Es ist kalt. Eiskalt. Sie läuft mit eingezogenem Kopf durch den Novemberregen. Es ist erst Nachmittag, und doch ist die Sonne schon hinter den Häusern am Horizont versunken. Auf den nassen Straßen herrscht reges Treiben. Menschen huschen über die Straße, auf der Flucht vor den kalten Tropfen. Ein Hund ist neben dem Eingang des Supermarktes angebunden. Er bellt als sie vorbeiläuft. Sie schenkt ihm keine Beachtung. Auch der Mann in dem feinen Anzug, der fluchend aus seinem Porsche steigt und sich die Aktentasche schützend über den Kopf hält, wird nur kurz belächelt. Sie empfindet schon lange nichts mehr. In ihrem Herzen ist nur diese unendliche Leere, die sie seit Monaten quält. Und immer wieder die heißen Nadelstiche des Neids, wenn sie die verliebt lächelnden Pärchen auf der Straße sieht. Sie weint nicht mehr. Die letzte Träne ist längst getrocknet, ihr Körper erschöpft, die Nerven strapaziert. Lange kann sie es nicht mehr durchhalten. Heute liegt ihre Hoffnung auf ihrer besten Freundin. Sie hat sich widerwillig verabredet, wollte lieber zuhause bleiben und sich in Selbstmitleid ertränken. Aber jetzt läuft sie doch ihre Straße entlang, durch den eiskalten Regen. Ein Tropfen löst sich von ihrem Pferdeschwanz, läuft durch den Kragen der Lederjacke ihren Rücken hinunter. Sie schaudert, Gänsehaut breitet sich auf ihren Armen aus und sie zieht sich weiter zurück in ihre Jacke. Als sie ankommt ist sie völlig durchnässt. Widerwillig zieht sie die vor Kälte steife rechte Hand aus der Jackentasche und klingelt. Auf den kurzen schrillen Ton folgt Hundegebell, wenig später öffnet sich die Tür. "Hey Vanni" Nora lächelt sie an. Vanessa betritt den kleinen Flur und schält sich aus der tropfenden Jacke und den feuchten Turnschuhen. "Wie geht`s dir?" Die Frage ist nett gemeint. Doch sie antwortet schon lang nicht mehr darauf. Was soll sie auch sagen? `Gut` wäre gelogen und `Scheiße` würde nur wieder zu einem unangenehmen Gespräch führen. Diese Art Gespräch hat sie in den letzten Monaten zu oft führen müssen. Mit ihrer Mutter. Mit ihren Freundinnen. Alle wollen sie alles haarklein wissen. Wie es ihr dabei geht, das fragt niemand.
Die Freundinnen betreten Noras Zimmer. In den letzten Jahren hat sich hier einiges verändert. Früher wohnte Nora noch oben in dem jetzigen Arbeitszimmer ihres Vaters, nach einem Umbau bekam sie jedoch die beiden leerstehenden Zimmer im Erdgeschoss. Die ehemalige Küche und ein kleines Wohnzimmer. Seit kurzem ist Noras Reich neu eingerichtet. Neue Möbel und apfelgrüne bzw. lila Wände schaffen ein besonderes Ambiente. Vanessa fühlt sich wohl bei ihrer Freundin.
Sie macht es sich wie immer in dem großen gemütlichen Schreibtischstuhl bequem und hofft, dass die Stunden schnell verstreichen und sie sich wieder Zuhause in ihrem Bett verkriechen und dem Regen lauschen kann.
Eine Stunde später. Nach einem frustrierenden Gespräch steht Nora plötzlich auf und schaltet den PC an. "Ich glaub ich weiß, was dich aufmuntert!". Vanessa schüttelt traurig den Kopf. Als ob sie irgendetwas glücklich werden lassen könnte. Wenig später steht Fabio in der Tür. Und bei den ersten Tönen seiner Stimme füllt sich ihr gefrorenes Herz wieder mit Wärme...


© AnnelieseBraun


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