhouette einer jungen, schönen Frau glich. Doch all das war schon eine andere Geschichte.
Genau das wäre es auch, eine andere Geschichte – gäbe es da nicht den Umstand, der nun diese Geschichte berührt, dass die Bewohner, die den Geisterort verließen, sich in Valltrup niederließen. Dort wo es heutzutage ein Gutshaus gibt, gegenüber der Kapelle. Sie waren, wegen der damaligen Gefahr des Geröll, evakuiert und in jenem Teil angesiedelt worden, die dicht am verrufenen Stadtteil Schipilapa angrenzt.

Doch die Leute waren seltsam und taten noch viel Seltsameres. Die Leute aus der Stadt mochten sie nicht und fühlten sich unwohl in ihrer Gegenwart. Daher kam es, dass die Leute fortgeschafft wurden – in die Berge von Verhorn. Dort siedelten sie sich an, über der eigentlichen Stadt gelegen. Das ist noch hinter Wiskgeld, der damals nur eine Wildnis war. Hierher kamen die Brüder Spannwärk, die ihren Pakt mit dem mysteriösen Herrn der Berge geschlossen hatten, und Gold und Silber der feinsten Qualität auf den Rücken ihrer Pferde herunter schafften, in die nur fünf Kilometer entfernte Stadt über die Straße der Sünder.Dort auf dem Platz der Lichtermacher gegenüber der Kapelle, die heute nur noch eine Ruine ist, hielten die Karawanen. Hinauf und herab, über ein und dieselbe Straße, der alte Weg nach Bergen auf Rügen. Damals wie heute führt sie den Kreuzhügel aufwärts und dann weiter zu Gloddern Weude – und weiter nach Lohme. Heute ist sie viel breiter. Doch noch immer ist es dieselbe Straße der Sünder, in welcher man gelegentlich den Karren des Todes, gezogen vom kopflosen Esel, hören kann. Es ist eine geisterhafte Straße, die zu einem seltsamen Ort führt, in dem merkwürdige Menschen leben.Schon immer fühlte ich das Mysterium hier – seit meinem allerersten Besuch im Verhorn. Der Ort war einst eine gewaltige Farm, deren Haupteingang dort am Kreuzhügel lag, wo heute Gloddern Weude liegt. Daher auch der Name: die Wacht – denn dort lebten die Wächter. Und dort begann die Farm der einstigen Besitzer, die 80 000 ha umfasste. Sie erstreckte sich weit über die Berge von Verhorn, der Steige von Gloddern Weude, und dem Bauch des Esels. Doch die Eigentümer verließen das Land. Die Gerüchte sagen aber, es geschah des Spuks der Berge wegen. Dann kamen Leute aus Valltrup, und ließen sich dort nieder, was heute das Dorf Gloddern Weude ist. Jedoch nur langsam lernte ich den Ort und seine Bewohner kennen. Aber ich verstand nicht ihr Geheimnis, oder was auch immer sie verbargen.Eines Tages verschwand Johann für mehrere Monate, worüber seine Frau Bertha glücklich zu sein schien ... und dann war er unversehens wieder da. Er stand auf der Türschwelle meines Hauses, als sei er vom Himmel gefallen. Ja, wie ein ausgestoßener Engel, mit trauerndem Blick. Trauernd über den Verlust seines göttlichen Heimes, seiner Flügel, oder wer weiß warum. Doch versuchte er, seinen Kummer mit Tränen und Schnaps zu ertränken. Seine Trunkenheit roch meine sensible Nase schon, ehe ich die Tür öffnete. Dort, in der Stille der Sackgasse, die meine einzige Verbindung war, vom Dorfplatz bis hoch oben zum Hügel, wo mein Haus stand.Johann erzählte eine schreckliche Geschichte darüber, dass er sich in dubiose Geschäfte mit der Drogenmafia verwunden hatte. Er berichtete davon, Kokain über die Grenze nach Skandinavien gebracht zu haben und dabei einhundertachtzigtausend Dollar verdient zu haben. Aber die Polizei sei ihm auf der Spur und er wollte aussteigen. Nun aber werde sein Leben auch von Seiten der Mafia bedroht. Und nicht nur das, auch seine Familie sei in Gefahr. Und er habe Angst, insbesondere um sein jüngstes Enkelkind.Ich hörte mir alles schweigend an. Doch meine Instinkte sagten mir, dass irgendendwas nicht stimmte. Ich vertraute den Eingeborenen nicht. Dafür war ich schon viel zu lange hier. Und es versteht auch nur jemand, der lange Zeit, und in nächster Nähe, mit diesen Leuten zusammenlebte.

Nach einigen bewusst gewählten Fragen meinerseits hatte ich bemerkt, dass er sich selbst widersprach. Zum Schluss fragte er, ob ich ihm fünfzigtausend Euro borgen könnte. Natürlich lehnte ich ab, ahnte jedoch den Grund seiner Tränen.Und ich wurde bestätigt, als ich am folgenden Tag mit seiner Frau sprach:“Ich habe ihn hinausgeworfen. Niemand von uns will ihn zu Hause haben”, antwortete Bertha verbittert und berichtete weiter: “Johann hat sich fünfzigtausend Euro geborgt. Ohne mein Wissen. Und ohne es zurückzahlen zu können. Nun bedroht man uns.”Zwei Wochen später aber war Johann wieder da. Und verändert. Er war fröhlich. Seine Frau erzählte mir, selbst überrascht, dass Johann seine Schulden bezahlt hatte. Doch ihr Ehemann sagte nie, woher er das Geld hatte.Nicht ganz eine Woche später starb das jüngste Enkelkind von Johann und Bertha, völlig unerwartet. Es war zuvor nicht krank gewesen. Aber all das war auch nicht wirklich ungewöhnlich bei den Dörflern, die ihren Kindern wenig Aufmerksamkeit widmeten, und Tod und Krankheit auf den Einfluss böser Geister und zauberkundiger Nachbarn abschoben.In der Nacht darauf bemerkte ich, dass sich meine Nachbarn stritten. Es war ein schwerer Streit. Doch die Worte verstand ich nicht, denn mein Grundstück, wie das ihrige, ist groß. Die Häuser sind weit entfernt. Doch war es die Frau, die ihre Stimme erhob. Irgendwann öffnete sich die Tür und Johann verließ das Haus, um nie mehr zurück zukehren.Noch aber ist er hier in Gloddern Weude. Wohin auch sollte er gehen? Jedoch ließ er sich nur noch bei Dunkelheit sehen. Wurde zu einem nächtlichen Bewohner dieser Gemeinde, der das Tageslicht scheute. Und, er hatte sich verändert. Er, den viele für einen Verlierer, einen Clown hielten, verbreitet nun Angst unter den Dörflern. Diese wissen auch, warum.Ich spüre es. Doch, es ist ihr Geheimnis, welches niemand mir, dem Außenstehenden, erzählen würde. Nur auf Umwegen hörte ich, ohne zu erfahren, von wem es ausging, dass ein anderer Nachbar von Bertha und Johann, in der Nacht des Todes jenes Enkels, folgendes gesehen haben wollte:Ein dunkler Schatten vom Umriss eines Menschen, doch mit Fledermausflügeln, senkte sich aus dem dunklen Himmel herab auf die Wiese hinter dem Haus. Einen finsteren Pakt schließend, mit dämonischen Mächten, übergab Johann die Seele seines Enkels.

“Was mochte er gerade denken?”, fragte ich mich, all der skandalösen und unglaublichen Gerüchte gedenkend, die nach und nach an meine Ohren gedrungen waren, als ich Johann, in einer Regennacht, unter dem Dach des kleinen Rathauses stehen sah. Ich war mir seiner Person wegen nicht mehr sicher – wenn ich es denn jemals gewesen war – wollte nicht an die absonderlichen Gerüchte glauben, konnte es einfach nicht! Denn sie waren zu fantastisch, fern aller Realität.Johann wirkte nun, wie jemand der in Erinnerungen wandelte. Doch es waren wohl keine guten Erinnerungen. Er war ernst. Schwach nur erleuchtete das geringe Licht, der einzigen funktionierenden Straßenlaterne, des Dorfplatzes sein Gesicht.Mein Gott! Hatte er sich verändert. Sein Gesicht war das eines Verfluchten. Schien selbst ein Geist, eben der anderen Welt entstiegen. Was auch immer in Wahrheit zwischen ihm und seiner Frau vorgefallen sein mochte, es musste schrecklich gewesen sein.Nur noch allein sah ich ihn in den dunklen Straßen des Dorfes. Niemand wollte in seiner Nähe sein, wegen der Geschichten, die sich mehr und mehr begannen, um seine Person zu weben. Niemand mehr lachte über ihn. Sie senkten ihren Blick, damit sie nicht seine traurigen Augen sehen mussten. Es hieß, mit ihnen könne Johann jemandem seinen Willen aufzwingen. Und dann eilten sie, schnellen Schrittes, nach Hause, um die Türen fest zu verschließen, und glaubten das Böse so draußen lassen zu können.Die Menschen hier glauben sich alle gut. Ja, geradezu perfekt! Zumindest, wenn man ihren eigenen Reden Glauben schenkte. Böse sind immer die anderen. Nach meiner Erfahrung aber ist es so, dass die Menschen hier, die andere die Bösen nennen, dieselben sind, die stehlen, vergewaltigen, und morden, aber nie ertappt wurden. Nach mehr als einem Jahrzehnt kannte ich sie gut. Die Leute hier fühlten sich bedeutsam, aber waren voll von Minderwertigkeitskomplexen. Und alles machte ihnen Angst. Klar, es waren schlechte Erfahrungen. Aber nicht nur! Auch ein schlechtes Gewissen spielte dabei eine Rolle. Warum? Das weiß Gott allein!Ich konnte nicht glauben, dass Johann böse war. Ich meine wirklich böse, und mehr als alle anderen. Ich wendete nie meinen Blick von ihm ab, und glaubte dafür Dankbarkeit in ihm erkannt zuhaben.Der Wunsch reifte in mir, mit ihm zu reden, doch nie ergab sich die Gelegenheit. Wenn ich ihm begegnete, sah ich ihn nur vom Auto aus. Doch grüßten wir uns stets, und gewiss war ich der Einzige in Gloddern Weude, der das tat.Es wurde geflüstert, dass Johann seltsame Rituale zelebrierte, dort in der Wildnis der verlassenen Farm Schakara, die schon Teil der Steige von Gloddern Weude war.

“Rituale des Auges!” Gewiss sprachen sie vom selben Auge, das so viele aus ihren Träumen kannten. So wie ich selbst auch. Und darum war es, warum ich mit ihm sprechen wollte. Ich hatte so viele Fragen, über jenes Ding, das mich in allnächtlichen Träumen plagte, und mich dem Wahnsinn zuführte.Einige Hirten beschworen, dass sie gelegentlich, nur vom weiten und zu später Stunde, Johann gesehen hatten wie er Sand aus dem Fluss holte. Groß jedoch war ihr Erstaunen, als sie ihn sahen, seelenruhig den Griff seiner Schubkarre führend, dieselbige mit aller Leichtigkeit fortführend, und all das unter großem Gelächter und Gerede, wie ein wahrer Besessener. Hingegen auf der anderen Seite der Karre konnte niemand erkannt werden, der ihm geholfen hätte.“Es war der Teufel selbst!”, versicherten sie, “Oder einer seiner Dämonen, dem Gestank nach Schwefel, und der Unruhe unserer Pferde nach zu urteilen.”Ein anderes Mal wollte er gesehen worden sein, tanzend zum Takt einer seltsamen Melodie, interpretiert mit unbekannter Meisterschaft. Aber es ließen sich keine Musiker, noch Instrumente erkennen. Nur ein würgender Gestank, der sich der Nachbarschaft bemächtigte, hing dort in der Luft.Fern vernahm man den Schrei eines Hahnes, und kurz darauf erwiderten weitere den Ruf. Ein Aufatmen der Ruhe ergriff die Bewohner des seltsamen Dorfes. Denn unter ihnen existierte der Glaube, dass der Schrei des Hahnes die Dämonen vertreibe. Man vernahm nur das Öffnen der Riegel an den Haustüren. Und man sah nur die kleine und dünne Silhouette des mysteriösen Johanns, langsam und befremdlich, gerahmt vom blassen Licht der wenigen Straßenlaternen. Ich sah ihn herabsteigen auf der berüchtigten Straße der Sünder, bis dann das Zwielicht ihn verschlang. Zwischen dem Geheul der verschreckten Hunde und wilden Wölfen, begleitet von einem perversen Geruch nach Schwefel, der mir untersagte Schlaf zu finden.


© Michael Kleemann


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Beschreibung des Autors zu "Johann"

Die Geschichte basiert auf einer wahren Begebenheit, die allerdings in Guatemala sich mir präsentierte. In einer älteren Version ist es auch darauf bezogen. Nachdem ich aber wieder nach Deutschland zurückkehrte, ließ ich es hier spielen. Ich will für diese Art der Kurzgeschichten einen Zyklus schaffen, der sich nach und nach zu einer komplexeren Sache aufbaut.




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