Ich schaue nach unten. Vor mit steht ein Teller mit Essen. Der Dampf, der heißen Nahrung steigt mir ins Gesicht und der Geruch bahnt sich seinen Weg in meine Nase. Ein Gefühl der Übelkeit und des Ekels überfällt mich, ich kann mir fast bildlich vorstellen, wie die Kalorien durch meine Nase in meinen Körper kriechen. Panisch versuche, ich die Tränen wieder zurück zudrängen, denn niemand darf die Welle der Gefühle, die mich überkommt, mitbekommen.
Ich reiße meinen Blick von meinem Teller und lasse meine Augen durch die Runde wandern. Da sitze ich nun, in diesem passend eingerichteten Wohnzimmer. Alles ist ordentlich und an seinem Platz, es wirkt unwirklich und schon fast spießig und gespielt. Meiner Meinung nach perfekt für die Familie, die hier zu Hause ist. Es ist nicht meine Familie, trotzdem verbringe ich viel Zeit mit ihr.
Mein Blick fällt auf die Frau, die mit mir hier am Tisch sitzt. Sie ist die Mutter meines Freundes. Perfekte Haare, immer tadellos geschminkt, stets ein lächeln auf den Lippen und jeden Tag die Bilderbuchfrau. Den die Fassade der traumhaft vollkommenen Familie muss gewahrt werden. Und natürlich, wie sollte es auch anders sein, wie zusammen gegessen. Eine Tortur für mich, denn zu Hause, in meiner nicht ganz so makellosen Familienleben, ziehe ich mich, wenn ich esse, auf mein Zimmer zurück.
"Zoe, Schätzchen. Warum fängst du denn nicht an? Stimmt etwas nicht? Du musst doch hungrig sein." Die Mutter meines Freundes hatte ein noch krampfhafteres Lächeln als sonst aufgesetzt.
"Mir geht es nicht so gut. Könnte ich mich kurz entschuldigen?"
Sofort sehe ich den gereizten Blick der Frau, die keine Störung ihrer Familienidylle duldet. Schnell beuge ich mich zu ihr herüber und flüster mit sehr gedämpfter Stimme:
"Frauenprobleme, du weißt schon."
"Oh ja natürlich Liebste. Geh nur."

Es klingt fast erlösend, als die Badezimmertür hinter mir ins Schloss fällt. Ich setze mich auf den weißen, flauschigen Badezimmerläufer und lehne mich mit dem Rücken an die kühle, geflieste Wand. Ich mag diesen kleinen Teppich und ich habe auf ihm auch schon einige Zeit verbracht. Er ist wie eine kleine Wolke, auf der ich dem Familienspiel kurz entfliehen kann. Ich schließe die Augen und atme ein paar Mal tief ein und wieder aus, um so die Panik auf meinem Körper zu verbannen.
Mein Name ist Zoe, ich bin 18 Jahre alt, habe hellbraune Augen und langes dunkelblondes Haar. Meist trage ich dieses offen und es fällt in natürlichen Wellen über meine Schultern. Ich bin 1.72 Meter groß, wiege 48,3 kg und bin viel zu fett.
Also eigentlich liegt mein Gewicht schon im Untergewicht, aber mein Körper widert mich bei jedem Blick in den Spiegel an. In meiner Therapie, vor einem Jahr, wurde mir gesagt ich wäre krank. Anorexia Nervosa, diese Worte wurden mir ins Gesicht geschmettert. Danach war ich noch ein paar Mal dort, aber als ich 18 wurde, habe ich dem Kapitel Therapie den Rücken zugewandt. An die Essstörung geglaubt habe ich sowieso nie wirklich. Wer so einen Körper hat wie ich, kann doch nicht krank sein. Natürlich weiß ich, dass ich weniger esse als die anderen Menschen in meinem Umfeld, aber mein Körper braucht eben auch einfach weniger. Auch ist das Kalorien zählen und meine Reaktion, meine Angst vor dem Essen nicht ganz wie bei der Norm, aber krank bin ich nun wirklich nicht. Höchstens ein bisschen anders.
So war ich auch nicht schon immer. Früher war das alles anders. Früher war ich anders. Leichtes Übergewicht, immer die, die Jungs übersehen und von Mädchen ausgelacht wurde. Ich erinnere mich nicht gern an diese Zeit. Da war ich schwach, ein Loser, mehr als ich es immer noch bin.
Jetzt ist alles besser. Lang noch nicht gut, aber halt besser als damals. Jetzt bekomme ich Komplimente und werde wahrgenommen. Keiner lacht mehr und wenn ich erst mal mein Traumgewicht von 40 kg erreicht habe, werden sie alle vor Neid erblassen. Ich werde erhobenen Hauptes durch die Stadt gehen. Mein Freund wird stolz sein, mich sein Eigen nennen zu dürfen.
Verdammt! Mein Freund. Das essen. Das habe ich völlig vergessen.
Meine Hand wandert schnell in die Tasche meiner Jeans und zieht eine Packung mit kleinen Kapseln heraus. Mit zitternden Fingern drücke ich zwei Tabletten in meine Hand und werfe sie in meinen Mund.
Fettbinder. Sie sollen die bösen Fette der Nahrung schnell wieder aus meinem Körper verbannen. Natürlich weiß ich, dass diese Pillen nicht wirklich etwas bringen, aber wenigstens nehmen sie mir etwas von der Panik. Dann richte ich mich auf. Kurz wird mich schwarz vor Augen, aber das legt sich nach einigen Sekunden wieder. Wie immer. Einen Moment muss ich mich noch sammeln, erst dann kann ich aus dem Bad zurück in den Flur treten. Und so verlasse ich den Schutz meiner kleinen Wolke, erneut stürzte ich mich in den Krieg, den die meisten Menschen als Mittagessen bezeichnen.
Eigentlich ist jeder Tag für mich wie ein Krieg und die Waage richtet über alles. Bestimmt mein Leben und mein Handeln, hält mich gefangen. Treibt mich zu jeder Lüge über Gewicht und Essen, zwingt mich zum Kalorien zählen, treibt mir Tränen in die Augen oder hebt mich in den Himmel. Kein Tag vergeht ohne das die Furcht vor dem zunehmen mir ihr hässliches Gesicht entgegen streckt.
Jeder Tag ist ein Krieg, aber ich sehe keinen Weg es anders zu machen.
Und ich bin doch nicht krank.
Ich bin genauso wie alle Anderen auch.


© 05.02.2014 by Stella


3 Lesern gefällt dieser Text.







Kommentare zu "Wenn essen zum Krieg wird"

Re: Wenn essen zum Krieg wird

Autor: noé   Datum: 05.02.2014 9:58 Uhr

Kommentar: Eine beeindruckende, beängstigende Beschreibung eines Zustandes der Verlorenheit und Ausweglosigkeit. So erscheint es mir. Eine "Gesundung" setzt das Bewusstsein einer "Erkrankung" voraus. Solange das nicht gegeben ist...
noé

Re: Wenn essen zum Krieg wird

Autor: Doris Demski   Datum: 06.02.2014 8:30 Uhr

Kommentar: Gäbe es hier einen Button "gefällt mir nicht", ich würde ihn drücken.
Nicht für dich, liebe Stella, sondern für Zoe.
Bleibt zu hoffen, dass ihr nicht ein und dieselbe Person seid.
Trotz und Unvernunft sind schlechte Wegbegleiter.

LG D.D.

Re: Wenn essen zum Krieg wird

Autor: Stella   Datum: 06.02.2014 17:33 Uhr

Kommentar: Nein, diese Geschichte ist frei erfunden. Keine Sorge :)
Ich wollte nur deutlich machen wie sehr Menschen unter solch einer Krankheit leiden, denn im Internet sieht man ja immer wieder Seiten, auf denen Mädchen ihre Essstörung noch toll finden und Andere mit hinein ziehen.

Re: Wenn essen zum Krieg wird

Autor: Mark Widmaier   Datum: 02.03.2014 11:21 Uhr

Kommentar: Du bringst da ein heikles Thema gut auf den Punkt.

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