Ich war deprimiert, vielleicht sogar depressiv. Ich war am Boden zerstört. Ich hatte aufgehört zu existieren. Mein Leben war vorbei.
Ich wurde von meinen besten Freunden verraten und das ist erst ein paar Tage her. Wir waren eine Clique, fünf Leute, zwei Mädels. Ich tat damals alles, um aufgenommen zu werden. Sie waren die coolsten Leute der ganzen Stadt. Sie regierten sie quasi.
Wie auch immer, sie haben mich verraten und hinterrücks aus der Clique geworfen. Wir haben mal wieder zusammen Mist gebaut und nun war uns die Polizei auf den Fersen. Wir konnten uns ziemlich lange verstecken, doch irgendwann wurden wir in die Ecke getrieben und gefasst. Bei uns gab es eine goldene Regel: Wir verraten unsere Mitglieder nicht. Zumindest dachte ich das. Doch die Realität sah anders aus. Alle haben mich verraten. Ich musste den ganzen Mist alleine durchstehen. Ich durfte für alle Dinge gerade stehen. Ich musste für Sachen büßen, die ich nicht begangen hatte.
Mit anderen Worten: Mein Leben war am Ende.
Nachdem ich meine Strafe verbüßt hatte, konnte ich mich in der Stadt nicht mehr blicken lassen. Abgesehen von meiner ehemaligen Clique wurde ich auch von allen anderen Einwohnern ignoriert.

Ich zog in eine kleine Stadt. Ich mietete ein Haus abseits der Stadt, in der Nähe eines Waldes. Die Stadt hatte eine gute Infrastruktur, deshalb wunderte es mich umso mehr, dass in dieser Gegend ein so großer Wald gedeihen konnte.
Ich wollte hier neu anfangen. Ich wollte meine Vergangenheit hinter mir lassen. Doch so sehr ich mich auch bemühte, es klappte einfach nicht. Ich versuchte vergebens einen Job zu finden. Doch wo ich mich auch bewarb, ich wurde ständig abgelehnt. Und das nur aufgrund der angeblichen Straftaten, die ich begangen haben soll. So blieb ich vorerst arbeitslos. Zum Glück ging ich sparsam mit meinem Gehalt um, sodass ich über die Jahre genug Geld angesammelt hatte, auf das ich jetzt zurückgreifen konnte, um so meine Existenz zu sichern.
Nichtsdestotrotz stürzte mich das in ein tiefes Loch. Ich mied jeglichen Kontakt zu Menschen. Ich wollte keinen sehen. Ich aß tagelang nichts und tat nur das Nötigste, um mich selbst und das Haus in Schuss zu halten. Ich sah keinen Sinn mehr in meinem Leben.

Irgendwann fing ich an, um das Haus zu streifen. Ich strich mit meinen Händen über die hüfthohen Grashalme und ließ mich vom Wind einfach treiben. Zum Anfang unternahm ich nur kurze Ausflüge. Ich konnte die Fröhlichkeit der Natur nicht ertragen. Ich hasste es, länger als nur ein paar Minuten draußen zu bleiben. Ich ging meist nur ein- bis zweimal um mein kleines Häuschen herum, bevor ich mich wieder zurückzog. Doch nach und nach wurden meine Ausflüge länger und ich begann die Umgebung um das Haus zu erkunden. Ich streifte durch die angrenzenden Graslandschaften und genoss mit jedem Mal mehr die Sonne. Draußen zu sein erfüllte mein Herz mehr und mehr mit Freude. Ich fing auch wieder an etwas zu essen, um bei meinen Ausflügen bei Kräften zu sein.

Doch die Schattenseiten meines Lebens konnte ich nicht gänzlich verdrängen. Ich bekam weiterhin Absagen bei meiner Jobsuche und dazu kam, dass jedes Mal, wenn in der Stadt ein Verbrechen stattfand, die Polizisten auch bei mir auf der Matte standen. Und alles nur, wegen diesem beschissenen Eintrag in meiner Akte. Das sprach sich natürlich herum, weswegen auch die Menschen anfingen mir zu misstrauen. Ich begrub schon bald meine Hoffnung in dieser Stadt neue Freunde und damit Anschluss zu finden. Mit meiner Vorgeschichte war das einfach nicht möglich. Ich war zu einem Leben in Einsamkeit gezwungen.

Ich kompensierte diese schmerzliche Tatsache mit immer länger werdenden Ausflügen und wanderte oft stundenlang draußen herum. Manchmal kam ich auch erst mitten in der Nacht zurück, doch das störte sowieso keinen, da außer mir niemand sonst so weit abseits der Stadt wohnte. Meine nötigen Besorgungen machte ich normalerweise mit dem Fahrrad, doch ich ging nun auch immer öfter zu Fuß den langen Weg in die Stadt. Das führte dazu, dass ich sehr früh aufstand, um rechtzeitig bei den Geschäften zu sein, und demnach erst spät wieder zurückkehrte. Es machte mir jedoch weiterhin stark zu schaffen, dass mir nur Misstrauen, Angst und Verachtung entgegen gebracht wurde.

Eines Abends, ich konnte nicht schlafen, brach ich zu einer Nachtwanderung auf. Es war sommerlich warm und die Zikaden zirpten, egal wo ich hinging. Ich kannte die Gegend bereits gut genug, dass ich mich nicht verlaufen konnte, und doch war ich mir an diesem Abend nicht mehr sicher, ob ich mich noch in meiner gewohnten Umgebung befand.
Ich machte an einem großen Baum halt und sondierte meine Umgebung. Irgendwo in der Nähe stritten sich zwei oder drei Männer. Sie scheinen betrunken zu sein, da sie ihre Umgebung nicht zu erkennen schienen und wüste Beschimpfungen auf sich und ihre Umgebung losließen. Ich beschloss, die Männer ihrem Schicksal zu überlassen und marschierte in eine andere Richtung davon.
Ich achtete schon lange nicht mehr darauf, wo ich eigentlich hinging. Das war auch nicht weiter schlimm, da ich bei Tagesanbruch wieder wissen würde, wo genau ich mich befand. Ich lief einfach ziellos durch die Gegend und irgendwann kam ich an dem Waldrand zum Stehen. Ich hatte nicht vor in den Wald zu gehen, zum einen, weil ich mich dort nicht auskannte und zum anderen, weil es mitten in der Nacht war. Ich wollte umkehren, doch irgendetwas hielt mich zurück.
Ich schaute hoch zu den Sternen, die sich über den ganzen Himmel zogen. Ich ließ meinen Geist umherwandern, frei und ungezwungen. Ich schloss die Augen und merkte kaum, wie ich mich ins Gras fallen ließ. Ich verspürte keinen Schmerz, obwohl der Aufprall dumpf klang. Als ich die Augen wieder öffnete, hatte ich das Gefühl, dass der Himmel auf mich niederfiel. Die Sterne fingen an zu tanzen und kamen rasend schnell näher, bis ich von ihnen eingehüllt wurde. Ihr Strahlen blendete mich, doch ich konnte meine Augen nicht schließen. Schließlich konnte ich nur noch Licht sehen, helles, gleißendes, strahlendes Licht. Als ich wieder zu Sinnen kam, blinzelte ich mehrmals schnell hintereinander, sodass sich das Licht erst in komplette Dunkelheit verhandelte, ich doch schließlich wieder die dunklen Bäume und den mit kleinen funkelnden Sternen übersäten Himmel erkennen konnte. Ich blieb noch einige Augenblicke liegen und atmete tief ein und aus. Dann setzte ich mich auf und starrte vor mich hin, bis ich bemerkte, dass ich beobachtet wurde. Instinktiv schaute ich in den Wald hinein und suchte die Bäume ab. Ich traf auf ein Paar gelb leuchtender Augen, die mich kalt anstarrten. Mir wurde unwohl zumute, da ich nichts über etwaige wilde Tiere wusste, die hier eventuell hausten. Die Augen musterten mich von oben bis unten und schauten mir schließlich wieder starr ins Gesicht. Ich konnte mir nicht helfen, doch ich wurde neugierig. Dennoch traute ich mich nicht diesen Wald zu betreten. Ich stand auf und ging bis an den Rand des Waldes. Ich versuchte zu erkennen, wozu diese Augen gehörten, doch dort drinnen war es aus unerklärlichen Gründen stockdunkel. Es war unmöglich etwas zu erkennen. Daher drehte ich mich um und ging zurück zu meinem Haus.

Ich kam erschöpft am frühen Morgen an dem Haus an. Ich wollte nur noch schlafen. Ich ging ins Bad und drehte den Wasserhahn auf. Ich ließ das Waschbecken volllaufen, steckte mir die Haare hoch und tauchte mein Gesicht hinein. Ich öffnete langsam die Augen und spürte, wie das Wasser in meinen Augen leicht brannte. Es tat gut. Ich kam wieder zur Besinnung. Ich gönnte meinen Augen eine kurze Pause und öffnete sie dann erneut. Ich blickte in zwei große Augen, und als ich das realisierte, zog ich meinen Kopf heftig zurück, während mir ein Schrei entfuhr. Das Wasser tropfte auf mein dünnes Nachthemd, doch das war mir egal. Ich starrte nur die beiden Augen an, ungläubig, dass sie wirklich existierten. Ich machte einen Satz an die Wand, als die Augen von Wasser umspült hervortraten und sich ein Kopf samt Nase und Mund bildeten.
Das Wesen schaute mich an und ich starrte ungläubig zurück. Es hatte jetzt sogar einen ziemlich großen Schnurrbart und recht krauses, dünnes Haar. Die Erscheinung wirkte irgendwie fast lächerlich.
Langsam erholte ich mich von dem Schock, dass ein Wesen aus Wasser vor mir erschienen ist. Dennoch konnte ich keinen klaren Gedanken fassen und es beunruhigte mich, von diesem Wesen angestarrt zu werden. Ich griff blind nach einem Handtuch und trocknete mir das Gesicht ab. Ich hielt kurz inne, das Gesicht im Handtuch vergraben, und hoffte, dass das Wesen verschwunden sein wird und alles nur Einbildung war. Doch als ich das Handtuch fortnahm, war mein Besucher noch immer da. Ich seufzte.
Es schaute mich immer noch an und plötzlich erstreckten sich aus dem Wasser zwei Hände und Arme, die bis zu mir reichten. Sie waberten vor mir in der Luft und kamen immer näher. Ich streckte meine Hände zur Wand aus, presste sie dagegen und drückte mich dann auch mit dem Rücken so nach wie möglich an sie. Die Hände wabbelten immer noch unaufhörlich näher. Ich schloss die Augen und gab ein leichtes Wimmern von mir, als sie schließlich nach meinen Händen griffen und sie zwischen uns zog. Ich öffnete überrascht die Augen und sah, dass das Wesen sie immer noch festhielt.
„Guten Tag, Miss.“
Ich blinzelte perplex. Hatte das Wesen gerade wirklich gesprochen oder war das nur meine Einbildung? Ich kam zu dem Schluss, dass mir zu viel Schlaf fehlte. Doch aus irgendeinem Grund begann ich mit dem Wesen zu sprechen.
„Guten Tag. Wer sind Sie? Oder was?“
„Ich bin ein Wassergott. Mein Name ist Lapu. Ich lebe in dem Bach, der diese Haus speist.“
„Ein Bach? Mir ist hier nichts als Gras aufgefallen.“
„Ja, ja, meine Liebe. Das Gebiet ist groß. Vor allem der Wald ist größer, als er scheint.“
„Was wollen Sie dann von mir?“
„Ich möchte, dass Sie uns Glück bringen, was denn sonst? Wir wollen endlich wieder glücklich sein!“
Das Männchen nahm einen träumerischen Ausdruck an, bevor es mich wieder mit großen Augen anschaute. Seine Hände und Arme schwanden wieder ins Wasser zurück und ich fing an, mich langsam zu entspannen. Ich rieb mit zwei Fingern über meine geschlossenen Augen und seufzte tief.
„Was soll ich tun?“
Das Wesen schaute mich einen langen Moment an, doch dann schüttelte es seinen wässrigen Kopf.
„Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass etwas getan werden muss, sonst gehen wir alle zugrunde.“
„Wer ist ‚wir’?“
„Wir Götter und... Nun, in der Menschenwelt werden wir auch Zauberwesen genannt. Allerdings ist das nicht ganz richtig. Wir haben nur... besondere Fähigkeiten.“
Ich seufzte erneut. Was sollte ich nun davon halten? Ich musste nachdenken, soviel stand fest. Ich schaute das Wesen kurz misstrauisch an.
„Ich werde sehen, was ich tun kann.“
Ich bekam ein zufriedenes, breites Lächeln zur Antwort.
„Vielen Dank! Wir werden und sicherlich noch einmal sehen. Ich werde mich dann erkenntlich zeigen.“
Ich nickte und so war unsere Vereinbarung besiegelt. Das Männchen verschwand im Wasser. Es sank tiefer hinein und seine Formen verschwanden. Das erinnerte mich ein wenig an eine schmelzende Eiskugel im Hochsommer.

Ich war auf dem Weg zum Einkaufen und strich gerade durch das Gras, als ich auf etwas ungewohntes trat. Als ich meinen Blick senkte, sah ich einen weißen Umschlag, der komischerweise unbeschädigt war. Ich hob ihn auf, sah ihn misstrauisch an und öffnete ihn dann. Ich konnte nicht glauben, was ich da las: Ich hatte einen Job.
Die kleine Bibliothek lag mitten im Zentrum der Stadt. Hier sollte ich in zwei Tagen anfangen. Mir war nicht ganz klar, wie meine Bewerbung in diese belebte Gegend kam, doch ich bewarb mich sowieso überall ohne genau zu wissen, was sich eigentlich hinter dem bloßen Namen verbarg. Ich war froh, dass ich endlich angenommen wurde. Ich ging in den kleinen Laden und war überrascht, wie viel hier doch los war. Andererseits gab die Ausstattung eine ruhige Atmosphäre wieder und ich fühlte mich sofort wohl und entspannt.
Nach einer Weile verließ ich den großen Laden wieder, der von außen nicht so groß aussah. Ich ging weiter durch die Stadt und vollendete meinen Einkauf, wegen dem ich eigentlich hergekommen war. Anschließend begab ich mich auf den Rückweg.

Ich streifte durch das hohe Gras. Ich legte mich nieder und schaute in den strahlend blauen Himmel. Ich hörte die Vögel zwitschern, sah kleine Wölkchen vorbeiziehen und ich spürte das sich sanft wiegende Gras um mich herum. Ich war irgendwie glücklich. Ich hatte trotz meiner Vergangenheit einen Job bekommen. Und einen guten noch dazu. Die Atmosphäre gefiel mir sehr gut und auch die Mitarbeiter schienen sehr nett zu sein.
Ich schloss die Augen und ließ mich einfach tragen. Ich spürte die Natur atmen und sie Welt sich drehen. Es war ein schönes Gefühl. Befreiend. Beruhigend. Ich weiß nicht, wie lange ich dort lag. Das erste Mal seit ich hierher gezogen war, war ich zufrieden. Und das ohne, dass ich stundenlang umherlief und einfach alles vergaß. Ich hatte Hoffnung. Ich konnte sogar über meine Begegnung mit dem Wassergott schmunzeln. Mir war egal, ob ich mir das nur eingebildet hatte oder nicht. Es war neu, anders. Es war schön.
Als ich die Augen wieder öffnete, stand die Sonne rotgolden am Himmel. Es war später Nachmittag. Ich setzte mich auf und schaute das Gras um mich herum an. Dann drehte ich mein Gesicht zur Sonne. Ich konnte es kaum glauben, doch ich fing wieder an das Licht zu mögen.

Meine Arbeit in der Bibliothek ging gut voran. Die Mitarbeiter nahmen mich freundlich auf, auch trotz meiner Vergangenheit. Ich verstand mich mit allen gut und wir arbeiteten gut zusammen als Team. Auch die Menschen gewöhnten sich an meine Präsenz. Nach und nach beriet ich mehr und mehr Kunden. Bald schon kannte ich die Vorlieben und Lesegewohnheiten der Stammkunden und älteren Menschen, bei denen ich öfter Hausbesuche machen musste, da einige nicht mehr in der Lage waren den langen Weg auf sich zu nehmen. Ich fuhr daher auch wieder mit dem Fahrrad in die Stadt, was eine erhebliche Zeitersparnis mit sich brachte.
Durch den Job gewann ich zwar keine Freunde, doch er machte mir trotzdem Spaß. Ich lernte eine Menge neuer Leute kennen und ich hatte das Gefühl, dass das Misstrauen langsam schwand. Vor allem die älteren Menschen schenkten mir etwas von ihrem Vertrauen. Dadurch hob sich mein allgemeiner Status ein wenig. Ich war nicht mehr vollständig isoliert, was sich positiv auf mein Gemüt auswirkte. Das bedeutete jedoch nicht, dass ich meine Spaziergänge vernachlässigte.

Eines Abends war ich auf dem Weg zum Wald. Mir ging die Begegnung mit dem Wassergott einfach nicht mehr aus dem Kopf. Ich wollte diesen Bach finden.
Ich grübelte zuvor eine ganze Weile darüber nach, wo ich anfangen sollte danach zu suchen. Der Wassergott sagte etwas darüber, dass diese Umgebung und vor allem der Wals größer sein sollten als sie schienen. Da ich die Umgebung mit ihren hohen Gräsern schon ausgiebig erforscht hatte, war nun der Wald an der Reihe. Mir war jedoch schleierhaft, wie ich diesen Bach finden sollte.
Ich stand am Waldrand und betrachtete die dunkler werdenden Silhouetten. Am Himmel ließen sich schon die ersten Sterne sehen. Ich suchte die Baumkronen nach den unheimlichen Augen ab, doch diesmal schien mich niemand zu beobachten. Ich sammelte meinen Mut zusammen und trat in die schützende Dunkelheit des Waldes ein. Ich lief einfach nur geradeaus. Ich hoffte, dass ich durch Zufall auf irgendetwas Interessantes stoßen würde. Ich sah jedoch nichts als Bäume. Bäume und noch mehr Bäume. Je tiefer ich in den Wald vordrang, desto dunkler wurde es. Kleine Pfade im Boden verschwanden und die Baumkronen vereinigten sich zu einem großen Blattwerk, gestützt durch hunderte Säulen. Zuerst nahm ich kaum Geräusche wahr, doch nach und nach kamen ganz unterschiedliche Geräuschmuster dazu. Erst hörte ich leises Rauschen und Rascheln, als der Wind durch die Blätter fuhr. Dann kamen leise Tierlaute hinzu. Ein paar Vögel unterhielten sich leise und die Nachträuber machten sich auf die Beutejagd. Ein Uhu durchschnitt hin und wieder das leise Zusammenspiel der Geräusche mit einem lauten Schrei. Ich hörte eine Art Flüstern, das umso lauter wurde, je mehr ich mich dem Zentrum näherte. Ich verstand es nicht, doch ich hatte das Gefühl, dass es zu mir sprach. Es wollte mir etwas sagen. Es erzählte mir Geschichten. Ich musste nur besser zuhören. Doch ich durfte mich nicht zu sehr ablenken lassen. Schließlich war mein Ziel der Bach und seine Bewohner.
Es wurde immer schwerer etwas zu sehen. Die Dunkelheit war schon fast mit den Händen greifbar. Ich konnte mich nur auf mein Gefühl verlassen. Ich hoffte inständig, dass ich nirgendwo gegen lief. Ich folgte meiner Intuition, die mir lediglich riet immer weiter geradeaus zu laufen. Das half mir nur begrenzt. Trotz der Widrigkeiten empfand ich keine Angst. Das wunderte mich. Ich hatte aber keine Erklärung dafür.
Nach einer ganzen Weile hatte die Geräuschkulisse ihren Höhepunkt erreicht. Ich nahm diffuses Licht wahr, doch ich wusste nicht, woher es kam. Um mich herum war es stockduster. Ich konnte gar nichts mehr sehen, außer das wenige Licht vor mir. Ich ging darauf zu. Es wurde heller und heller. Ich hatte Mühe mich daran zu gewöhnen. Dann stand ich auf einer Lichtung in gleißendem Licht. Ich blinzelte mehrmals, doch das half nicht viel. Als ich nach ein paar Minuten endlich etwas erkennen konnte, hatte ich das ungute Gefühl beobachtet zu werden. Ich drehte mich im Kreis und suchte nach dem bekannten Augenpaar. Ich konnte es einfach nicht entdecken, doch es musste da sein. Ich seufzte tief und setze mich auf den grünen Rasen. Anschließend musterte ich meine Umgebung.
Die Lichtung war überraschend groß. Das Gras war kurz und hatte eine saftig grüne Farbe. Es gab sogar Schmetterlinge und Käfer. Als sich meine Augen vollständig an das Licht gewöhnt hatten, nahm ich ein entferntes Plätschern wahr. Ich war überrascht, doch ich folgte dem Geräusch. Tatsächlich führte mich das Geräusch zu einem kleinen Fluss. Er plätscherte fröhlich vor sich hin, über Stock und Stein. Ich war froh über eine kleine Erfrischung. Ich schöpfte mit meinen Händen Wasser und trank. Ich schaute mich erneut um. Ich wusste, dass ich beobachtet wurde. Doch ich konnte immer noch nichts entdecken. Ich holte tief Luft und hielt meinen Kopf unter Wasser. Eigentlich hätte das gar nicht möglich sein dürfen, da der Bach viel zu flach war. So langsam wunderte mich jedoch gar nichts mehr. Dieser Wald war voller Zauber. Ich öffnete die Augen, so wie bei mir zu Hause. Ich sah helles Blau um mich herum, hervorgerufen durch das sich brechende Licht. Es schwammen kleine Fische umher und hell- und dunkelgrüne Pflanzen wiegten sich in der Strömung. Zwischen den großen Steinen pflasterten Kieselsteinchen das Flussbett und formten eine kleine Straße. Die Fische sahen aus wie viele kleine beschäftigte Menschen, die schnell durch die Gassen huschten. Mir gefiel dieser Anblick. Ich holte Luft und ließ das Wasser einfach von meinem Gesicht und meinen Haaren tropfen. Das gleißende helle Licht strahlte keine Wärme aus, doch der Wald mit seinem dichten Blattwerk speicherte die Wärme des Tages. Ich musste mir also keine Sorgen über meine Gesundheit machen. Ich betrachtete das bunten Treiben unter der sich kräuselnden Wasseroberfläche. Dann stand ich auf und lief entlang des Flusses auf und ab. Nach kurzer Zeit beschloss ich, dem Flusslauf zu folgen. Ich wollte herausfinden, wohin er mich führte.
Ich kam an eine Stelle, wo das Wasser urplötzlich im Boden versickerte. Kurz darauf wäre er von der Lichtung hinein in die Dämmerung des Waldes geflossen. Ich setzte mich dort nieder. Die Augen sind mir bis hierher gefolgt. Ich spürte ihren Blick in meinem Rücken. Ich hielt meine Hand in die Fluten und beobachtete, wie sich das Wasser daran brach. Plötzlich bäumte sich das Wasser auf und ein bekanntes Gesicht erschien vor mir. Lapu, der Wassergott, begrüßte mich mit einem herzlichen Lächeln.
„Ich bin hier. Wie kann ich euch nun helfen?“
„Das weiß ich leider immer noch nicht.“
Er formte eine kleine Fontäne und nahm auf seinem sprudelnden Thron Platz.
„Du hast sicherlich schon bemerkt, wie dunkel die Welt außerhalb dieser Lichtung ist. Die Waldbewohner haben ihre Hoffnung verloren. Es gehen Dämonen um und wir Waldgötter müssen uns die meiste Zeit verstecken. Wir halten unsere Heimat so gut es geht am Leben. Wenn die Dunkelheit weiter zunimmt, können wir das jedoch auch nicht weiter garantieren.“
Ich sah ihn an. Was sollte ich dagegen tun? Ich kannte mich mit diesem Wald nicht aus. Ich kannte auch nicht die Mythen und Legenden. Ich war erneut nutzlos und dumm. Der Wassergott sah mich wachsam aus klugen Augen an.
„Finde den Dunklen Schatten. Besänftige ihn. Er folgt dir.“
Lapu verschwand ebenso schnell, wie er gekommen war. Mich beschlich das Gefühl, dass er mir gerade etwas gesagt hatte, was er besser für sich behalten hätte. Ich wollte nicht, dass er sich in Gefahr begab. Doch ich vermutete, dass wir sowieso schon längst in Gefahr schwebten. Ich holte tief Luft, stand auf und ging zurück zum Zentralpunkt der Lichtung. Ich versuchte mich auf das mir folgende Augenpaar zu konzentrieren, doch ich konnte ihren Aufenthaltsort nicht ausmachen.

In der Bibliothek suchte ich nach Büchern, die mir etwas über Flora und Faune dieser Gegend verrieten. Ich belas mich ausgiebig, doch ich konnte nichts Relevantes entdecken. Ich suchte auch nach Büchern über die Mythologie und Legenden des Waldes. Darüber gab es eine ganze menge zu lesen und ich konnte in meinen Pausen ausgiebig recherchieren. Ich nahm mehrere Bücher für ein paar Tage mit nach Hause. Meine Kollegen beäugten mich neugierig und fragten mich über meine Absichten aus. Ich vermied das Thema und war bemüht mir plausibel klingende Ausreden einfallen zu lassen. Ich studierte die Bücher ausgiebig. Hin und wieder notierte ich mir wichtige Dinge. So konnte ich sie mir später gut einprägen.
Ich sammelte auch bei den Bewohnern einige Informationen. Vor allem die älteren Menschen, bei denen ich oft Hausbesuche machte, konnten mir einiges über kursierende Legenden berichten. So konnte ich mir nach und nach ein umfassendes Bild machen.

Ich unternahm auch hin und wieder Ausflüge in die Stadt. Ich kannte mich noch nicht ganz so gut aus und das musste sich ändern. Ich erkundete die Stadt systematisch und begann mit den Gegenden, die ich von meinem Job her schon kannte. Das funktionierte recht gut, wenn es auch sehr zeitaufwendig war, da ich mich teilweise ziemlich verirrte.
Mir wurde bewusst, dass mir nun viele Leute mit Freundlichkeit entgegentraten. Dass ich einen Job gefunden hatte und immer hilfsbereit und freundlich war, sprach sich schnell herum. Und das wirkte sich positiv auf meine Mitmenschen aus. Langsam begann ich mich richtig wohl zu fühlen. Ich glaubte mittlerweile, dass dieser Ort meine neue Heimat werden konnte. Der Schatten meiner Vergangenheit verblasste mehr und mehr, je länger ich mich hier aufhielt.

Meine Aufmerksamkeit lag am Abend immer auf dem Problem des Waldes. Ich wusste immer noch nicht, wie ich dieses lösen sollte. Zur Beruhigung und zum Nachdenken streifte ich erneut durch das Gras. Ich lief in entgegen gesetzter Richtung des Waldes. Es gab kilometerlang nichts außer einer weite Graslandschaft. Hin und wieder gab es vereinzelte Bäume, einige blühend, andere verdorrt. Ich grübelte stundenlang, doch ich legte auch regelmäßig Pausen ein, in denen ich mich einfach treiben ließ. Mein Geist erholte sich dann wieder und ich gewann neue Kraft. Doch egal, wie oft ich diesen Prozess wiederholte, mir fiel keine gute Idee ein. Ich drehte mich gedanklich im Kreis. Sobald ich zu diesem Schluss kam, drehte ich um und lief wieder zurück. So kam ich nicht weiter. Ich forschte erneut und suchte nach Legenden, die der jetzigen Situation des Waldes nahe kamen. Die Suche gestaltete sich schwierig. Ich fand zwar viele Ähnlichkeiten, doch kein zufriedenstellendes Ergebnis. Ich überprüfte meine Notizen mehrmals auf mir bis jetzt unbekannte Zusammenhänge. Ich suchte einen Hinweis, eine Idee. Irgendetwas, das mir bei der Rettung des Waldes helfen konnte.
Ich konnte kaum glauben, dass ich mich wirklich so sehr mit einem Problem befasste, das nicht einmal mein eigenes war. Ich hatte mit der ganzen Sache doch gar nichts zutun. Zwar hatte ich den Eindruck, dass die Leute anfingen mich zu akzeptieren, aber ich war dennoch eine Außenseiterin. Daran würde sich auch nichts ändern. Ich konnte hier jederzeit wieder wegziehen, doch mich würde diese Angelegenheit wohl auch weiterhin beschäftigen. Ich hatte wohl keine andere Wahl. Ich musste das Rätsel lösen. Ich musste ihnen helfen. Egal wie.

Ich schlich durch den Wald. Stillschweigend. Leise. Ich suchte nicht. Ich wartete. Ich wusste, dass die Augen kommen würden. Ich wusste, dass sie mich beobachteten. Ich spürte sie. Sie waren da. Ihr blick wurde mit jedem Schritt intensiver. Sie folgten mir. Sie verfolgten mich.
Ich setzte mich auf das frische Gras der Wiese. Lapu plätscherte ruhig vor sich hin. Es herrschte Stille. Es waren keine Tiere zu sehen. Sie wussten, dass etwas passieren würde. Sie wussten, dass es schlecht war, böse, unheimlich. Ich sammelte Kraft. Ich brauchte Ruhe. Ich schloss meine Augen und versuchte ruhig zu atmen. Bald hörte ich Lapus Geplätscher nicht mehr. Ich wusste es. Er wusste es. Es wurde Zeit. Es ging los.
Ich stand auf und lief in den Wald hinein. Wohin genau ich lief, war egal. Ich wurde immer gefunden. Da ich nicht wusste, wie groß der Wald wirklich war, lief ich einfach weiter und weiter. Die Dunkelheit umhüllte mich ganz. Sie durchdrang mich fast. Ich suchte diese Augen. Ich suchte das leuchtende Gelb in dieser schwarzen Einsamkeit. Und ich fand es. Es strahlte mich schon von weitem an. Ich wurde erwartet. Diese Verfolgungsjagd hatte also ein Ende. Ich stoppte mehrere Meter vor diesen Augen. Sie starrten mich an, kalt, emotionslos. Ein Schauer überlief mich. Ich hielt diesem Blick stand, auch wenn es nicht einfach war. Ein Wesen löste sich aus der Dunkelheit. Es kam direkt auf mich zu. Die Augen intensivierten ihren Blick mit jedem Schritt, den sie näher kamen. Es wurde immer schwerer, diesem undurchdringlichen und starren Blick standzuhalten. Ich wollte wegschauen, aber ich konnte nicht. Ein Schattenwesen stand nun vor mir. Der ganze Körper war ununterbrochen in Bewegung. Nur die Augen waren starr und unbeweglich. Und sie starrten mich weiterhin an. Ich spürte, wie Angst in mir aufkeimte. Doch ich durfte sie nicht zulassen. Ich atmete ruhig und gleichmäßig. Ich durfte nicht versagen. Ich durfte die Götter und Wesen dieses Waldes nicht verraten. Ich musste für mein Versprechen kämpfen.
„Bist du der Dunkle Schatten?“
Das Wesen lachte höhnisch und ließ mich nicht aus den Augen.
„Du bist ein Dämon, richtig?“
Das Wesen legte den Kopf ein wenig schräg.
„Ja. Du bist gut informiert. Was weißt du noch?“
„Das du Unheil über diesen Wald bringst.“
„Das kann man sehen, wie man will.“
„Wie bist du ein Dämon geworden?“
„Das versteht ein Mensch nicht. Ihr kennt nur eure Sagen und Legenden. Ihr wisst nichts über uns.“
„Wer ist ‚uns’?“
„Uns, wir, was auch immer. Götter und Dämonen. Die anderen Wesen dieser Welt, die bei euch nur Ängste hervorrufen. Wir Verdammten.“
„Es gibt Wesen, die uns Angst einflößen, aber andere verehren wir auch. Wir geben ihnen Essen und unsere Wünsche. Wir tragen zu ihrem Wohl bei. Wir kümmern uns um sie.“
„Und ihr vernichtet sie. Stoßt sie aus. Isoliert sie. Hasst sie.“
Plötzlich wurde mir bewusst, warum ich einen Dämon vor mir hatte.
„Du bist einsam und allein. Du fühlst dich verraten und gehasst. Deshalb hasst du nun alle anderen.“
Das Schattenwesen schaute mich stumm an. Ich sah, wie Ärger in ihm aufstieg. Seine Wirbel und Strömungen flossen schneller.
„Ich weiß, wie du dich fühlst. Ich war genauso. Doch dann wurde ich gebraucht. Ich sollte den Waldbewohnern helfen. Ich war nicht länger nutzlos. Du zerstörst das Leben hier im Wald. Du bist dadurch genauso schlimm wie die, die dich ausgestoßen und verachtet haben. Aber du kannst helfen.“
„Wie?“
Ich seufzte tief, denn das wusste ich nicht. Das Schattenwesen schien das zu verstehen. Ich glaubte, dass es wütend werden würde, doch sein Körperfluss hatte sich wieder verlangsamt. Ich nahm an, dass er nie ganz stillstehen würde. Ich beobachtete das Wesen vor mir aufmerksam. Es schien nachzudenken.
„Wir werden sehen.“
Damit verschwand der Dunkle Schatten wieder. Die Dunkelheit im Wald schien ein wenig abzunehmen. Vielleicht hatte ich ja doch etwas erreicht.

Eine ganze Weile passierte erstmal gar nichts. Ich widmete mich beherzt meinem Job und fing sogar an, mit meinen Kollegen etwas zu unternehmen. Den Wald schloss ich für diese Zeit aus meinen Gedanken aus. Ich hatte mittlerweile viele neue Bekanntschaften geschlossen und übte mich als Teilzeitkraft in der Tourismusbranche. So war ich nun ziemlich gut in die Gemeinschaft integriert.
Erst Monate später wurde ich erneut von Lapu besucht. Er fragte mich über alle möglichen Dinge aus und erinnerte mich an meine Waldbesuche. Ich erzählte ihm unter anderen von meinem neuen Zweitjob als Touristenführerin, auch wenn es in der Gegend eigentlich nicht sonderlich viel zu sehen gab. Dann erinnerte ich ihn daran, dass ich dem Dunklen Schatten ja mehr oder weniger schon geholfen hatte. Mit dem kleinen Problem der Umsetzung. Lapu erinnerte sich natürlich daran. Es war völlig unnötig ihm das zu sagen. Ich vergaß, dass er ein Gott war. Dennoch war er nicht zufrieden. Es hatte sich nicht viel verändert. Die Dämonen beherrschten den Wald noch immer. Nur die Dunkelheit war nicht mehr ganz so bedrückend. Ich wusste aber nicht, was ich dagegen ausrichten sollte. Ich hatte durch meinen Zweitjob weniger Zeit. Ich konnte den Dunklen Schatten wahrscheinlich nicht einmal finden. Wie konnte ich dann helfen? Darauf wusste der Wassergott auch keinen Rat. Er wusste nur, dass ich weiterhin helfen musste.
Ich war ratlos. Ich drehte mich mal wieder im Kreis. Ich fing erneut an, größere und längere Spaziergänge zu unternehmen. Ich ging in die Richtungen, die ich sonst vernachlässigte. Ich ging einfach immer weiter geradeaus. Irgendwann hörte ich ein Rascheln. Es war ziemlich nah. Ich wusste inzwischen, dass man nur selten wilden Tieren begegnete und meistens ein paar Hunde im Gras spielten oder einfach entlang streunten. Ich konnte jedoch nicht mit Sicherheit sagen, was es war. Bis ich ein Summen hörte. Es war eine schöne kleine Melodie, nicht sehr anspruchsvoll, aber doch abwechslungsreich. Es war also ein Mensch, der mir entgegen kam. Ich ging weiter und als ich näher kam, sah ich einen Mann, der mit seinen Händen über die Grashalme strich und in die Ferne sah. Er erinnerte mich ein wenig an mich selbst. Anschließend stieß er einen lauten Pfiff aus. Ich zuckte zusammen. Durch das Gras etwas auf ihn zu. Plötzlich sprang ein großes, graues Tier an ihm hoch. Es war ein Hund. Ich wurde bemerkt. Es heftete seine großen schwarzen Augen auf mich. Es war kein Hund. Es war ein Wolf. Sein Besitzer bemerkte mich nun auch, gab seinem Tier ein Zeichen und sie kamen beide auf mich zu. Ich konnte meinen Blick nicht von dem des Tieres abwenden. Es hatte mich voll im Griff. Das Tier blieb vor mir stehen und beschnüffelte mich. Anschließend setzte es sich hin. Sein Besitzer kam nun auch etwas näher, sodass er mir die hand reichen konnte. Wir begrüßten uns. Der Wolf legte sich ins Gras nieder und sonnte sich. Wir setzten uns ebenfalls und unterhielten uns über Gott und die Welt. Wir verstanden uns auf Anhieb richtig gut. Wir saßen bis zum späten Abend dort und erfreuten uns am Sonnenuntergang. Als es dann soweit war, dass wir uns verabschieden mussten, begleitete mich mein neuer Bekannter und sein etwas ungewöhnliches Haustier noch ein ganzes Stück, bis wir schlussendlich fast an meinem kleinen Häuschen angekommen waren. Ich umarmte meinen neuen Bekannten und auch seinen Wolf, der sich sofort an mich kuschelte und mich anschleckte. Ich ging ins Bad und wusch mein Gesicht und meine Hände. Dabei kam mir dann die zündende Idee und ich wusste nun, wie ich sowohl dem Wald als auch dem Dunklen Schatten helfen konnte.

Ich sprach mit meinem Vorgesetzten. Es war ein sehr langes, sehr ausführliches Gespräch. Er hielt mich sicher für verrückt. Das würde mich nicht wundern. Er hörte zu und schwieg dann. Es herrschte unangenehme Stille. Es war vorbei. Ich wusste, dass diese Idee zum Scheitern verurteilt war. Ich konnte nichts machen. Doch erstaunlicherweise wurde mein Vorschlag nicht abgelehnt. Er wollte es versuchen. Doch ich musste zum Anfang immer dabei sein. Die Sicherheit der Menschen stand an erster Stelle. Ansonsten wäre das Geschäft ruiniert. Ich willigte ein.
Ein paar Tage später marschierte ich frohen Mutes in den Wald. Ich lief bis zur Lichtung, auf der ich mich mit Lapu traf, den ich über die neuen Entwicklungen in Kenntnis setzte. Der Wassergott freute sich darüber und bekräftigte meinen Entschluss. Ich ging daraufhin weiter in den Wald hinein, mitten in die Dunkelheit. Ich war auf der Suche nach dem Schattenwesen. Ich wusste nur nicht, wie ich ihn finden sollte. Doch das war auch gar nicht nötig. Ich wurde schon erwartet. Ich sah schon aus der Ferne die unheimlich leuchtenden Augen. Ich ging weiter auf ihn zu und blieb erst unter seinem Baum stehen. Er sprang hinunter. Ich sah ihn an. Seine Wirbel flossen fröhlich umher, ein wenig schneller als sonst. Ich schloss daraus, dass er gespannt auf meine Neuigkeiten wartete. Und ich behielt Recht. Ich berichtete ihm von der Erlaubnis, dass er als Touristenführer Menschen durch den Wald führen durfte und ihnen dadurch auch viel über den Wald und seine Besonderheiten erklären konnte. Der Körper des Schattenwesens beschleunigte sich, ähnlich einem Puls, der vor Freude ansteigt. Ich sagte ihm auch, dass er schon bald anfangen könnte, woraufhin er erst skeptisch schaute, dann jedoch Freudensprünge vollführte. Er umarmte mich schnell und sprang anschließend wieder auf seinen Baum. Sein Körper wirbelte sprunghaft umher, während seine gelben Augen strahlend funkelten. Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Vielleicht konnte ja doch noch alles gut werden.

Mehrere Wochen waren vergangen. Das Geschäft lief gut, sowohl was die Bücher als auch die Touristen anging. Der Dunkle Schatten machte sich gut als Fremdenführer und die Waldtouren wurden immer beliebter. Die Dämonen arrangierten sich größtenteils mit der neuen Situation. Sie veranstalteten ein Hell-Dunkel-Spektakel, das sehr beliebt war und die Menschen lernten so auf ganz natürliche Weise die Macht der Dämonen und Götter kennen. Der Dunkle Schatten erzählte dazu allerlei Mythen und Legenden, ergänzt durch Lapus kleine Kunststücke und Wassererzählungen. Für die Menschen und besonders für die Kinder war das sehr unterhaltsam und zugleich lehrreich. Anfangs war ich wie abgemacht immer dabei. Mittlerweile jedoch begeleitete ich die Gruppe nur noch bis zum Waldrand. Ab da übernahm dann der Dunkle Schatten. Die Arbeit machte ihm richtig Spaß. Mein Vorgesetzter war auch zufrieden.
Ich bekam hin und wieder auch Besuche von Lapu. Der Wassergott informierte mich dann immer ausführlich über die Geschehnisse des Waldes und neuerdings fing er auch an von Nachbarwäldern zu reden, die uns teilweise als Vorbild nutzten, da wir friedlich zusammenlebten. Ich freute mich über seine Besuche. Manchmal brachte er auch ein paar kleine Walsbewohner mit. Die Zeit war immer sehr lustig.
Ich hatte durch die Waldführungen nun wieder mehr Freizeit, die ich größtenteils mit Lesen oder Zeichnen verbrachte. Ich führte auch Buch über den Wald und seine Bewohner, die ich dann als kleine Zeichnungen einfügte. Natürlich ging ich weiterhin großzügig spazieren. Hin und wieder wurde ich von dem Schattenwesen begleitet, das mittlerweile wie auch der Wassergott zu einem guten Freund geworden war. Komischerweise begegneten mir immer dann der Mann und sein Wolf, wenn ich vom Dunklen Schatten begleitet wurde. Ich hatte da so das Gefühl, dass dies kein Zufall war. Auf der anderen Seite wusste ich auch nicht, wie das Schattenwesen das angestellt hatte. Wie dem auch sei, ich wurde immer zuerst überglücklich von dem grauen Wolf begrüßt, der mich jedes Mal fast umwarf, wenn er an mir hochsprang und mich umarmte. Anschließend ging er zum Schattenwesen und sie schienen eine stumme Unterhaltung zu führen, wobei sie sich immer gegenseitig anstarrten. Währenddessen wurde ich von dem Mann begrüßt, der nur unwesentlich älter war als ich, wie ich in einem Gespräch einmal herausbekommen hatte. Das Schattenwesen zwinkerte mir immer kurz zu, bevor es sich verabschiedete und uns drei alleine ließ. Wir blieben dann den ganzen restlichen Tag zusammen, spielten mit dem Wolf, gingen durch das Gras und unterhielten uns. Das Ritual war seit unserer ersten Begegnung das gleiche. Wir blieben bis zum Sonnenuntergang im Gras sitzen und anschließend brachten mich die beiden nach Hause.

Es gefiel mir so zu leben. Ich dachte nun nicht mehr mit Verbitterung an meine Vergangenheit. Vielmehr dachte ich mit Freude an die Zukunft. Ich war irgendwie froh, dass ich zwar nicht wusste, was auf mich zukam. Aber ich war umso glücklicher, dass ich mehrere Freunde hatte, die mit zur Seite stehen werden, egal was passieren wird. Ich war froh, dass ich endlich ein neues Zuhause gefunden hatte, dass ich vielleicht sogar bald teilen sollte. Vorausgesetzt, dass die kleinen Verkupplungsversuche des Schattenwesens auch funktionierten. Wobei ich der Ansicht war, dass wir das auch ganz gut ohne ihn bewältigen konnten. Mein Fazit: Es lohnt sich ans Leben zu glauben. Auch wenn ich das auf die harte Tour lernen musste. Ich war wieder glücklich.


© Eisvogel


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Kommentare zu "So spielt das Leben"

Re: So spielt das Leben

Autor: noé   Datum: 29.03.2014 2:04 Uhr

Kommentar: Dein wundervoller Text hat mich in den Bann gezogen. Es ist so spannungsreich erzählt, und klingt trotz Schattenwesen und Wassergott authentisch, alles ohne Pathos...
Ich bin total begeistert und sogar die unerhörte Länge (für eine Kurzgeschichte) hat mich nicht abgeschreckt oder auch nur Langeweile aufkommen lassen.
Wie gesagt, ein wundervoller Text, und ich hoffe, solche Qualität noch öfter von Dir zu lesen zu bekommen...
Großer Applaus!
noé

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