Ein junger Mensch könnte vergleichbar sein mit einer Knospe. Die Farben sind noch blass, die Blütenblätter zart und empfindlich. Sie schützen sich mit einer festen Hülle, eine Kapsel, die den weichen Kern bewahrt. Sind junge Menschen auch so?
Manche vielleicht. Nico ist es auf jeden Fall. Was nicht gut ist, denn Nico ist ein Junge. Man mag Mädchen oder junge Frauen mit Blüten vergleichen, aber was Jungen angeht, so besteht in dieser Beziehung zweifelsohne eine Hemmschwelle.
Die größte Schwierigkeit liegt für Nico in der Tatsache, dass er selbst die Kapsel, die sein Inneres schützt, nicht als Schutz wahrnimmt. Sie fühlt sich für ihn ebenso weich und nachgiebig an, wie die gefalteten samtenen Blätter, die sich tief in ihm zusammenpressen, als hätten sie Angst davor, sich zu entfalten und ihre Schönheit zu zeigen.
Und so verbarg sich Nico, verbarg den Reichtum, der in ihm lag, ebenso wie er versuchte, sein Äußeres so gut es ihm möglich war, zu verstecken. Natürlich war dies nicht möglich. Nico war da, er existierte, beanspruchte seinen Platz im Leben, auch wenn er sich tief innerlich dafür schämte. Vielleicht lag darin der Grund, dass er es vorzog für sich zu sein, Tätigkeiten nachzugehen, die er alleine ausführen konnte, Spiele zu spielen, die ihn nicht dazu zwangen, sich zu präsentieren, seine Erscheinung, sein Wesen Menschen vorzuführen, die ihm fremd waren, denen er fremd war, und denen gegenüber er sich stets unterlegen fühlte.
Das Gefühl der Unterlegenheit war kaum abzuschütteln, quälte, und hielt ihn davon ab, der zu sein, der er sein sollte.
Denn genauso in sich gefaltet, versteckt und verborgen wie die Innersten aller feinen Blütenblätter, wuchs auch in Nico die Überzeugung, dass er zu etwas bestimmt war. Eine Bestimmung, die er nur ahnte, die er nicht erfassen konnte, die keine Gestalt annahm, so oft er auch um die bloße Idee herumtanzte. Und das verunsicherte Nico. Wer sagte ihm, dass er nicht irrte? Wer sagte ihm, dass die Bestimmung, der er folgen sollte, nicht nur eine Illusion war, eine Einbildung, auf die zu vertrauen von nicht mehr als reiner Dummheit zeugte.
Vielleicht verdiente er es nicht besser, als für immer in dieser Kapsel eingesperrt zu bleiben, so klein, so unscheinbar, so versteckt wie nur möglich. Wenn sich in ihm nichts befand als verkrüppelte Ansätze, farblose Stümpfe, die nicht dafür geschaffen waren, je das Sonnenlicht zu erblicken, dann fällte sein Instinkt doch die richtige Entscheidung, hielt er ihn davon ab, sich in die Weite der Welt zu wagen, das Geheimnis zu präsentieren, das in ihm schlummerte.
Junge Menschen schwanken zwischen den Extremen. Und auch Nicos Gefühle veränderten sich. Doch selbst wenn er die gefalteten Blätter in sich drängen spürte, die Kraft fühlte, die sich befreien wollte, die Kapsel sprengen, entfalten und zeigen, was sich unter der Schale befand, gelang es ihm, diese geschlossen zu halten. Mochte auch das Leben darunter pulsieren, der Wunsch nach Befreiung größer und stärker werden mit jedem Tag, so nahm auch die Angst davor zu, was nach dieser Befreiung geschähe.
Denn stünde er bloß und offen in voller Blüte, so befände er sich auch in einer ausweglosen Position, einer Lage, aus der es keinen Rückzug mehr gäbe. War die Kapsel erst gesprengt, so konnte keines der zarten Blätter jemals wieder in ihren Schutz zurückkehren. Sie wären frei und schutzlos den Elementen, der Kritik, der Vernichtung ausgesetzt, die früher oder später und unweigerlich auf die eine oder andere Weise einsetzten. Und so krümmte sich Nico ? wenn überhaupt möglich ? noch stärker in sich zusammen, versuchte geringer zu sein, unscheinbarer, und letztendlich zu verschwinden.
Das Wichtigste war, keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, unter dem Radar zu reisen und das Ende der Reise stets im Blick zu behalten. Einfach und schlicht, um nicht verrückt zu werden in der endlosen und grenzenlosen Weite des Seins.
Nico blieb dabei, blieb klein, blieb versteckt und seine Knospe verkümmerte in ihrer Schutzhülle. Nicht weil seine Pflanze zu wenig Nahrung, zu wenig Licht oder Erde erhielt, sondern weil die Hülle, die ihn umgab schwach war, ein Hauch nur, aus dem er sich weder befreien, noch sicher fühlen konnte.
Eine ewige Knospe, stets vor der Blüte, bis sie verkümmerte, bis sie vertrocknete und das Alter ihr die Kraft raubte, so verblieb Nico. Und er fühlte sich unglücklich dabei, traurig, schlecht. Unvollständig, stehen geblieben in einer Phase, die keinen Stillstand erlaubte. Nico konnte weder vor noch zurück.
Auch ein alter Mensch kann einer Knospe gleichen. Und vielleicht verbirgt er den in sich gefalteten Reichtum, den er in seiner Jugend nicht wagte zu zeigen. Entscheidend bleibt, dass er eines Tages das Wagnis eingeht, die Schale sprengt, den Reichtum zeigt, Blätter und Farben entfaltet und sich all den Risiken aussetzt, die für jede Blume da draußen wartet.
Auch Nico sollte dies tun. Die Welt rief nach ihm. Doch je mehr an seiner Kapsel geklopft, je stärker an seinem Stiel gerüttelt wurde, desto kleiner krümmte er sich, desto winziger wollte er sein. Solange, bis die Knospe hinab fiel und auf dem harten Boden auseinanderbrach. Wie schön hätte seine Blüte sein können. Nicht zwangsläufig im herkömmlichen Sinne. Vielleicht wäre er keine Rose, keine Dahlie, keine Tulpe geworden. Vielleicht ein unscheinbares Gebilde, dessen Wahrheit erst auf den zweiten Blick sich offenbarte. Wenn auch dafür umso schöner, heller, vielleicht auch filigraner und dunkler, mystisch oder verrucht.
Nico darf keine Knospe bleiben.


© SigridLenz


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Jugend




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