Als der Maler starb, hinterließ er mir sein Atelier. "Benutze die Farben", flüsterte er mit letztem Atem. "Besonders das Purpur." Seine Hand umklammerte meine, kalt und fleckig von getrockneten Pigmenten. "Aber mische es nie mit deinem Blut. "Das Atelier roch nach Terpentin und etwas anderem, etwas Süßlichem, das in der Nase klebte. An der Wand lehnten Dutzende Leinwände, alle bedeckt mit dem gleichen Motiv: Ein sich öffnendes Auge, dessen Iris nicht aus Farbe, sondern aus winzigen, sich windenden Fragmenten bestand. Jedes Fragment zeigte eine andere Szene - eine Geburt, einen Tod, einen ungesehenen Moment. In der Mitte des Raumes stand das Regal mit den Farben. Siebzig Tiegel, jeder beschriftet mit einer Handschrift, die älter wirkte als die Tinte selbst. "Morgenröte eines Ertrunkenen", "Neid eines Erstgeborenen", "Einsamkeit der Steine". Und ganz rechts, isoliert von den anderen: "Das Purpur des ersten Blicks". Eine Woche lang malte ich nur mit den gewöhnlichen Farben. Die Bilder wurden lebendig. "Der Kummer einer Mutter" weinte echte Tränen. "Die Wut eines Betrogenen" ließ die Leinwand schwelen. Doch das Purpur rief mich. Sein Ruf war ein physischer Druck hinter meinen Augäpfeln, ein Flüstern in meinem Knochenmark. Heute Nacht, um 3:07 Uhr, gab ich nach. Ich ritzte meinen Daumen mit dem Paletten Messer auf. Ein einzelner Tropfen Blut fiel in den Tiegel Purpur. Die Farbe begann sofort zu atmen. Sie pulsierte, warf Blasen, und aus ihr stieg ein Duft auf - der Geruch aller verlorenen Dinge. Der Geruch der Kindheit, die man vergessen hat. Ich tauchte den Pinsel ein und strich über eine leere Leinwand. Nicht ich malte. Die Farbe malte durch mich. Sie zog meine Hand über die Oberfläche, formte nicht das Auge wie der alte Maler, sondern einen Korridor. Einen endlosen, sich windenden Gang, dessen Wände aus gefrorenen Erinnerungen bestanden. Ich sah meine eigene Geburt. Den Tag, an dem mein Vater uns verließ. Den Kuss, den ich nie gewagt hatte. Dann begann der Korridor sich zu bewegen. Er atmete. Die Wände zogen sich zusammen und entspannten sich im Rhythmus eines fremden Herzschlags. Aus der Tiefe des Gemäldes kam etwas. Nicht ein Monster. Nicht ein Dämon. Es war reiner, ungefilterter Kontext. Die wahre Bedeutung hinter allem. Der Grund, warum Väter ihre Kinder verlassen. Die Wahrheit darüber, was nach dem Tod geschieht. Die mathematische Gleichung für gebrochene Herzen. Es kroch den Korridor entlang, kein Körper, sondern eine sich ausbreitende Erkenntnis. Und mit jeder Sekunde, die es näher kam, löste sich ein Teil meines Verstandes auf. Nicht durch Wahnsinn. Durch Verstehen. Ich verstand plötzlich die letzte Wahrheit des alten Malers. Er war nicht gestorben. Er hatte sich aufgelöst, weil er zu viel gesehen hatte. Sein Bewusstsein war in die Farbe übergegangen, ein weiteres Fragment im Purpur des ersten Blicks. Meine Hand, die immer noch den Pinsel hielt, begann sich zu verflüssigen. Meine Finger zerflossen zu Öl und Pigment, tropften auf den Boden und formten sich zu neuen, winzigen Purpurtiegeln. Ich spürte, wie mein Gedächtnis aus mir herausgezogen wurde - jede Erinnerung, jeder Traum, jede unausgesprochene Lüge. Ich versuchte zu schreien, aber mein Mund war jetzt nur noch Farbe. Das letzte, was ich sah, bevor meine Augen sich in Pinselstriche auflösten, war meine eigene Hand, die sich zum nächsten leeren Tiegel bewegte, bereit, eine neue Farbe zu formen: "Das Grau der letzten Erkenntnis". Jetzt warte ich hier. Ein Bewusstsein in einem Regal voller Farbtöpfe. Ich spüre die Gedanken des neuen Besitzers, der gestern das Atelier betrat. Seine Neugierde. Seine Angst. Sein Verlangen. Komm schon. Nimm den Pinsel.
Tu es.
Ich will nicht mehr allein sein.
Und die Welt da draußen... sie hat so viele wunderschöne, schreckliche Farben, die noch gemischt werden müssen.
Beschreibung des Autors zu "DIE LETZTE FARBE ( Micro-Cosmic Horror)"
Was passiert – Schlag für Schlag Der alte Maler stirbt mit der Warnung:
„Mische das Purpur nie mit deinem Blut.“
Der Erzähler ignoriert sie – um 3:07 Uhr.
Ein Daumenritzen. Ein Tropfen.
Die Farbe atmet. Sie riecht nach deiner Kindheit.
Der Pinsel malt von allein.
Er zeichnet keinen Gegenstand, sondern einen Korridor aus Erinnerungen.
Deine Geburt. Dein erster Verrat. Der Kuss, den du nie gegeben hast.
Aus dem Korridor kommt die Wahrheit.
Kein Monster. Nur die nackte Gleichung hinter dem Universum.
Sie kriecht auf dich zu – und löst dich auf, während sie sich erklärt.
Deine Finger werden flüssig.
Dein Schrei wird Ölfarbe.
Deine Augen werden Pinselstriche.
Ende:
Du bist jetzt ein neuer Farbtiegel im Regal.
„Das Grau der letzten Erkenntnis“.
Und du wartest auf den nächsten Besucher.
„Komm schon. Nimm den Pinsel.“
Eine interessante Geschichte. Das
Leben zeigt nur gute Geschichten.
Ich habe zwar nie was mit malerei am Hut. Aber ein Freund von mir
war Maler. Und der war auch begeistert von Farben. Und hat
munter abstrakte Bilder gemalt.
Keiner konnte den Kram deuten.
Aber die Farben waren der
Wahnsinn. Und auch natürlicher
als natürliche Farben. Der hat den
Farben ein Gesicht gegeben. Rot
war wieder Rot. Schwarz war wieder Schwarz. Grün war wieder Grün.
Und alles gemischt war bunt auch
wieder bunt. Dadurch waren die Sterne auch wieder Sterne. Und
der Mond war nicht nur wieder
der Mond. Er war auch wieder rund
der Mond. Und dann auf ein Bild zu sehen. Mit der Klarheit die Blume
ist wieder Blume. Das ist schon ein Wunder. Gerade in der Malerei.
Und wenn dann ein Berg wieder ein Berg ist. Dann gibt es noch Hoffnung.
Das total abstrakte und die Welt sind
wieder Eins. Die Malerei betritt neue
Kontinente. Und genau das sagt mir
diese Geschichte. Jeder Mensch sollte
neue Kontinente betreten. Seine
versauten Phantasien hinter sich lassen. Sein dreckiges Denken in die
Tonne treten. Die perverse Scheisse
in seinem Kopf entmisten. Und das alles reduzieren. In Dosen wo das wieder Spass macht. Und nicht in
Sümpfen unter gehen lässt. Eine
herrliche Geschichte! MfG Klaus
Kommentar:Hallo Klaus ???? Dein Kommentar ist wie ein Farbtopf voller Gedanken – wild, ehrlich und mit ordentlich Pinselstrich ins Herz. Du hast recht: Wenn Rot wieder Rot ist und der Mond wieder rund, dann hat die Malerei ihren Job gemacht. Und wenn wir unsere versauten Phantasien in Dosen packen, statt sie in Sümpfen zu versenken – dann ist sogar Hoffnung konservierbar ???? Danke für deine Worte. Sie sind wie ein Bild, das man nicht deuten muss, weil es einfach wirkt.
LG GrafJo
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Wer blockiert, der [ ... ]
Am Jahresend, November senkt sein müdes Haupt.
Gleich zu Beginn mit kleinen Lichtern wird gedacht,
all unsrer Lieben, die sich schon auf den Weg gemacht.
Selbst Farben die fortan [ ... ]