1. 290 Lichtjahre weit weg von zu Haus
2. Aarons kurze Geschichte
3. Albion, der Alchemist
4. Das Dorf der Zentauren
5. Das dunkle Geheimnis des Schriftstellers Mark Hollester
6. Das Geheimnis der Trias-Muschel
7. Das magische Buch
8. Die magische Perlenkette
9. Die neue Welt des Jerry Logan
10. Die Story von der schönen Söldnerin Ellen Eiries
11. Der alte Indianerhäuptling
12. Der Ausflug in die Wüste von Clancis World
13. Das Paket
14. Denn sie wollen nicht allein sein
15. Der Mann aus der Welt von der anderen Straßenseite
16. Zeitreise nach Golgatha
17. Die Frau in Weiß
18. Die Plasmakrake aus den Tiefen des Alls
***
1. 290 Lichtjahre weit weg von zu Haus
Ich drückte mit dem ausgestreckten Zeigefinger der rechten Hand zweimal kräftig auf den schwarzen Klingelknopf vor mir an der Hauswand und wartete geduldig auf eine Reaktion. Eine krächzende Stimme ertönte plötzlich aus dem Gegenlautsprecher und fragte auffordernd: „Wer ist da?“
„Mrs. Elena und Mr. Ken Mantell aus New York. Erkennungscode X73-BX134“, antwortete ich sofort.
„Bitte warten Sie einen Moment. Ich bin gleich bei Ihnen!“
Dann tat sich drinnen im Haus etwas.
Die schwere Eichentür wurde nur zaghaft geöffnet. Als der Spalt groß genug war, erblickte ich einen blass aussehenden jungen Mann, der einen müden Eindruck auf mich machte und meine Frau und mich misstrauisch musterte.
„Wir kommen wegen der geheimen Nachricht, die wir von einem Mitarbeiter ihrer Organisation erhalten haben. Wir wurden dazu aufgefordert, ihre Adresse aufzusuchen und ihnen das vereinbarte Kennwort mitzuteilen.“
„Wie lautet das Kennwort?“
„Vita“, antwortete ich ohne zu zögern.
Der junge Mann nickte sofort mit dem Kopf. Sein Gesichtsausdruck wurde auf einmal etwas freundlicher, und die Spur eines Lächelns huschte über sein Gesicht.
„Bitte kommen Sie doch herein, meine Herrschaften“, sagte er. „Das, was Sie suchen, befindet sich unter diesem Anwesen. Gehen Sie einfach hinter mir her. Die letzte Tür rechts am Ende des Flures führt direkt in den umgebauten Keller. Dort wird man Sie in Empfang nehmen. Sie dürfen aber trotzdem schon mal vor gehen.“
Dann wies er mit seiner rechten Hand in die angegebene Richtung. „Dort hinten, bitte.“
Wir gingen an dem schlaksigen Jungen vorbei durch einen holzgetäfelten Gang, der einen sehr gepflegten Eindruck machte. Das blankpolierte Holz schien allerdings schon in die Jahre gekommen zu sein, weil es bei jedem Schritt knirschte und knarrte. Dann kamen wir an eine Tür vorbei auf der KEIN ZUTRITT! stand.
Der Bursche blieb davor stehen.
„Ich habe noch etwas zu erledigen“, sagte er leise und fuhr fort: „Wenn Sie mich brauchen, stehe ich Ihnen natürlich jederzeit zur Verfügung. Wahrscheinlich wird das aber nicht nötig sein. Mein Kollege wird sich um alles kümmern. Er ist sehr erfahren.“
Ich gab ihm ein freundliches Ok-Zeichen.
„Wir werden schon zurecht kommen. Vielen Dank!“
„Dann bis später“, sagte der junge Mann und verschwand mit einem Kopfnicken.
Meine Frau und ich gingen zum Ende des Ganges vor und stiegen über eine breite, aber sehr lange Betontreppe runter in den komfortabel eingerichteten Keller, bis wir schließlich vor einer stabilen Eisentür standen. Fast ängstlich drückte sie die messingfarbene Klinke nieder. Im gleichen Moment schwang die Tür auf, und wir traten mit vorsichtigen Schritten in den vor uns liegenden Raum. Man konnte zunächst nichts erkennen, weil er nur spärlich beleuchtet war. Irgendwo lief eine Be- und Entlüftungsanlage surrend im Hintergrund.
Plötzlich stand wie aus dem Nichts ein alter Mann vor uns, der meine Frau und mich prüfend ansah. Wir erschraken etwas. Bevor er etwas sagte, sog er an seiner Zigarette und blies den Rauch in die Luft.
„Treten Sie doch näher, meine Herrschaften! Nur zu! Ich möchte mich bei Ihnen zuerst einmal entschuldigen. Ich hätte Sie eigentlich schon oben in Empfang nehmen sollen. Bin leider aufgehalten worden. Bitte verzeihen Sie mir! Mein Name ist übrigens Jeff…, Jeff Lucas. Wer Sie sind, weiß ich bereits aus den erhaltenen Unterlagen. Heute ist jedenfalls IHR großer Tag, nicht wahr? Sie werden bestimmt nicht enttäuscht sein. Alle, die hier waren, sind als glückliche Menschen wieder von uns gegangen. Sie werden es selbst erleben. Aber was erzähle ich Ihnen denn da? Man hat Sie ja schon über alles vorab informiert. Die Organisation schickt ja niemanden zu uns, dem sie nicht absolut vertrauen kann und der vorher nicht auf Herz und Nieren überprüft worden ist. Wie gesagt, man hat Sie über alles Wichtige schon ausführlich aufgeklärt und warum unsere Arbeit so streng geheim bleiben muss. Ich bitte Sie beide jetzt nur noch darum, das mitgeführte Vertragsschreiben an mich auszuhändigen. Wenn die Formalitäten erledigt sind, kann es von mir aus losgehen.“
Ich kramte etwas umständlich in der rechten Manteltasche herum, suchte nach dem sich dort befindlichen Dokument mit unseren Unterschriften und überreichte es dem alten Herrn, der es sofort aufklappte und durchlas. Nachdem er alle wichtigen Angaben im Schein einer hellen Schreibtischlampe überprüft hatte bat er uns, ihm zu folgen. Langsam gingen wir hinter ihm her. Dann schaltete er das Licht der feierlich wirkenden Wandbeleuchtung ein und erst jetzt konnten meine Frau und ich sehen, dass der fensterlose Raum so groß wie eine Halle war, die sich tief in der Erde befand.
„Das ist schier unglaublich“, sagte sie hinter vorgehaltener Hand mit leiser Stimme zu mir. „Der Regenerator hat all die vielen Jahrhunderte keinen Schaden genommen. Er ist noch völlig intakt.“ Sie schaute mich an und ihre Augen blitzten wie zwei funkelnde Sterne vor lauter Glück. Ich gab ihr zu verstehen, dass ich ebenfalls überwältigt war und drückte sie einen kleinen Moment an mich.
Ja, endlich waren wir am Ziel. Wir hätten es beinahe nicht mehr geschafft. Der Umweg über diese Organisation stellte ein notwendiges Übel dar. Wir wollten kein Aufsehen erregen.
Zaghaft und mit zitternden Knien gingen wir auf den in der Hallenmitte etwa zwanzig Zentimeter über den Boden schwebenden, riesenhaften Kubus zu. Er reichte bis an die Decke, die bestimmt eine Höhe von sechs oder sieben Metern hatte. Grelles Licht drang von Innen aus dem Würfel durch einen sich langsam verbreiternden Eingang und blendete uns für einige Sekunden. Der Regenerator war aktiv.
Der Alte ging jetzt schnell an uns vorbei und blieb dann vor dem gewaltigen Kubus stehen, den er irgendwie zu bewundern schien. Dann drehte er sich zu uns herum und fing an zu reden.
„Sie stehen hier vor einem dieser sagenhaften Regeneratoren, von denen es weltweit angeblich nur zwei geben soll. Ein professioneller Schatztaucher fand dieses Wunderding in einem völlig intakt gebliebenen außerirdischen Raumschiff, das er im Jahre 2050 in der Nähe einer unbekannten Insel im Pazifischen Ozean durch Zufall entdeckte. Das gewaltige Raumschiff konnte er nicht bergen, das war ihm klar, wohl aber diesen Würfel, der sich schwebend in einer der geöffneten Lade- oder Rettungsluken befand. Der zweite Kubus wurde nie entdeckt. Er blieb verschwunden. Niemand weiß bis heute, was aus der Besatzung des Raumschiffes geworden ist, die aus irgendeinem Grund im Pazifischen Ozean vor der kleinen unbewohnten Insel mit ihrem Schiff im Meer gelandet war. Sie müssen es verlassen haben, denn es wurden keine Leichen gefunden. Vielleicht wollten sie das Leben der Menschen erforschen und haben den zweiten Würfel einfach mitgenommen. Wohin? Wer weiß das schon? Nun, nachdem der besagte Schatzsucher mit vier weiteren eingeweihten Männern den Kubus in Sicherheit gebracht hatten und im Laufe der Zeit durch verschiedene Tests von seinen unglaublichen Eigenschaften erfuhren, wurde allen schnell die immense Bedeutung ihres hochbrisanten Fundes klar. Sie behielten daher das Geheimnis für sich und gründeten eine finanziell sehr einträgliche Geheimorganisation, die noch heute vom Entdecker des Regenerators geleitet wird. Ausgesuchte Personen zahlen ein Vermögen für die Verlängerung ihres Lebens durch die Verjüngung des von Krankheit und Tod gekennzeichneten alten Körpers. Theoretisch könnte man unsterblich werden, sooft man die Prozedur wiederholt. – Wer der Mann ist, der das hier alles möglich macht? Außer seinen engsten Freunden von damals kennt ihn niemand. Keiner von uns hat weder ihn noch seine eingeweihten Mitarbeiter je so richtig zu Gesicht bekommen. Das einzige, was wir von ihnen wissen ist die Tatsache, dass sie alle fünfzig oder sechzig Jahre unter strengster Geheimhaltung als alte Männer zu uns kommen und als junge diesen Raum wieder verlassen. Der junge Kerl von oben an der Tür, der Sie reingelassen hat, soll angeblich ein Mitglied des Bergungsteams von damals sein. Jedenfalls behauptet er das. Er sagt, dass der Regenerator einige Geheimnisse in sich birgt und angeblich sogar so etwas ähnliches wie ein kleines Raumschiff sein soll. Einige Kammern sind einfach nicht zu öffnen, weil sie versiegelt sind und nicht geöffnet werden können. Vielleicht ist das auch ganz gut so. Seiner Ansicht nach müssen sich ungeheure Energiemengen dahinter befinden. Er spricht von komprimierter Antimaterie oder so, die, wenn sie unkontrolliert freigesetzt würde, einen ganzen Planeten in Schutt und Asche legen kann. Ich verstehe davon allerdings nichts. – Tja, das ist so im Großen und Ganzen die Geschichte dieses Dings hier. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Ich würde Sie jetzt nur noch darum bitten, die vordere Kammer des Kubus zu betreten. Legen Sie sich getrennt in die beiden Liegebuchten und schließen Sie Ihre Augen. Bleiben Sie ganz ruhig, wenn die Kammer hermetisch geschlossen wird. Die ganze Prozedur dauert nicht länger als eine halbe Stunde. Danach können Sie den Regenerator verlassen und sind wieder so jung wie früher, als Sie siebzehn oder achtzehn Jahre alt waren. – Viel Glück, meine Herrschaften und ein angenehmes, neues Leben wünsche ich Ihnen noch nach Ihrer Verjüngung!“
Meine Frau und ich gingen jetzt langsam auf den weit geöffneten Eingang des Kubus zu, dessen Außenhülle zu vibrieren begann.
„Ich bin überwältigt. Wir haben es geschafft, Elena. Nach so langer Zeit können wir endlich unsere Mission der Erforschung des Planeten Erde zu Ende führen. Es ist fast wie ein Wunder, dass wir den Kubus doch noch rechtzeitig gefunden haben. Was haben wir uns viel Ärger damit eingehandelt, als wir damals das Raumschiff so sorglos und unbeobachtet zurück ließen. Keiner von uns beiden wäre doch auf die Idee gekommen, dass man unser Raumschiff unterhalb der Meeresoberfläche in einem der abgelegensten Ecken dieser Welt je entdecken würde. Die Menschen sind wie die Ameisen. Sie sind einfach überall.“
„Ken, lass uns nicht mehr daran denken. Wir haben Anfängerfehler gemacht. In Zukunft wird uns das nicht mehr passieren.“
Elena drehte sich jetzt ganz zu mir herum und schaute mich aus zufriedenen Augen an. Ihr von tiefen Altersfurchen durchzogenes Gesicht strahlte plötzlich eine unglaubliche Ruhe aus. Dann fuhr sie mit sanfter Stimme fort: „Ich dachte zuerst, wir würden es nicht schaffen. Aber jetzt, wo ich den Regenerator betrete, weiß ich, dass sich unsere Arbeit und unsere Ausdauer gelohnt haben. Sicher, ich gebe zu, das der Peilsender Schwierigkeiten hatte, den Kubus zu lokalisieren. Sie haben ihn wirklich gut abgeschirmt. Nicht umsonst sind wir auf der Welt des Menschen ein ganzes Leben lang herumgereist und haben nach ihm gesucht. Wir sollten uns daher beeilen. Ich kann es kaum erwarten, wieder nach Hause zu fliegen.“
Ich gab Elena recht. Mir ging es nicht anders. Aber vorher mussten wir noch mit dem Kubus zu unserem wartenden Raumschiff im Pazifischen Ozean fliegen, das uns zum Planeten ALTARIS II in einer Spiralgalaxie, 290 Lichtjahre vom System Sol entfernt, zurück bringen wird. Auf dem Flug zum Raumschiff würde uns der Regenerator im Innern des Kubus verjüngen, damit wir als junge Besatzung endlich die langersehnte Reise durch die Unendlichkeit des Alls zurück zu unserem Heimatplaneten beginnen können. Leider müssen wir den zweiten Kubus auf der Erde zurück lassen, der mehrere Generationen lang unsere einzige Überlebenschance gewesen war, bis er vor etwa sechzig Jahren bei einem schweren Erdbeben von herabstürzenden Felsbrocken schwer beschädigt wurde. Das wiederum führte dazu, dass der Regenerator seine Funktion automatisch abschaltete, um die Energie auf den Erhalt des Magnetfeldes zu konzentrieren. Eine der vier Materiekammern war stark deformiert worden und drohte zu zerbersten. Die Antigravitationshülle mit ihrem starken Magnetschild wird wohl irgendwann dem gewaltigen Druck der Antimaterie im Innern der Kammern nicht mehr standhalten. Gelangt die Antimaterie erst mal nach draußen, entsteht sofort ein alles vernichtender Materiebrand, der sich schließlich mit wachsender Geschwindigkeit durch den Planeten fressen und am Ende dieses unumkehrbaren Prozesses die Erde wie einen aufgeblasenen Ballon explodieren lassen wird.
Aber bis dahin kann es noch lange dauern. Die Antigravitationshülle hält mehrere hunderttausend Jahre stand, bis sie vielleicht mal irgendwann kollabiert. Ob die Menschheit dann noch existiert, ist unseren Untersuchungen und Forschungsergebnissen nach sowieso sehr fraglich.
Unsere Mission war jedenfalls ein voller Erfolg. Noch nie war ein Raumschiff unserer Rasse so weit weg in den unbekannten Weiten des Weltraums vorgedrungen. Die wissenschaftliche Ausbeute ist einfach überwältigend.
Doch bis wir ALTARIS II erreicht haben werden, bedarf es noch sehr vieler Regenerationen unserer Körper. Aber wenn wir endlich da sind, wird man uns als Helden feiern.
Der siebzehnjährige Aaron Schwarzfeld wusste nicht, was er an diesem Tag machen sollte. Er langweilte sich fast zu Tode. Außerdem hatten erst kürzlich die großen Schulferien begonnen, und die meisten seiner Schulfreunde, die mit ihm das Gymnasium besuchten, waren mit ihren Familien zusammen in den wohlverdienten Urlaub gegangen und irgendwo hin gereist, wo sie sich, völlig losgelöst von der Tretmühle des gewöhnlichen Alltags, endlich mal nach Lust und Laune so richtig entspannen und ihren persönlichen Vergnügungen nachgehen konnten. Aaron war wohl einer der wenigen Schüler, die ihre Ferien zuhause verbringen mussten, was natürlich, je nach Lage der Dinge, bei dem einen oder anderen so seine entsprechenden Gründe hatte, wie bei ihm auch.
Weil fast keiner seiner Bekannten mehr da war, gammelte Aaron jetzt nämlich die meiste Zeit in den Ferien einfach so herum, ging mal hier oder da hin und ließ den lieben Gott einen guten Mann sein. Er fand das eigentlich ganz prima so. Große Alternativen gab es für ihn sowieso nicht.
Andererseits wusste der junge Mann nur zu gut, dass seine geschiedene Mutter, die jeden Tag von früh bis spät in einer kleinen Cafeteria arbeitete, nicht das nötige Geld für einen Urlaub aufbringen konnte, denn sie verdiente nicht viel. Ihr karger Lohn reichte gerade mal aus, um sie beide einigermaßen vernünftig über die Runden zu bringen. Seinen Vater hatte er schon lange nicht mehr gesehen, aber auch dafür gab es seine ganz bestimmten Gründe, die bei ihm, wenn er daran dachte, nur Bauchschmerzen verursachten.
Nachdem sich Aarons Eltern voneinander getrennt hatten, kam sein Daddy fast jeden Monat mindestens einmal zu ihm nach Hause, um ihn zu besuchen. Und weil Mutter mit ihren Finanzen streng haushalten musste, ließ sein Vater oft reichlich Taschengeld für ihn da, das der junge Mann allerdings eisern sparte und auf die hohe Kante legte. Er wollte nicht immer von seiner Mom abhängig sein, wenn er mal Geld brauchte.
Etwa zwei Jahre ging das so, bis eines Tages seine Mutter zu ihm sagte, dass sein Vater wegen schweren Betruges von einem Gericht zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt worden sei und Daddy ihn deswegen nicht mehr besuchen könne. Aaron war von dieser überaus schlechten Nachricht völlig überrascht worden und zutiefst schockiert. Das hätte er ausgerechnet von seinem Vater nicht erwartet, der für ihn in vieler Hinsicht immer ein großes Vorbild gewesen war. Nie hatte sich sein Daddy vorher derartiges zuschulden kommen lassen, jedenfalls nicht in der Zeit, als die Familie noch intakt gewesen war.
Aarons schulische Leistungen ließen daraufhin, aufgrund der vielen negativen Ereignisse, die über ihn hereinbrachen, schon bald merklich nach, doch er konnte sich, trotz aller schicksalhaften Widrigkeiten, im Laufe der Zeit glücklicherweise soweit fangen, dass seine Noten nach und nach langsam wieder besser wurden. Darüber freute sich besonders seine Mutter, die sich schon wegen seines allgemeinen Leistungsabfalls in der Schule große Sorgen gemacht hatte, und sie nahm an, dass er vielleicht aufgrund der vielen Probleme, denen er durch das schlechte Beispiel seiner Eltern ausgesetzt war, nun möglicherweise auf die schiefe Bahn geraten könnte. Sie machte sich deshalb große Vorwürfe und tat alles, was in ihren Kräften lag, ihrem einzigen Jungen ein liebevolles Zuhause zu geben, was ihr allerdings nicht immer im vollen Umfange gelang.
Aber Aaron war einer dieser unentwegten Kämpfer, die nicht so schnell aufgaben, und er wollte die ganze Sache eben nicht noch schlimmer machen, als sie insgesamt schon war. Trotz seiner erst siebzehn Jahre war er dennoch ein überaus vernünftiger junger Mann, der zuerst nachdachte, bevor er handelte. Es war gerade diese besondere Eigenschaft, die ihm in jeder Hinsicht zugute kam, so auch in der Schule.
***
Es war früher Vormittag. Draußen schien die Sonne von einem herrlich blauen Himmel herab.
Aaron stand einfach nur so da und schaute jetzt ein bisschen in der Gegend herum. Viel zu sehen gab es hier draußen am schwach besiedelten Stadtrand allerdings nicht, der schon nach ein paar hundert Metern nach und nach in eine schöne, bis zum Horizont reichende Wald- und Wiesenlandschaft überging.
Nach einer Weile der Unentschlossenheit entschied sich der junge Mann dazu, an diesem herrlichen Tag seine Mutter in der Cafeteria zu besuchen. Das schicke Lokal lag mitten in der Stadt an der stets belebten Hauptstraße. Das Geschäft lief eigentlich recht gut, wie er wusste. Besonders in der Mittagszeit war die Cafeteria immer voll besetzt, weil viele Angestellte aus den umliegenden Büros hierher zum Essen kamen.
Auch Aaron dachte in diesem Augenblick an eine kleine Mahlzeit, die er sich von seiner Mutter kostenlos geben lassen wollte. Das tat sie immer, wenn er bei ihr vorbeischaute. Vielleicht würde er sich diesmal einen heißen Kaffee und ein leckeres Stück Apfelkuchen von ihr geben lassen, denn gerade Apfelkuchen mochte er besonders gern. Der Gedanke daran gefiel ihm und deshalb marschierte Aaron auch gleich los, hinunter in die nah gelegene City, wo es unter anderem eine Reihe großer Kaufhäuser gab, die er sich heute vielleicht mal wieder von innen ansehen wollte. Besonders die Sportabteilungen der Kaufhäuser interessierten ihn ganz besonders, weil es dort immer wieder interessante Neuigkeiten für Skatboarder wie ihn gab.
***
Einige Zeit später. Es war bereits kurz nach Mittag.
Der junge Mann verabschiedete sich von seiner Mutter und verließ die kleine Cafeteria wieder. Er war gut gelaunt. In der rechten Hand hielt er noch einen halbvollen Becher dampfenden Kaffees, den er lieber draußen weiter trinken wollte.
An der mit vielen schönen Kuchen und Torten ausgestatteten Selbstbedienungstheke hatte er sich gleich zwei ziemlich große Stücke eines extra für die Gäste bereit gestellten Apfelkuchens ausgesucht und auf einen großen Pappteller legen lassen, aber am Ende nur ein Stück davon gegessen. Das andere Teil hatte seine Mutter für ihn eingepackt, denn sie sollte es nach Ende ihrer Arbeit später mit nach Hause nehmen. Bestimmt bekam er abends wieder Hunger.
Aaron dachte jetzt darüber nach, wo er den Rest seines Kaffees in aller Ruhe zu Ende trinken konnte, bevor er ins Kaufhaus gehen wollte, das sich nicht unweit der Cafeteria seiner Mutter nur ein paar Häuserblocks weiter unten auf der gleichen Straßenseite befand. Da es ganz in der Nähe einen schönen Stadtpark mit vielen schattigen Plätzen gab, trabte er los, um dorthin zu gehen.
Schon bald saß der junge Mann auf einer abgelegenen Parkbank der innerstädtischen Grünanlage und machte es sich dort bequem. Gleich neben der hölzernen Bank stand eine mit einer grünen Schicht Moos überwachsenen Großskulptur, die den römischen Gott Mars darstellte, der im antiken Rom ein Gott des zerstörerischen Krieges und der Schlachten gewesen war.
Während Aaron genussvoll den restlichen Kaffee trank, betrachtete er von der Seite her die in Marmor gehauene antike Gottheit, die auf ihn einen ziemlich lebensechten Eindruck machte, trotz des überall wuchernden Mooses, das sogar schon das Gesicht der Skulptur mit seiner dunkelgrünen Farbe überzogen hatte. Aaron bewunderte auf seine ganz persönliche Art und Weise die meisterliche Kunst des unbekannten Bildhauers, der diese faszinierende Bildsäule vor langer Zeit mal geschaffen hat. Sie erschien ihm einfach vollkommen. Darüber hinaus genoss der junge Mann die wohltuende Stille einer absolut ruhigen Umgebung und beinahe wäre ihm der Becher Kaffee aus der Hand gerutscht, weil ihn plötzlich die Müdigkeit zu übermannen drohte.
Ganz unerwartet wurde Aaron von einem lauten, aufdringlichen Geräusch gleich hinter dem wuchtigen Sockel der Statue aufgeschreckt. Es hörte sich fast so an wie der Klingelton eines Handys, nur dass dieser in einer ziemlich seltsam anmutenden Melodie erfolgte, die Aaron bis dahin noch nie gehört hatte. Es klang fast so, als würde jemand auf einer Holzflöte spielen.
Aarons Neugier war schlagartig geweckt worden. Er trank hastig den Becher Kaffee leer und warf ihn in den Abfallkorb gleich rechts neben der Parkbank, auf der er saß. Dann stand er mit einem Ruck auf und folgte der seltsamen Melodie. Unmittelbar hinter der wuchtigen Statue entdeckte er zu seiner großen Überraschung einen blinkenden Gegenstand, der aussah wie der schlanke Joystick eines Spiele-PC’s. Oben, auf der oval geformten, wuchtigen Oberfläche des handlich geformten, metallisch glänzenden Griffes, leuchtete allerdings ein kleines blaues Licht, das sich wie im Kreis um einen Mittelpunkt herum zu bewegen schien.
Verwundert und vorsichtig näherte sich Aaron dem silbrig farbigen Objekt und stieß es mit dem rechten Fuß etwas an. Der schlanke Griff rollte dabei nach hinten und legte die andere Seite frei, die vorher noch dem Boden zugewandt war. In der Mitte befand sich ein runder, erhabener Knopf mit geheimnisvoll aussehenden Zeichen darauf, die kunstvoll eingraviert worden waren. Die Symbole machten auf Aaron einen sehr abstrakten Eindruck, und sie sahen wirklich überaus geheimnisvoll aus. Der junge Mann hatte so etwas in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen.
Vielleicht hatte irgend jemand das komische Ding hier ja nur verloren. Möglicherweise stammte es sogar aus dem Gerätekoffer irgendeines Messtrupps der Feuerwehr, der Gas- und Stadtwerke oder irgendeiner anderen staatlichen Einrichtung, die derart ungewöhnlich aussehende Apparate wohl besaßen, um Messungen irgendwelcher Art damit durchzuführen, dachte sich Aaron so, nahm den etwa zwanzig Zentimeter langen, stabförmigen Griff vorsichtig in die rechte Hand und trug ihn behutsam zur Parkbank zurück, wo er noch vor wenigen Minuten ganz entspannt gesessen und den heißen Kaffee seiner Mutter genussvoll getrunken hatte. Abermals nahm er Platz und betrachtete jetzt ausgiebig das leicht gekrümmte Objekt in aller Ruhe, das überraschender Weise total griffsicher, schon fast wie angepasst, in seiner Hand lag, als wäre es ausschließlich nur dafür gemacht worden, es so und nicht anders zu halten. Nur den auffälligen Knopf versuchte er nicht zu berühren. Er kannte ja seine Funktion nicht. Jedenfalls noch nicht.
Ein leichter Windstoß kam plötzlich auf und eine rücksichtslos weggeworfene Zeitung rutschte an Aarons Platz vorbei. Rein zufällig schaute der junge Mann der Zeitung hinterher und erblickte dabei gleichzeitig ein buntes Foto mit den ägyptischen Pyramiden von Gizeh auf einer der ihm zugewandten Seite.
Verursacht durch die ruckartig drehende Bewegung seines Körpers berührte Aaron ungewollt den erhabenen Knopf in der Mitte des geheimnisvollen Gegenstandes, wobei sich sogleich das Leuchten des blauen Lichts oben auf dem verdickten Griff intensivierte, das kurz darauf unaufhaltsam stärker und stärker wurde, bis es den jungen Mann schließlich von Kopf bis Fuß völlig erfasst hatte und ihn bald wie eine große Seifenblase komplett umhüllte.
Aaron konnte wegen der sich überstürzenden Ereignisse nicht sofort begreifen, was da mit ihm geschah. Schon im nächsten Augenblick gab es einen lauten Knall und der junge Mann war mit dem Ding zusammen verschwunden, als hätte er sich von einer Sekunde auf die andere einfach so in Luft aufgelöst. Sein Platz auf der Parkbank, gleich neben der römischen Gottheit, war leer und nichts deutete darauf hin, dass er hier noch vor wenigen Sekunden gesessen hatte. Nur die alte Zeitung, erneut erfasst von einer leichten Windbö, trieb auf dem geteerten Gehweg weiter und blieb bald im dichten Geäst eines Strauches hängen.
***
Für Aaron veränderte sich die Umgebung schlagartig. Plötzlich stand er mit dem Ding in der Hand vor den ägyptischen Pyramiden. Heißer Wüstensand rieselte in seine ausgetretenen Halbschuhe. Noch völlig benommen schaute er sich um. Er kannte diese gewaltigen, steinernen Monumente, die hier wie selbstverständlich in der Wüste standen und zu den sieben Weltwundern gehörten. Ein ägyptischer Pharao Namens Cheops ließ sie sich als ein Denkmal für die Ewigkeit bauen, eben diese unfassbaren Bauwerke, die Pyramiden von Gizeh in Ägypten, die zu den bekanntesten und ältesten erhaltenen Bauwerken der Menschheit gehörten.
Aaron bekam es mit der Angst zu tun, als er in der Ferne einen aufkommenden Sandsturm erblickte, der den Tag zur Nacht machte. Außerdem war die Luft unerträglich warm, und er fing am ganzen Körper heftig an zu schwitzen. Er war dieses trockenheiße Klima einfach nicht gewöhnt, obwohl er in einer ziemlich guten körperlichen Verfassung war. Dann bemerkte er eine Karawane, die direkt auf ihn zuhielt. Er konnte schon die aufgeregten Stimmen der Kamelreiter hören, die lauter und lauter wurden, je näher sie kamen. Sie klangen hektisch und aufgebracht. Hatte man ihn möglicherweise entdeckt? Aaron geriet in Panik. Fast instinktiv drückte er auf den halbrunden Druckknopf in der Mitte des schlanken Gegenstandes und noch im gleichen Augenblick umgab ihn wieder diese seltsam bläuliche Aura, die sich schnell zu einer mannshohen Blase ausformte. Es knallte abermals fürchterlich, dann verschwand er von der Bildfläche und tauchte nur Sekunden später wieder gleich neben der Parkbank auf, haargenau an dem Ort, wo er vor seinem Sprung nach Ägypten gestanden hatte.
Ein absurder Gedanke schoss ihm schlagartig durch den Kopf, der ihm sagte, dass dieser seltsame Teleporterstab auf gar keinen Fall menschlichen Ursprungs sein konnte, sondern höchstwahrscheinlich ein Artefakt irgendwelcher Alien sein musste, die sich damit offenbar auf die gleiche Art und Weise durch Raum und Zeit bewegten. Er selbst hatte das ja durch einen dummen Zufall heraus gefunden. Dem jungen Mann wurde schwindlig, denn alles kam ihm bei weiterem Nachdenken doch irgendwie ein bisschen unheimlich und seltsam vor. Er wusste außerdem nicht, was dieses Ding noch alles so konnte.
Trotzdem wollte er das außerirdische Ding behalten und mit nach Hause nehmen, denn Aaron begriff sofort, welche Möglichkeiten es ihm bot. Er konnte hinreisen, wohin er wollte, bis ans Ende der Welt, wenn ihm danach war. Er brauchte sich offenbar nur ein schönes Bild oder irgendein buntes Foto, aus welcher Ecke der Erde auch immer, mit dem Blick seiner Augen genauer ansehen und fixieren, dann den Knopf auf dem Stab drücken und schon war er im nächsten Augenblick ohne Zeitverlust am Ort seiner Wünsche.
***
Als Aaron zu Hause angekommen war, ging er sofort auf sein Zimmer und schloss es hinter sich ab. Manchmal kam nämlich seine Mutter etwas früher zurück von der Arbeit und er wollte nicht, dass sie etwas davon erfuhr, was er da mitgebracht hatte. Dann suchte er in den Schubladen seines Zimmerschrankes nach irgendwelchen bunten Illustrierten und Büchern mit farbigen Fotos aus aller Welt. Schon bald stapelten sich mehre Zeitschriften und Bücher auf seiner bequemen Sofa Couch.
Darunter war auch ein Buch mit zahlreichen Bildern der NASA von allen Planeten des Sonnensystems. Doch an einer Reise zum Mond und zum Mars oder zu einem anderen Ort im näheren und ferneren Universum..., nein, daran war er nun wirklich nicht interessiert. Da draußen waren die Lebensbedingungen für einen Menschen auf einem fremden Planeten mit Sicherheit sowieso tödlich. Ihnen daher einen Besuch abzustatten, und sei er noch so kurz, erschien ihm sinnlos und mithin undurchführbar.
Aaron entdeckte auf einmal ein farbiges Bild, das einen Ausschnitt der Rocky Mountains zeigte. Sofort konzentrierte er seinen Blick darauf, drückte ohne lange zu zögern den Knopf des Alien-Teleporterstabes und im nächsten Moment verschwand er im Nichts. Nach weniger als einer Minute war er allerdings schon wieder zurück und landete etwas unsanft auf seiner Sofa Couch. Aaron wiederholte den Vorgang mehrmals hintereinander, jedes Mal mit einem anderen Bild. Das Teleportieren klappte bald vorzüglich und verursachte auch keinerlei gesundheitliche Probleme. Mal war Aaron für wenige Minuten in Moskau, dann wieder in Paris, Berlin oder London. Aus Versehen geriet er sogar mal in die Antarktis und wäre beinahe mit einem Eisbären zusammengestoßen, der plötzlich vor ihm stand und wohl genauso erschrocken war wie er. Routiniert hatte Aaron aber sofort auf den Knopf des außerirdischen Wunderstabes gedrückt und erschien wenige Sekunden später wieder in seinem Zimmer, wenngleich auch von der arktischen Kälte leicht unterkühlt.
Für diesen Tag hatte Aaron jedenfalls genug vom Teleportieren und warf das geheimnisvolle Ding achtlos auf sein Sofa. Von dem vielen Hin- und Herspringen durch Raum und Zeit war er total müde geworden. Außerdem roch er nicht gut, weil er oft heiße Länder besucht hatte, die ihm das Schwitzwasser aus den Poren getrieben hatten. Deshalb wollte sich Aaron erst einmal ausgiebig duschen und ein wenig frisch machen. Also ging er rüber ins Badezimmer und machte sich schon mal für die kommende Nacht fertig. Er hörte noch, wie seine Mutter nach Hause kam und mit lauter Stimme seinen Namen rief, aber da stand er schon längst unter der Dusche, drehte an der Mischbatterie herum und ließ alsbald das Wasser laufen. Mutter würde es schon bemerken, dass er da war, dachte Aaron so für sich.
***
Als der junge Mann mit allem fertig war, ging er zurück auf sein Zimmer, zog sich den Schlafanzug an, griff noch beim Anziehen desselben nach der Fernsteuerung seines kleinen TV-Gerätes, schaltete es ein und zappte sich durch die verschiedenen Programme. Dann erschien plötzlich eine BBC-Sendung, die sich mit den gewaltigen Sonneneruptionen beschäftigte, die von dem Hubble-Weltraumteleskop gemacht worden waren. Der riesige Glutball erfüllte den ganzen Bildschirm, und Aaron setzte sich interessiert auf seine Sofa Couch.
Im gleichen Augenblick spürte er noch, dass er sich wohl genau mit seinem Hinterteil auf den metallenen Teleporterstab gesetzt und dabei ungewollt seine Aktivierung ausgelöst hatte. Siedend heiß erkannte Aaron sofort die gefährliche Situation. Er versuchte noch verzweifelt den Blick seiner Augen vom Bildschirm zu lösen, auf dem immer noch die Bilder der gewaltigen Sonneneruptionen gezeigt wurden. Dann erhob er sich wie von der Tarantel gestochen von der Stelle auf der er saß und fingerte nach dem geheimnisvollen Stab, der irgendwo zwischen den vielen Illustrierten lag. Er bekam ihn noch zu fassen, doch da war es bereits zu spät. Das blaue Licht kroch schon an ihm hoch, erzeugte in sekundenschnelle eine seinem Körper angepasste Energieblase und im gleichen Moment war Aaron verschwunden.
Seit der Zeit wurde der junge Mann vermisst und bald gab man die Suche nach Aaron auf.
Und oben, am schönen blauen Himmel, leuchtete am nächsten Tag wie immer eine helle, Leben spendende Sonne, als wäre nichts geschehen.
ENDE
(c)Heiwahoe
3. Albion, der Alchemist
Der Wind strich sanft über die wogenden Ähren draußen in den weiten Feldern und kräuselte fast lautlos die silbrige Wasseroberfläche des nahe gelegenen Flusses, der sich träge durch die dunkle Landschaft schlängelte.
In weiter Ferne ragten die hohen Türme der wuchtigen Stadtmauern und ein Meer von Dächern, die nur vom hellen Mondlicht übergossen wurden, in einen nachtschwarzen, Sternen übersäten Himmel hinein.
Wie überall, so herrschte auch hier vor der Stadt stille Einsamkeit.
Eine feierliche Ruhe schwebte empor zu Albion, dem Alchemisten, die tief in sein Herz drang und ihm einen zufriedenen Seufzer entlockte.
Frei und glücklich fühlte er sich in dieser Nacht, wie schon seit langem nicht mehr. In wundervoller Klarheit nahm er seine Welt um sich herum gewahr, die er still und hingebungsvoll beobachtete.
Und doch schien sie ihm so unendlich fremd, ja schier unbegreiflich zu sein. Lag es an seinem gewagten Vorhaben, das er jetzt endlich und unwiderruflich verwirklichen wollte?
Seine Gedanken wanderten plötzlich unruhig hin und her.
Offenbarten sich die Wunder des Universums für ihn nur in den Laboratorien, in den Dämpfen brodelnder Mixturen oder beim Gezische siedender Elixiere?
Oder gab es da noch was anderes?
Er wollte es unbedingt heraus bekommen.
War nicht vielleicht der Wunder allergrößtes jene demütige Ehrfurcht, die von der schlummernden Natur in solch heiligen Augenblicken dem wagemutigen Versucher von irgendwoher auf geheimnisvolle Art und Weise zugetragen wurde, um ihn von seinem frevelhaften Tun abzubringen?
Und weiter fragte sich der Alchemist, ob die planvolle, harmonische Schönheit der Natur – der sanfte Schwung der fernen Hügelketten am Horizont, zu denen er gerade andächtig hinüberschaute, die spiegelnde Oberfläche des träge dahin fließenden Wassers, das klare, verzaubernde Licht des Mondes hoch über dem Fluss, welches sich wie ein Mantel des Unwirklichen über die weite Landschaft ausbreitete, ja musste das nicht in seiner Gesamtheit für alle Zeit ein unlösbares Rätsel für ihn bleiben, trotz seines scharfen Verstandes und seines alles überragenden Wissens? – Und gebar nicht jedes Rätsels mühevolle Lösung ein noch schwerwiegenderes, so dass die gefundenen Lösungen im Grunde genommen nie ein Ende nahmen? Was würde ihn erwarten, wenn sein bevorstehendes Experiment wirklich gelingen sollte?
Ja was?
Albions Gefühle schienen in einen tiefen Abgrund zu fallen.
Wenn er schon wusste, wie sich die Gestirne im All bewegten, wer erklärte ihm jedoch schlüssig den Ursprung der Kraft, die sie durchs Universum treiben? Wer kannte die Ursache dafür, warum sie nach ganz bestimmten Gesetzen in vorgezeichneten, unveränderlichen Bahnen liefen?
Ja wer?
Tief in Gedanken versunken machte sich Albion wieder auf den Weg zurück in sein Labor, wo das von ihm zusammen gebraute Elixier schon vor Tagen seiner Vollendung in großen bauchigen Gläsern entgegen gereift war.
Die schäbige alte Kutte, die ihm schlaff am Körper runter hing, schleifte über den schmutzigen Erdboden und erzeugte dabei ein seltsam kratzendes Geräusch. Sein Gesicht war fahl, die Wangen eingefallen, so dass die Backenknochen weit heraussprangen. Seit Tagen hatte er schon kein richtiges Essen mehr zu sich genommen und wie von dunklen Mächten innerlich gejagt, strebte er einem fernen Ziel entgegen, von dem er nicht einmal wusste, wo es lag.
In seinem Laboratorium angekommen, schloss er sorgfältig die schwere Eichentür hinter sich zu, ging hinüber zur bereit stehenden Retorte und trank ohne lange zu zögern die rötlich schäumende Flüssigkeit darin bis zur Neige aus.
Nur wenige Minuten später.
Schwer und schwerer ging Albions Atem. Auf seiner bleichen Stirn perlte der kalte Schweiß, die trockenen, halbgeöffneten Lippen zuckten…, sein Blick hing noch immer an dem Glas, das jedoch plötzlich seinen matten Händen entglitt und laut krachend auf dem Fußboden in tausend Stücke zerbrach.
Doch dann tat sich etwas.
Sein bebender Körper erstrahlte auf einmal in einem wundersamen Licht, ganz überirdisch klar erfüllte es den Raum mit einem milden, bläulichen Schein, der den Alchemisten immer schneller kreisend wie ein rasender Wirbelwind erfasste.
Dann, von einer Sekunde auf die andere, war er plötzlich verschwunden.
Zurück blieb sein stilles Labor, wo Albion fast sein ganzes Leben verbracht hatte.
***
Prinz Sidden von Gautama stocherte geistesabwesend mit einem Zahnstocher zwischen den Zähnen herum. Mit eingehender Sorgfalt musterte er den weiten Nachthimmel, der sich über ihn ausbreitete. Rechts erkannte er eine Spirale silbernen Nebels. Sein Licht verblasste neben dem blauen, abgeplatteten Gestirn, das nahe über dem Zenit hing. Sein tiefblaues Licht strömte durch das transparente Rumpfsegment auf die künstlich angelegten Gärten des kaiserlichen Flaggschiffes „NOMUR“. Die weichen, beigefarbenen Sanddünen der Gärten erschienen wie gewellte Teppiche. Gelegentlich huschte eine dekorative Eidechse über den losen Sand, der an manchen Stellen von einer unbestimmten Anzahl grüner Riesenkakteen bedeckt wurde.
Prinz Sidden von Gautama räkelte sich genüsslich auf seinem weichen Plüschsofa. Mit gespielter Lässigkeit wandte er sich um und sah in das fahle Gesicht seines 1. kaiserlichen Wissenschaftlers Albion und fragte ihn nach dem Stand seines neuesten Projektes.
„Hoheit, wir stehen kurz vor der Vollendung des Antimaterie-Konverters. Diese bahnbrechende Erfindung wird unsere Raumschiffe in die Lage versetzen, mit Überlichtgeschwindigkeit zu fliegen. Und das ist erst der Anfang, mein Gebieter. Zeitreisen werden möglich sein. Des Kaisers Machtgebiet wird sich über alle bestehenden Grenzen von Raum und Zeit hinweg ausdehnen. Der jetzt schon gewaltige Einfluss des Herrschergeschlechts der Gautamas wird nicht mehr aufzuhalten sein.“
Der Prinz lächelte geschmeichelt.
„Ich bin darüber hoch erfreut, mein lieber Albion und weiß deine überragenden wissenschaftlichen Fähigkeiten zu schätzen. Auch mein Vater tut das. Aber bis heute hast du mir nicht verraten, woher du so plötzlich gekommen bist. Ich bin der Sohn des mächtigen Kaisers und habe es nicht so gerne, wenn man mir aus irgendwelchen Gründen die Wahrheit verschweigt oder ein Geheimnis vor unserer Herrscherfamilie verbirgt, das besonders mich als Thronfolger beunruhigen könnte. Außerdem gehörst du nicht zu unserer Rasse. Ich kann dir deshalb nicht in dem Umfange mein absolutes Vertrauen entgegen bringen, wie ich es mir von ganzem Herzen wünschen würde. Ich wollte dich eigentlich wegen deiner eisernen Verschwiegenheit schon vor Tagen deswegen köpfen lassen, aber du bist nun mal einer unserer fähigsten Wissenschaftler und im Augenblick einfach unersetzlich. Mein Eindruck ist der, dass du eine Gefahr für uns werden könntest, Albion. Deine Fähigkeiten scheinen grenzenlos zu sein. Doch denke daran, dass sich die wohlmeinenden Umstände irgendwann zu deinen Ungunsten verschieben könnten, mein Guter.“
Albion hustete etwas gekünstelt und griff sich instinktiv an den Hals.
„Hoheit würden mich sicherlich für schwachsinnig erklären lassen, wenn ich die Wahrheit über meine Herkunft erzählte. Aber wenn Sie es wünschen, werde ich alles offenbaren.“
„Nun denn, mein lieber Albion, beginne er endlich mit seiner Geschichte, ganz gleich wie phantastisch sie auch immer ausfallen mag. Und lüge mich bloß nicht an, denn meine Gedankenwächter beobachten dich genau. Sei also auf der Hut, mein 1. kaiserlicher Wissenschaftler.“
„Ich verstehe, mein Gebieter. Also möge er mir jetzt aufmerksam zuhören….“
Nach einer kurzen Denkpause fing Albion damit an, seine Geschichte zu erzählen.
„Ich war vor langer Zeit in einem anderen Leben Alchemist und entdeckte die Formel für ein geheimnisvolles Elixier. Nach Jahren harter Arbeit ging ich eines Tages spät in der Nacht nach draußen vor mein einsam gelegenes Haus, in dem mein Laboratorium untergebracht war. Es war die letzte Nacht in dieser alten Welt, denn ich hatte das Elixier fertig gestellt und wollte es an mir selbst ausprobieren. Noch einmal schaute ich mir deshalb alles ein letztes Mal an. Alles war so unwirklich ruhig, als ich einsam draußen in der fahlen Dunkelheit die Gegend durchstreifte. Dann ging ich in mein Laboratorium zurück und nahm den Wundertrank zu mir, der mich augenblicklich aus meiner Welt verschwinden ließ. Zu meiner großen Überraschung tauchte ich auf eurem Raumschiff „NOMUR“ wieder auf und wurde von dem kaiserlichen Wachpersonal sofort fest genommen. Als Sie, mein hochwohlgeborener Prinz Sidden von Gautama, von meinen außerordentlichen Fähigkeiten erfuhren, die ich auch unter Beweis stellen konnte, wurde ich alsbald zum 1. kaiserlichen Wissenschaftler befördert, was ich persönlich als eine überaus große Ehre für mich empfand. Meine Heimat, die Erde, liegt allerdings irgendwo da draußen in der Unendlichkeit des Universums. Wie ich dahin zurück kommen soll, das weiß ich nicht, denn mir fehlen die entsprechenden Koordinaten dazu. Das ist alles, mein Prinz."
Plötzlich riefen die Gedankenwächter wie im Chor mit lauter Stimme: „Er lügt, Prinz Sidden von Gautama. Er kennt die Koordinaten genau und weiß, wo die Erde liegt. Wir haben seine Gedanken lesen können. Der 1. kaiserliche Wissenschaftler hat das Herrschergeschlecht der Gautamas belogen. Darauf steht die Todesstrafe.“
Albion der Alchemist zögerte jetzt nicht lange und griff im Beisein des völlig verblüfften Prinzen in seine rechte Brusttasche, holte ein kleines verschlossenes Glas mit einer rötlichen Flüssigkeit aus ihr hervor, öffnete den Verschlusskorken und trank es mit einem einzigen tiefen Schluck leer.
Noch im gleichen Augenblick wurde der Alchemist von einem bläulichen Schein umhüllt, der seinen Körper immer schneller kreisend wie ein tobender Wirbelwind erfasste, bis er schließlich ganz darin verschwunden war. Die Waffen der kaiserlichen Soldaten prallten von dem Lichtwirbel ab, wie von einer unsichtbaren Betonwand. Sie zeigten nicht die geringste Wirkung.
Zurück blieb nichts als Leere an dem Ort, wo der Alchemist noch kurz vorher seine Geschichte erzählt hatte.
***
Der Wind strich sanft über die wogenden Ähren draußen in den weiten Feldern und kräuselte fast lautlos die silbrige Wasseroberfläche des nahe gelegenen Flusses, der sich träge durch die dunkle Landschaft schlängelte.
In weiter Ferne ragten die hohen Türme der wuchtigen Stadtmauern und ein Meer von Dächern, die nur vom hellen Mondlicht übergossen wurden, in einen nachtschwarzen, Sternen übersäten Himmel hinein.
Wie überall, so herrschte auch hier vor der Stadt stille Einsamkeit.
Eine feierliche Ruhe schwebte empor zu Albion, dem Alchemisten, die tief in sein Herz drang und ihm einen zufriedenen Seufzer entlockte.
Frei und glücklich fühlte er sich in dieser Nacht, wie schon seit langem nicht mehr. In wundervoller Klarheit nahm er seine Welt um sich herum gewahr, die er still und hingebungsvoll beobachtete.
Und doch schien sie ihm so unendlich fremd, ja schier unbegreiflich zu sein. Lag es vielleicht daran, dass er eine andere Welt besucht hatte, in der er der 1. kaiserliche Wissenschaftler gewesen war und nur knapp einer Hinrichtung entkommen konnte, wenn er sein Elixier nicht rechtzeitig getrunken hätte?
Tief in Gedanken versunken machte sich Albion wieder auf den Weg zurück in sein Labor. Dort angekommen, öffnete er die schwere Eichtür, trat in sein vertrautes Laboratorium, ging unverzüglich hinüber zur bereit stehenden Retorte und trank ohne lange zu zögern die rötlich schäumende Flüssigkeit darin bis zur Neige aus.
Dann, von einer Sekunde auf die andere, war er verschwunden.
Wohin es den Alchemisten Albion diesmal verschlagen hat, das kann ich euch schon sagen. Er tauchte nämlich ganz plötzlich bei mir auf, erzählte mir schließlich noch diese kleine Geschichte, bevor er sich wieder von mir verabschiedete und mit unbekanntem Ziel weiterreiste, vielleicht wieder zurück in seine Welt oder in eine andere irgendwo da draußen in der Unendlichkeit von Raum und Zeit.
ENDE
(c)Heiwahoe
***
4. Das Dorf der Zentauren
Ohne Träume sind wir verloren.
***
Draußen war es dunkel geworden.
„Ich hatte letzte Nacht einen Traum“, sagte das Mädchen Ahva zu ihrer Mutter.
Die Mutter blickte zum Halbmond empor. Sie zog den Kristall aus dem Lederbeutel und bewegte ihn hin und her, so dass sich das schwache Mondlicht in allen Farben des Regenbogens über das Gras ergoss. Überall funkelten jetzt bunte Halbmonde, die rasch über den abendlichen Grasboden dahin sausten.
Die Mutter sah dem farbigen Spiel der Lichter fasziniert zu. Erst als sich der Kristall ausgependelt hatte, wandte sie sich an ihre zwölfjährige Tochter.
„Deswegen musst du dich nicht ängstigen“, antwortete sie ihr und drückte Ahva mitfühlend die Hand. „Wir werden noch heute einen Weisen aufsuchen. Ich bin mir ganz sicher, dass er dich heilen kann.“
„Diesmal war es anders. Ich träumte von Krieg“, flüsterte das Mädchen. „Du weißt, was das bedeutet.“
„Nun, es bedeutet im Moment noch gar nichts“, sagte die Mutter. „Träume müssen nicht Wirklichkeit werden. Ich will damit nur andeuten, dass alles bloßer Aberglaube ist. Als ich so jung war wie du, träumte ich einmal von einem großen Land, in der nur lauter Wesen lebten, deren Haut weiß war, die aufrecht gingen und blutrünstig waren. Sind wir blutrünstig? Nein! Wir sind friedlich. Haben wir eine weiße Haut? Nein! Unsere Haut hat eine hässliche Farbe angenommen. Sie ist dunkelbraun und lederartig. Gehen wir aufrecht? Nein! Wir laufen gemütlich auf vier Beinen herum und haben zwei kräftige Arme.“
Die Mutter brachte ihre Tochter etwas zum Lachen, genau wie sie es gehofft hatte. Dann sagte sie: „Aber ehrlich gesagt, damals haben mich meine Träume auch ein wenig geängstigt.“
Einige Zeit später.
Der Weise Kinkin war etwas altmodisch, weil er keinem Trank traute, dessen Rezept nicht über hundert Jahre alt war. Aber er war ein vernünftiger, freundlicher Mann und außerdem schon hochbetagt.
„Träume vom Krieg? Warum träumt ein Mädchen wie du vom Krieg?“ fragte Kinkin, während er Ahva untersuchte.
„Ich will diese Träume ja nicht. Sie machen mir Angst, weil sie einfach von selbst kommen. Ich kann nichts dagegen tun“, sagte Ahva und schaute den alten Kinkin dabei an.
„Nun, in deinem Alter und bei all den Veränderungen, die dein Körper zur Zeit mitmacht, ist es gar nicht so ungewöhnlich, wenn man schlecht schläft und von bösen Träumen gequält wird.“
„Dann handelt es sich bloß um Wachstumsstörungen?“ erkundigte sich die Mutter forschend bei dem Weisen.
„Was heißt hier ‚bloß’?" sagte Kinkin mit einem hintergründigen Lächeln. „Die Zeit der Reife ist die aufregendste Zeit im Leben eines weiblichen Zentauren. Dann wandte er sich wieder dem Mädchen Ahva zu.
„Du bist, wie man sieht, bereits in diesem Alter viel größer und viel kräftiger als deine Eltern oder ich. Du entwickelst dich hervorragend. Die Augen glänzen schon jetzt im schönsten Rot, du hast eine äußerst reine, sehr schöne hellbraune Lederhaut und deine vier kräftigen Beine sind gut entwickelt. Tja…, und auch den breiten Rücken hast du von deiner Mutter geerbt. Ich will eigentlich nur damit sagen, dass du bei bester Gesundheit bist, Ahva.“
„Und die Träume werden auch wieder aufhören?“ fragte das Mädchen mit gesenktem Blick und beachtete die Lobrede des Weisen Kinkin nicht in dem Umfang, wie er es von ihr in dieser Situation eigentlich erwartet hätte.
„Die Träume...? Ach ja..., natürlich. Wenn du ein bisschen Geduld mitbringst werden sie aufhören. Bestimmt werden sie das. Trotzdem, ich gebe dir ein Rezept, das du zusammen mit deiner Mutter zu meiner Apothekerin bringst. Sie wird dir einen speziellen Kräutertee zusammenstellen, der dir in den Nächten eine ruhigen Schlaf bescheren wird.“
Kinkin der Weise schickte das Mädchen zurück in den Warteraum. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, ging er zur Ahvas Mutter und sagte zu ihr: „Liebe Shilan, ich sehe überhaupt keinen Grund, warum ich deiner Tochter Angst einjagen soll. Andererseits wird in letzter Zeit überall viel geträumt, und die Leute sind abergläubisch, auch wenn sie es nicht gerne zugeben wollen. Behalte déine Tochter für ein paar Tage im Haus und sorge dafür, dass sie sich ausruht. Glaube mir, die Träume selbst stellen keine Gefahr dar – sie bringen auch kein Unglück. Ahva wird auch nicht davon verrückt werden oder sonst etwas. Das einzige, was sie jetzt braucht, das ist allein deine Liebe und dein mütterliches Verständnis.“
„Ich kann dir versichern, verehrter Kinkin, dass ich meine Tochter Ahva über alles Liebe. Schließlich habe ich außer ihr und meinem Mann sonst keine Angehörigen mehr. Ich mache mir ja bloß Sorgen…, nun, du weißt ja, wie die Leute auf solche Träume, wenn sie erst einmal davon erfahren haben, reagieren. Sie reden dauernd über derartige Vorkommnisse und tuscheln untereinander. Letztendlich könnte mein guter Ruf darunter leiden, denn nur von ihm hängt mein gutes Geschäft ab.“
Der Weise warf Ahvas Mutter jetzt einen absichtlich aufgesetzten, bösen Blick zu. „Glaub mir, es handelt sich nur um eine völlig harmlose Krankheit, mehr nicht. Ich möchte dich nur daran erinnern, dass im letzten Jahr jedes zweite Kind in unserem Dorf an Fieber erkrankte. So ist das nun einmal. Geh’ heim, und mach’ dir keine Sorgen. Du und dein Mann, ihr seid ganz normale Eltern, die ein ganz normales Kind haben.“
Die Mutter holte Ahva aus dem Wartezimmer zurück und beide zusammen verabschiedeten sich von dem alten Kinkin.
Auf dem Heimweg spazierten sie durch einen Park, der von bunten Lichtern hell erleuchtet wurde. In der Ferne sah man drei markante Berge hoch in den nächtlichen Himmel ragen. Ahva blieb plötzlich stehen und betrachtete die mächtigen, schneebedeckten Gipfel.
„Was ist mit diesen Bergen? Warum schaust du zu ihnen rüber?“ fragte die Mutter ihre Tochter.
„In meinem Traum sah ich hohe Gipfel, die Eisriesen genannt wurden. Auf der einen Seite befand sich ein Ozean, auf der anderen eine weite Ebene. Die Landschaft sah genau so aus wie bei uns. Dann griffen diese seltsamen Wesen an, die über die weite Ebene und über das offene Wasser kamen.“
Die Mutter lächelte Ahva liebevoll an, obwohl sie innerlich ziemlich beunruhigt war. Dann nahm sie ihre Tochter zärtlich in den Arm.
„In den letzten tausend Jahren hat es hier bei uns keinen Krieg mehr gegeben.
Hinter den Bergen liegt ein wichtiger Hafen, den man ebenfalls Eisriesen nennt. Der Handel wächst Jahr für Jahr weiter an. Sowohl die Bauern im Flachland als auch die Leute von den großen Inseln draußen auf dem offenen Meer vermehren ihren Wohlstand dadurch ebenso wie wir. Weshalb sollte also irgend jemand einen Krieg wollen?“
„Es tut mir leid, Mutter. Ich wollte dich wirklich nicht beunruhigen. Mach’ Dir keine Sorgen, es war ja nur ein dummer Traum, obwohl er mir so echt schien.“
„Wenn wir den Tee von der Apothekerin geholt haben, gehen wir gleich nach Hause und legen uns schlafen“, sagte die Mutter mit energischem Blick und verließ den Park zusammen mit ihrer Tochter Ahva. Hoch am nächtlichen Himmel schob sich gerade eine schwarze Wolkenwand vor den weiß leuchtenden Halbmond, was zur Folge hatte, dass die Nacht noch schwärzer wurde, als sie es schon war.
Zuhause angekommen, bereitete die Mutter einen Kräutertee zu und gab ihn Ahva zu trinken, bevor sie zu Bett ging. „Wenn du gut schläfst, kannst du morgen sicher wieder zur Schule gehen“, sagte sie und verließ das Schlafzimmer.
Aber Ahva schlief schlecht. Kurz vor Morgengrauen hallten laute Schreie durchs Haus, und als die Eltern in ihr Schlafgemach stürmten, fanden sie Ahva kauernd auf dem Boden vor.
„Sie greifen uns an und töten jeden,“ schluchzte sie. „Das ganze Dorf, sogar die Frauen und die Kinder sind vor ihnen nicht sicher. Es ist entsetzlich“, schluchzte Ahva.
Die Mutter nahm ihre Tochter fest in die Arme.
„Hast du schon wieder diesen bösen Traum gehabt?“
„Ja“, sagte Ahva, „der Krieg war diesmal schlimmer. Überall lagen Tote herum, wohin man auch schaute. Wir werden zwischen Ozean und Ebene zermalmt, und selbst aus der Luft werden wir angegriffen.
„Du musst Dich beruhigen, mein Kind! Denk daran, was ich Dir gestern gesagt habe. Es war nur ein schlechter Traum. Er wird irgendwann aufhören. Glaube mir.“
„Du glaubst nicht, dass er wahr wird, Mutter?“
Natürlich nicht.“
Die Mutter schaute zu ihrem Gatten Ebarin hinüber und gab ihm Anweisung, den Weisen Kinkin aufzusuchen, damit er zu ihr kommen soll. Ihr Mann machte sich sofort auf den Weg.
Als er zurückkehrte, war Kinkin allerdings nicht dabei.
„Er kommt nicht, Shilan“, sagte Ebarin zu seiner Frau. „Unzählige Eltern haben gleichzeitig nach ihm geschickt. Er behauptet, er können nichts dagegen tun und schimpfte uns einen Haufen Dummköpfe, weil wir alle abergläubisch seien. Unterwegs auf dem Rückweg traf ich Korkan und Tunkan, die beiden Verkäufer. Sie hatten ebenfalls von diesem seltsamen Krieg geträumt. Korkan schob seinen Ärmel hoch und zeigte mir einen üblen Bluterguss. Tunkan hob sein Hemd, und ich sah, dass sein Bauch verbunden war. Sie sagten, dass sie in ihren Träumen verletzt worden sind. Als sie erwachten, waren die Wunden tatsächlich vorhanden.“
Stille senkte sich über den Raum. Niemand traute sich etwas zu sagen, doch jeder wusste, was das zu bedeuten hatte.
***
Später. Der Vollmond stand schon hoch am Nachthimmel.
Als Shilan erwachte, zitterte sie am ganzen Körper. Sie hatte Kopfschmerzen und ihre Bewusstsein war verschwommen mit Bildern schrecklicher Gewalttaten angefüllt. Sie wusste, dass auch sie im Traum gekämpft hatte, denn ihr ganzer Körper war mit hässlichen Schürfwunden übersät. Sie fragte sich, ob die Träume noch schlimmer werden würden. Dann fiel ihr Ahva ein. Sie eilte in ihr Zimmer, fand sie aber nicht vor.
Zusammen mit Ebarin suchten sie das ganze Haus ab, überprüften alle Türen und Fenster und riefen immer wieder ihren Namen, doch Ahva blieb unauffindbar.
Erst gegen Sonnenaufgang fanden sie ihre Tochter schlafend in ihrem Bett, obwohl sie mehrmals vorher nachgeschaut hatten. Sie fanden dafür keine Erklärung.
Ahvas Fußsohlen waren zerkratzt, blutverschmiert und mit hässlichen Blasen übersät, als sei sie lange Zeit marschiert. Auch ihre Hände hatten Schwielen bekommen und waren voller Blut. Sie sah erschöpft und eingefallen aus, und es war den Eltern nicht möglich, sie zu wecken.
Shilan und Ebarin liefen hinaus ins Dorf, um einen der alten Weisen zu holen, der ihrer Tochter helfen sollte. Doch aus allen Richtungen erschollen Rufe, bitterliches Weinen und ein fürchterliches Gejammer.
Ihnen wurde schnell klar, dass die Weisen nicht mehr tun konnten als zuvor.
Die Bewohner des ganzen Dorfes hatten in der Nacht geträumt, auch die Kinder.
Sie kauerten in den Ecken der Häuser und klammerten sich trostsuchend aneinander. Manchmal schliefen sie auch wieder ein, obwohl es helllichter Tag war. Ihre Mütter und Väter behandelten die Wunden und Schnitte und bemühten sich darum, sie aus dem todesähnlichen Schlaf zu wecken, was ihnen aber nicht gelang. Manche von ihnen schliefen selbst ein.
Als Shilan und Ebarin in das Schlafzimmer ihrer Tochter zurückkehrten, redete Ahva im Schlaf.
„Wir haben sie gesehen. Wir alle haben sie gesehen“, sagte sie. „Aber wir werden sie bekämpfen und einfach so lange weiter machen, bis wir sie besiegt haben. Wir werden sie vernichten. Schon nach tausend Jahren hat man sie vergessen und weiß nicht einmal mehr, wer sie waren, diese schrecklichen Vengalier mit ihrer magischen Fähigkeit, uns von innen über unsere Träume anzugreifen. Wir haben ihnen jedoch am Fuße der EISRIESEN eine schreckliche Niederlage zugefügt. Seitdem werden wir immer stärker, die bösen Vengalier von Kampf zu Kampf schwächer. Das haben sie nun davon.“
Ahva lächelte auf einmal, sagte plötzlich kein Wort mehr und schlief wieder fest und tief ein. Zwischendurch wachte sie auf und redete weiter. Und so ging das stundenlang. Seltsames Gerede über Zaubersprüche, Verwünschungen und Magier, das keine Ende nehmen wollte. Auch die Erwachsenen im Dorf, die schliefen, benahmen sich so. Dabei waren sie doch alle in Wirklichkeit fortschrittliche Bürger und stolze Zentauren, die im realen Leben an solche Dinge nicht glaubten.
Ahvas Mutter Shilan blieb trotz ihrer Erschöpfung wach. Ihr Mann Ebarin bewegte sich im Schlaf unruhig hin und her, als würde er kämpfen. Dann…, nach ungezählten Stunden, war plötzlich mit einem Schlag alles vorbei. Das schummrige Licht vor Shilans Augen spielte ihr einen Streich, denn als sie mit schmerzendem Blick genauer zu Ahva hinsah, schien sie wieder friedlich im Bett zu schlafen. Erst als sie sich zu ihr hinunterbeugte bemerkte sie, dass Blut aus ihren Ohren tropfte. Offenbar war sie durch einen Schlag auf den Kopf verletzt worden. Aber sie lebte. Dann ging sie zu Ebarin hinüber in dessen Schulter ein Dreizack steckte. Trotz der schlimmen Verletzung schien er sich langsam wieder zu erholen. Er öffnete seine Augen.
„Shilan, der Kampf in unseren Träumen ist zu Ende. Unser Dorf hat die Vengalier vernichtet. Jetzt wird wieder alles gut. Niemand von uns wird in Zukunft von Krieg und Gewalt träumen müssen.“ Shilan lächelte ihn an, nahm ihn in die Arme und drückte ihn ganz fest an sich. Dann kümmerten sich beide um ihre Tochter Ahva und versorgten ihre blutenden Wunden.
Draußen im Dorf schlugen die Zentauren die Trommeln. Die Weisen hatten sich versammelt und redeten leise in unverständlichen Worten vor sich hin. Die Gefallenen unter den Zentauren trug man aus den Häusern und bestattete sie am Fuße der Eisriesen, den mächtigen Eisbergen am fernen Horizont, wo ihre Seelen von nun an als ewige Wächter sowohl die weite Ebene als auch das offene Meer beobachten sollten, um das Dorf der Zentauren vor den bösen Vengaliern zu bewachen, von denen man wusste, dass sie sich Menschen nannten, eine weiße Haut hatten, aufrecht gingen und blutrünstige Bestien waren.
Ende
(c)Heiwahoe
***
5. Das dunkle Geheimnis
des Schriftstellers Mark Hollester
"Wenn du zu den Menschen gehst, so verschließe deine Augen vor dem, was du dort an Elend und Leid antriffst. Schütze deinen Geist vor dem Anblick ihrer mörderischen Kriege, in denen sie sich gegenseitig abschlachten. Beachte nicht die Armut und den mannigfachen Tod, der überall und mitten unter ihnen ist.
Ihre Welt ist nicht das, was sie zu sein scheint. Sie ist ein Schlachthaus. Vertraue deshalb nicht deinen Sinnen, die dir zu suggerieren versuchen, die Welt des Menschen sei gut.
Sie war es nie, sie ist es nicht und sie wird es auch nie sein.
Doch nimm diesen in Raum und Zeit verlorenen Lebewesen nicht den Glauben daran, dass ihre Welt die beste aller möglichen Welten ist. Sie würden sonst daran zugrunde gehen, wenn du ihnen diese Illusion nimmst.“
Mark Hollester
(Schriftsteller)
***
Eine magische Welt, weit jenseits all unser aller Vorstellungen.
Die ersten sichtbaren Anzeichen, die auf die Nähe des geheimnisvollen Ortes Mysterium hinwiesen, waren diese seltsamen Warnsteine links und rechts am Gras bewachsenen Straßenrand. Wer sie lesen wollte, musste sie berühren.
Ich legte meine flache Hand auf den fein geschliffenen Stein und im gleichen Augenblick leuchteten die Hieroglyphensymbole auf, die ich mittlerweile zu lesen gelernt hatte.
„Wohin führt dich dein Weg, unbekannter Reisender? Vielleicht nach Mysterium, hin zu jenem Ort, der weit ab der Hauptrouten liegt und nicht zur Außenwelt gehört? Wenn du ohne Schuld bist, dann gehe nicht weiter! Noch kannst du umkehren, Fremder! Überlege dir also gut, ob das, was du vorhast, auch das ist, was du wirklich willst. Wenn nicht, gehe einem anderen Ziel entgegen.“
Die Worte machten mich ein wenig nachdenklich. Dann sah ich zum Horizont hinüber.
In der Ferne erhoben sich die gewaltigen Traumtürme der uralten Stadt Mysterium, die so alt wie die Menschheit selbst war. Wehmut erfüllte mein einsames Herz für einen Augenblick, denn der Ruf der Magie ging von dieser geheimnisvollen Stätte aus, die weit draußen in der Einsamkeit lag. Und jene, die es schafften diesen Ort zu erreichen, wussten oft nicht, was sie wirklich dort erwartete. Viele gingen in den Straßen von Mysterium zugrunde oder kamen mit leeren Händen aus ihr wieder zurück, weil ihre Wünsche und Hoffnungen nicht in Erfüllung gegangen waren.
Ich nahm meine Hand von dem Warnstein und ging weiter. Am Straßenrand hockten einige Bettler, manche blind, andere wiederum verkrüppelt und einige lagen sogar im Sterben. Gierig greifende Hände wurden mir entgegengestreckt und flehende Stimmen baten entweder um Brot, Wasser oder Geld.
Ich blickte starr geradeaus. Ich hatte nichts dabei, was ich verschenken konnte. Alles, was ich besaß, war mein eigenes Leben, die Kleider auf meinem Körper und die Seele darin.
Der Weg führte mich an halb verfallenen Baracken vorbei. Überall türmte sich der Müll auf. Die Wände der Hütten waren aus rostigem Blech und stinkendem Lehm. Die weinenden Stimmen einiger Kinder drangen an mein Ohr, die mich aber nicht kümmerten. Warum auch? Ich konnte ihnen sowieso nicht helfen. Sie waren nichts weiter als vom Leben in den Tod geborenes Fleisch, ohne die geringste Aussicht auf Besserung ihres armseligen Daseins. Verfaulen würden sie in ihrem eigenen Dreck. Das war ihr unabwendbares Schicksal.
Außerdem war die Hitze um diese Zeit unerträglich. Ich wollte deshalb so schnell wie möglich die Stadt erreichen, die in ihren tiefen Häuserschluchten Schatten spendende Kühle versprach.
Für einen Augenblick blieb ich trotzdem stehen und legte den Kopf in den Nacken. Das Höllenfeuer senkte sich langsam dem Horizont entgegen. In zwei oder drei Stunden würde die nächtliche Dämmerung einsetzen, dachte ich. Ich wollte mich deshalb beeilen, denn es wäre besser, wenn ich die Außenbezirke von Mysterium noch vor der Dunkelheit erreichte.
Ich setzte mich wieder in Bewegung. Diesmal ein wenig schneller. Von allen Seiten musste ich die Hände der Bettler und Taschenspieler abwehren. Einige Musikanten in zerlumpten Kleidern spielten an einer Straßenkreuzung. Ihre dürren Finger glitten über die Saiten ihrer schlanken Instrumente. Einst hatte Sternenglanz sich in ihren Augen gespiegelt; jetzt waren ihre Blicke leer und trüb. Es waren herunter gekommene Individuen, die ohne jede Hoffnung dahin vegetierten. Nur der Tod bot ihnen den einzig möglichen Ausweg, sich ihres elendigen und würdelosen Daseins zu entledigen. Aber selbst dafür besaßen sie weder ausreichend Mut, noch die Kraft und den Willen dazu, sich selbst umzubringen.
Ich eilte weiter und erreichte bald den äußeren Rand der magischen Stadt Mysterium. Schon schimmerten mir die Lichter der Suggestivwerbung entgegen und die Umgebung wurde etwas freundlicher. Doch der Schein trog. Denn hinter den leuchtenden Fassaden der zahllosen Etablissements von Mysterium verbarg sich eine andere Form des Elends. Das Laster der Prostitution.
Das Gedränge auf den Gehsteigen nahm jetzt merklich zu, und auf den breiten Straßen glitten seltsam aussehende Fahrzeuge dahin. Flüchtig dreinblickende Augenpaare betrachteten mich aus gleichgültigen Gesichtern, die wie Schatten an mir vorbeieilten. Jede Gestalt für sich strebte in dieser Stadt einem eigenen Ziel entgegen, dachte ich so für mich und erinnerte mich gleichzeitig daran, dass das auch für mich galt.
Auf dem Bürgersteig der Straße waren mir einfach zu viele Leute. Ich wechselte deshalb in eine Seitengasse. Einige herunter gekommene Huren kauerten in schmutzigen Nischen und boten sich den vorbei gehenden Freiern an.
„Na Süßer, willst du ein paar Stunden der sinnlichen Freude mit mir genießen?“ fragte mich eine Duosexuelle verführerisch und griff nach meinem Geschlecht. Ich schüttelte den Kopf und wehrte sie angeekelt ab. Dann eilte ich so schnell ich konnte weiter. Die Hure schickte mir ihre Schmähungen hinterher.
Ich versuchte mich neu zu orientieren und schaute mich um.
Schließlich bog ich in einen schmalen Seitenweg und erreichte das alte Haus des Magiers, der Shamanin hieß. Ich atmete erleichtert auf und ging eilendes Schrittes darauf zu. Eine verschmutzte Holztür sprang knarrend auf, als ich den Öffner betätigte. Dann trat ich ein. Im Innern des breiten Flures vor mir drang nur wenig Licht durch die verstaubten Fenster. Die kahlen Wände waren schief, der spröde Putz bröckelte in großen Fladen von den Wänden ab. Mit zitternden Armen und Beinen tastete ich mich die Stufen der ausgetretenen Treppe empor. Als ich fast oben angekommen war, blieb ich auf dem zweiten Absatz stehen und klopfte zaghaft an die Tür. Ich konnte leise Musik hören, die aber kurz darauf abgestellt wurde; schlurfende Schritte kamen näher. Ich kniff die Augen zusammen als die Tür langsam geöffnet wurde und helles Licht meine geröteten Augen blendete.
„Aha, ich dachte schon, du würdest nicht mehr kommen, Hollester. Tritt ein!“ sagte der Magier Shamanin auffordernd zu mir und machte einen Schritt zur Seite.
Ich betrat durch einen schmalen Korridor vorsichtig den dahinter liegenden Raum, der nur von einigen Kerzen trübe ausgeleuchtet wurde. Dann warf der Magier mit einem kurzen Ruck die Tür hinter meinem Rücken ins Schloss und lächelte mir dabei entschuldigend zu. Mein Herz begann zu pochen. Ich hatte endlich mein Ziel erreicht.
Schließlich, ohne lange zu warten, sagte ich zu ihm: „Ich habe in meiner Welt das getan, was du mir aufgetragen hast, Magier Shamanin. Ich bin hier, um meinen Lohn abzuholen.“
„Ich weiß“, gab er mir zur Antwort.
„Dann hast du bereits alles vorbereitet?“
Meine geröteten Augen tränten wieder. Der Schmerz in meinem Kopf wurde nahezu unerträglich.
„Was vorbereitet?“
Ich schaute den Magier fassungslos an, weil ich dachte er hätte mich nicht verstanden und griff mit der rechten Hand ungewollt an seine Schulter.
Er trat einen Schritt zurück und hob warnend den Zeigefinger.
Trotzdem ließ ich mich nicht beirren.
„Du weißt verdammt noch mal genau, was ich meine. Ich brauche es..., jetzt gleich, hier und sofort. Ich habe getan, was du mir befohlen hast. Mehr als drei unschuldige Kinderseelen schickte ich zu dir, damit deine magische Kraft wachsen und mächtiger werden konnte. Für dich hab’ ich gemordet, Shamanin. Gib mir jetzt, was du mir versprochen hast!“
„So, hab’ ich das?“
Der Magier Shamanin schaute mich mit einem sonderbaren Blick an und ließ sich in einen weinroten Sessel sinken.
„Eigentlich bist du ein ganz mieser...“, kam es stockend aus mir heraus.
„Ja? Nur weiter!“
„Entschuldige bitte.“ Ich schluckte. „Ich habe es nicht so gemeint.“
Der Magier fingerte an seinem weiten Kragen herum. Dann sah er zu mir hoch.
„Was habe ich dir versprochen?“ fragte er mich plötzlich.
„Das...., das Elixier.“
Der Schmerz intensivierte sich. Ich krümmte mich zusammen, mein Kopf schien zu explodieren.
„Ich habe meinen Teil der Abmachung erfüllt. Jetzt bist du an der Reihe, Shamanin. Warum zögerst du?“
Der Magier erhob sich aus seinem tiefen Sessel und lächelte mich aus funkelnden Augen an.
„Ich möchte nichts übereilen, mein Freund. In der Tat, du hast deinen Teil erfüllt und mir auch diesmal wieder drei neue unschuldige Seelen beschaffen können. Die vierte Seele ging leider verloren, weil du deine Arbeit stümperhaft ausgeführt hast. Nun, das tut aber nichts zur Sache. Es ist nur recht und billig, wenn ich dir das versprochene Elixier gebe, das deinen Geist in ungeahnte Sphären katapultieren wird, Mark Hollester. Aber wenn du mich das nächste Mal besuchen kommst, dann will ich, dass du mir bis dahin alle versprochenen Kinderseelen beschafft hast. Ich hoffe, wir haben uns verstanden, mein Freund.“
Ich nickte ein paar Mal mit dem Kopf und zitterte plötzlich am ganzen Körper, als der Magier bedächtig zum Schrank schritt, eine breite Schublade öffnete und eine große Beutelflasche mit einer rötlichbraunen Flüssigkeit daraus hervor holte.
„Weißt du, Geschichtenerzähler, irgendwie bist du mir sogar sympathisch. Ich kann dir auch sagen, warum. Ich bin schlichtweg davon beeindruckt, dass du deine Seele Stück für Stück gegen den Wunsch eintauschen möchtest, ein berühmter Schriftsteller zu werden. Die meisten Menschen, die den Weg hier her zu mir finden, bieten mir ihre Seele für Geld, Karriere, Schönheit oder andere vergängliche Dinge an, die eigentlich nur von kurzer Dauer sind. Du aber möchtest ausgerechnet ein großer Schriftsteller werden. Dahinter steckt wohl der Wunsch nach Unsterblichkeit, wie ich denke. Hab’ ich recht damit, Hollester? Egal wie auch immer. Du hast dir viel vorgenommen. Die Zukunft wird zeigen, was du daraus machen wirst. Nun, an mir soll’s nicht liegen. Ich hoffe, das dir klar ist, dass dir mein Elixier nur dabei helfen kann, Geschichten und Romane zu erfinden. Der Erfolg ist damit noch lange nicht garantiert.“
Während der Magier Shamanin weiter redete und die bauchige Flasche vorsichtig öffnete, schmerzte mir die trockene Kehle wie aufgerissene Haut.
Dann holte er ein kleines Glas aus dem gegenüberliegenden Regal und goss es mit der rötlich braunen Flüssigkeit bis zum Rand voll.
Der Magier sah mich an, und in seinem Blick war etwas, das ich dort noch nie gesehen hatte. Mitleid vielleicht. Und ein wenig Zuneigung? Aber auch eine Portion Verachtung.
„Dieses wundersame Elixier wird dein Wissen und deine Phantasie für die kommenden Jahre in unerreichte Höhen treiben. Nutze dein wachsendes Genie für deine großartigen Geschichten und Erzählungen. Wenn die Wirkung nachlässt, weißt du, was du zu tun hast. Unschuldige Kinderseelen lassen die Macht meiner Magie wachsen. Doch hüte dein Geheimnis vor den Menschen, sonst bringen sie dich zu Tode.“
„Bitte“, stöhnte ich, „gib’ mir endlich das Elixier, Magier!“
Meine Stimme klang wie ein jämmerliches Betteln. Dann reichte mir Shamanin das Glas, das ich begierig bis zum letzten Tropfen austrank. Im gleichen Augenblick breitete sich Ruhe in mir aus, und meine Arme und Beine zitterten auf einmal nicht mehr. Langsam erwachten die kreativen Kräfte in mir. Ich spürte das Leben in seiner höchsten Form, und wie Körper, Geist und Seele in Harmonie miteinander zu einer Einheit verschmolzen.
Nachdem ich das leere Glas abgestellt hatte, führte mich der Magier stumm zur Tür hinaus. Kein Wort des Abschieds kam über seine Lippen. Ohne mich umzudrehen verließ ich das Haus wieder über die ausgetretene Treppe und den breiten Flur, durch den ich vorher gekommen war.
Draußen vor dem Haus erschrak ich zutiefst. Fast hätte ich einen Schock bekommen. Nicht nur ich, sondern die gesamte Umgebung um mich herum hatte sich total verändert.
Ich stand plötzlich in der gepflegten Eingangshalle eines großen Pariser Hotels, hielt zwei vollgepackte Koffer in den Händen und bestellte mir gerade an der Rezeption ein Taxi. Dann ging ich nach draußen, um auf das Taxi zu warten. Es regnete ein wenig. Der Morgen war schon fast vorüber und wirklich hell würde es bestimmt nicht mehr werden.
Fünf Minuten später kam das Taxi um die Ecke gebogen und hielt direkt vor mir am Straßenrand. Der Taxifahrer, ein korpulenter Mann in einem grauen ausgeleierten Pullover, sprang heraus, nahm mir die Koffer ab und verstaute sie im hinteren Teil der schweren Limousine. Während er mir die Beifahrertür offen hielt, sah er mir beim Einsteigen zufällig ins Gesicht.
„Sind Sie nicht der berühmte Schriftsteller Mark Hollester aus New York?“ fragte er mich erstaunt.
„Ja, der bin ich“, antwortete ich ihm kurz angebunden. „Ich möchte trotzdem ganz gerne zum Flughafen. Meine Maschine geht nämlich in weniger als zwanzig Minuten.“
„Kein Problem, Mr. Hollester. Trotz aller Hektik würde ich mich tierisch darüber freuen, wenn Sie mir vorher noch schnell ein Autogramm geben. Ich bitte Sie darum. Diese Gelegenheit kommt für mich so schnell nicht wieder. Das verstehen Sie doch, Mr. Hollester, oder?“
Der Taxifahrer beeilte sich, setzte sich schnell hinter das Lenkrad seines Wagens und bevor er den Motor startete hielt er mir die Ausgabe meines neuesten Bestsellers zusammen mit einem Kugelschreiber unter die Nase.
„Bitte, wenn Sie so freundlich wären, Mr. Hollester. Gleich auf der ersten Seite direkt unter dem Titel hätte ich gerne ihr Autogramm.“
„Na schön. Geben Sie mal her! Ich will mal eine Ausnahme machen.“
Der Mann grinste jetzt über beide Ohren und war überglücklich. Ich wollte kein Spielverderber sein und kritzelte meinen Namenszug in geübter Manier auf das weiße Papier der ersten Seite des Buches mit dem Titel:
Der Kindermörder von Paris
Als ich fertig war, nickte der Taxifahrer zufrieden mit dem Kopf, legte das Buch auf den Rücksitz, gab Gas und rauschte mit seinem Taxi in Richtung Flughafen davon.
Ich griff nach der großen Meeresmuschel im gelbweißen Sand, hob sie vorsichtig auf und hielt sie an das rechte Ohr.
Andächtig lauschte ich eine zeitlang wartend mit geschlossenen Augen, bis ich das gleichmäßige Rauschen eines uralten Meeres vernehmen konnte, über dessen unzählige Wellen ein warmer, stürmischer Wind hinwegfegte. Jedenfalls empfand ich es so. Beide Geräusche zusammen erzeugten in meinen Ohren einen seltsam anmutenden Widerhall, der mich stärker und stärker in seinen Bann zog. Ich wurde langsam schläfrig und bald wähnte ich mich in eine andere Welt versetzt.
Plötzlich sah ich vor meinem geistigen Auge eine einsame Bucht, wie sie vor vielen Jahrmillionen an gleicher Stelle, wo ich gerade stand, einmal ausgesehen haben muss. Weiße, schroff aussehende Klippen ragten in einen weiten, tiefblauen Himmel hinein, und urweltliche Reptilien schwammen im klaren Meerwasser ziellos nach Opfer suchend hin und her. Eine andere Reptilienart bewegte sich mit panikartigen Bewegungen schlangenförmig über den rauen Strand, wobei sie wechselseitig seltsam klingende Laute von sich gaben.
Wollten sie sich nur vor ihren Jägern in Sicherheit bringen?
Tatsächlich konnte ich mehrere dunkele Schatten im flachen, kristallklaren Wasser erkennen.
Einige grotesk aussehende Panzerfische stießen aus den Untiefen hervor, griffen die flüchtenden Kriechtiere pfeilschnell an und schlugen tiefe Wunden in ihre fleischigen Körper, sodass sich an vielen Stellen das aufschäumende Meerwasser blutrot einfärbte. Hier und da konnte man auch das furchterregende Brüllen eines Sauriers im fernen Urwald aus Palmfarnen vernehmen.
Dampfende Vulkankegel umringten den gesamten Horizont, ihre rötlich leuchtenden Schlote maserten den Himmel.
Das Rauschen der anbrandenden Wellen in der Meeresmuschel steigerte sich auf einmal zu einem unerträglichen Donnergetöse, das mit dem ansteigenden Heulen des stärker werdenden Windes zu wetteifern schien. Von einer Sekunde auf die andere befand ich mich plötzlich am flachen Ufer eines urzeitlichen Meeres in der Trias.
War alles nur ein Fata Morgana, eine Halluzination?
Ich wusste es in diesem Moment selbst nicht.
Schon wollte ich die Muschel vor lauter Schreck vom Ohr nehmen, als ich in diesem Geräuschgewirr mehrmals hinter einander einen dünnen, aber menschlichen Schrei vernahm. Verwundert suchte ich in meinem geistigen Bild die nähere Umgebung ab. Schließlich konnte ich in den unmittelbar vor mir liegenden weißen Kalkklippen, etwas oberhalb der Brandung, einen dunklen Höhleneingang ausmachen in dem eine junge Frau stand, die Hilfe schreiend mit einem langen Gegenstand um sich schlug. Offenbar wehrte sie etwas ab, das sie bedrohte. Das schäumende Wasser der auslaufenden Wellen umspülte mehrmals hintereinander die farbigen, jedoch etwas verschwommen wirkenden Bilder und bald sah ich weder die Frau, noch konnte ich ihre verzweifelte Stimme hören.
Vom Eindruck der sich mir bietenden, recht außergewöhnlichen Situation gefesselt presste ich die weiße Kalkmuschel noch fester ans Ohr.
„Das kann doch gar nicht wahr sein. Wie ist so was möglich? Ich sehe in einem prähistorischen Höhleneingang ein menschliches Wesen stehen, das in diesem Zeitabschnitt der Erdgeschichte überhaupt noch nicht existiert hat“, flüsterte ich gebannt leise vor mich hin.
Da!
Jetzt trat eine deutlich sichtbare Gestalt aus der Höhle heraus und ging mit leicht wankenden Schritten auf den offen daliegenden Strand zu, wo eine wogende Welle nach der anderen anbrandete. Es war wieder diese unbekannte Frau. Sie lief direkt in mein Blickfeld .
Instinktiv riss ich den linken Arm hoch und schrie so laut ich konnte zu ihr rüber.
„Halt! Um Himmels Willen, gehen Sie nicht weiter! Sie werden im Meer ertrinken oder von den Reptilien gefressen. Bleiben Sie stehen!“
Für einen Augenblick zögerte sie, sodass ich der rührigen Annahme war, sie hätte meine warnenden Worte tatsächlich verstanden. Kurz darauf lief sie jedoch weiter auf den tosenden Strand zu. Dann sah ich noch, wie sie etwas Großes aufhob und anschließend hastig in die Höhle zurück floh, wo sie sich offenbar vor den urzeitlichen Reptilien der Umgebung in Sicherheit wähnte.
Ich horchte weiter und bemerkte nach wenigen Sekunden, dass das Bild vor meinem geistigen Auge mit wachsender Geschwindigkeit verblasste. Im nächsten Augenblick wurde es dunkel. Dann begann wieder alles von vorne, wie bei einem Film, der sich dem Betrachter in einer Endlosschleife präsentierte.
Ich nahm die große Meeresmuschel für ein paar Sekunden vom Ohr und im gleichen Augenblick befand ich mich wieder in der Gegenwart meiner eigenen Zeit. Ein kleines Wellenpaar umspülte meine nackten Füße, die im weichen Sandstrand etwas eingesunken waren. Ich ließ meinen Blick in die nähere Umgebung schweifen und entdeckte plötzlich auf der anderen Seite der Bucht einen unscheinbar aussehenden Höhleneingang in der weißen, hoch aufragenden Felsenwand. Jetzt befand er sich allerdings nicht in Strandhöhe, sondern etwa zwanzig Meter weit darüber.
Zum letzten Mal lauschte ich in die Muschel hinein, schloss abermals die Augen und ließ die gleichen Bilder der uralten Küste vor meinem geistigen Auge vorbei ziehen. Für einen flüchtigen Moment sah ich wieder diese Frau, die immer noch am Höhleneingang stand. Ihr Gesicht sah blass und ausgemergelt aus und war von unmenschlichen Strapazen gekennzeichnet. Ihr schlanker Körper wurde von einem eng anliegenden, lederartigen Anzug umfasst, der ihr an einigen Stellen in Fetzen herunterhing. War sie vielleicht eine gestrandete Zeitreisende, die aus irgendwelchen Gründen nicht mehr in ihre eigene Zeit zurückkehren konnte? Oder gehörte sie einer außerirdischen, raumfahrenden Rasse an, die schon vor 230 Millionen Jahren die Erde in der Trias mit einem Raumschiff besucht hatte und deren Besatzung möglicherweise hier in dieser Meeresbucht verunglückt war? Alle nur möglichen Theorien schwirrten mir durch den Kopf, bis ich es endlich aufgab, weiter darüber nachzudenken. Ich fand es außerdem irgendwie sonderbar, womit ich mich da beschäftigte.
***
Ich fand diese Millionen Jahre alte, erstaunlich gut erhaltene, nicht versteinerte Riesenmuschel bei Ebbe; sie lag am Strand zwischen zwei kleinen Felsen und leuchtete wie eine Perlmuttspirale durch das klare Wasser. Als ich sie zufällig an mein Ohr hielt, drangen diese seltsamen Bilder in mein Gehirn, die mich bald immer stärker in ihren Bann zogen, je länger ich sie auf mich einwirken ließ.
Später zertrümmerte ich die Muschel aus reiner Neugier und entdeckte tatsächlich tief im Innern des zerbrochenen Kalkgehäuses ein oval aussehendes, etwa acht Zentimeter langes Ding, das sich sofort in meiner Hand mit seinem zugespitzten Ende wie eine übergroße Kompassnadel stur auf einen ganz bestimmten Punkt ausrichtete, nämlich genau dorthin, wo sich jener Höhleneingang befand, den ich in der dargestellten Bildsequenz vor meinem geistigen Augen gesehen hatte. Ich erkannte schnell, dass es zwischen diesem eigenartigen Fundstück aus der Muschel und der entdeckten Höhle in der Wand des gewaltigen Kalksteinfelsens eine geheimnisvolle Verbindung geben müsse, was mich schließlich dazu bewog, der Sache näher auf den Grund zu gehen.
***
Ich brauchte etwa eine Stunde, bis ich unterhalb des Kalkfelsens stand und eine weitere, bis ich endlich in zwanzig Meter Höhe den über mir liegenden Höhleneingang erklommen hatte. Dann kroch ich auf allen Vieren durch die gähnende Öffnung und leuchtete mit der Taschenlampe in den schwarzen Schlund hinein. Zu meiner großen Überraschung verbreiterte sich der Eingang schon nach etwa zwei Meter zu einem mannshohen Gang, der noch weiter in den schroffen Fels hineinreichte und kein Ende zu nehmen schien.
Beeindruckt von seiner Größe beschloss ich, weiter in den Höhlengang vorzudringen. Überall lagen fossile Seemuscheln herum, die sich einst im subtropischen Meer wärmten. Vorsichtig tastete ich mich im Schein meiner Taschenlampe weiter vor, bis ich ganz überraschend gegen etwas metallisches stieß, das sich offenbar direkt vor mir befand. Der hin und her wandernde Lichtkegel meiner Taschenlampe erfasste schließlich ein etwa fünf Meter langes, röhrenartiges Objekt mit einem Durchmesser von etwa zwei Meter, das allerdings mit einer äußerst dicken Staubschicht überzogen war. Als ich vorsichtig daran herumkratze, brach gleich ein ganzes Stück wie eine kleine Schneelawine davon ab und legte eine darunter liegende Metallhaut unbekannter Herkunft frei, die mir trotz der verursachten Staubwolke im Schein meiner Taschenlampe silbrig glänzend entgegen leuchtete.
Der ovale Gegenstand aus der Trias-Muschel zuckte auf einmal in meiner rechten Jackentasche wie wild hin und her. Als ich ihn in meinen Händen hielt, sprang er wie von einem starken Magneten angezogen auf das sichtbar gewordene Stück Metall und raste unter der dicken Staubschicht hindurch bis in die Mitte der Röhre, wo er offenbar in einer Vertiefung verschwand. Kurz darauf vibrierte die Metallröhre wie Espenlaub und wenige Augenblicke später öffnete sich mit einem surrenden Geräusch ein schmaler, türgroßer Eingang. Unwillkürlich trat ich einen Schritt zurück und stolperte dabei über einen herumliegenden Felsbrocken. Ich fuchtelte hilflos mit den Armen in der Luft herum, fiel kurz darauf der Länge nach hin, wobei mir die Taschenlampe aus der Hand glitt und mit dem Leuchtkopf auf den harten Felsenboden aufschlug. Klirrend zerbrach das Glas und das Licht erschloss.
Als ich mich in der pechschwarzen Dunkelheit noch völlig orientierungslos wieder hochgerappelt hatte, drang auf einmal helles Licht aus der Röhre, was mich dazu bewog, näher auf den geöffneten Eingang zuzugehen. Vorsichtig trat ich vor und blickte neugierig ins Innere des unbekannten Objektes, das mit einer atemberaubenden Technik bestückt war, die aussah wie das Cockpit eines modernen Düsenflugzeuges. Fasziniert starrte ich in den kleinen Raum hinein und bemerkte dabei nicht, wie sich direkt über mir geräuschlos zwei tentakelförmige Arme näherten, die mich blitzschnell mit ihren metallischen Klammern an beiden Armen festhielten und mit brutaler Gewalt in das röhrenförmige Gebilde hineinzogen. Kaum war ich drinnen, glitt hinter mir die Tür wie von Geisterhand bewegt wieder zu. Dann wurde ich in eine schalenförmige Vertiefung gedrückt und das Licht erlosch augenblicklich. Ich merkte noch, wie ich langsam mein Bewusstsein verlor.
***
Als ich wieder zu mir kam, saß ich immer noch in dem schalenförmigen Sitz, aber der Eingang des kleinen Raumes stand weit offen. Die zwei Metalltentakel waren verschwunden. Das röhrenförmige Gebilde befand sich offenbar immer noch in der gleichen Höhle, die allerdings jetzt vom eindringenden Tageslicht einigermaßen hell ausgeleuchtet wurde. Offenbar befand sich ganz in der Nähe ein Meer, denn ich konnte das Rauschen der heranrollenden Wellen hören. Noch ganz benommen verließ ich auf unsicheren Beinen das seltsame Objekt und trat hinaus in Freie, wo mich der Anblick einer urzeitlichen Welt wie ein Donnerschlag traf.
Ein Rudel kleiner, aber räuberischer Ceolophysis zog an mir vorbei, die den nahen Meeresstrand nach Beute absuchten. Die Luft war feuchtheiß und hinter mir sah ich einen dichten Urwald aus baumartigen Farnen in denen sich einige Pflanzen fressende Plateosaurus aufhielten. Ich wagte mich keinen Schritt weiter aus der Höhle, denn selbst diese hasenkleinen Raubsaurier hätten für mich gefährlich werden können. Sie verschmähten sicherlich auch kein Menschenfleisch.
Erst langsam begriff ich meine lebensgefährliche Situation. Ich war irgendwo in der Trias angekommen, wahrscheinlich 230 oder sogar 250 Millionen Jahre vor meiner Zeit. Aber auf welche geheimnisvolle Art und Weise die Zeitmaschine in der Triashöhle mich hier hingebracht hatte, wusste ich nicht. Ich wusste nur, dass ich da war. Mehr nicht.
Auf dem Rückweg zu dem Objekt in der Höhle fiel mir auf einmal dieses kleine ovale Ding wieder ein, das ich in der Trias-Muschel am Strand gefunden hatte. Es war irgendwo in der metallenen Außenhülle der Röhre verschwunden und seitdem nicht mehr aufgetaucht. Als ich endlich wieder vor der seltsamen Maschine tief im Innern der Höhle stand, war der Eingang hermetisch verschlossen und nichts deutete darauf hin, dass es an der von mir geglaubten Stelle überhaupt jemals einen Zugang gegeben hat. Panik stieg langsam in mir hoch. Im gleichen Augenblick krabbelte etwas über meine nackten Füße.
Erschrocken sprang ich zur Seite und erblickte zu meiner großen Überraschung das ovale Metallstück aus der Trias-Muschel, das jetzt auf winzigen Drahtfüßchen wie eine Robotermaus über den felsigen Boden dahinkroch. Es wollte offensichtlich die Höhle verlassen, um an den Strand zu gelangen, wo unzählige dieser riesigen, leeren Muschelgehäuse herumlagen. Hastig ergriff ich es von hinten mit beiden Händen und sofort zog es seine winzigen Beinchen ein, die im Innern des schlanken Metallkörpers verschwanden. Kurz darauf drehte sich das zugespitzte Ende wieder automatisch in Richtung der Röhre, als wolle es mir unmissverständlich sagen, wohin es will. Mir wurde klar, was das zu bedeuten hatte.
Ich setzte es also vorsichtig auf die Außenhülle der Zeitmaschine ab und im gleichen Moment sauste es auf dieser abermals mit hoher Geschwindigkeit entlang, bis zu jener verborgenen Öffnung der Metallhülle, in der es abrupt verschwand. Keine Sekunde später öffnete sich der Eingang wieder und die zwei Metalltentakel fuhren von oben leise von der Decke herunter. Dann verharrten sie in einer Art Wartestellung. Erleichtert stellte ich fest, dass ich jetzt in meine Zeit ohne Schwierigkeiten zurück konnte, denn ich hatte das Geheimnis der Trias-Muschel gelöst.
Bevor ich allerdings in das röhrenförmige Objekt wieder einsteigen wollte, nahm ich mir die Zeit dazu, mich noch ein wenig in der Höhle umzusehen.
Sie war recht groß und hatte in etwa die Ausmaße eines zweistöckigen Hauses. Erst jetzt bemerkte ich mit Schrecken, dass Teile des schroffen Höhlenbodens mit humiden Knochen und Schädel übersät waren. Als sich meine Augen an das diffuse Licht gewöhnt hatten, entdeckte ich die Überreste eines ledernen Anzugs zu meinen Füßen, in der sich noch der mumifizierte Körper eines weiblichen Menschen befand. War das die Frau gewesen, die ich in der seltsamen Aufzeichnung gesehen hatte? Der Bekleidung nach muss sie es wohl gewesen sein. Offensichtlich war sie dem Geheimnis der Trias-Muschel ebenfalls auf die Spur gekommen, wohl aber viel zu spät, denn das ovale Ding war mittlerweile unbemerkt aus der Höhle verschwunden und hatte sich in eines der zahllos herumliegenden Muschelgehäuse verkrochen. Ob es noch mehr von diesen teuflischen Apparaten gab? Die vielen herumliegenden Gebeine unglücklich gestrandeter ließen das jedenfalls vermuten.
Jetzt wurde mir auch klar, warum die Frau trotz der großen Gefahren immer wieder zum Strand runter gelaufen war. Sie hat verzweifelt nach diesem ovalen Apparat gesucht, ihn aber in den zahllos herumliegenden Riesenmuscheln nicht finden können. Das satanische Ding lag immer noch irgendwo am Strand und hatte sie von dort aus sogar beobachtet. Die Frau wusste nur, dass es der Schlüssel für die Rückkehr in ihre Zeit gewesen wäre. Als ihre Kräfte schließlich schwanden, starb sie, wie die anderen vor ihr auch, hier in der Triashöhle einen einsamen Tod in einer für sie völlig lebensfeindlichen Umwelt.
Ein Schauer lief mir bei dem Gedanken über den Rücken, dass mich beinahe das gleiche Schicksal ereilt hätte. Schnell ging ich zurück zur Zeitmaschine, die immer noch mit geöffnetem Eingang auf mich wartete. Während ich mich von den herab schnellenden Tentakeln absichtlich in die Zeitmaschine bugsieren ließ, machte ich mir Gedanken darüber, was ich mit ihr machen sollte, wenn ich wieder in meine Zeit angekommen bin. Den Höhleneingang in die Luft sprengen? Die Zeitmaschine zerstören? Das kam für mich irgendwie nicht in Frage, denn ihre Möglichkeiten waren beachtlich. Das Beste wird wohl sein, wenn ich diesem kleinen teuflischen Krabbelding alle Beine abzwicke, damit es mir nicht mehr davon kriechen kann. Sicher ist sicher. Und wenn es mich dann wieder mal juckt, mache ich einfach Urlaub in der Trias und suche am urzeitlichen Strand in den herumliegenden Muschelgehäusen nach weiteren seiner diabolischen Artgenossen.
Und wer weiß das schon? Vielleicht finde ich noch ganz andere Sachen, dort am Triasstrand. Denn von Menschenhand ist dieses Ding bestimmt nicht gebaut worden.
Der junge Mann saß traurig auf einem kleinen Felsvorsprung in der Sonne und las in einem uralten magischen Buch, dessen Umschlag aus brüchigem Leder bestand. Er vermisste jemanden, den er sehr liebte.
Sein konzentrierter Blick wanderte langsam über die goldfarbenen Symbole, die er mit seinen Lippen halblaut nachformte. Der Himmel über ihm war wolkenlos und obwohl die Sonne schien war es recht kühl hier oben bei den alten Steinen. Deshalb hatte sich Daiton Vennedey vorsorglich in eine lange, dicke Felljacke gehüllt, die er aber vorne aus Gründen der Bewegungsfreiheit nicht zugeknöpft hatte.
Daiton liebte die Einsamkeit hier oben in den hohen Bergen, das mystische Wispern des Windes und das ferne, dumpfe Rauschen des mächtigen Wasserfalles, der so namenlos wie das zerklüftete Gebirge war, das sich zu seiner Rechten bis zum Horizont erstreckte. Direkt unterhalb des leicht überhängenden Felsens dehnte sich eine weite, karge Geröllebene aus, in der nur sporadisch verteilt einige verkrüppelte Bäume und strohig aussehende Büsche wuchsen, die, zumindest rein äußerlich gesehen, denen auf der Erde sehr ähnlich waren.
Die bizarr anmutende Bergwelt dieses fremden Planeten kam Daiton außerdem irgendwie irreal vor, was vielleicht auch daran lag, dass er sich einfach nicht an die unheimlich anmutende Stille gewöhnen konnte, die hin und wieder nur durch das Heulen des Bergwindes unterbrochen wurde.
Der junge Mann blätterte zur nächsten Seite um und überflog mit suchendem Kennerblick die mystischen Symbole, die ihm Gold glänzend entgegen leuchteten. Dann wusste er, dass diese Zeilen keine magischen Zauberkräfte enthielten oder diese möglicherweise von selbst entwickeln konnten, sondern nur einige philosophische Erkenntnisse zum Ausdruck brachten, dessen Verfasser ein gewisser Mann namens „Ruairidh“ war, der weit vor Daiton Vennedeys Zeit im Mittelalter gelebt hatte und ein hochangesehener keltischer Druide und Magier gewesen war. Auch er hielt dieses uralte magische Buch einmal in seinen Händen, denn was da stand, das konnte damals noch kein Mensch wissen, es sei denn, er hat die Zukunft besucht.
Daiton las, was Ruairidh dem uralten magischen Buch an persönlicher Lebenserfahrung und Weisheit hinzugefügt hatte.
***
„Der Mensch ist ein Gefangener in Raum und Zeit. Nur der Tod kann ihn daraus erlösen. Nichts von dem, was der Mensch je erschaffen hat, ist von Dauer gewesen. Selbst seine steinernen Denkmäler nicht. Sie werden vom Wind der Zeit geschliffen, abgetragen und hinweg gefegt, als hätte es sie nie gegeben. Sie zerfallen zu Staub. Auch all sein Wissen, seine zivilisatorischen Errungenschaften und seine technischen Großtaten haben keinen Bestand vor den immer gültigen Gesetzen der Ewigkeit. Des Menschen Werke sind wie Schall und Rauch. Sein verweslicher Körper besteht aus Elementen und Stoffen, die aus dem Tod der Sterne hervor gegangen sind. Er ist wie ein verlorener Gedanke, der aus dem Nichts kam und in dieses Nichts wieder zurückkehren wird.
Wer wird sich seiner erinnern?
Niemand!
Das ist des Menschen Schicksal.
Doch der wahre Ursprung allen Seins liegt in den schier unerschöpflichen magischen Kräften des Universums, die überall verborgen sind und heimlich walten.
Der Sucher aber wird sie finden. Und wenn er sie gefunden hat, muss er sie beherrschen lernen. Wenn er sie beherrscht, dann werden sich ihm die Geheimnisse der Ewigkeit von Raum und Zeit offenbaren. Er wird früher oder später erkennen, dass die magischen Kräfte die Erschaffer und Bewahrer dessen sind, was der Mensch Realität oder Wirklichkeit nennt. Seine irdisch angepassten Sinne halten ihn in dieser Wirklichkeit, die er als Gegenwart wahrnimmt, gefangen.
Die magischen Kräfte jedoch werden ihn daraus befreien und ihm ein ewiges Bewusstsein schenken, das keine Schranken kennt, sondern nur grenzenlose Ewigkeit.“
Grausam ist die Gegenwart.
Gefangen bin ich in ihr.
Deshalb bring mich in die Vergangenheit
oder in die Zukunft!
Ganz nach meinem Wunsch.
So hilf mir, mein Schicksal zu besiegen, mächtiges magisches Buch!
Aber ich gehe ganz ohne dich durchs Sternentor. Ja, ich kehre niemals mehr daraus zurück. Das ist mein letzter Wille.
Dadurch bereite ich vor, was andere nach meiner Zeit nutzen können. Vielleicht wird der eine oder andere mir folgen.
Diese Zeilen schrieb ich in dunkler Zeit vor Beginn meiner Reise zu den Sternen.
Ich, der Druide und Magier „Ruairidh“.
***
Der junge Mann hob seinen Blick und schaute zu den seltsam geformten Riesensteinen hinüber, die unverkennbar einen großen Kreisrund bildeten. Dann lehnte er sich etwas zurück. Die kryptischen Symbole auf den bearbeiteten Steinen waren schon stark verwittert, sodass die meisten davon unleserlich waren. Sie standen hier bereits seit undenklichen Zeiten und niemand wusste, wer sie dort aufgestellt hatte. Nicht einmal die alten Sagen und Legenden oder das uralte magische Buch gaben darüber Auskunft.
Die unbekannte Sonne wanderte langsam über den blauen Himmel weiter, aber ihre Strahlen brachten nur wenig Wärme. Daiton zog deshalb die offene Felljacke vorne zusammen und knöpfte sie bis oben hin zu. Die Schatten der Steine wurden länger und länger.
Den uralten Schriften und Überlieferungen zufolge gehörte dieser Kreis aus Monolithen zu jenen Stellen, an der ein „magisches Sternentor“ entstehen konnte, das die Möglichkeit bot, durch Zeit und Raum reisen zu können. Reisen durch Raum und Zeit: diese Erzählungen faszinierten den jungen Mann immer wieder, der sich fragte, wer wohl die Erbauer dieser „magischen Sternentore“ waren. Es gab sie allerdings nur auf Planeten im Universum, auf denen sich eine für Menschen atembare Sauerstoffatmosphäre befand, in der sie ohne Schwierigkeiten überleben konnten, jedenfalls für eine gewisse Zeit, wie in dem uralten magischen Zauberbuch ausführlich erklärt wurde.
Daitons Aufmerksamkeit wurde schlagartig von einem großen, schwarz gefiederten Adler abgelenkt, der plötzlich aufgetaucht war, sich auf einem der aufrecht stehenden Riesensteine niederließ und ihn eine zeitlang von dort aus mit starrem Blick fixierte, der aber irgendwie böse aussah. Seine scharfen Krallen kratzten unruhig am verwitterten Felsen herum, der an einigen Stellen zu bröckeln begann.
Daiton Vennedey hielt für einige Sekunden den Atem an. Der schwarze Greifvogel kam ihm irgendwie vertraut vor, doch konnte er im Augenblick nicht sagen, warum das so war.
Dann, als folgte der Adler einem geheimnisvollen Ruf, erhob er sich mit weit ausholenden Flügelschwingen schreiend in die Lüfte, kreiste ein paar Mal über Daitons Kopf hinweg und flog schließlich hinaus in die weite Geröllebene, die abseits der hohen Berge lag. Etwas später verschwand er am fernen Horizont hinter einer sich auftürmenden Wolke. Der junge Mann blickte dem schwarzen Adler noch lange nach, bis er ihn schließlich aus den Augen verlor.
Daiton war etwas durcheinander. Er ahnte, dass ihm offenbar ein schwerwiegender Fehler beim Vorlesen der magischen Zeichen unterlaufen war. Seit der letzten Reise durch die Zeit konnte er sich an nichts mehr erinnern. Er empfand das schlichtweg für beängstigend, denn die Situation war irgendwie außer Kontrolle geraten. Nichtsdestotrotz wandte er sich schnell wieder dem uralten magischen Buch in seinen Händen zu, um darin nach einer magischen Zauberformel zu suchen, die wieder alles ins Lot bringen sollte. Daiton wusste nur zu gut, dass es jetzt gefährlich werden konnte. Aber er hatte keine andere Wahl. Nach einer Weile fand er die richtige Zauberformel und las sie sofort laut und deutlich vor.
Kaum hatte er das letzte magische Zeichen ausgesprochen, als sich wie aus heiterem Himmel ein heftiger Blitz über dem magischen Steinkreis entlud, der die felsige Umgebung trotz Tageslicht in eine gleißende Helligkeit tauchte.
Daiton ließ vor Schreck über die heftige Auswirkung des angewandten Zaubers das Buch fallen und rollte sich instinktiv zur Seite. Er kam in einer kleinen Bodensenke zu liegen, aus der er vorsichtig seinen Kopf herausstreckte, um die gefährlich aussehende Lichterscheinung aus sicherer Entfernung beobachten zu können. Die Steine wirkten jetzt viel dunkler als vorher. Bläulich-weißes Licht strahlte aus ihnen hervor und eine Unzahl von kleineren Blitzen bildeten ein zuckendes Netz aus reiner Energie, das sich dumpf brummend nach und nach um die verwitterten Steine spann.
In der Mitte des Kreises nahm gleichzeitig die Intensität des anhaltenden Blitzgewitters zu. Schließlich verdichteten sich die verästelten Blitze zu einer gleißend hellen Kugel, die sich schrittweise zu einer mehr als zwei Meter hohen Energiewand aufbaute, die im Innern mit einem scharfen Zischgeräusch aufriss und die Sicht auf ein wunderschönes, von funkelnden Sternen übersätes Universum freigab. Der junge Mann wusste jetzt, dass sein Zauberspruch das magische Sternentor aktiviert hatte. Endlich konnte er zurück zur Erde. Ein zufriedenes Lächeln huschte über sein blasses Gesicht.
Ein heftiger Wind heulte auf einmal über das steinige Plateau. Die Sonne verdunkelte sich ein wenig, als einige dichte Wolken an ihr vorbeizogen.
Daiton war sprachlos vor Staunen. Die konzentrierte Helligkeit verursachte Schmerzen in seinen Augen, als er zu dem pulsierenden Energieportal hinüber sah, aus dem plötzlich ein weiterer Blitz hervorschoss, der suchend nach ihm fingerte, bis er ihn schließlich in der Bodensenke fand und sich wie eine zweite Haut um seinen gesamten Körper legte. Dann wurde er abrupt nach oben gerissen. Sekundenlang schwebte der junge Mann, wie von Geisterhand angehoben, frei in der Luft. Schließlich zog ihn der zuckende Energiestrahl mit wachsender Geschwindigkeit in den offen Lichtkranz hinein, ohne das Daiton etwas dagegen tun konnte. Eine fremde Macht nahm offenbar Besitz von seinem Körper, und er fühlte sich wie in eine Zwangsjacke gesteckt, weil er weder Arme noch Beine bewegen konnte.
Wieder zuckten überall heftige Blitze aus den verwitterten Steinsymbolen nach allen Seiten, als der junge Mann mit einem lauten Aufschrei im magischen Sternentor verschwand. Gleich darauf fiel auch das spinnenartige Netz aus zuckenden und knisternden Blitzen in sich zusammen, bis es in der Mitte des Steinkreises zu einem winzigen Lichtpunkt geschrumpft war, der noch ein letztes Mal, wie eine verglühende Sternschnuppe, kurz aufleuchtete und nichts weiter hinterließ, als ein qualmendes, dünnes Rauchfähnchen, das sich schnell verflüchtigte.
Über der weiten Ebene des felsigen Plateaus brauste wieder ein heftiger Wind, der wie mit unsichtbaren Händen spielerisch in den Seiten des offenen Zauberbuches blätterte. Es lag immer noch am gleichen Platz, wo Daiton einmal gesessen hatte. Doch dann klappte es urplötzlich zu, als wolle es das dreiste Spielchen des Windes nicht mehr mitmachen. Dann, wie von Geisterhand angehoben, bewegte es sich langsam über den felsigen Boden schwebend auf die Mitte des Steinkreises zu, senkte sich wieder herab und blieb in einer kleinen Vertiefung liegen. Es schien fast so, als würde es auf jemanden warten, der, wie Daiton, auch noch durch das magische Sternentor seine Reise zur Erde antreten musste.
Und in der Tat, es war so.
Ganz plötzlich war der schwarze Adler wieder da, der auf einem der verwitterten Steine im magischen Kreisrund Platz genommen hatte. Seine messerscharfen Krallen umklammerten den brüchigen Felsen, als wolle er ihn nie wieder loslassen. Das uralte Buch öffnete sich von selbst, blätterte mehrmals hin und her und blieb dann bei einer ganz bestimmten Seite stehen. Sofort schwang der Adler herab, hielt das offene Buch mit seinen starken Krallen fest und krächzte solange herum, bis seine Stimme unverkennbar in eine menschliche Sprache überging. Dann las er den Zauberspruch vor.
Sekunden später fingerten erneut helle Blitze durch die Luft, die sich in der Mitte des magischen Sternentores zu einem mannshohen Energieportal zusammenschlossen. Auch diesmal fuhr laut zischend ein gleißend heller Lichtstrahl daraus hervor, der den bewegungslos da sitzenden Adler und das uralte Buch erfassten und zusammen in das magische Sternentor hineinzogen. Dann fiel das knisternde Energieportal unter lautem Getöse wieder in sich zusammen. Es verschwand so schnell, wie es gekommen war. Mittlerweile hatte sich das Brausen des Windes gelegt. Eine unheimlich anmutende Totenstille legte sich jetzt über den einsam da liegenden Steinkreis hoch droben auf dem weiten Felsplateau, als wäre es noch nie anders gewesen.
***
Das Erste, was Daiton Vennedey wahrnahm, als er langsam sein Bewusstsein wiedererlangte, war der durchdringende Geruch nach Desinfektionsmittel und Plastik. Im nächsten Moment spürte er einen glühend heißen Schmerz in der unteren Körperhälfte, und er hatte das Gefühl, seine Eingeweide würden durch einen Fleischwolf gedreht und Stück für Stück in Fetzen gerissen, sobald er sich nur ein wenig bewegte.
Ich bin nicht tot. Ich lebe. Daiton dachte eine Weile darüber nach und fand, das er sich darüber glücklich schätzen durfte. Vorsichtig bewegt er seinen Kopf zur Seite und versuchte, sich das transparente Plastikding irgendwie vom Gesicht zu schieben. Aber es gelang ihm nicht. Plötzlich tauchte an seinem Bett das verschwommene Gesicht einer Krankenschwester auf. Sie griff nach seinem Kopf, hielt ihn ruhig und entfernte es für ihn.
„Wie fühlen Sie sich, Mr. Vennedey? Geht es Ihnen schon besser? Wenn Sie sprechen können, dann reden Sie mit mir. Tun Sie sich aber keinen Zwang an und überanstrengen Sie sich nicht?“ sagte die Frau mit mahnender Stimme.
Mister Vennedey? Woher kennt sie meinen Namen? Und sie hat mich mit ‚Mister’ angeredet. Irgendwie hörte sich das fremd an, dachte Daiton so für sich und versuchte seinen Kopf zu wenden, um die Krankenschwester in sein Blickfeld zu bekommen. Der trübe Schleier vor seinen Augen war mittlerweile verschwunden. Die Schwester an seinem Bett war schon ein älteres Semester, hatte leicht angegrautes Haar und trug einen hellgrünen Kittel mit kurzen Ärmeln. Doch ihre Gesichtszüge waren gutmütig.
„Mr. Vennedey?“
Die Krankenschwester ließ nicht locker und wartete immer noch auf eine Antwort.
„Wollen Sie von mir wissen, dass ich nicht tot bin?“ fragte Daiton mit krächzender Stimme und sprach nicht weiter, weil ihm der Hals schmerzte.
„Ach was, Mr. Vennedey. Sie sind nicht tot. Wir mussten Sie allerdings wieder zusammenflicken. Sie hatten einige tiefe Fleischwunden, die sie fast umgebracht hätten. Aber Sie werden wieder gesund werden. Das ist doch die Hauptsache, nicht wahr? Sie werden nicht einmal Folgeschäden davon tragen. So, ich gebe Ihnen jetzt eine Spritze gegen die Schmerzen. Danach verlegen wir Sie auf ein anderes Zimmer. Die Zeit auf der Intensivstation ist vorbei. Und bleiben Sie mir inzwischen hier schön liegen. Übrigens hat ein junges Mädchen nach ihnen gefragt. Sie nannte sich Shirley Sutherland. Wenn wir Sie verlegt haben, werde ich das Mädchen rufen und euch beide eine Weile allein lassen.“
Die Schwester gab Daiton eine Injektion in die Hüfte, verließ den Raum mit erhobenem Zeigefinger und lachte dabei.
Kaum war sie draußen, versuchte er sich aufzurichten. Aber es gelang ihm nicht. Die Schmerzen waren einfach zu groß. Daiton legte sich deshalb zurück und wartete geduldig darauf, dass er verlegt wurde. Nach einer Weile kam ein Krankenhelfer und rollte ihn in ein freies Krankenzimmer. Während er das Bett an die Wand schob und diverse Kabel und Schläuche anschloss, fragte sich Daiton, wie lange er wohl weg gewesen war. Ein Jahr, zwei Jahre oder länger? Verwirrt blickte er sich um und suchte nach einem Kalender an der Wand. Leider ohne Erfolg.
Als der Krankenhelfer mit seiner Arbeit fertig war verließ er den Raum, wünschte dem jungen Mann aber vorher noch eine gute Genesung.
Plötzlich ging die Tür wieder auf. Ein junges Mädchen steckte ihren schwarz behaarten Kopf durch den sich langsam öffnenden Türspalt.
„Shirley!“ krächzte Daiton aufgeregt. Sein Gesicht hellte sich urplötzlich auf.
Als das Mädchen näher kam, konnte man es ihr deutlich ansehen, welche Angst sie um ihren Freund ausgestanden haben musste. Ihre Gesichtszüge waren etwas eingefallen, ihre Augen gerötet. Sie war sichtlich erleichtert, dass es ihm gut ging und er noch lebte. Daiton Vennedey dagegen war froh, sie endlich wieder zu sehen. Er liebte seine bildhübsche Freundin über alles, die jetzt mit großen Schritten auf ihn zueilte und ihn freudig begrüßte.
Dann ergriff Shirley seine Hand, setzte sich auf die Bettkante und erklärte ihrem Freund, dass er bald wieder gesund werden würde. Doch irgendwie hörte Daiton nicht hin, was sie zu ihm sagte. Er freute sich über ihre Gegenwart, denn er hatte sie die ganze Zeit sehr vermisst.
Dann unterbrach er ihren Redefluss. Sie hatte sich nämlich gerade darüber beklagt, dass er viel zu dünn für seine Größe sei und besser essen solle. Aber junge Männer in seinem Alter seien wohl einfach zu faul, etwas Vernünftiges zu sich zu nehmen.
Daiton musste tief Luft holen. Seine Stimme klang ehr wie ein altes Reibeisen. Das junge Mädchen war mittlerweile verstummt und wartete auf seine Frage.
„Shirley, welches Jahr haben wir?“
„Welches Jahr? Warum fragst du mich das ausgerechnet jetzt? Spielt das überhaupt im Moment eine Rolle? Du hast vielleicht Nerven.“
Das junge Mädchen kicherte nervös.
„Nun sag’ es schon, Shirley!“ bat der junge Mann mit gepresster Stimme.
„Den 26. August 2008.“
Sie blickte dabei auf ihre Uhr und sah dann zu Daiton hinüber. Mit ruhiger Stimme sprach sie weiter.
„Wir waren fast zwei Jahre ohne großen Zeitverlust unterwegs, haben eine ganze Menge Planeten im Universum besucht und sind dabei kaum gealtert. Hättest du das letzte Mal nicht den falschen magischen Zauberspruch vorgelesen, wärst du auch nicht hier im Krankenhaus gelandet. Die scharfkantigen Felsen des zuletzt besuchten Planeten haben dich fast umgebracht. Der Trägerstrahl nimmt keine Rücksicht auf dich, wenn du zu weit weg bist. Stell’ dich also in Zukunft bitte immer direkt vor eines dieser magischen Sternentore, ganz egal auf welchem Planeten du bist. Das ist ganz wichtig, Daiton! Außerdem hast du mich in einen schwarzen Adler verwandelt. Das nächste Mal werde ich den magischen Spruch selbst vorlesen. Ich will sicher gehen, dass unsere weitere Reise ohne Zwischenfälle verläuft.“
Daiton runzelte verlegen die Stirn, hob seinen Kopf etwas an und blickte suchend im Krankenzimmer herum.
„Wo sind unsere Sachen geblieben?“ fragte er das junge Mädchen mit den schwarzen Haaren.
„Wenn du das magische Zauberbuch meinst, dann kann ich dich beruhigen, mein Liebster. Ich habe es natürlich mitgebracht.“
Erleichtert atmete Daiton auf.
Noch während Shirley mit ihm redete, deutete sie mit der rechten Hand auf eine große Stofftasche hin, die neben ihr auf dem Holztisch lag. Mit flinken Griffen holte sie das uralte magische Buch mit dem brüchigen Leder daraus hervor, legte es behutsam aufs Bett und blätterte solange darin herum, bis sie die Seite mit einem ganz bestimmten Zauberspruch gefunden hatte. Mit leiser, aber deutlicher Stimme wiederholte sie jedes magische Zeichen, das dort geschrieben stand.
Es war ein Zauber der Heilung und der schnellen Genesung.
Kurze Zeit später verschwanden die tiefen Fleischwunden eine nach der anderen an Daitons Körper auf wundersame Weise, bis er zum Schluss wieder dazu in der Lage war, aus dem Bett aufzustehen. Er holte seine Kleidung aus dem Schrank und zog sich in aller Ruhe an. Er spürte dabei, wie er von Sekunde zu Sekunde kräftiger wurde. Auch die Haut fing zu prickeln an. Das Leben kehrte in ihm zurück und bald hatte der magische Zauber seine Gesundheit wieder völlig hergestellt.
Shirley beobachtete Daiton zufrieden. Dann blickte sie ihn tief in die Augen.
Gerade, als sie was sagen wollte, legte Daiton den Zeigefinger seiner rechten Hand auf ihren Mund und wies auf die Tür.
„Beeilen wir uns, bevor jemand vom Krankenhauspersonal kommt. Ich will nicht, dass man uns dabei ertappt, dass wir ein magisches Zauberbuch bei uns haben. Allerdings würde ich gerne etwas essen und trinken wollen, bevor wir den nächsten Planeten besuchen. Wir müssen übrigens diesmal nach Stonehenge, dem magischen Steinkreis in England. Da fällt mir etwas ein. Was hältst du davon, wenn wir mal wieder ein gutes Speiserestaurant besuchen würden, sagen wir mal im alten London um 1800 oder so, Shirley?“
Das junge Mädchen schaute ihren Freund verblüfft an.
„Kannst du Gedanken lesen? Ehrlich gesagt ist mir auch nach Essen und Trinken zumute. Ich werde gleich nach der Zauberformel suchen.“
Shirley blätterte zügig in dem uralten magischen Buch herum. Es schien ihr diesmal dabei zu helfen, die richtige Seite zu finden. Schon nach kurzer Zeit stieß sie auf einen Text, der sich mit Reisen in die Vergangenheit befasste und dazu auch gleich den entsprechenden Zauberspruch dafür bereit hielt. Man musste nur den jeweiligen Ort und das gewünschte Datum hinzufügen.
„Wie wäre es mit London des Jahres 1875? Sicherlich gab es auch damals schon vorzügliche Restaurants, in denen man gut speisen konnte. Die passende Kleidung dafür werden wir uns mit einem Kleiderzauber besorgen. Einverstanden damit, Daiton? Vielleicht treffen wir bei dieser Gelegenheit auf Vincent van Gogh, der damals in London gewohnt hat. Du weist doch, dass ich seine Bilder liebe und ein großer Fan von ihm bin.“
„Deine Ideen sind wie immer einfach umwerfend, Shirley. Lies den Zauberspruch am besten gleich vor. Ich glaube Schritte draußen auf dem Flur gehört zu haben.“
Das hübsche Mädchen las die Zauberformel laut und deutlich vor. Wenige Augenblicke später verschwanden die beiden jungen Leute von der Bildfläche, als hätte sie der Boden verschluckt.
Kurz darauf wurde die Tür geöffnet. Ein Arzt und eine Krankenschwester betraten gemeinsam den Raum und sahen sich verwundert nach allen Seiten um. Das Krankenbett war leer, ihr Patient war nicht mehr auf seinem Zimmer.
„Ich schwöre, dass dieser Mr. Vennedey vorhin noch da war. Der Krankenpfleger kann das bestätigen, Herr Stationsarzt. Er muss mit diesem Mädchen ausgebüchst sein. Wir müssen die beiden finden, bevor sie das Krankenhaus verlassen können.“
„Dann informieren sie sofort das Sicherheitspersonal. Sie sollen überall nach ihnen suchen und alle Ein- und Ausgänge sofort sperren lassen.“
„Ich werde alles in die Wege leiten, Herr Doktor. Ich bin mir ganz sicher, dass wir unseren Patienten bald wiederfinden werden.“
Wortlos nickte der Doktor und verließ verärgert das Zimmer.
Daiton Vennedey und Shirley Sutherland befanden sich zu dieser Zeit aber schon längst im London des Jahres 1875 und waren trotz des regnerischen Wetters gut gelaunt auf der Suche nach einem geeigneten Restaurant. Schnell wurden sie fündig.
Unter dem weiten Regenmantel, in einer Wasser geschützten Tasche des jungen Mannes, befand sich das uralte magische Buch. Es sollte die beiden noch am gleichen Tag nach Stonehenge bringen, dem magischen Steinkreis in der Nähe von Amesbury in Wiltshire, der in Wirklichkeit ein altes Sternentor war.
Natürlich mit einem entsprechenden Zauberspruch, und nur im Schutze der Nacht, versteht sich.
Und wer weiß. Vielleicht werden die beiden auf ihrer Reise durch Raum und Zeit sogar auf den keltischen Druiden und Magier Ruairidh treffen, denn der hatte Stonehenge im Mittelalter auch schon als Tor zu den Sternen benutzt, das uralte magische Zauberbuch aber auf der Erde zurück gelassen.
Am Wochenende nahm sich der Rentner Werner Hofstetter vor, endlich mal den Dachboden seines alten Hauses aufzuräumen, der mittlerweile fast unpassierbar geworden war. Eigentlich war er nicht begeistert darüber, denn er war kein großer Freund von Aufräumarbeiten. Aber irgendwas drängte es ihn dazu, den Dachboden zu begehen, um dort nach etwas zu suchen, was leider in all den zurück liegenden Jahren immer mehr in Vergessenheit geraten ist, auch wenn die Erinnerungen daran nicht ganz verblasst sind.
Hofstetter zog sich warm an, denn auf dem schummrigen Dachboden war es unangenehm kalt und zugig. Schließlich stieg er über die knirschende Holztreppe hinauf nach oben unters Dach, schaltete das trübe Licht über einen Drehschalter ein und fing damit an, in den vielen Sachen herum zu stöbern.
Überall standen Kisten, Kartons und sogar alte Möbel herum, die er dort aufbewahrt hatte. Er konnte eben nichts wegschmeißen und trennte sich nur ungern von seinen Dingen, auch wenn sie vielleicht nicht mehr zu gebrauchen waren.
Stunde um Stunde verbrachte er damit, in den zahlreichen Kisten, Kästen und Truhen herum zu stöbern. Plötzlich fiel ihm ein ziemlich wuchtig aussehender Schmuckkasten auf, der auf der breiten Fensterbank vor ihm stand und wohl von seinem längst verstorbenen Vater stammen musste, da seine Mutter, die schon kurz nach seiner Geburt verstorben war, so etwas bestimmt nicht besessen haben konnte.
Vorsichtig nahm er den ziemlich stark verstaubten Holzkasten in seine Hände, öffnete behutsam den halbrund geformten Deckel und fand darin zu seiner großen Überraschung eine wunderschöne Perlenkette mit einem großen, seltsam aussehenden Edelstein daran, der urplötzlich rot zu leuchten begann.
War es möglicherweise das, wonach er insgeheim hier oben auf dem Dachboden gesucht hatte?
Schon wollte Hofstetter den geöffneten Deckel wieder schließen, als er eine geheimnisvolle Inschrift darauf entdeckte, die er nur verschwommen wahrnehmen konnte, weil seine Augen altersbedingt nicht mehr so gut waren. Deshalb fingerte er nach seiner Lesebrille, die sich in der rechten Brusttasche seiner Jacke befand, setzte sie auf und begann damit, langsam eine Zeile nach der anderen zu lesen, die da in altdeutscher Schrift geschrieben stand.
"Wer sich diese Kette um den Hals legt und der daran befindliche Edelstein rot zu leuchten beginnt, dem erfüllt er jeden Wunsch. Dann folgte noch ein warnender Hinweis, dass der Träger dieser Halskette seine Worte besonders vorsichtig und mit Bedacht wählen solle, denn der einmal geäußerte Wunsch kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Man kann ihn erst nach seiner vollständigen Erfüllung durch einen neuen ersetzen. Das sind die magischen Gesetze dieser Kette."
Schließlich fand Hofstetter noch einen vergilbten Zettel, auf dem zu lesen war, woher diese außergewöhnliche Halskette mit dem seltsamen rot leuchtenden Edelstein ursprünglich stammte. Den Namen des Ortes konnte er anfangs nur schlecht entziffern, aber schließlich hatte er ihn doch enträtseln können. Das seltsame Schmuckstück musste wohl sein Vater aus Afrika mitgebracht haben, als er dort unten noch als junger Tropenarzt tätig gewesen war. Das war schon lange her. Hofstetter wusste nur, dass sein Vater auch nebenbei als Archäologe für ein großes deutsches Museum gearbeitet hat und viele Dinge mit nach Hause brachte, die er aber immer unter Verschluss hielt, wofür sein alter Herr sicherlich wohl auch seine guten Gründe hatte.
Hofstetter überlegte ein paar Sekunden lang, was er tun sollte. Persönlich glaubte er an solchen Blödsinn nicht, dass Ketten, Amulette oder Edelsteine über magische Kräfte verfügten. So etwa gab es nur in Märchen- oder sonstigen phantasievoll ausgeschmückten Geschichten. Trotzdem wollte er es ganz genau wissen, auch wenn er sich dabei irgendwie lächerlich vorkam, diese Kette anzulegen. Aber er war ja ganz allein auf seinem Dachboden und niemand würde ihm dabei zusehen.
Also tat er es.
Kaum hatte er die Perlenkette um den Hals gelegt, fing der Edelstein auch schon intensiv rot zu leuchten an.
Hofstetter überlegt daher nicht lange und wünschte sich sofort, wieder ein junger Mann zu sein, der mal vor langer Zeit mit seinen Eltern zusammen in diesem Haus gelebt hat.
Kaum hatte er den Wunsch geäußert, veränderte sich die gesamte Umgebung um ihn herum. Er war plötzlich wieder ein junger Mann, der tatsächlich bei seinem längst verstorbenen Vater wohnte, der gerade draußen im Garten arbeitete. Alles war so wie früher. Nichts hatte sich verändert.
Hofstetter konnte die ganze Situation zuerst nicht fassen und stand da, als würde er selbst ein Geist sein. Die Perlenkette und der rote Edelstein hatten wirklich magische Kräfte.
Im gleichen Moment griff er prüfend nach seinem Hals, um sich davon zu überzeugen, dass die magische Kette noch da war. Doch sie war zu weg.
Hofstetter erschrak bis ins Knochenmark. Er musste sie anscheinend nicht ordentlich genug um seinen Hals gelegt haben. Bestimmt liegt sie jetzt immer noch auf dem Dachboden ganz hinten unter dem staubigen Dachfenster, wo er zuletzt mit der Kette gestanden hat.
Gleichzeitig wusste er aber auch, dass er die vielen kommenden Jahrzehnte geduldig warten müsse, bis er wieder als Rentner auf dem Dachboden seines Hauses nach der geheimnisvollen Perlenkette suchen könne, um sich vielleicht wieder einen neuen Wunsch zu erfüllen, denn zurück in seine Zeit konnte er ohne diese magische Kette jetzt nicht mehr.
Aber Hofstetter freute sich trotzdem darüber, wieder ein junger Mann geworden zu sein. So würde er bestimmt noch einmal alles oder so ähnlich erleben können, um dann als Rentner, in ferner Zukunft, wieder nach der geheimnisvollen Kette auf dem Dachboden zu suchen.
Nur vergessen dürfte er sein Vorhaben nicht, denn er wusste, dass es für ihn jetzt einen echten Weg gab, unsterblich werden zu können, und das alles mit Hilfe der magischen Perlenkette und dem roten Edelstein an ihr.
ENDE
(c)Heiwahoe
9. Die neue Welt des Jerry Logan
Irgendwo in einer ferner Zukunft
Gelangweilt saß Jerry Logan an diesem schönen Nachmittag auf einer alten von grünem Moos überwachsenen Holzbank am Rande eines total verwilderten Parks. Obwohl er noch etwas zu erledigen hatte, spielte er mit dem Gedanken, den Rest des Tages hier im Park zu verbringen, weil er einfach seine Ruhe haben wollte - mehr nicht.
Außerdem konnte er wegen seiner momentan schlechten finanziellen Lage sowieso nirgendwo anders hin und musste deshalb zwangsläufig den größten Teil seiner Freizeit hier in einem der langweiligsten und schmutzigsten Wohnbezirke weit draußen am Stadtrand von Lanthan City verbringen.
In dieser futuristisch aussehenden, riesigen Megastadt, die scheinbar zum Greifen nah direkt vor Jerry Logans Füßen lag und mit ihren schier unübersichtlich ineinander verzweigten Verkehrssystemen an eine gigantische Krake erinnerte, war man ohne diese hypermodernen Schwebegleiter hilflos verloren. Diese technisch hochentwickelten Wunderfahrzeuge stellten eine Mischung aus Auto und Flugzeug dar und wurden wegen ihrer hohen Geschwindigkeit vollautomatisch gesteuert.
Um sich einen dieser superschnellen Kombinationsgleiter überhaupt leisten zu können, musste man schon ein ziemlich nettes Sümmchen hinblättern. Jerry gehörte aber zur armen Unterschicht von Lanthan City, die sich so ein Ding nicht leisten konnten. Sein Leben fristete er in einem der zahlreichen Elendsviertel, die weit weg vom Zentrum lagen und wo der tagtägliche Kampf ums Überleben nicht selten tödlich endete.
Aber es gab sie noch, diese klassischen Verkehrsmittel aus früheren Zeiten, die aber nicht die geringste Chance in diesem gewaltigen Labyrinth aus schmalen und breiten Fahrbahnen hatten, die außerdem noch überall mit zahllosen Zubringern und Abzweigungen aller Art nur so gespickt waren. Darüber hinaus wurde der unablässig strömende Verkehr von einem bis in die letzten Stadtwinkel hinein verzweigten Computersystem vollelektronisch überwacht und penibel geregelt.
Natürlich gab es auch überall großzügig angelegte Park- und Umsteigestationen, die so genannten „grünen Decks“, auf denen aber wegen des hohen Verkehrsaufkommens in dieser Riesenstadt Tag und Nacht immer ganz schön was los war.
Genau genommen gelangte man nämlich nur von hier aus in das Innere der gigantischen Wolkenkratzer, die in ihrer Gesamtheit den atemberaubenden Stadtkern von Lanthan City bildeten und alles zu bieten hatten, was man zu einem angenehmen Leben in einer hochmodernen Stadtzivilisation so benötigte.
Eine Doppelformation von unterirdisch angelegten Kernfusionsreaktoren stillte den nie nachlassenden Energiehunger dieses urbanen Ungeheuers, dessen weithin sichtbares Lichtermeer sogar am Tag aussah wie ein mit Sternen übersäter Kosmos.
Jerry betrachte sehnsuchtsvoll und mit einer gewissen Faszination die pulsierende Megastadt aus der Ferne. Er konnte förmlich ihre unermüdlich vibrierende Geschäftigkeit spüren. Zusätzlich wurde das gesamte Panorama von einem gleichmäßig lauten Hintergrundgeräusch untermalt, das man sogar noch in den weit abgelegenen Außenbezirken von Lanthan City wahrnehmen konnte.
Doch hier draußen, in den mit stinkendem Müll verdreckten Randbezirken, war man von dem schönen Leben in der Stadt abgeschnitten, einsam und allein sich selbst überlassen. Hier, wo Jerry jetzt war, in der öden Weite ineinander verschachtelter seelenloser Betonklötze, kam es ihm so vor, als lebte er in einem Gefängnis, aus dem es kein entrinnen für ihn gab.
Müdigkeit kroch langsam in Jerrys Gehirn. Sein Körper war plötzlich schwer wie ein Sack Blei und es dauerte nicht mehr lange, da übermannte ihn der Schlaf. Es begann dunkel um ihn herum zu werden. Die Zeit schien still zu stehen und bald träumte Jerry einen wunderschönen Traum.
***
Der junge Mann öffnete schlagartig seine verschlafenen Augen. Das helle und angenehm warme Licht einer unsichtbaren Sonne, die er aber nicht sehen konnte, strömte vom blauen Himmel herunter, der so blau war, dass man das komische Gefühl hatte, da hineinzufallen wenn man nur lange genug hinauf sah. Auch war nicht eine einzige Wolke zu sehen.
Jerry hatte den seltsamen Eindruck, als würde er eine Ewigkeit geschlafen haben. Seine Benommenheit wich nur langsam aus seinem dumpfen Schädel, doch allmählich wurde er die Dinge um sich herum gewahr. Er spürte auf einmal die weichen Kleider auf seiner Haut, er spürte das Heben und Senken seiner leise atmenden Brust, den harten Boden unter seinem kraftlosen Körper, der sich wie ausgelaugt anfühlte.
Jerry riss sich zusammen und mit einem Mal war er wieder hellwach. Tausend Dinge gingen ihm gleichzeitig durch den Kopf, Sinneseindrücke flossen zusammen und wurden zu einem immer vollständigeren Bild zusammengesetzt, das aber nicht lange hielt und gleich wieder auseinander fiel. Der junge Mann sah sich mit breit ausgestreckten Beinen im Gras liegen, den möglichen Gefahren eines seltsam stillen Ortes ausgeliefert, der ihm völlig unbekannt war. Sein Gehirn pochte, seine Nerven vibrierten und seine Muskeln waren angespannt wie die Sehnen eines Bogens.
Er richtete sich vorsichtig auf und fragte sich selbst mit leiser Stimme: “Wo bin ich hier eigentlich?“
Jerry Logan saß auf einem leichten mit spärlichem Rasen überwachsenen Felsvorsprung, der sich beängstigend nahe dem Horizont zuneigte. Er wandte den Kopf nach allen Seiten und schaute schließlich über seine Schulter hinweg. Hinter ihm lag ein schmaler Kiesweg, der zu einem weiter oben liegenden Haus führte. Behutsam stand Jerry auf, bewegte sich von dem Felsüberhang weg und marschierte auf das einsam da liegende Gebäude zu. Vor dem Eingang blieb er stehen, der nur durch einen leicht surrenden Energievorhang von der Außenwelt geschützt wurde, wahrscheinlich um Staub und Dreck abzuhalten. Vorsichtig streckte er seine Hand aus. Aber er spürte nur ein weiches, elastisches Nachgeben, gerade so, als wenn seine Hand durch eine überdimensionale Seifenblase hindurch gleiten würde. Zum Glück war es auf der anderen Seite angenehm warm. Jerry zog deshalb seine Hand erleichtert zurück und betrat – allerdings mit größter Vorsicht – das Innere des Hauses.
Kurz darauf stand er in einem schmalen Gang. Hinter ihm schloss sich der schwach aufleuchtende Energievorhang mit einem blubbernden Geräusch. Dann ging Jerry ein paar Schritte weiter, bis er in einem Raum ankam, dessen Deckenlichter wie von Geisterhand eingeschaltet wurden. Er sah sich neugierig um. Ihm gegenüber befand sich eine Sitzgarnitur aus braunem Leder mit einem flachen Rauchtisch davor. Ein breiter Plasmabildschirm hing an der hellen Wand auf der gegenüber liegenden Seite.
Jerry Logan betrachtete seine Umgebung etwas näher. Das TV-Gerät war eines dieser supermodernen Modelle, die zusätzlich mit einem Filmplayer und einer modernen Phonothek ausgestattet waren. Jerry durchquerte zügig das geräumige Zimmer und betrat einen weiteren Durchgang im hinteren Teil des Hauses.
Hier fand er noch zwei weitere Räume – ein Schlafzimmer und eine gut eingerichtete Küche. Das Bett war ebenfalls durch ein Kraftfeld geschützt und war ziemlich kostspielig und luxuriös ausgestattet. In der Küchenmitte gab es einen Tisch mit zwei Stühlen, im hinteren Bereich befanden sich eine Anzahl breiter Vorratsschränke durch deren blanke Scheiben man eine große Menge frischer Lebensmittel liegen sah.
Erst jetzt kam Jerry auf den Gedanken, dass das Haus vielleicht bewohnt sein könnte, in dem er sich so ungezwungen umsah.
Mit hastigen Schritten ging er wieder zurück und trat hinaus ins Freie, wo er von dem hellen Sonnenlicht geblendet wurde. Wieder blickte er um sich. Durch seine halb zusammengekniffen Augen erblickte er einen gepflegten Rasen, der sich nach allen Seiten hin erstreckte. Hier und da ragten große Bäume aus dem üppig wuchernden Rasenmeer. Trotz der Schönheit der Landschaft erschien Jerry alles irgendwie unberührt, ja fast künstlich. War er vielleicht ganz allein hier?
„Hallo!“ rief Jerry laut mit kraftvoller Stimme.
Sein Rufen brachte aber nichts. Es verhallte ohne Echo. Keine Antwort.
Er versuchte es noch einmal. Jetzt klang seine Stimme sogar noch etwas lauter.
„Hallo! Jemand da? Hallo! Ist hier jemand?“
Auch diesmal blieb alles unheimlich still. Nur ein leichter Wind säuselte durch die Blätter einiger am Rande eines breiten Kiesweges wachsender Büsche und Bäume, wobei der Kiesweg vom Haus weg führte und irgendwo am fernen Horizont verschwand.
Jerry Logan begann zu laufen. Eine unterschwellige Angst hatte von ihm Besitz ergriffen, eine Angst, die immer mehr zur abgrundtiefen Furcht wurde und die sein heftig pochendes Herz schmerzen ließ.
Das Gras wurde höher zu beiden Seiten des steinernen Weges. Jerrys Füße schlugen dabei hämmernd und knirschend im gleichen Takt auf den harten Rollkies. Er rannte, bis seine Lungen keuchten und er fasst keine Luft mehr bekam. Sein Herz schien die Brust sprengen zu wollen. Als er nicht mehr konnte, blieb er erschöpft stehen und blickte abermals um sich.
Das Haus war nicht mehr zu sehen. Jerry stand plötzlich am Rand eines dichten Waldes, deren Bäume riesenhaft waren. Dreißig Meter schätzte er sie hoch oder sogar noch mehr. Wie eine gewaltige Barrikade versperrten sie ihm den weiteren Weg, der allerdings jetzt immer mehr zu einem schmalen Pfad wurde und mitten hinein ins dichte Unterholz führte. Er fürchtete sich davor, den Pfad zu betreten, der sich irgendwo in der bedrohlich wirkenden Finsternis des Waldes verlor. Trotzdem ging er mutig weiter, denn zurückkehren wollte er auch nicht mehr unbedingt.
Inmitten der Bäume verlor Jerry Logan plötzlich jegliches Gefühl für Raum und Zeit. Der Wurzelboden ließ ihn ein paar Mal stolpern. Als ihn die Furcht erneut einholte, lief er schneller und schneller, doch der Weg durch das dunkle Unterholz nahm einfach kein Ende. Sein Atem ging pfeifend, seine Lungen schmerzten. Der junge Mann gab aber dennoch nicht auf. Er rannte einfach solange weiter, bis er fast zusammengebrochen wäre.
Mit einem Schlag endete der Wald wieder. Eben noch hatten sich die Bäume dicht um ihn gedrängt, und im nächsten Augenblick stand er plötzlich wieder am Rand des Waldes vor einem weitläufig angelegten grünen Rasen, durch den abermals ein Kiesweg führte, von dem er meinte, den gleichen schon mal gesehen zu haben. Jerry blieb stehen und blinzelte. Mit einem erleichterten Seufzer trat er aus dem Schatten der Bäume hervor und setzte seinen Weg mit knirschenden Schritten fort.
Er brauchte nicht weit zu gehen. In wenigen Augenblicken war er auf dem Kamm eines kleinen Hügels angelangt. Als er leicht nach vorne gebeugt vorsichtig von der Anhöhe hinunter schaute, lag das gleiche Haus unmittelbar direkt unter ihm, jenes also, das er zuvor hastig verlassen hatte.
Mit schleppenden Schritten ging er darauf zu. Er klammerte sich insgeheim an die Hoffnung einer Selbsttäuschung zu unterliegen.
Doch je näher er kam, desto mehr wurde er von der Wahrheit eingeholt. Erst sah er den Eingang mit dem durchsichtigen Energievorhang, dann dahinter die Tür zum Schlafzimmer und die andere, die in die Küche führte.
Wie ein Traumwandler bewegte sich Jerry Logan auf das verlassene Gebäude zu, trat ohne Halt in das Innere und ließ sich schließlich erschöpft in einem der braunen Ledersessel fallen, die im Wohnzimmer standen.
Nach einer Weile hatte Jerry sich soweit erholt, dass er endlich über seine absurde Situation in Ruhe nachdenken konnte. Plötzlich fiel ihm das Vorratslager wieder ein, das ihm anfangs wegen seiner überreichen Fülle an Lebensmittel aufgefallen war. Mit einem Ruck erhob er sich aus dem gemütlichen Sessel, ging hinüber zu den Schränken des Lebensmittellagers, schnappte sich dort eine Flasche mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit, öffnete sie und setzte die Öffnung anschließend behutsam an seine trockenen Lippen.
Der erste Schluck brannte fürchterlich in seiner Kehle. 40 Prozent Alkohol stand auf dem Etikett der bauchigen Flasche. Tränen quollen aus Jerry Logans Augen und fast wäre ihm die Luft weggeblieben. Der zweite und dritte Schluck dagegen waren schon viel angenehmer und wesentlich wohltuender. Dann verließ er das Haus wieder.
Draußen nahm er nochmals einen kräftigen Schluck aus der Flasche, hockte sich auf den weichen Rasen und murmelt vor sich hin: „Ich kann trinken, also bin ich! - Aber was mache ich jetzt? Wie bin ich hier eigentlich hingekommen?“ Die Fragen hingen vor ihm wie die reifen Früchte eines Obstbaumes. Jerry versuchte sich zu erinnern, aber seine Erinnerungen verloren sich jedes Mal in einem Irrgarten schattenhafter Bilder. Fast hätte er manchmal die Antworten sogar gewusst, die aber wie Geister wieder entflohen. Jerry schüttelte verzweifelt den Kopf.
Er trank von neuem einen kräftigen Schluck aus der bauchigen Flasche.
Etwas an diesem Ort, an dem er sich jetzt befand, so dachte er für sich, kam ihm nicht ganz geheuer vor. Irgendwie erschien ihm alles zu künstlich. Aber dieses unbestimmte Etwas ließ sich nicht in Worte fassen, was Jerry ziemlich beunruhigte.
Vielleicht lag der Grund dafür aber auch einfach nur ganz woanders.
Er sah ein, dass er nur abwarten konnte. Sonst nichts.
Jerry Logan runzelte die Stirn. Je länger er nämlich darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass er sich in einer verzwickten Situation befand. War er überhaupt auf der Erde? Ganz sicher war er sich da auf einmal nicht mehr.
Er schaute sich suchend um. Er betrachtete jetzt seine unmittelbare Umgebung etwas genauer. Und wie ein Donnerschlag traf ihn plötzlich die Erkenntnis, dass es zwar überall hell und warm war aber dennoch keine Sonne gab. Sie war einfach weg! Doch der Himmel strahlte so blau wie eh und es gab auch keine Wolken, die man vorbeiziehen sah. Nirgends hörte man einen Vogel zwitschern oder konnte man irgendeine andere Tierstimme vernehmen, wo doch der Wald ganz in seiner Nähe lag. Und der Wind? Wo war der Wind geblieben? Gab es ihn überhaupt? Bewegten sich vielleicht nur die Blätter, um das Vorhandensein eines lauen Lüftchens vorzutäuschen?
Jerry Logan sprang auf. Seine Hand umklammerte krampfhaft den schlanken Flaschenhals, gerade so, als könne er sich in seiner Verzweiflung daran fest halten. Ein überaus schlimmer Verdacht stieg langsam in ihm auf.
Dann griff er instinktiv nach seiner Armbanduhr. Tatsächlich, sie war da. Er schaute auf das Ziffernblatt und bemerkte voller Schrecken, dass sich die Zeiger der Uhr gar nicht bewegten. Es gab in dieser Welt offenbar keine Zeit.
Jerry Logan dachte nach. War er möglicherweise allein in dieser Welt, von der er nicht wusste, wo sie sich befand? Ihre Schönheit beeindruckte ihn, aber sie war auch eine seltsam stille Welt, die unter einem strahlend blauen Kunsthimmel lag, mit einer herrlich weiten Landschaft, die in der Ferne jetzt im leuchtend roten Horizont versank, der ebenfalls nur reine Illusion zu sein schien. Jerry Logan kam sich vor wie ein Gefangener und er fragte sich nachdenklich, wer oder was ihn hier hingebracht hat. Er wusste darauf keine schlüssige Antwort und gab es schließlich auf, weiter darüber nachzudenken.
Urplötzlich verschwand alles vor seinen Augen und Jerrys Bewusstsein fiel in einen tiefen Schlaf.
***
„Hey Mann, wachen sie auf! Wollen sie vielleicht die ganze Nacht hier auf der Bank im Park verbringen – oder was?“
Erschreckt und verstört zuckte Jerry Logan zusammen. Er wusste überhaupt nicht wie ihm geschah.
Der schwarzgekleidete Streifenpolizist rüttelte jetzt heftig an seinem rechten Arm und sagte mit eindringlicher Stimme: „Sie können hier nicht bleiben! Stehen sie auf! In dieser Gegend treibt sich allerlei Gesindel in der Nacht herum. Es ist besser, sie gehen jetzt gleich nach Hause, mein junger Freund. Befolgen sie meinen Rat! Es ist zu ihrer Sicherheit!“
Jerry stand leicht verdattert auf, entschuldigte sich vorsichtshalber beim Polizisten, der mit seiner schwarzen Uniform und der schweren Laserpistole in der Hand wie ein drohend aufgerichteter Fels vor ihm stand, argwöhnisch jede seiner fahrigen Handbewegungen beobachtend.
Der junge Mann versuchte einen harmlosen Eindruck zu machen und schlug mit wackeligen Beinen schließlich den Weg zu seiner Wohnung ein, die ganz in der Nähe einer tristen Einheitssiedlung hinter einer hohen, wuchtigen Mauer lag, irgendwo am Rande dieser gigantischen Megastadt Lanthan City.
***
Draußen war es mittlerweile schon dunkel geworden, als Jerry Logan die schäbig aussehende Haustür seiner kleinen Wohnung erreichte und den elektronischen Türöffner mit einer ganz bestimmen Zahlenkombination surrend in Gang setze. Die Tür glitt geräuschvoll zur Seite. Dann betrat er seine Wohnung, die jetzt vollautomatisch mit hellem Licht ausgeleuchtet wurde. Zielstrebig ging er ins Badezimmer, stellte sich vor den breiten Spiegel und entfernte mit einem weichen Saugschlauch seiner Mini-Vakuumpumpe einen etwa ein Zentimeter dicken und etwa fünf Zentimeter langen grauweißen Wurm aus dem rechten Nasenloch, legte ihn vorsichtig in eine wohltemperierte Metallbox, die mit einer speziellen Nährflüssigkeit gefüllt war und stülpte schnell den Deckel darüber. Anschließend wischte er sich mit einem feuchten Lappen das herausquellende Blut von Nase und Lippen und legte sich anschließend schlafen.
Der Wurm, eigentlich ein Parasit, begann sofort damit, begierig die eigens für ihn zubereitete Nährflüssigkeit in sich aufzunehmen, die er aber nur für die ersten Monate seines Wachstums benötigte. Später ernährte er sich ausschließlich vom Blut seines Wirtes. Man hatte diesen Wurm auf einem außerirdischen Planeten entdeckt und einige äußerst verblüffende Fähigkeiten an ihm festgestellt.
Er konnte sich irgendwie in das Nervensystem eines Menschen problemlos ein- und wieder ausklinken. Angedockt verursachte er im Gehirn die fantastischsten Halluzinationen, welche jede Person, die mit diesem Wurm eine Verbindung einging, als absolut real empfand, gerade so, als wäre es die Wirklichkeit selbst.
Als bester Platz für den Wurm hatten sich dabei die Nasenlöcher des Menschen herausgestellt, weil der Wurm von hier aus ziemlich nah am Gehirn platziert werden konnte. Nach einigen Experimenten hatte man etwas ganz seltsames herausbekommen. Je länger nämlich eine Person seinen Wurm benutzte, desto besser passte er sich seinem Besitzer an und erfüllte ihm seine tiefsten Wünsche, Träume und Begierden, sofern man ihn natürlich gut behandelte und ausreichend mit seiner Lieblingsnahrung versorgte, dem menschlichen Blut, von dem er lebte.
Jerry Logan hatte seinen Wurm erst seit ungefähr drei Wochen und bisher nur wenige Male ausprobiert. Seine ganzen Ersparnisse hatte er für dieses noch junge Exemplar auf dem Schwarzmarkt dafür hergeben müssen. Das Ergebnis konnte sich aber schon jetzt sehen lassen, wenngleich seine Visionen noch ziemlich unvollkommen waren. Aber das würde sich legen und irgendwann würden sich auch seine Angstgefühle unter Kontrolle bringen lassen, die er bei den Übergängen in seine eigene Fantasiewelt noch hatte.
Mit Hilfe des Wurms konnte sich Jerry Logan seine eigenen Wünsche und Vorstellungen von einer für ihn besseren Welt erfüllen, die nach jeder Anwendung des Wurms realistischer wurde, je öfters er diesem Symbiont seinen Körper als Wirt anbot.
Noch war Jerrys neue Welt im Zustand der Unvollkommenheit, aber irgendwann würde der Wurm das ändern, spätestens dann, wenn der Symbiont ihn ganz für sich allein hatte.
ENDE
(c)Heiwahoe
***
10. Die Story von der schönen Söldnerin ELLEN EIRIES
"Phantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt."
Albert Einstein
***
Draußen war es schon lange hell.
Mr. Morten Haskins, der alternde, wenig erfolgreiche Schriftsteller, wachte mit einem ziemlichen Brummschädel auf. Halb benommen langte er nach der Flasche Whisky vor sich auf dem Bett, bis ihm dämmerte, dass sie total geleert war.
„So ein verfluchter Mist…! War ich das? – Diese verdammten Ablieferungstermine gehen mir echt auf die Nerven. Ich glaube, dass ich langsam zu alt für diesen Quatsch werde“, murmelte Haskins mürrisch halblaut vor sich hin. Er hatte das Gefühl, dass seine Augenlider schwer wie Blei waren. Sein flüchtiger Blick glitt zum Schreibtisch hinüber, der direkt vor dem großen Schlafzimmerfenster stand. Die schweren Vorhänge waren zugezogen und ließen deshalb nur wenig Tageslicht durchdringen. Neben der Schreibmaschine war ein Haufen Papier aufgestapelt, von dessen oberstem Blatt ihm mit einer ironischen Anspielung das Wort „ENDE“ entgegen prangte.
Langsam kam die Erinnerung wieder, wenngleich auch nur für einige kurze Augenblicke, dass er bis tief in die Nacht hinein an seinem Manuskript gearbeitet hatte und danach, überschwemmt vom Gefühl der Erleichterung über seine Fertigstellung, ein Glas Whisky nach dem anderen in sich reingeschüttet haben muss. Irgendwann hat er dann wohl mit letzter Kraft das Bett aufgesucht und ist, halb bewusstlos von der Sauferei, darin sofort eingeschlafen.
Ein Blick auf die Uhr genügte, dass das vor mehr als acht oder neun Stunden passiert war. Haskins reckte seine steif gewordenen Glieder und lehnte sich in halb gebückter Haltung an das hölzerne Kopfteil seines Bettes. Ein unbestimmter Würgereflex kam in ihm hoch, den er nur mühsam unterdrücken konnte. Das ganze Zimmer war von seinen alkoholischen Ausdünstungen erfüllt, weil die Fenster geschlossen waren.
Dann erstarrte er.
Er rieb seine verschlafenen Augen, ob er auch richtig sähe: Vorne auf der Bettkante saß eine ganz in Schwarz gekleidete junge Frau in hohen glatt polierten Lederstiefeln, eng anliegender, körperbetonter Strumpfhose und seidenen Rollkragenpulli, die ihn mit lasziv übereinandergeschlagenen Beinen aufmerksam beobachtete.
Mr. Haskins überlegte intensiv. Seiner Erinnerung nach war er mehr als acht oder neun Stunden schlafend und allein in seiner Wohnung gewesen. Auch davor hatte er niemanden reingelassen. Seine Eingangstür war aus Sicherheitsgründen gleich mehrfach verriegelt. In dieser gefährlichen Wohngegend musste das sein.
Schlagartig war der Schriftsteller hellwach und alarmiert schaute er sich im Zimmer um. Er warf seinen Blick nach links und rechts über die Schultern, auf der Suche nach weiteren Eindringlingen. Doch niemand sonst, außer der schönen Frau in Schwarz, war im Raum.
Wie von der Tarantel gestochen sprang Mr. Haskins aus dem Bett, wobei er den Stuhl vor sich mit den nackten Füßen anstieß, der daraufhin nach hinten kippte und krachend auf den Boden knallte. Heftig fluchend schrie er vor Schmerzen laut auf, humpelte mit kleinen Sätzen rüber bis zur Kommode, wo er alle Schubladen von oben nach unten bis zum Anschlag aufriss.
„Irgendwo muss doch hier der Revolver sein“, zischte der Schriftsteller mit zusammengepressten Lippen und schon hatten seine zitternden Finger unter einem Stapel Socken die geladene Waffe ertastet, deren metallisch kühler Griff auf seine Berührung zu warten schien, um sich in seine Hand zu schmiegen. Noch nie hatte der alte Haskins ein Schießeisen auf einen anderen Menschen gerichtet. Mit schlotternden Armen zielte er damit auf den ungebetenen, weiblichen Gast.
„Wer zum Teufel noch mal sind Sie?“ krächzte er mit verzerrter Stimme aus Angst trockener Kehle. „Wie sind Sie hier in meine Wohnung gekommen? Los, antworten Sie mir!“
Die Frau legte den Kopf entspannt zur Seite und starrte Haskins danach ungerührt und unbeweglich in aller Ruhe an. Sie beobachtete verwundert sein Tun. Dann sagte sie mit sanfter Stimme: „Was soll das denn? Ich finde, dass ist ein ziemlich eigenartiger Empfang, den du hier veranstaltest. Meinst du nicht auch, mein lieber Morten?“
„Kommen Sie, kommen Sie…! Ich habe Sie etwas gefragt. Beantworten Sie meine Frage, junge Frau! Sofort!“
Die Frau in Schwarz zuckte die Schultern, wartete einen Moment und entgegnete ihm: „Tu nicht so unschuldig, Morten. Du hast mich gerufen und…, ja und hier bin ich, mein Guter.“
„Ich soll Sie gerufen haben? Das habe ich bestimmt nicht. Was soll der ganze Unfug?“
Die Schöne stand auf und bewegte sich geschmeidig wie eine schwarze Pantherin auf Mr. Haskins zu. Das Spiel ihrer Muskeln unter der eng anliegenden Kleidung verriet weder weiche Kurven noch scharfe Kanten. Ihr Blick traf den seinen, ohne auch nur einen Millimeter auszuweichen. Haskins traf dieser selbstsichere Blick bis ins Mark. Unsicher, fast willenlos, ließ er den Revolver etwas sinken.
„Sag mal Morten, welch verrücktes Spielchen treibst du eigentlich hier mit mir?“
Haskins begann zu stottern.
„D…d…, das wüsste ich auch gern von Ihnen, junge Frau! Kommen Sie bloß nicht näher. Bleiben Sie, wo Sie sind…!“
Der Gesichtsausdruck der schwarz gekleideten Schönheit veränderte sich. Sie runzelte nachdenklich die Stirn und fragte Mr. Haskins schließlich mit betont befremdlicher Stimme: „Erkennst Du mich denn wirklich nicht? Weist Du denn nicht mehr, wer ich bin?“
„Nein…! Ehrlich, ich kenne Sie nicht. Wirklich. Ich wüsste auch nicht woher.“
Die Frau schien plötzlich echt und ungekünstelt verwirrt zu sein, sodass der Schriftsteller sich dazu gedrängt sah, in seinen Erinnerungen nach dieser Schönheit mit den dunklen, katzenartigen Augen, der geraden Nase, dem schulterlangen, kastanienbraunen Haar und der betörend schönen Figur zu forschen. Umsonst. Er fand nicht einen einzigen vagen Hinweis, der auch nur annähernd auf diese Frau zutraf, obwohl Haskins als eingefleischter Junggeselle ein regelmäßiger Hurengänger war, dem viele schöne Frauen in seinem Leben begegnet sind. Diese jedoch nicht.
Etwas gefasster sagte Haskins schließlich: „Ich habe Sie noch nie in meinem Leben gesehen. Ich kenne ja noch nicht einmal Ihren Namen.“
Sie machte plötzlich einen Schritt auf ihn zu, blieb aber sofort wieder wie angewurzelt stehen als Mr. Haskins die Pistole hochriss und sie fest auf ihre Brust richtete.
Die Frau schien auf einmal sehr traurig zu wirken.
„Ich kann es einfach nicht glauben, dass du mich aus deinen Erinnerungen gelöscht hast, Liebster. Ich kann und will es nicht glauben. Deine schönen blauen Augen verraten mir aber genau das Gegenteil. Du hast mich nicht vergessen. Sie sagen es mir ganz klar.“
„Was? Was ist mit meinen Augen? Was soll damit sein?“ erkundigte sich Mr. Haskins total verblüfft bei der vor ihm stehenden Frau.
„Ich sagte es doch schon. Es sind deine Augen. Sie sind noch immer stahlblau. Ich kenne sie genau. Niemand im ganzen Universum vermag es, selbst wenn er sein Gedächtnis verloren hat oder es bewusst ausschaltet, die darin enthaltene pigmentöse Bewunderung zu verheimlichen.“
Mr. Haskins fühlte sich plötzlich auf eigenartige Weise geschmeichelt. Die hingebungsvollen Worte des bildhübschen Weibes drückten eine tiefe Liebe zu ihm aus, wenngleich er nicht wusste warum sie das tat.
Ein Anflug von Lächeln kräuselte trotzdem seine Lippen.
„Ich denke mal, dass Sie meine Geschichten mehr als nur aufmerksam gelesen haben.“
„Welche Geschichten? Deine? Bist du jetzt ein Schriftsteller, Liebster?“ fragte sie ihn verdutzt.
„Ja natürlich, meine Geschichten und Erzählungen haben es Ihnen angetan. In ihnen wandte ich mehr als ein Dutzend mal diese Art der Erinnerungsverdrängung oder Gedächtnisausschaltung an. Das ich nicht gleich darauf gekommen bin.“
Mit einer hastigen Handbewegung wies der Schriftsteller auf das fertige Manuskript hin, das auf dem Schreibtisch vor seinem Fenster lag und aus einem losen Blätterstapel bestand.
„Ach du liebe Güte! Glaubst du tatsächlich, dass ich, anstatt die Wohnung auszurauben, während du deinen Rausch ausschläfst, deine neue Geschichte durchgelesen habe?" sagte die Schönheit lachend, wobei sie mit der rechten Handfläche ihren herrlich roten Mund vornehm verdeckte. Mit einem Schlag hielt sie jedoch inne und fuhr mit ungeschminktem Ernst fort: „Ich bin weder eine Diebin, noch habe ich deine Geschichten gelesen. Was soll der ganze Blödsinn?“
„Dann sagen Sie mir endlich, wer Sie sind!“ rief Haskins erregt.
„Ich bin die „Zeitrose“, die Raumschiffkommandantin „Lora-Lin von Shandolar“, die mutige Freiheitskämpferin „Blue Dynamite“ vom Planeten Mysterium I im Raumquadranten Alpha Centauri. Alles deine Geschöpfe, mein lieber Morten. Sie stammen alle von dir und jede lebt in ihrem eigenen Universum. Und ich? Gegenwärtig diene ich am Hofe des Lord Admirals der intergalaktischen Sternenflotte Malcom Quint als Söldnerin „Ellen Eiries“. Ist es das, was du hören wolltest?“
Der Schriftsteller Haskins schien für einen Moment lang ehr belustigt zu sein. Doch dann riss er sich wieder zusammen und fragte mit einem müden Lächeln: „Was soll das denn werden, wenn’s mal fertig ist? Verraten Sie mir endlich, wie Sie hier in meine Wohnung gekommen sind und was Sie von mir wollen.“
„Willst du das wirklich wissen? – Nun, der Lord Admiral Malcom Quint hielt gerade in seiner Residenz All-Vektoran auf dem Planeten Hooke One meine Abschiedsrede, als ich dich von weit entfernt rufen hörte. Ich wandte mich neugierig nach allen Seiten um und ging schließlich deiner Stimme entgegen. Je näher ich dieser kam, desto deutlicher hörte ich dich rufen. Der Lord Admiral und die anwesenden Ehrengäste sahen mit Entsetzen, wie sich plötzlich vor mir knisternd vor Energie eine Raumkrümmung auftat, die ich, wie magisch angezogen, passierte, um mich im nächsten Augenblick, nur eine Sekunde später, hier in deinem Zimmer wiederzufinden. Da du schliefst, beschloss ich,
dich auf keinen Fall zu wecken, sondern wartete geduldig darauf, so still und leise ich nur konnte, bis du von selbst aufwachtest. Was sollte ich auch anderes tun?“
Mr. Morten Haskins schüttelte verwirrt den Kopf. Er konnte nicht glauben, was ihm da zu Ohren kam.
Er fixierte die Frau jetzt mit skeptischen Blicken und fragte sich insgeheim, ob sie hier vielleicht nur eine verrückte Show abzog.
„Sagen Sie mir jetzt ganz ehrlich, welche Absichten verfolgen Sie eigentlich mit diesem ausgemachten Schwindel?“
„Was für ein Schwindel? Welche Absichten soll ich verfolgen? Ich verstehe nicht, was du von mir willst, Morten.“
„Zum Kuckuck noch mal! Jawohl, ausgemachter Schwindel! Sie denken doch wohl nicht im Ernst daran, dass ich auch nur einen Moment lang geglaubt habe, einer meiner erfundenen Gestalten hat es fertiggebracht, aus meinen Geschichten sozusagen „zu entsteigen“, um mir dann einen Erdenbesuch abzustatten. Ha, ha, ha! Das ich nicht lache…! Ich selbst habe die schöne Söldnerin „Ellen Eiries“ erfunden. Deshalb muss ich doch wohl auch am besten wissen, dass sie in Wirklichkeit nicht existiert.
„Bist du dir da so sicher? Sieh mich an! Bin ich nicht „wirklich“?
„Also mir langt es jetzt, Schätzchen! Ich bin Morten Haskins, der Science Fiction Autor und befinde mich auf der Erde des Jahres 2022. Ich kenne Sie nicht und weiß auch nicht, was Sie von mir wollen oder was Sie möglicherweise mit mir vorhaben.“
Die schöne Frau vor ihm senkte langsam das Gesicht. Sie schien sehr bestürzt zu sein.
„Wer hat dir das nur angetan?“ flüsterte sie traurig. „Wer hasst uns beide so sehr, dass sie in deinem Gehirn alle Erinnerungen an unser gemeinsames Leben auslöschen wollen?“
Wieder blickte sie Morten Haskins in die Augen. Tränen liefen über ihre leicht geröteten Wangen, als sie von tiefem Schmerz durchdrungen zu weinen anfing.
„Jetzt hören Sie aber mal auf zu heulen, Süße! Sie sind die perfekteste Schauspielerin, die mir je begegnet ist. Sie haben wirklich Talent, das kann ich Ihnen nicht absprechen.“
„Oh Morten, Liebster! Was tust du mir an? Bin ich hier in einem Irrenhaus?“
Ihre Blicke überflogen das Zimmer, als ob sie es zum ersten Mal richtig sähe.
„Man hat uns beide hier eingeschlossen. Gib es zu! Wir sind gefangen genommen worden. Wo sind wir hier eigentlich?“
Haskins wurde zornig. Schnaufend vor Wut sagte er: „Wir sind weder gefangen, noch befinden wir uns hier in einem Irrenhaus. Sie befinden sich in meiner schäbigen Mietwohnung in einem herunter gekommenen Außenbezirk von New York und diese Stadt liegt in den beschissenen USA, auf dem unbedeutenden Planeten Erde im Sonnensystem Sol irgendwo am Rande der Milchstraße…! Sind Sie jetzt zufrieden, Lady?“
„Was, wir sind auf der Erde, dem legendären Planeten der Menschheit? Ich dachte, dieser Planet existiert nicht mehr.“ Die Frau in Schwarz schien darüber sehr verblüfft zu sein, dass sie sich offenbar auf der Erde befand.
„Jetzt machen Sie aber mal einen Punkt, Schätzchen! Jetzt hören Sie mal auf! Wollen Sie damit andeuten, dass ich nur jämmerlichen Mist verzapfe?“
Anstatt ihm zu antworten, blickte die junge Schönheit zum Fenster hinüber.
„Sind die Fenster durchsichtig?“ fragte sie.
„Wenn man die Vorhänge wegzieht, dann schon.“
„Darf ich mal raussehen?“
„Von mir aus. Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Aber viel Aussicht werden Sie sowieso nicht haben.“
Sie zog die schmuddeligen Vorhänge beiseite und beugte sich vornüber, um durch die schmutzig trüben Scheiben nach draußen zu blicken. Man sah ihr an, dass sie über den Ausblick nachsann.
Nach einer Minute des Schweigens öffnete sie ihren Mund und fragte Haskins: „Bist du schon lange hier?“
„Ja, solange ich denken kann. Nein, nicht ganz. Ich bewohne dieses verkommene Apartment erst seit ungefähr fünf Jahren.“
Sie warf ihm einen seltsam nachdenklichen Blick über die Schulter zu und sagte dann: „Du hast schon an vielen Orten im Universum gelebt, aber noch nie auf der Erde.“
Haskins schüttelte verständnislos den Kopf.
„Ich verstehe nicht ganz, was Sie damit sagen wollen. Wenn Sie meine Geschichten für wahr halten, dann ist das einzig und allein Ihre Sache. Ich halte das zwar für absolut verrückt, aber jeder kann tun und lassen was er will, auch Sie natürlich, meine Gnädigste. Andererseits: Wenn Sie mich für dumm verkaufen wollen, um einer möglichen Anzeige meinerseits wegen Einbruchs zu entgehen… Na schön, ich bin nicht nachtragend und schon gar nicht ein Freund der Polizei. Dort drüben ist die Tür! Ich werde sie öffnen. Sehen Sie zu, dass Sie fortkommen!“
Die Schönheit stand immer noch am Fenster und schaute neugierig nach draußen.
Plötzlich drehte sie sich um und sah Haskins mit durchdringendem Blick an.
„Wir sollten einen Arzt aufsuchen, Morten“, sagte sie mit sanfter Stimme und fuhr fort: „Er wird dir bestimmt helfen können, Liebster! Er wird dich heilen! Ganz bestimmt!“
Mr. Haskins hob langsam wieder den Revolver, legte auf die Frau an und zuckte mit der Waffe mehrmals vor und zurück.
„Es reicht jetzt! Ein letztes Mal! Verschwinden Sie aus meiner Wohnung so lange der Geduldsfaden bei mir noch nicht gerissen ist. Ich habe große Lust dazu, Sie zu erschießen.“
Die schöne Frau schob mit der Rechten den Ärmel des Rollkragenpullis vom linken Handgelenk zurück und enthüllte im nächsten Moment einen breiten Metallring.
„Du brauchst dringend Hilfe! Lass mich dafür sorgen, dass du zu einem unserer Ärzte gebracht wirst. Ich rufe die örtliche Kommandantur an, um sie um Unterstützung zu bitten, Schatz.“
„Womit denn? Mit diesem Armring vielleicht? Was ist das für ein Ding? Ein Hypersender? Eine Zeitmaschine? Ein Transmitter? So was gibt es nur in Science Fiction Romanen. Die Wirklichkeit lässt solche technischen Hirngespinste gar nicht zu.“
„Es ist so was ähnliches. Warte ab, was passiert.“
„Ach was? Ein Armring mit magischen Kräften? Den Trick möchte ich gern erleben.“
Die Frau in Schwarz griff plötzlich an ihr Armband und drehte es ein paar Mal hin und her. Sie runzelte die Stirn, flüsterte mehrmals hintereinander ihren Namen wie eine Beschwörungsformel. Doch nichts geschah.
Verärgert umklammerte sie den breiten Metallring mit der rechten Hand.
„Wir müssen von einem Abschirmfeld umgeben sein. Es ist eine Falle.“
„Ihr Trick klappt wohl nicht, oder?“ fragte Haskins hämisch.
Die Frau sah nach oben zur Zimmerdecke und rief: „Was treibt ihr mit mir? Wer immer dort oben ist und mich beobachtet…, was soll das?“
Unwillkürlich folgte der Schriftsteller dem Blick der Frau nach oben an die Decke. Im selben Augenblick hatte die Schönheit den trennenden Zwischenraum überquert und ihre Arme um Haskins Brustkorb geschlungen. Mit eisernem Griff hielt sie sich an ihm fest, gerade so, als ob er ihr einziger rettender Strohhalm kurz vor dem Ertrinken wäre.
Dann schluchzte sie: „Morten, Liebster, ich will dich nicht verlieren. Ich liebe dich zu sehr.“
Mr. Haskins war wie zu einem Klotz erstarrt. Die Pistole fiel ihm aus der Hand. Polternd blieb sie auf dem Boden liegen. Die Frau drängte sich mit ihrem Körper an den seinen, ihr schönes kastanienbraunes Haar schmiegte sich weich an seine Wangen. Er war hingerissen von ihr. Sie roch unglaublich weiblich und für den Augenblick eines Herzschlages empfand der Schriftsteller, als wäre sie wirklich die leibhaftige Söldnerin „Ellen Eiries“ aus seinen Science Fiction Romanen. Sie war seine schöne Heldin in unzähligen interstellaren Abenteuern. Ihre roten Lippen waren jetzt ganz nah.
„Sagen Sie mir, was Sie von mir wollen“, verlangte er leise zu wissen, weil sie ihn küssen wollte.
„Nichts weiter als meinen geliebten Morten“, flüsterte sie zärtlich.
Dann presste sie ihren Mund auf den seinen.
Sehr lange.
Ihr Kuss ließ Haskins nach eine Weile schwindelig werden. Es war schon lange her, dass eine weibliche Person ihn so innig und hingebungsvoll geküsst hatte. Er brachte es deshalb nicht fertig, die süße Berührung abzubrechen. Schließlich sorgte sie selbst dafür und löste sich von ihm, aber nur eine Handbreite.
„Hab’ ich doch gewusst. Den Kuss kenne ich“, hauchte sie voll erotischer Hingabe. Dann zog sie ihn wieder fest an sich und sank mit ihm spontan aufs Bett.
Beide entledigten sich im aufkommenden Liebesrausch stürmisch ihrer Kleidung und eine lange, schweigende Vereinigung begann.
Danach schlief Morten Haskins in ihren Armen ein. Er träumte einen altbekannten Traum: Er befand sich in einer anderen Welt und wanderte in Finsternis umher. Er rief um Hilfe. Irgendwo am fernen Horizont hörte er eine Frauenstimme, die ihm antwortete, doch je näher er auf diese Stimme zulief, er erreichte sie nicht. Dann sah er diese schöne Frau im Schein zweier Monde, wie sie ihm zuwinkte. Als er ebenfalls seine Arme hob, verschwand sie plötzlich. Er wachte auf.
Die Schönheit neben ihm, die sich als „Ellen Eiries“ ausgab, lag nackt und mit weit ausgestreckten Beinen an seiner Seite. Ihre dunklen Augen waren geöffnet. Sie beobachtete jede seiner Bewegung. Sie richtete sich auf und küsste ihn abermals wild und ungestüm.
Morten Haskins studierte ihre glatte, weiße Haut und ließ seinen Blick über ihre sanften Hüften und prallen Brüste gleiten. Er streichelte sie zärtlich mit den Fingerspitzen, zog sachte die Kurven ihres unglaublich schönen Körpers nach. Sein Ärger und seine Bedenken waren wie flüchtiges Gas verflogen. Er hatte das seltsame Gefühl, dass ihm diese Frau irgendwie vertraut und bekannt vor kam. Er liebte sie. Er fühlte sich dabei wie in einem Liebestraum.
Die weibliche Person, die sich „Ellen Eiries“ nannte, lehnte ihren Kopf spontan an seine beharrte Brust.
Sie begann zu sprechen, wobei sie ihm nachdenklich einen Finger an die Lippen legte.
„Morten“, sagte sie, „könnte es nicht sein, dass wir eine Reise durch Raum und Zeit gemacht haben? Ich versuche ja nur, eine Erklärung für dein Verhalten zu finden.“
Haskins lehnte sich etwas zurück und streichelte ihre Wangen.
„Ich weiß nicht, was du vorher gemacht hast“, eröffnete er ihr. „Ich jedenfalls habe mein ganzes Leben hier auf der Erde verbracht. Tatsächlich bin ich noch nicht einmal mehr als hundert Kilometer aus dieser verfluchten Stadt rausgekommen.“
„Aber Morten, erinnere dich! Du bist unzählige Lichtjahre von der Erde entfernt auf anderen Planeten gewesen und hast viele Sternensysteme besucht.“
„Ellen, ich sage dir nochmals…, nein! Das kann nicht sein. Ich wüsste ja sonst davon.“
„Liebling, du warst der Raumschiffkommandant eines gewaltigen Schlachtschiffes namens „Red Hot“ mit mehr als zehntausend Mann Besatzung und hast Kriege weit entfernt von diesem Sonnensystem, das du Sol nennst, geführt. Ich muss es doch wissen! Ich bin deine Frau!“
„Die Erde hat keine Raumschiffe dieser Größenordnung. Jedenfalls jetzt noch nicht. Ich hoffe zwar darauf, aber wenn es mal soweit sein wird, werde ich mit Sicherheit nicht mehr leben und auch nie ein solch gewaltiges Raumschiff kommandieren.“
„Ach Morten…!“
„Tut mir leid, Ellen. Aber können wir trotz allem dieses Spiel jetzt nicht beenden?“
Langsam, wie unter einer zentnerschweren Last, senkte sie abermals den Kopf. Ihre schönen Augen starrten ins Leere. Sie schien diesmal wirklich noch bestürzter zu sein, als beim ersten Mal und bedurfte offenbar des Trostes.
Haskins sehnte sich danach, sie in seine Arme zu nehmen, sie an sich zu pressen, um sie fest zu umschlingen. Aber er brachte es nicht fertig.
Plötzlich befiel ihn das schauderhafte Gefühl, dass er sie die ganze Zeit falsch eingeschätzt hatte. Es war kein Spiel, sondern eine echte Wahnvorstellung, eine gutgebaute Täuschung, die auf seine erfundene, literarische Gestalt basierte, die er das Leben geschenkt hatte. Die Angst kroch wie eine bösartige Giftspinne in ihm hoch, weil er glaubte, der Suff habe ihn mittlerweile schon um den Verstand gebracht. Er wähnte sich bereits im Delirium.
Während er nachdachte, schaute sie ihn an.
„Morten“, sagte sie, „was genau ist es, worüber du schreibst?“
Er lächelte über ihre Frage.
„Nun ja, ich schreibe mal über mich, mal über andere oder erfinde einfach irgendwelche Geschichten, die in der Zukunft spielen. Science Fiction sagt man heute dazu.“
Gedankenvoll blickte sie ihn wieder an, nachdem sie kurz weggeschaut hatte.
„Nein, Morten, nicht Science Fiction. Ich existiere wirklich. Wir beide liegen in diesem Zimmer und haben uns noch vor wenigen Minuten geliebt und körperlich vereinigt. Ich bin genauso real wie du. Ich denke mal, dass du mit der Zukunft irgendwie auf unerklärliche Art und Weise über unglaublich weite Distanzen in Verbindung treten kannst. Du holtest mich hierher – also kannst du mich auch wieder zurückschicken.“
„Wie bitte? Ich soll dich zurückschicken? Aber wohin?“
Sie schmiegte sich wieder an ihn und küsste ihn zärtlich auf die Wange. Sein Arm schlüpfte um ihre Taille, passte sich ihr an, als wäre er dafür geformt.
„Das finden wir schon irgendwie heraus, Liebster. Versteh mich bitte: Ich muss wieder zurück und ich werde dich mitnehmen.“
Eng umschlungen legte sie sich auf ihn und liebte ihn ein zweites Mal voller Hingabe.
Haskins schloss die Augen und genoss die Nähe und das Innere ihres Körpers.
Dann wachte er wieder auf. Sie saß noch immer nackt auf ihm.
„Morten, ich kann hier nicht bleiben“, sagte sie mit leiser Stimme zu ihm. „Wenn ich bleibe, könnte ich niemals mehr die Schönheit der Sterne aus nächster Nähe sehen. Es ist ein großartiges Erlebnis, wenn man eine Galaxie aus dem Panoramafenster eines gewaltigen Schlachtschiffes betrachten kann. Du musst das Tor wieder öffnen und eine Raumkrümmung erzeugen!“
Haskins griff nach ihrer Schulter und fasste sie hart an.
„Es gibt kein Tor, Ellen. Es hat niemals eins gegeben. Ich kann auch keine Raumkrümmung erzeugen. Wie soll ich das können? Ich erfinde diese Dinge nur in meinen Science Fiction Romanen. Weiter nichts.“
Sie starrte ihn an.
„Doch Liebster, du kannst es. Du musst dich nur intensiv darum bemühen. Du musst es von ganzem Herzen wünschen, dass du und ich gehen. Dein Wille allein hält dich und mich in dieser Dimension gefangen, wo wir beide eigentlich nicht hingehören.“
Unter diesem beschwörenden Blick fielen seine Hände von ihr ab. Sie erhob sich von ihm und stellte sich breitbeinig vor das Bett.
„Du möchtest also unbedingt, dass es dein Wunsch ist, mich hier zu behalten“, erklärte sie ruhig. Sie ging plötzlich in einem weiten Bogen um das Bett herum und durchquerte in zwei großen Sätzen das Zimmer. Bevor Morten Haskins überhaupt begriff, was sie beabsichtigte, hatte sie auch schon den auf dem Boden liegenden Revolver in beide Hände genommen, wirbelte um die eigene Achse und zielte mit der Waffe auf ihn. Haskins streckte schützend beide Arme von sich, als wolle er den tödlichen Schuss abwehren.
Dann schrie er heiser: „Ellen, mach’ keine Dummheiten!“
„Liebling, ich will nicht auf der Erde bleiben. Wir werden einen Weg aus dieser Welt finden, um von hier weg zu kommen. So versteh’ mich doch!“
Haskins war verzweifelt.
„Das glaube ich dir ohne weiteres, Schatz. Aber nicht so. Du wirst mich umbringen. Ich will nicht sterben, bitte!“
Beherrscht wies sie mit dem Lauf des Revolvers auf ihn.
„Morten, du bist es, der uns beide hier gefangen hält. Dein Wunsch und dein Wille sind es, die uns hier an diesem Ort binden. Wenn du ablehnst, beides aufzugeben, bleibt mir keine andere Wahl, als diesen, deinen Willen zu brechen. Auch deinen Wunsch kann ich nicht in Erfüllung gehen lassen. Ich werde beides verhindern.“
Der Schriftsteller wähnte sich in einem Albtraum. Er fand keine Zeit mehr, seinem grenzenlosen Entsetzen durch einen Schrei Ausdruck zu verleihen, als mit einem blendenden Lichtblitz das Projektil den stählernen Lauf der Pistole verließ und klatschend in seine Brust einschlug. Noch während sich Morten Haskins im Todeskampf aufzurichten versuchte, hörte er einen zweiten Schuss und sah mit gebrochenem Blick, wie Ellen nach vorne aufs Bett fiel und sich langsam aufzulösen begann. Sie verschwand einfach vor seinen Augen wie ein durchsichtiges Gespenst.
Dann löste sich alles um ihn herum auf. Die gesamte Umgebung verschwand im Nichts, noch bevor ihn Finsternis umhüllte.
***
Millionen Lichtjahre von der Erde entfernt in einer anderen Galaxie.
„Morten kommt wieder zu sich, Ellen“, sagte der Arzt des Operationsteams. „Wir hätten ihn beinahe verloren. Er war zwar schwer verletzt, aber er wird wieder völlig gesund werden. Der Kerl hat ein Riesenglück gehabt, dass er die verheerende Explosion seines Schlachtschiffes in der Rettungskapsel überhaupt überlebt hat. Fast alle seine Männer sind tot. Ein großer Verlust für die intergalaktische Flotte, aber sie wird es verkraften. Dein Mann hat trotzdem den Krieg gegen die Xeraner für sich entscheiden können, indem er vorher den von ihnen benutzten Zeitsprungkorridor rechtzeitig mit Antimaterieminen unpassierbar gemacht hat. Die Xeraner sind mit ihrer gesamten Raumkampfflotte in diese Falle getapst und vernichtet worden. Du kannst froh darüber sein, dass du dich zur gleichen Zeit beim Lord Admiral Malcom Quint auf Hooke One befunden hast. Vielleicht wärst du jetzt tot, wenn du zusammen mit ihm an diesem Kampf gegen die Xeraner teilgenommen hättest.“
Die schöne schlanke Frau im schwarzen, eng anliegenden Raumanzug lehnte sich liebevoll über ihren Mann und küsste ihn auf seine zitternden Lippen, als er gerade die Augen wieder aufschlug. Verschwommen erkannte Morten Haskins, der etwas in die Jahre gekommene Raumschiffkommandant des zerstörten Großraumkampfschiffes „Red Hot“ seine hübsche junge Frau.
Matt streckte er seine beiden Arme nach ihr aus und fragte sie flüsternd: „Ellen, wo bin ich?“
„Bei mir…, in Sicherheit, Liebster.“
„Ellen Eiries“ streichelte ihren Mann über die schweißnasse Stirn und legte ihren rechten Zeigefinger vorsichtig auf seinen leicht geöffneten Mund.
„Schsch…, du musst dich schonen, mein Schatz. Man hat dir einen Zellgenerator eingepflanzt, der deine schweren Verletzungen schneller ausheilen wird. Ich werde auf jeden Fall bei dir bleiben, bis du wieder völlig genesen bist.“
Morten sah seine Frau Ellen zufrieden an.
„Ach Ellen, was würde ich ohne dich machen? Wenn ich wieder auf den Beinen bin, werde ich dir von meinem seltsamen Traum erzählen müssen, der mir so real vorkam, wie dieser Augenblick mit dir jetzt. – Stell dir vor, ich war irgend so ein alter Science Fiction Romanschreiber auf einem Planeten, den man Erde nennt oder so ähnlich. Und weist du, was das Seltsame an diesem Traum war? Du hast mich dort auf diesem Planeten besucht und…“
„Ich weiß, ich weiß, Morten“, unterbrach ihn seine Frau. „Aber Träume sind Schäume und haben nichts zu bedeuten. Die Schwester wird gleich kommen und den Zellgenerator auf halbe Leistung stellen, damit du in Ruhe einschlafen kannst. Ich werde solange bei dir bleiben und mich in deiner Nähe aufhalten.“
Als die Krankenschwester in das Zimmer kam und ans Bett des verletzten Raumschiffkommandanten trat, hatte dieser bereits seine Augen wieder geschlossen, immer noch die Hand seiner schönen jungen Frau, der ehemaligen Söldnerin „Ellen Eiries“, fest umschlossen haltend.
ENDE
(c)Heiwahoe
***
11. Der alte Indianerhäuptling
Die Sonne schien heiß vom Himmel herab. Trotzdem verlor das Land langsam die grüne Farbe. Bäume und Sträucher legten nach und nach ihre Blätter ab und standen bald kahl im Wind. Der Herbst verstrich allmählich in den Winter über. Der Frost kündigte sich an.
Mr. Tom White, der Anthropologe indianischer Abstammung, wühlte mit einem Spaten in der lockeren Erde herum und beobachtete dabei hin und wieder die nähere Umgebung. Alles war ruhig. Hier draußen schien er weit und breit wirklich der einzige Mensch zu sein. Kein Wunder, schoss es ihm durch den Kopf. Die Fremden hatten wirklich ganze Arbeit geleistet. Die einstmals hier ansässigen Indianerstämme waren alle auf geheimnisvolle Weise verschwunden, doch niemand wusste wohin.
Mr. White wühlte weiter. Obwohl er schon fast fünfundsechzig Jahre auf dem Buckel hatte, verfügte er über eine gute körperliche Kondition. Grabungsarbeiten dieser Art machten ihm für gewöhnlich nichts aus. Das Blut seiner Vorfahren, die Comanchen, die einst vor langer Zeit hier gelebt hatten, brach sich wohl immer wieder Bahn in freier Natur.
Er dachte darüber nach, dass er noch immer auf der Suche nach einer schwachen Stelle in Jackson Hill war, einer Stadt, die seine nicht war. Doch eine Flucht von hier schien unmöglich und bald würde man ihn, zusammen mit den anderen, von hier wegschicken. Danach könnte es zu spät sein und seine Probleme würden niemanden mehr interessieren.
Der Spaten traf plötzlich beim nächsten Stoß auf einen harten Gegenstand. Der alte Anthropologe hielt inne, legte das Grabungswerkzeug beiseite, kniete nieder und grub mit bloßen Händen weiter. Der trockene Boden war locker, fast wie Sand. Dann sah er diesen Stein, der noch zur Hälfte in der Erde steckte. Mr. White zog ihn vorsichtig heraus und betrachtete ihn neugierig.
Es handelte sich um einen recht häufig vorkommenden Feuerstein in dieser Gegend, der etwa eine Länge von zehn Zentimetern hatte und offenbar von Menschenhand grob gemeißelt und zugespitzt worden war. Vielleicht hatte er zu einem Speer, zu einer kleinen Steinaxt oder eventuell sogar zu einem Steinmesser gehört. Im Augenblick konnte Mr. White auch nichts genaueres darüber sagen, ob der Stein von den Apachen oder den Comanchen stammte; ganz sicher war er aber von einer der unzähligen Indianer-Gruppen, die in Urzeiten den teilweise wüstenähnlichen Prärielandstrich hier bevölkerten und alle längst zu Staub zerfallen waren.
Der Anthropologe fröstelte auf einmal. Und das lag bestimmt nicht nur am Wind allein.
Beim Betrachten des Artefaktes dachte White daran, wie umwerfend für ihn die ersten Stunden in der Anthropologie gewesen waren. Er erinnerte sich an die nächtelangen Diskussionen, die manchmal heftig geführten Streitgespräche und all die vielen Bücher, die ihm eine neue, geheimnisvolle Welt erschlossen hatten. Aber das war schon lange her und Indianer, wenngleich stark an die amerikanische Zivilisation angepasst, gab es hier damals noch in großer Zahl, als er noch ein junger Bursche war.
Mr. White dachte auch an seine jugendliche Zuversicht, die absolute Gewissheit, mit seinem zukünftigen Forscherberuf die Schlüssel zu jenen Türen zu besitzen, die sich anderen Menschen nie öffnen würden. Und doch stellte er sich manchmal die Frage: Welchen Nutzen hatte er für sich und die Zukunft daraus gezogen? Wann hatte sich die Gewissheit in Ungewissheit verwandelt? Ja sogar in Furcht? Irgendwann im Verlauf seines Lebens war jedenfalls der jugendliche Schwung bei seiner Arbeit verflogen. Vielleicht lag es daran, dass seine Erkenntnisse mehr Fragen als Antworten hergaben? Er stellte sich auch die zweifelnde Frage, ob er selbst irgendwann, irgendwo auf der lange Strecke seines zurückliegenden Arbeitslebens versagt hatte.
Der alte Forscher richtete sich behäbig auf und stand noch lange Zeit mit dem steinernen Fundstück in der Hand so da, ehe er langsam wieder in die Stadt zurückging, die ihm während seiner zurückliegenden Untersuchungen immer unheimlicher wurde. Das, was er hier tat, war nur eine Tarnung, um die Fremden von seiner wahren Mission abzulenken.
***
Am Abend, als es draußen noch kälter wurde und die Sonne schon längst verblasst war, ging Mr. White wie immer zum Essen ins Restaurant, das gleich zwei Häuser weiter neben seinem Hotel auf der gleichen Straßenseite lag. Zwei Stunden verbrachte er dort, aß gut und ging danach noch etwas spazieren, bevor er ins Hotel zurück marschierte. Auf dem Weg dorthin dachte er über diese Stadt nach, die sich Jackson Hill nannte. Diese kleine Stadt verbarg ein Geheimnis und stand mit irgend etwas in Verbindung, mit irgendeiner Macht im All. Er wusste es, doch er fürchtete sich davor, es auszusprechen. Diese Stadt war von Außerirdischen okkupiert worden, die rein äußerlich wie Menschen aussahen, sich genauso verhielten und von einem amerikanischen Normalbürger nicht oder nur sehr schwer zu unterscheiden waren.
Als der Anthropologe schließlich im Hotel vor seiner Zimmertür stand, bemerkte er, dass sie ein wenig offen stand. Das Licht brannte. Neugierig drückte er die Tür noch weiter auf und nahm an, dass sich das Zimmermädchen darin befinden würde. Doch da hatte sich Mr. White geirrt.
In seinem Zimmer warteten zwei Männer auf ihn.
Es waren zwei große, sympathische Kerle, die alles andere als unheilvoll auf Mr. White wirkten. Beide waren sportlich gekleidet und hätten genauso gut gerade von einem Tennisplatz kommen können. Einer der beiden rauchte Pfeife.
Er kannte jedoch keinen von ihnen.
„Hallo, Mr. White“, sagte der Mann mit Pfeife lässig und grinste dabei frech, „hoffentlich haben wir Sie nicht erschreckt.“
„Und ob Sie das haben! Was machen Sie überhaupt in meinem Zimmer und wie sind Sie hier reingekommen?“
„Das erklären wir Ihnen später. Wir würden uns nur gern mit Ihnen unterhalten, Mr. White – falls Sie Zeit für uns haben. Sie scheinen ja ganz schön beschäftigt zu sein, wie man sieht. Sie haben sich eine Menge Notizen gemacht. Höchst interessant, wirklich.“
Der Pfeifenraucher deutete mit der freien Hand auf die am Boden herumliegenden, beschrifteten Papierblätter.
„Wissen Sie, ich bin Anthropologe, schreibe und zeichne viel. Das gehört zu meiner Arbeit. Aber fühlen Sie sich ruhig wie zu Hause, meine Herren. Wenn Sie irgendwelche Fragen haben sollten, stehe ich Ihnen natürlich gerne zur Verfügung. Aber zuerst möchte ich wissen, wer Sie sind und was Sie hier zu suchen haben. – Wollen Sie mich etwa entführen?“
Der Kerl mit der Pfeife lächelte etwas und sagte dann: „Sie kommen der Sache schon ziemlich nahe. Nicht entführen, aber freiwilliges Mitkommen würde ich mal sagen. Zum Schiff natürlich, wohin denn sonst Mr. White? Sie haben es doch gesehen – oder etwa nicht?“
Mr. White nickte fast automatisch mit dem Kopf. Seine Gedanken, die sich plötzlich wie im Kreis drehten, kamen immer wieder auf das Raumschiff zurück, welches er vor genau zwei Tagen da draußen in der nächtlichen Wildnis, keine zwei Meilen vor der Stadt, gesehen hatte. Widerstand war sowieso zwecklos, denn die beiden Burschen vor ihm waren ihm kräftemäßig haushoch überlegen.
„Ich bin interessiert, meine Herren“, sagte der Anthropologe mit ruhiger Stimme und riss sich dabei innerlich zusammen. Ein mulmiges Gefühl stieg in ihm auf. Seltsamerweise spürte er dennoch keine Furcht, Das mochte wohl daran liegen, dass er sich inzwischen mit der Situation vertraut gemacht hatte und dass das hier viel zu unwirklich war, um sich tatsächlich fürchten zu können.
Der Pfeifenraucher nickte seinem Kollegen vielsagend zu und alle drei verließen zusammen das Hotel.
Sie stiegen in einen schwarzen Wagen und fuhren zur Stadt hinaus. Die beiden Fremden hatten die Vordersitze eingenommen und ließen Mr. White allein auf dem Rücksitz. Nach etwa zwanzig Minuten Fahrt bog der Wagen in einen kleinen Feldweg und blieb zehn Meter weiter in der Dunkelheit stehen. Der Fahrer stellte den Motor ab und schaltete das Licht aus. Kurz darauf verließen die drei Personen das abgestellte Fahrzeug und gingen schnurstracks auf einen offenen Weidezaun zu.
Mr. White entdeckte sie sofort. Die fünf bis sechs Meter große Kugel, die wie ein überdimensionaler Wasserball aussah. Das Ding bewegte sich leicht auf und ab in der Mitte einer kleinen Wiesensenke. Als sie dicht vor dem metallisch glänzenden Gebilde standen, öffnete sich sofort eine automatische Tür, und helles Licht strömte ihnen aus dem Innern entgegen. Nachdem alle eingestiegen waren, schloss sich die Tür wieder mit einem leisen Zischen. Wenige Augenblicke später erhob sich die Kugel in die Luft und Mr. White hatte das Gefühl, in einem rasenden Fahrstuhl nach oben zu sitzen. Obwohl er darum bemüht war, sich nichts anmerken zu lassen, konnte er es nicht verhindern, dass sein Herz wie verrückt in seiner Brust hämmerte und sein Blut in den Ohren rauschte. Aber er hatte nicht die geringste Angst. Er wunderte sich nicht einmal darüber und nahm alles hin, weil ihm gar nichts anderes übrig blieb.
***
Irgendwann gab es einen sanften Ruck und die Kugel drehte sich langsam einmal um ihre eigene Achse, bis sie offenbar von irgendwas erfasst und arretiert wurde. Dann kam sie gänzlich zur Ruhe. Alles ging fast geräuschlos vor sich.
Der Pfeifenraucher drehte sich auf der Stelle herum und schaute Mr. White mit seltsam starren Blick an.
„Ich möchte Ihnen etwas zeigen, was Sie sicherlich vorher noch nie gesehen haben. Erschrecken Sie bitte nicht, schließlich sind es ja die anderen, denen Sie schon die ganze Zeit wie vom Teufel besessen auf der Spur waren.“
Der Fremde stand auf und bat Mr. White, ihn zu begleiten.
Die Tür der Kugel öffnete sich wieder mit einem leisen Zischen und der Anthropologe verließ zusammen mit den beiden anderen Männern das Innere des Flugkörpers. Sie kamen durch eine Seitentür auf den Korridor eines riesigen Raumschiffes, das innen hell erleuchtet war. Mr. White empfand die Luft hier drinnen etwas dünner, als auf der Erde. Die Fremden marschierten mit ihm zusammen durch viele Gänge, passierten unzählige Türen und wuchtig geformte Schotts. Sogar Fahrstühle konnte Mr. White ausmachen und weitläufig angelegte Decks beobachten, auf denen bizarre Miniraumschiffe parkten.
Ganz plötzlich blieben die beiden Männer vor einer verschlossenen Tür stehen und der Pfeifenraucher drückte auf einen Knopf. Leise summend verschwand sie in einer hohlen Wand und ein bewaffneter Posten trat ins Bild.
„Der gehört zu uns. Es hat alles seine Richtigkeit“, sagte der Begleiter des Pfeifenrauchers zu dem Wachposten, der nur kurz nickte und sich wieder davon machte.
Hinter dem Eingang befand sich ein großer Raum, der große Ähnlichkeit mit einem Kinosaal hatte. Es gab etwa zwanzig Reihen mit bequemen Sesseln. Dort, wo man auf der Erde eine weiße Leinwand erwarten würde, befand sich jedoch ein flimmernder Energievorhang, der sanft zu pulsieren schien.
Die beiden Fremden setzen sich in die vorderste Reihe und wiesen dem Anthropologen an, ebenfalls Platz zu nehmen.
„Nun werden Sie uns kennen lernen, Mr. White. Das wollten Sie doch schon immer – oder? Wir haben Sie seit Ihrer Ankunft in Jackson Hill beobachtet und wussten schon bald, wonach Sie suchten. Sie hatten zuerst nur einen Verdacht, doch dann sind Sie auf unser Geheimnis gestoßen, dass diese kleine Stadt durch uns infiltriert worden ist. Ihr Pech, muss ich schon dazu sagen, denn wir können Sie nicht einfach so wieder gehen lassen, ohne Gefahr zu laufen, von der übrigen Menschheit entdeckt zu werden. Nicht das wir euch fürchten, im Gegenteil, Mr. White. Wir sind eine friedliche Rasse, trotz unserer hochtechnisierten Hyperzivilisation. Unsere Waffen sind denen der Menschen weit überlegen. Nur eure Atombomben könnten uns gefährlich werden, weil ihr sie möglicherweise sogar in selbstmörderischer Absicht einsetzen würdet und damit euren eigenen Planeten in eine tote Wüste verwandeln könntet. Das wollen wir natürlich nicht, denn wir streben danach, dass uns die Erde unversehrt in die Hände fällt. Wissen Sie, wir hatten schon Raumschiffe, da sprangen die Vorfahren des Homo sapiens sapiens noch auf den Bäumen herum, Mr. White. Als wir euren Planeten schließlich entdeckten, waren wir uns darüber einig, eine ganz besondere Strategie der Eroberung anzuwenden, die ich Ihnen aber nicht näher erklären möchte. Sie würden das sowieso nicht verstehen. Sie haben aber gleich die Gelegenheit dazu, diese Art des „humanen Vorgehens“ selbst am eigenen Körper zu erfahren. Also machen wir es kurz und fangen an.“
Die Energiewand vibrierte plötzlich. Mr. White hielt den Atem an, weil er merkte, dass er auf einmal ins Bodenlose fiel. Er versuchte instinktiv weiter zu atmen, aber da war keine Luft, sondern nur ein gigantischer, pechschwarzer Tunnel, größer als Erde und Mond zusammengenommen. Der alte Forscher fiel und fiel mit dem Kopf voran nach unten, auf ein unendliches Meer von hell strahlenden Lichtern zu.
Der rasante Sturz beschleunigte sich noch, bis er urplötzlich endete und Mr. White eine gewaltige Armada von Raumschiffen erblickte, die sich alle am Rand des dunklen Tunnels befanden. Sie näherten sich diesem Rand und nahmen Kurs auf Billionen von Sternen, die sich auch ihm in einem dahinter liegenden Universum offenbarten. Mr. White wusste: Das war nicht das Universum, in dem die Menschen existierten.
Der Anthropologe wollten schreien, als sich der dunkle Tunnel schlagartig weitete und die äußeren Ränder ins schier Grenzenlose verschwanden. Er hatte das Gefühl, ganz ohne Raumanzug im All zu schweben, das ihn zu verschlingen drohte. Plötzlich tauchte vor seinem Gesicht, wie aus einem trüben Nebelschleier kommend, das schemenhafte Bild eines alten Indianers auf. Dann verlor Mr. White das Bewusstsein.
Eine unendliche Stille breitete sich in ihm aus.
***
Der Himmel war von unzähligen Sternen bedeckt. Fern im Osten, wo eine flache Hügelkette den dunklen Horizont säumte, sah der alte Indianerhäuptling die ersten schwachen Strahlen der Morgensonne heraufziehen. Sein Stamm der Comanchen lag noch im tiefen Schlaf. In der Ferne heulte ein einzelner Kojote.
Der alte Indianerhäuptling stand aufrecht mit erhobenen Hauptes vor seinem Wigwam und hielt einen etwa zehn Zentimeter langen, grob gemeißelten Feuerstein in seiner rechten Hand, den er immer wieder mit wehmütigem Blick betrachtete. Es war ein Andenken aus einer fernen Welt, der Erde, die er nie wieder sehen würde, das wusste Mr. White nur zu gut. Die Fremden aus dem All waren verschwunden und hatten ihm dieses steinerne Artefakt von seinem Heimatplaneten anscheinend als greifbare Erinnerung mitgegeben.
Ohne ein Wort zu sagen, verließ er das Indianerdorf und vergrub den spitz geformten, messerscharfen Feuerstein etwa eine halbe Meile entfernt davon irgendwo im sandig trockenen Prärieboden. Danach kehrte er zurück ins Dorf, setzte sich vor den Eingang seines Zeltes und blickte hinauf zu den schimmernden Sternen einer Welt, die seine nicht war.
ENDE
(c)Heiwahoe
***
12. Der Ausflug in die Wüste von Clancis World
Joe Bilston und ich flogen auf unseren Flugmaschinen über eine von der Sonne rot gefärbten Wüste. Ich ließ meinen Freund immer ein gutes Stück vor mir herfliegen, weil ich meine schnittige Antischwerkraftmaschine noch nicht so gut steuern konnte, die aussah wie ein Rad loses Motorrad mit zwei großen Stummelflügel. Ich habe nämlich die längste Zeit meines Lebens in den Städten der Erde verbracht, wo derartige Fluggeräte verboten waren, wenn sie nicht gerade vollautomatisch funktionierten. Das Fliegen auf festgelegten Flugrouten mit diesen superschnellen Düsen angetriebenen Antigravitationsgleitern, die auf Terra von Verkehrsleitzentralen ferngesteuert wurden, machte aber auf diese Art und Weise keinen richtigen Spaß.
Ich flog lieber frei wie ein Vogel durch die Lüfte, wenngleich ich auch noch ein wenig ungeschickt darin war. Aber die weite, sandige Wüste unter mir bot für Anfänger wie mich genug Platz, sollte ich mal einen unbeabsichtigten Flugfehler machen und notlanden oder mit dem Rettungsfallschirm abspringen müssen.
Über Funk erhielt ich eine Meldung von Joe.
„Flint..., da!“ sagte Joe zu mir mit klarer Stimme.
„Wo?“
„Schau mal nach unten! Flieg hinter mir her und folge mir!“
Joe drückte sein Fluggerät in einem eleganten Bogen in eine weite Abwärtsspirale, sank und wurde nach jeder Runde langsamer. Ich folgte seinem Beispiel, übersteuerte allerdings meine Flugmaschine und sauste an ihm vorbei. Stück für Stück flog ich rückwärts zurück.
„Was ist, Joe? Was wolltest du mir zeigen?“ rief ich aufgeregt in mein Helmmikrofon.
„Da, dieser riesige Kaktus da unten!“
Ich schaute runter und suchte aufmerksam die Umgebung ab. Von hier oben aus wirkte die Wüste tot, als ob es in ihr kein Leben gäbe. Aber sie war es nicht; die Wüsten der meisten bewohnbaren Planeten bargen Leben in sich, so auch diese unter uns hier auf Clancis World. Dort unten gab es, wenngleich auch von der Höhe aus nicht sichtbar, dornige Sträucher, Blumen, die nach einem Regen aufblühten, anspruchslose Gräser und bizarre Insektenwesen, die sich tief im Sandboden vor der höllisch heißen Sonne versteckten. Magere, vierfüßige Warmblütler, die höchstens so groß wurden wie ein Fuchs und immer auf der Jagd nach Beute waren, liefen dort unten ebenfalls herum.
Und dann gab es da noch diese riesigen Kakteen von etwa zwei Meter Höhe und einem Durchmesser von mehr als fünfzig Zentimeter. Am oberen Ende befand sich ein großer, oval förmiger Kopf mit Haaren, die wie Hanf daran herunter hingen, und die genau die Farbe des rötlichen Wüstensandes hatten.
Wir landeten in unmittelbarer Nähe eines dieser seltsam aussehenden, kakteenartigen Gebilde und stiegen ab.
Ich hatte Joe Bilston dazu überredet, mich für ein bisschen Geld in die Wüste zu führen, obwohl er kein professioneller Führer war, die es hier auf Clancis World so gut wie nicht gab. Er wollte mir aber eben genau diese außergewöhnliche Pflanze zeigen.
„Komm, wir gehen herum nach vorne“, sagte Joe auffordernd zu mir.
Wir gingen also um dieses stachelige Ding herum, und ich fing an zu lachen, als ich nach oben schaute.
Etwa eine Handbreit über den letzten Stacheln kam durch den schütteren haarähnlichen Vorhang ein komisches Gesicht zum Vorschein, das irgendwie an eine lustige Gummimaske erinnerte.
Geduldig wartete Joe, dass ich zu lachen aufhörte.
„Ja, sie schauen wirklich komisch aus“, sagte er zu mir. „Aber diese Pflanzen sind intelligent. Und in diesem rosaroten oberen Ende steckt ein Gehirn, das doppelt so groß ist wie das menschliche.“
„Und..., hat es denn nie den Versuch unternommen, sich mit anderen intelligenten Lebewesen zu verständigen?“ fragte ich meinen Freund.
„Nicht das ich wüsste. Ich habe es mal über eine Stunde lang versucht, mit allen nur denkbaren Tricks, was allerdings auch nicht geholfen hat.“
„Dann haben wir völlig umsonst so einen weiten Weg zurückgelegt“, mokierte ich sauer und stieß den Sand mit dem rechten Fuß von mir weg, sodass er hoch aufwirbelte.
„Na ja, jedenfalls hast du diese seltsamen Xerophyten mal gesehen. Das ist schon mal was“, gab mir Joe beruhigend zur Antwort.
Ich lachte wieder, als ich die Kürbis artige Verdickung mit den langen haarähnlichen Auswüchsen und dem bewegungslosen Gesicht ohne Nase so betrachtete.
Ein paar Schritte von unseren Flugmaschinen entfernt hockten wir uns mit gekreuzten Beinen in den Sand und aßen vom mitgebrachten Proviant. Wir saßen dem Xerophyten fast genau gegenüber.
„Worauf warten wir eigentlich?“ fragte ich Joe von Zeit zu Zeit.
Mein Freund zuckte nur die Achseln, denn er wusste es offenbar auch nicht. Hin und wieder schauten wir uns um und sahen in die Wüste hinaus.
Plötzlich erschien ein rattenähnliches Tier. Es hoppelte uns entgegen und wirbelte dabei ein wenig Sand auf. Dann kam noch ein zweites, ein drittes und ein viertes. Sie sprangen ziemlich wild herum oder sausten über den Sand wie kleine Windhunde. Dann blieben sie wie auf ein geheimes Kommando hin abrupt im Halbkreis um dieses stachelige Pflanzending stehen und schauten es neugierig an.
Der Xerophyt wandte sich ihnen auf einmal zu ohne den Kopf ähnlichen Aufsatz zu drehen. Er bewegte einfach den ganzen Stamm herum. Das Gummigesicht veränderte sich während dessen von einer Sekunde auf die andere. Zwei starre Augäpfel ähnliche Verdickungen wurden hinter den Hanf artigen Haaren sichtbar und beobachteten konzentriert die Sandratten. Diese hockten sich auf ihre Hinterläufe und schauten in der gleichen Weise zurück.
Dann geschah etwas, womit keiner von uns gerechnet hätte. Der Mund des Xerophyten öffnete sich schlagartig zu einer Höhle, und eine lange Zunge bewegte sich wie ein Blitz, unsichtbar schnell, daraus hervor; zwei der Tiere waren danach verschwunden. Ein sattes, schmatzendes Geräusch war alles, was mein Freund und ich danach noch zu hören bekamen.
Wieder klappte das Maul der Riesenkaktee auf. Wieder fuhr die Riesenzunge hervor, und die beiden letzten Sandratten waren von der Bildfläche verschwunden. Ein kurzes Schmatzen noch, dann war alles vorbei. Die Stille der Wüste kehrte zurück.
Joe und ich hockten immer noch mit gekreuzten Beinen im Sand. Fassungslos starrten wir uns beide abwechselnd, dann wieder den Xerophyten an und vergaßen dabei das Essen. Tausend Gedanken gingen mir durch den Kopf.
Mir kam da eine Idee.
Ich hatte auf einmal alle Antworten parat, intuitiv und überzeugend. Es gab keine andere Erklärung für das, was wir soeben mit eigenen Augen gesehen hatten. Der Beweis war eindeutig.
Diese Standort gebundene, intelligente Trockenpflanze verfügte über so etwas wie parapsychologische Kräfte, die ihre Nahrung zu sich rief. Sie konnte Gedanken kontrollieren, selbst so unpersönliche wie die von Sandratten.
Ich erzählte hinter vorgehaltener Hand meinem Freund davon, was ich persönlich vermutete. Joe schaute mich danach mit erschrockenem Gesichtsausdruck an.
„Flint“, sagte er mit leiser Stimme, „dann hat uns der Xerophyt zum Hinsetzen veranlasst und eine Schau mit den Sandratten abgezogen. Und dann mussten wir eine Weile hier sitzen bleiben, bis wir ganz persönlich wieder aufstehen konnten.“
„Dieses Wüstending kann also unseren Willen beeinflussen“, sagte ich zu Joe.
„Ja. Ich habe dir doch gesagt, dass es intelligent ist. Wie weit die parapsychologischen Kräfte dieser seltsamen Pflanze allerdings reichen, will ich erst gar nicht wissen. Sie scheinen aber abzunehmen, je weiter wir uns von ihr entfernen.“
„Dann lass uns lieber von hier ganz schnell wieder verschwinden, Joe. Nicht auszudenken, wenn dieser Riesenkaktus womöglich noch Geschmack auf Menschenfleisch bekommt", sagte ich, ging schleunigst zu meinem Fluggerät hinüber, schwang mich in den Klemmsitz, zündete die Düsen und startete mit Vollgas in den weiten Himmel von Clancis World.
Mein Freund Joe immer dichtauf hinter mir.
ENDE
(c)Heiwahoe
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13. Das Paket
In einem kleinen Dorf mitten in Deutschland lebte einmal ein pensionierter Rentner namens Rudolf Strunz, der ein intelligenter Erfinder war und sich im Keller seines Hauses deshalb eine große Werkstatt eingerichtet hatte, um dort in aller Ruhe ungestört seinem Hobby nachgehen zu können. Hier konnte er alle möglichen und unmöglichen Dinge erfinden, die ihm so einfielen.
Eines Tages klingelte jemand draußen an seiner Haustür. Als der Rentner vorsichtig durch den Spion blickte, sah er in das Gesicht eines seltsam aussehenden Mannes, der ein ziemlich großes Paket an seine Hauswand gestellt hatte. Schnell öffnete er die Tür.
„Ich habe ein Paket für Herrn Rudolf Strunz. Sind Sie das? Wenn ja, dann brauche ich eine Unterschrift von Ihnen, die den Empfang des Paketes bestätigt.“
Der Rentner nickte mit dem Kopf, unterschrieb und reichte ihm ein kleines Trinkgeld rüber, das der Mann jedoch freundlich ablehnte, sich schnell auf der Stelle umdrehte und gleich wieder verschwand, als hätte er es mehr als eilig.
Dem Paket lag ein Brief bei, den der Rentner neugierig öffnete und mit leiser Stimme für sich selbst vorlas.
Sehr geehrter Herr Rudolf Strunz!
Sie kennen uns nicht, wir aber Sie. Wir sind eine außerirdische Zivilisation auf einem Planeten, der sich irgendwo in der Andromeda-Galaxie befindet, die etwas 2,5 Milliarden Lichtjahre von der Milchstraße entfernt ist.
Wir haben ein Signal von Ihrer Welt empfangen, das aus Ihrem Haus gekommen sein muss. Wir wurden natürlich neugierig, haben es verstärkt und konnten es schließlich zurück verfolgen. So sind wir auf Sie gestoßen. Da Sie ein begabter Erfinder sind, haben wir uns dazu entschlossen, Sie zu uns einzuladen. In dem Paket befindet sich ein Mini-Transmitter mit vorprogrammierten Zielkoordinaten zu unserem Planeten. Er wird Sie, wenn er komplett zusammengebaut ist, zu uns bringen. Der Transmitter funktionert leider nur in eine Richtung. Sie können also nicht mehr zurück in ihre Welt, jedenfalls vorläufig nicht. Das ist nämlich unser Problem, das wir bisher noch nicht lösen konnten. Wir denken aber, dass Sie uns dabei helfen könnten, einen Transmitter zu bauen, der in alle Richtung funktioniert.
Wir hoffen doch sehr, Sie bald in unserer schönen Welt begrüßen zu können. Sie werden es nicht bereuen, denn wir sind eine Spezies, die fast genauso aussieht, wie die Menschen auf ihrem Planeten.
Sie fragen sich sicherlich, wie das Paket zu Ihnen gekommen ist? Das ist einfach zu beantworten. Der Mann an Ihrer Tür ist einer von uns, besser gesagt, war einer von uns.Wir haben ihn mitsamt des Paketes durch einen unserer stärksten Transmitter geschickt, mit Zielkoordinaten zur Erde. Leider kann er nicht mehr zurück und muss sich jetzt auf eurem Planeten bis zu seinem Ableben irgendwie durchschlagen. Er tat das übrigens freiwillig. Wir haben ihn nicht dazu gezwungen.
Nun, wir warten auf Sie!
Mit freundlichen Grüßen
Der Hohe Rat von Vorian
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Noch am gleichen Tag, als es draußen schon langsam dunkel wurde, baute der Rentner Rudolf Strunz den Transmitter der Vorianer in seinem Keller zusammen und verband ihn mit der Kraftsteckdose seines Stromschaltkastens, der mit einem Hochspannungsgenerator gleich neben seinem Haus verbunden war, der genügend Energie für den Transmitter liefern konnte.
Gegen Mitternacht war es dann soweit, als der Rentner den Einschaltknopf am Schaltpult des Transmitters drückte, der sofort knisternd ein gleißend helles, mannshohes Portal aufbaute, welches am äußeren Rand zahllose bläuliche Lichter verstrahlte, die aussahen wie kleine Blitze.
Schnell packte sich Rudolf Strunz seinen Rucksack, in dem sich einige wichtige Dinge von ihm befanden, warf ihn über seine Schulter und trat durch den flimmernden Lichtbogen des Transmitters, der mit einem lauten Knall gleich hinter ihm wieder zusammenfiel und das ganze Haus durch einen gewaltigen Kurzschluß in Brand setzte.
Einige Sekunden später.
Auf der anderen Seite erwarteten schon eine erlesene Gruppe von Wissenschaftlern der Vorianer begeisternd klatschend den Erfinder Rudolf Strunz, der es fast nicht glauben konnte, in einer anderen Welt getreten zu sein, noch dazu fernab der Erde in einer anderen Galaxie. Die Vorianer sahen in der Tat fast so aus wie die Menschen, aber ihre Welt war fantastisch und überaus futuristisch, die ihm auf Anhieb gefiel.
ENDE
(c)Heiwahoe
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14. Denn sie wollen nicht allein sein
Eine gewaltige Armee schlängelte sich durch das grüne Tal; die farblich unterschiedlich bemalten Fahnen an der Spitze des Heerzuges wehten in der warmen Sommerbrise, Männer mit umgehängten Trommeln schlugen den Takt für die Soldaten, die hinter ihnen marschierten.
Die meisten von ihnen trugen schwere Bronze Kürassen und hohe Stiefel. Bewaffnet waren sie entweder mit vier Meter langen Speeren oder einem Wehrgehänge mit einer Streitaxt, einem Schwert und einen quadratischen Schild. Nur die begleitenden Offiziere ritten auf Pferden, die alle einen fein gearbeiteten, leichten Panzer trugen. Das Sonnenlicht wurde von den mit Gold und Emaille besetzten Ledersättel sporadisch reflektiert.
Es war Krieg.
DER UNBEKANNTE stand bewegungslos im Schatten einer alten Eiche, die hoch droben auf einem grünen Hügel stand und blickte auf die vorüberziehende Kolonne.
Es hatten in der Tat große Veränderungen stattgefunden, dachte er für sich und trat einen Schritt zurück, um nicht entdeckt zu werden.
Während DER UNBEKANNTE den zielstrebigen Marsch der Armee beobachtete, die letzten Trosswagen, von trägen Mulis gezogen, holpernd auf dem ausgefahrenen Weg weit unter ihm vorbeizogen und die dumpfen Schläge der Trommeln echoartig erstarben, wie der ferne Pulsschlag eines sterbenden Riesen, sann er über die Menschheit nach, deren Schicksal seine Rasse nicht aufhalten konnte. Sie waren nur dazu imstande, die Geschichte der Menschheit auf dem Planeten Erde wie interessierte Zuschauer zu beobachten.
Ein direktes Eingreifen war ihnen wegen ihrer besonderen mental Energie förmigen Struktur nicht möglich, was sie allerdings auch gar nicht beabsichtigten. Sie wollten nur unbemerkt in der Nachbarschaft von körperlichen Wesen leben. Mehr nicht.
Gleichmütig ging DER UNBEKANNTE auf einen erhöhten Felsen am Ende des Hügels zu und blieb auf ihm stehen. Von hier oben aus konnte er das gesamte Land bis zum weiten Horizont übersehen, wo überall schwarze Rauchfahnen den Himmel verdunkelten. Weit ab rechts von ihm befand sich ein fließendes Gewässer, dessen träge vorbei ziehendes Wasser ihn irgendwie daran erinnerte, dass der Fluss der Zeit in ähnlicher Weise fließt. Nur galt das nicht für seine Existenz.
Er dachte darüber nach, dass es für ihn, der so viele Äonen von Jahren gesehen hatte, eigentlich kein Maß für seine Lebensdauer gab, um sagen zu können: „Ich bin alt.“
Auch hatte DER UNBEKANNTE viele Namen und seine Natur war einzigartig. Er war keinem der bekannten Naturgesetze, ebenso irgendwelchen anderen einschränkenden Grenzen, wie denen von Raum und Zeit, unterworfen.
Als die Sonne hinter dem Horizont versank, ging DER UNBEKANNTE zurück auf den Hügel, wo der alte Eichenbaum stand und verschwand irgendwo dahinter im Nichts.
***
Eine gewaltige Armee schlängelte sich durch das grüne Tal; die schweren Panzerfahrzeuge waren olivgrün bemalt und an der Spitze des Heerzuges wehten in der warmen Sommerbrise einige kleine Fahnen, die an langen Antennen angebracht waren. Ihre rasselnden Stahlketten hallten durch die Umgebung.
Unzählige Mannschaftstransporter brachten schwerbewaffnete Soldaten an die Front, die sich irgendwo am fernen Horizont befand, wo immer wieder gewaltige, feuerrote Explosionsblitze aufleuchteten, gefolgt von krachenden Donnerschlägen.
Die meisten der Männer waren mit mattgrünen Stahlhelmen, ebenso mattgrünen Kampfanzügen und schusssicheren Panzerwesten ausgerüstet, die jeden Sonnenstrahl absorbierten. Über ihnen flogen ständig Gruppen von Hubschraubern, die ihre Raketen in die umliegende Gegend abfeuerten.
Es war schon wieder Krieg.
DER UNBEKANNTE stand abermals bewegungslos im Schatten der alten Eiche, die hoch droben auf dem grünen Hügel stand und blickte auf die vorüberziehende Militärkolonne.
Es hatten in der Tat schon wieder große Veränderungen stattgefunden, dachte er für sich und trat einen Schritt zurück, um nicht entdeckt zu werden.
Während DER UNBEKANNTE den zielstrebigen Marsch der Armee beobachtete, die letzten Panzer- und Mannschaftstransportfahrzeuge auf der gut ausgebauten Teerstraße weit unter ihm vorbeizogen und das hässliche Rasseln der metallenen Panzerketten langsam echoartig wie das Röcheln eines sterbenden Riesen verebbte, sann er darüber nach, wann er und seine Rasse diesen Ort wieder verlassen müssten.
Gleichmütig ging DER UNBEKANNTE auf einen erhöhten Felsen am Ende des Hügels zu und blieb auf ihm stehen. Von hier aus konnte er das gesamt Land bis zum weiten Horizont übersehen. Weit ab rechts von ihm befand sich immer noch das fließende Gewässer, dessen träge vorbei ziehendes Wasser ihn abermals an den unabänderlichen Lauf der Dinge in Raum und Zeit erinnerte.
Er dachte wieder darüber nach, dass es für ihn, der so viele Äonen von Jahren gesehen hatte, eigentlich kein Maß für seine Lebensdauer gab, um sagen zu können: „Ich bin alt.“
Auch hatte DER UNBEKANNTE viele Namen und seine Natur war einzigartig. Er war keinem der bekannten Naturgesetze, ebenso irgendwelchen anderen einschränkenden Grenzen, wie denen von Raum und Zeit, unterworfen.
Als die Sonne hinter dem Horizont versank, ging DER UNBEKANNTE zurück auf den Hügel, wo der mittlerweile uralte Eichenbaum noch immer stand und verschwand irgendwo dahinter im Nichts.
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Was ist Zeit?
Wie viele Jahrhunderte, Jahrtausende waren schon vergangen?
Es war eine Welt des unheimlichen Schweigens. Es war ein blinde Welt. Es war eine kalte Welt.
DER UNBEKANNTE stand wieder am gleichen Ort, wo einmal die knorrigen Ästen der uralten Eiche in den Himmel ragten, die jetzt nicht mehr war. Zögernden Schrittes wagte er sich in diese neue Welt hinaus. Als er endlich den Hügel verlassen hatte und den Schnee bedeckten Felsen bestieg, musste er gegen eine aufkommende Panik ankämpfen, die ihn wie in wilden Energiewogen überrollte. Selbst jetzt bei Nacht, im Schein des Mondes, konnte er erkennen, dass sich die gesamte Umgebung bis zum fernen Horizont in eine gewaltige Eisfläche verwandelt hatte.
Die Menschheit muss wohl in einer langen Kette wütender Kriege den Planeten Erde endgültig zerstört haben. Der letzte aller Kriege aber war ein fürchterlicher Atomkrieg gewesen. Die Winter wurden plötzlich kälter. Bald gab es keinen Sommer mehr und das Eis staute sich Hunderte Meter hoch an. Eine neue Eiszeit war angebrochen, verursacht durch die Unvernunft des Menschen. Jetzt war es bereits zu spät für eine Umkehr.
Die Menschen begannen zu fliehen, als das vorrückende Eis seine unerbittlich kalte Hand nach ihnen ausstreckte. Es setzte eine wahre Massenwanderung in die wärmeren Gegenden der Erde ein. Jeder hoffte, er könne dem weißen Tod entkommen. Aber das Klima änderte sich nicht. Es wurde noch schlimmer. Die Macht des Eises überzog bald den ganzen Planeten, tödliches Schweigen nach sich ziehend.
Für immer.
DER UNBEKANNTE stand da und betrachtete mit traurig dreinblickenden Augen die tote Welt zu seinen Füssen, wo sich eine unendlich lange Kette von seltsam aussehenden Geschöpfen durch das eisige Tal schlängelte. Sie alle sahen aus wie er. Sie hatten keinen Körper, sondern bestanden nur aus einer milchig weißen Energiewolke, die von der Form und der Größe her die eines Menschen ähnelte.
Sie schwebten nur wenige Zentimeter dicht hinter einander über den mit Eis und Schnee bedeckten Frostboden, bis sie schließlich den weit entfernten Horizont erreichten, wo sie gemeinsam himmelwärts aufstiegen und schließlich in der Unendlichkeit eines Sternen übersäten Universums verschwanden.
Irgendwo da draußen würden sie einen neuen Planeten mit aufkeimendem Leben finden.
Dessen waren sie sich ganz sicher.
Denn sie wollen nicht allein sein...
ENDE
(c)Heiwahoe
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15. Der Mann aus der Welt von der anderen Straßenseite
Ich saß notgedrungen an einer Bar und hatte mir ein kühles Bier bestellt. Überall im Raum der stark verrauchten Kneipe war es warm, ja fast zu warm für meinen Geschmack gewesen und so richtig wohl fühlte ich mich in dieser Umgebung auch nicht. Auf gar keinen Fall wollte ich hier länger als nötig bleiben, aber da draußen war ganz plötzlich ein seltsamer Nebel über die gesamte Stadt hereingebrochen, hatte sich rasend schnell wie ein riesiges graues Leichentuch über sie gelegt und viele Menschen regelrecht in Panik versetzt.
Dieses gespenstisch aussehende, grauweiße Gemisch kroch wabbernd durch alle Straßen, drängte unaufhörlich und zäh immer weiter in die tiefen Häuserschluchten vor und schon nach kurzer Zeit hatte es jeden freien Zentimeter der Luft so dicht ausgefüllt, dass man schließlich seine eigenen Hände nicht mehr vor den Augen sehen konnte.
Ich war in dieser schier undurchdringlichen Nebelsuppe fast eine Stunde lang orientierungslos herumgeirrt, bevor ich die Suche nach meinem Wagen genervt aufgeben musste. Den ganzen Tag über hatte ich als Angestellter im Büro eines Esoterik-Buchverlages gesessen und jetzt diese Bescherung. Die langsam hereinbrechende Nacht verschlimmerte den allgemeinen Zustand draußen noch weiter. Selbst die sonst so hellen Neonlichter der Straßenbeleuchtungen waren nur noch als schwache, schemenhafte Leuchtpunkte zu erkennen.
Dann war ich auf einmal in diese schäbige Spelunke hinein geraten, die ich nur widerwillig betreten hatte, weil zu viele Gäste in ihr waren. Offensichtlich war es einigen Leuten genauso ergangen wie mir, die sich so schnell wie möglich vor dem Chaos da draußen einfach nur in Sicherheit bringen wollten. Der Nebel hatte sich mittlerweile wie eine schmutzig aussehende, grauweiße Watte um jedes Gebäude der Stadt gelegt. Einzig und allein die flachen Dächer einiger Hochhäuser ragten wie kleine Insel aus dem düster daliegenden Nebelmeer heraus.
Jedes mal, wenn ein Gast die Tür des Lokals öffnete, stießen von draußen feuchtkalte Nebelschwaden herein, die sich aber schnell wieder verflüchtigten, da sie gegen die stickig warme Luft des verqualmten Kneipenraumes keine Chance hatten.
Ich schaute zum großen Fenster des Lokals hinüber. Ab und zu rollte im Schneckentempo ein Auto vorbei und man hatte den seltsamen Eindruck, dass die grell leuchtenden Nebelscheinwerfer allein daher kamen.
Die Autofahrer taten mir irgendwie leid, denn in Wirklichkeit fuhren sie wie blind durch die Gegend, stets angestrengt nach vorne blickend, gewissermaßen jederzeit bremsbereit, um bloß nicht die roten Rück- oder eventuell aufleuchtenden Bremslichter des voraus fahrenden Fahrzeuges aus den Augen zu verlieren. Diese Nebelküche da draußen war der reinste Wahnsinn.
Trotzdem hatte ich überhaupt keine große Lust mehr dazu, meinen kurzen Feierabend weiterhin in dieser miesen Pinte zu verbringen, denn Lokalitäten dieser Art lagen mir einfach nicht. Auf jeden Fall riefen sie bei mir keine allzu große Begeisterungsstürme hervor. Ziemlich gelangweilt nippte ich deshalb an meinem Bierglas herum und beobachtete aufmerksam die Arbeit der beiden flinken Kellner, die wegen des unerwartet großen Andrangs an Gästen jetzt alle Hände voll zu tun hatten.
„Ein verschwendeter Abend“, sagte ich halblaut zu mir selbst, trank mein Glas leer und stellte es auf die glatt polierte Theke zurück. Dann rief ich nach einem der Kellner und wollte zahlen.
„Ich glaube nicht, dass Sie schon gehen sollten. Warten Sie lieber, bis sich der Nebel aufgelöst hat!“ sagte plötzlich der Mann neben mir auf dem Barhocker.
Der Mann war mir nicht bekannt, er sah schon etwas älter aus und besaß eine Vollglatze. Sein braungebranntes Gesicht war von tiefen Falten durchzogen und unrasiert. Beim näheren Hinsehen bemerkte ich zudem, dass seine Augenränder ziemlich gerötet waren. Auch schien er eine leichte Gehbehinderung zu haben, denn er humpelte auffällig auf dem rechten Bein, als er sich von dem Barhocker wegbewegte, um näher an mich heranzukommen. Einzig und allein sein langer, schwarz glänzender Ledermantel, den er in lässiger Manier offen trug, deutete an, dass es sich hierbei um jemanden handeln müsse, der nicht unbedingt zu den armen Leuten gehörte.
„Pardon, was sagten sie?“ wollte ich von ihm wissen.
„Vielleicht sollten Sie jetzt noch nicht gehen und lieber abwarten, bis der Nebel von selbst wieder verschwindet.“ fügte er abermals hinzu. Seine Stimme ging dabei fast im Gemurmel der übrigen Gäste unter.
„Und warum? Wissen Sie denn, wie lange die Waschküche da draußen noch anhält?“ bohrte ich etwas verärgert nach.
Der andere runzelte jetzt nachdenklich die Stirn, trank gemächlich ein Schluck Selterwasser aus seinem kleinen Glas, sah mich dabei aber dennoch unverhohlen mit musternden Blicken an und redete schließlich weiter.
„Haben Sie schon einmal etwas von der Theorie der multiplen Welten gehört? Wenn man dieser Theorie Glauben schenken will, dann gibt es unzählige Welten, in der Sie jedes Mal ein anderer sind – je nachdem, wie viele Möglichkeiten es gibt“, sagte er mit leicht erhobener Stimme zu mir.
Eigentlich fiel es mir nicht weiter schwer, eine unangenehme Unterhaltung mit einem Fremden zu beenden. Es würde dabei schon genügen, wenn man nur mit einem verständnislosen Blick antwortet oder sich einfach gelangweilt umdreht. Aber irgendwie fand ich die Idee der „multiplen Welten“ meines Gegenübers interessant, ja sogar unter den momentanen Umständen schon fast irgendwie spannend. Ich beschloss daher, ihm vorläufig weiter zu zuhören.
„Was ist das für eine Theorie, von der Sie da sprechen?“ fragte ich ihn schließlich neugierig.
„Ganz einfach! – Aber vorher möchte ich mich noch schnell bei Ihnen vorstellen. Ich heiße Robert Barkley und bin von Beruf Astrophysiker – oder zumindest, was davon übrig geblieben ist.“
Als ich seinen Namen hörte stutzte ich sofort und antwortete ihm dann spontan: „Na so was, das ist aber ein komischer Zufall, wir sind ja Namensvetter! Wir werden doch nicht etwa miteinander verwandt sein, oder? Mein Name ist
nämlich Frank Barkley“, gab ich ihm laut aber höflich lächelnd zu verstehen.
Mein Gegenüber machte eine kurze Gedankenpause, starrte dabei einige Sekunden ins Leere und fuhr plötzlich fort: „Ach wissen Sie, das kommt häufiger vor, als man denkt. Das ist nichts Besonderes. Menschen mit gleichen Familiennamen trifft man eigentlich überall an – fast in jeder Stadt, möchte ich meinen. Aber eigentlich wollte ich Ihnen was ganz anderes erzählen.“
Wieder hielt er für einen Augenblick inne, gerade so, als müsse er erst noch nach den richtigen Worten für seine weitere Rede suchen. Dann hob er den Kopf leicht an, schaute mir direkt in die Augen und sprach schließlich mit ruhiger Stimme weiter.
„Was wäre beispielsweise, wenn es, meiner geschilderten Theorie folgend, von der Erde in der Tat noch eine unbestimmte Anzahl von Parallelwelten geben würde? In jeder dieser eigenständig existierenden, völlig identisch aussehenden Welten müsste es dann logischerweise auch jedes Mal wieder einen Menschen wie Sie und mich geben. Nun ja, wenngleich sich diese Parallelwelten vielleicht rein äußerlich mehr oder weniger sehr ähnlich sein mögen, so bedeutet das noch lange nicht, dass sie sich damit auch schon untereinander im Ablauf ihrer jeweiligen Weltgeschichten gleichen müssen. Vielmehr treten immer wieder feine Unterschiede im Hergang der historischen Ereignisse und Geschehnisse auf, die jedes Mal zu ganz entscheidenden, epochalen Veränderungen innerhalb des Verlaufs der Geschichte der von mir geschilderten Parallel- oder Spiegelwelten führen müssten. Das weltgeschichtliche Resultat sähe somit in jeder einzelnen Parallelwelt anders aus. Hier ein Krieg, der auf einer anderen Parallelwelt möglicherweise eben doch nicht stattgefunden hat.“
Seine Ausführungen gingen weiter.
„Einmal angenommen..., dem wäre so, dann müsste das doch sicherlich ebenso auf alles andere zutreffen, wie zum Beispiel auch auf das jeweilige Leben oder auf das ganz persönliche, individuelle Schicksal eines Menschen. Auf Grund dieser Annahme könnte es ohne weiteres tatsächlich möglich sein, dass Sie in einer Parallelwelt mal als armer Bettler, in jener wiederum als reicher Mann und in einer weiteren vielleicht sogar als Mathematikgenie existieren würden. Alles wäre denkbar, alles wäre möglich.“
„Mhm“, schmunzelte ich jetzt, denn der Gedanke daran gefiel mir irgendwie, dass es mich möglicherweise noch unzählige Male geben könnte.
Nachdem mein Gegenüber abermals einen tiefen Schluck Selterwasser aus seinem Glas getrunken hatte, fuhr er mit seinen Erklärungen fort.
„Und wissen Sie, was eigentlich das Faszinierende an dieser Theorie ist? – So unglaublich es klingen mag, sie trifft zu, sie stimmt tatsächlich! Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen das sogar beweisen, dass ich hier keinen absurden Quatsch erzählt habe.“
Der Mann vor mir war jetzt anscheinend völlig in seinem Element. Noch bevor ich überhaupt ein paar Fragen stellen konnte, redete er schon wieder weiter. Die Darstellungen seiner Theorie hörten sich für mich eher wie eine fantastische Erzählung aus dem Bereich der Science Fiktion an.
„Weiterhin entstehen Phasen begrenzter temporärer Verbindungen unter den Parallelwelten, die sich spiegelgleich auf einander zu bewegen, bis sie sich schließlich nicht nur berühren, sondern sogar gegenseitig völlig durchdringen. Danach entfernen sie sich wieder voneinander. Warum bemerken wir das gegenseitige Durchdringen dieser Parallelwelten untereinander nicht? Dafür kann es nur eine einzige Erklärung geben! Jede Parallelwelt existiert in einem eigenen Paralleluniversum und das wiederum existiert auf einer völlig anderen Zeitebene. Dort aber, wo sie sich berühren und durchdringen, ähnlich wie zwei identische Bildprojektionen, die jede für sich auf eine gemeinsame Leinwand treffen, kommt es zeitweilig zu ganz bestimmten, sich gegenseitig verstärkenden Reaktionen oder Resonanzen. An diesen Überschneidungen und Schnittpunkten, den so genannten Weltlinien, kommt es dann zu offenen Durch- und Übergängen, die man dazu nutzen kann, von einer Welt in die nächste zu wechseln.“
Jetzt fiel ich ihm aber doch ins Wort und fragte ihn spöttisch: „Und das soll ich Ihnen jetzt alles so ohne Wenn und Aber glauben? Sie können mir viel erzählen, guter Mann!“
Ich setzte dabei eine absichtlich ernste Miene auf, weil es mir sonst nicht gelungen wäre, mein aufkommendes Lachgefühl zu verbergen.
„Ja natürlich können Sie mir das glauben. Ich rede doch hier keinen Unsinn! Ich habe es schon weiß Gott einige Male selbst ausprobiert. Die Schwierigkeiten bestanden am Anfang meiner Wechselweltreisen eigentlich nur darin, immer den richtigen Zeitpunkt und den richtigen Ort zu erwischen, um dann im entscheidenden Augenblick in die jeweils andere Welt gefahrlos übertreten zu können. Glücklicherweise handelt es sich aber hierbei um ein periodisches Ereignis, wie ich herausfinden konnte, das sich vor unseren Augen fast unbemerkt regelmäßig abspielt. Und nur dort, wo sich die beiden Welten-Linien überschneiden, sich sozusagen fließend überkreuzen, entstehen eben manchmal gewisse Naturphänomene, die sich mitunter auch in urplötzlich aufkommenden Nebel äußern können.“
Plötzlich schaute der Mann auf seine Uhr. Er wirkte etwas nervös und tat so, als wolle er sich von mir verabschieden. Mittlerweile war es schon fast Mitternacht geworden. Die Zeit war im Gespräch einfach wie im Flug vergangen.
Dann sah mich der alte Glatzkopf mit einem fast flehenden Blick an und sagte:
„Wissen Sie, wie ich schon sagte, der Nebel da draußen hat tatsächlich etwas mit den von mir erwähnten Übergängen zu tun. Ich bin hier nicht rein zufällig, wie Sie vielleicht glauben mögen. Nein! Ich war nur etwas zu früh zur Stelle. Aber lieber zu früh, als zu spät, wenn es um wichtige Vorhaben geht. Diese Stadt befindet sich nämlich genau auf den von mir beschriebenen Weltenlinien, die im Augenblick dabei sind, sich zu überschneiden. Ich werde deshalb jetzt gleich hinausgehen, weil ich den sich öffnenden Übergang nicht verpassen will. Wenn Sie Lust haben, kommen Sie einfach mit! Sie werden sehen, dass ich keinen Unsinn geredet habe. Alles ist absolut real! Wir müssen nur die Straße vor dem Lokal überqueren und schon sind wir drüben in der anderen Welt. Nun, es stimmt sogar! Sie hat große Ähnlichkeit mit dieser Erde, ja, man kann ohne Einschränkung behaupten, dass sie ein echtes Ebenbild von ihr ist; nur mit dem kleinen, aber äußerst wichtigen Unterschied, dass sie sich auf einer anderen Ebene der Zeit befindet.“
Schnell sprach er weiter: „Ich habe es Ihnen schon gesagt, es sind Parallelwelten, die in einem eigenen Paralleluniversum existieren und jede dieser Parallelwelt hat darüber hinaus eine jeweils abweichende Geschichte entwickelt. Also, wenn Sie die neue Welt nicht verpassen wollen, müssen Sie sich jetzt gleich dazu entschließen mit mir zu gehen. – Nun, was ist?“
Ich sah zum Fenster hinüber und schüttelte ungläubig den Kopf. Vor einigen Stunden hätte ich mich da draußen noch fast im dichten Nebel verlaufen, weil ich nach meinem Auto suchen musste. Jetzt sollte ich auf einmal mit einem mir völlig unbekannten alten Mann in dieser nebligen Waschküche über die gleiche Straße gehen, dann auf der gegenüber liegenden Straßenseite so mir nichts dir nichts einfach in eine andere Welt hinüber wechseln können und schon wäre die ganze Sache erledigt. Ich müsste doch verrückt im Kopf sein, wenn ich das Gerede dieses seltsamen Mannes auch nur annähernd für wahr halten würde, dachte ich so für mich.
Wie gesagt, mir kam die ganze Situation einfach total abgefahren vor. Trotzdem reizte mich die Vorstellung ein wenig, das Spielchen bis zu einer gewissen Grenze mitzumachen, um herauszufinden, mit welch abgedrehten Idioten ich’s hier eigentlich zu tun hatte. Was könnte mir dabei schon passieren? Außerdem war mir der alte Kerl rein körperlich weit unterlegen, was mein Sicherheitsgefühl natürlich erheblich verstärkte.
Wieder hörte ich die fragende Stimme des Mannes vor mir: „Was ist, kommen Sie mit? Das ist Ihre erste und letzte Chance! Wir befinden uns in wenigen Minuten vor einem dieser unsichtbaren Übergänge. Meine Berechnungen sind erfahrungsgemäß immer richtig. Sie werden es auf jeden Fall nicht bereuen, Barkley! Inwieweit sich Ihr Leben in der anderen Welt vielleicht durch dieses hier unterscheiden wird, das kann ich Ihnen ehrlicherweise noch nicht sagen. Aber dieses Risiko sollte man ruhig auf sich nehmen. Wenn’s einem nicht gefällt, wartet man einfach den nächsten periodisch wiederkehrenden Übergang ab, tritt hinüber in eine andere Parallelwelt und beginnt dort ein neues Leben. - Was ist? Warum zögern Sie noch? Kommen Sie mit, warten Sie nicht länger!“
Meine Vernunft sagte mir warnend, ich solle hier in diesem Lokal an der Bar sitzen bleiben. Nichtsdestotrotz waren meine enorme Neugier und unterschwellige Abenteuerlust mittlerweile geweckt worden.
Ohne länger über mein Tun nachzudenken nickte ich dem Fremden zu. Wir gingen noch im gleichen Augenblick zur Tür hinüber, die ich kurz entschlossen öffnete, um zusammen mit dem anderen hinaus auf den gepflasterten Fußgängerweg zu treten, wo uns beide im nächsten Augenblick auch schon eine dichte, graue Nebelküche in Empfang nahm.
Als die Kneipentür mit einem lauten Geräusch hinter mir ins Schloss fiel, packte mich der glatzköpfige Mann
in dem schwarz glänzenden Ledermantel sofort energisch am rechten Ärmel meiner Jacke, denn die äußerst schlechten Sicht zwang uns dazu, dass wir so dicht wie möglich zusammen bleiben mussten. In dieser Haltung schließlich tasteten wir uns beide gemeinsam langsam und vorsichtig über die vor uns liegende Straße. Ich war irgendwie besorgt darüber, dass wir es vielleicht nicht schaffen würden, die eingeschlagene Richtung zu halten. Jederzeit musste man außerdem mit einem vorbeikommenden Fahrzeug rechnen. Kein Fahrer bekäme uns rechtzeitig zu sehen. Man würde uns einfach glatt überrollen. Allerdings stellte sich schon nach ein paar Schritten heraus, dass meine Befürchtungen offensichtlich völlig überflüssig waren, wie es den Anschein hatte. Denn der Alte schien den Weg über die neblige Straße genau zu kennen, gerade so, als könne er jedes Hindernis schon im Voraus erahnen.
Irgendwann sah ich plötzlich im dichten Nebel eine dunkle Gestalt direkt auf mich zukommen. Sie kam so dicht an mir vorbei, dass ich trotz des dichten Nebels für eine Sekunde lang in ihr Gesicht blicken konnte und dabei den flüchtigen Verdacht hatte, mein eigenes gesehen zu haben. „Blödsinn, so was gibt’s nicht!“ dachte ich und konzentrierte mich sofort wieder auf den vor mir liegenden Weg.
Wegen dieses Vorfalls trat ich unwillkürlich einen kleinen Schritt zur Seite. Aber genau das war mein Fehler gewesen. Noch im gleichen Moment stolperte ich über den hohen Bordstein einer kleinen Verkehrsinsel und fiel der Länge nach hin. Noch ganz benommen rappelte ich mich wieder auf. Seltsamerweise humpelte ich auf einmal und nahm deshalb an, dass ich mich beim Sturz auf die harte Straße wohl am rechten Bein verletzt hatte.
Kurze Zeit später beschlich mich irgendwie der komische Verdacht, dass ich wohl mutterseelenallein mitten auf der Straße im dichten Nebel stand. Wo war mein Vordermann geblieben? Hatte er mich ganz einfach aus den Augen verloren, als ich auf die Straße gestürzt bin? Konnte aber auch gut möglich sein, so dachte ich weiter, dass er sich bei dieser günstigen Gelegenheit eben doch elegant aus dem Staub gemacht hat, weil er sich mit mir nur einen üblen Scherz erlauben wollte.
Leichte Panik stieg trotzdem jetzt in mir hoch. Ich wollte runter von dieser Straße und humpelte zielstrebig in jene Richtung weiter, von der ich annahm, sie würde mich mit größter Wahrscheinlichkeit auf die andere Straßenseite hinüber führen.
Schlagartig riss ein heftiger Wind den dichten Nebel auseinander. Ganz plötzlich befand ich mich, von einer Sekunde auf die andere, mitten im schönsten Sonnenschein eines herrlichen Sommertages und musste zu meinem allergrößten Erstaunen feststellen, dass ich unmittelbar vor der Eingangstür jener Kneipe stand, von wo aus ich mit dem alten Glatzkopf meinen Weg über die Straße durch den Nebel begonnen hatte. Auf der gleichen Straße hinter mir strömte wie immer unablässig der laute Verkehr vorbei. Auf den breiten Gehwegen links und rechts der belebten Straße bewegte sich ein unablässiger Strom von Fußgängern in beide Richtungen.
Eigentlich war alles so wie immer.
Aber irgendwas war trotzdem anders. Ich spürte diese seltsame Veränderung auch an meinem Körper. Als ich wegen dieser schlechten Vorahnung vorsichtig an mir herunterschaute, hätte es mich beinahe vor Schreck umgeworfen. Jetzt erst bemerkte ich nämlich, dass ich mit dem schwarz glänzenden Ledermantel meines glatzköpfigen Bekannten, den ich an der verrauchten Bar kennen gelernt hatte, bekleidet war.
Einigermaßen verwundert darüber fragte ich mich jetzt danach, wie es dazu überhaupt gekommen war, dass ich auf einmal diesen Mantel trug. Noch größer wurde mein Schreck allerdings, als ich durch Zufall im großen Schaufenster neben der Kneipentür mein eigenes Spiegelbild zu sehen bekam. Mit einem Schlag wurde mir klar: Ich war jetzt der alte, glatzköpfige Mann, der sich mit mir an der Bar unterhalten hatte! Ganz ohne Zweifel, da draußen mitten auf der Straße im dichten Nebel hatte sich anscheinend etwas Unglaubliches ereignet. Nur was genau, dass konnte ich mir im Moment auch nicht erklären, es sei denn, man käme auf den Gedanken, es gäbe so etwas wie die Seelenwanderung, wobei die Seele nur in einen anderen Körper schlüpft.
Für mich schienen die Schrecken einfach kein Ende zu nehmen. Langsam wurde mir schlecht und beinah hätte ich mich übergeben müssen. Immer wieder starrte ich wie hypnotisiert auf diese schrullige Gestalt im Schaufenster, die als Spiegelbild jede meiner Körperbewegungen mit machte. Es war einfach irre. Ich begriff nichts mehr. Ich war auch nicht am rechten Bein durch den Sturz auf das Straßenpflaster verletzt worden, sondern es war wirklich einfach nur um ein paar Zentimeter kürzer als das linke. Langsam dämmerte es in mir, dass mich der Alte auf irgendeine unerklärliche Art und Weise reingelegt haben muss.
Ich weiß nicht mehr so genau, wie lange ich da eigentlich vor dem Schaufenster gestanden bin und dabei fortwährend kopfschüttelnd mein eigenes Spiegelbild betrachtete, als ich aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen heraus mit beiden Händen in den Seitentaschen des schwarzen Ledermantels herum zu wühlen begann. Es dauerte auch nicht lange, da hielt ich einen sorgfältig geschriebenen Brief in den Händen, den ich zitternd auseinander faltete. Dann las ich, was dort geschrieben stand.
Mein lieber Freund!
Wenn Du diesen Brief von mir gefunden hast und ihn zu lesen beginnst, so werde ich sicherlich schon lange im Besitz Deines Körpers sein (und umgekehrt). Meine Theorie der „multiplen Welten“ stimmt also, wie Du selbst am eigenen Leib erfahren konntest. Allerdings hat sie dennoch einige kleine Fehler, die ich Dir nicht verschweigen möchte. Ich will Dir natürlich verraten, was es mit diesen „Fehlern“ so auf sich hat.
Zwar ist es ebenso möglich mit seinem eigenen Körper in einer dieser Parallelwelten leben zu können. Das geht leider nur für eine gewisse Zeit gut. Denn, was ich vorher nicht wissen konnte ist die Tatsache, dass der eigene Körper in einer anderen Parallelwelt möglicherweise schneller altert, als in seiner eigenen, in der er also geboren wurde.
Mit welcher Geschwindigkeit der Alterungsprozess allerdings abläuft, das hängt von einigen anderen wichtigen Faktoren ab, die ich hier nicht näher erklären möchte. Manchmal findet er gar nicht statt, was aber nur sehr selten vorkommt. Man sollte sich daher nicht darauf verlassen, dass es einen nicht trifft. Das ist der eine Punkt.
Der zweite Punkt ist der (was ich allerdings erst viel später durch Zufall heraus bekommen habe), dass, wenn sich zwei Personen während des Überganges in eine andere Parallelwelt am Körper berühren, zuerst die Seelen getauscht werden, will sagen, dass sie dabei schlagartig die beiden Körper wechseln. In unserem Fall bedeutet das, dass Du jetzt meinen Körper hast und ich Deinen. Wenn Du willst, kannst Du das auch als Körpertausch bezeichnen, was sogar völlig korrekt wäre. Seelen können in jeder Zeit und auf jeder Zeitebene existieren, weil sie unsterblich sind.
Der dritte Punkt betrifft das Wohl Deines (bzw. meines ehemaligen) Körpers. In meiner Welt, in der Du jetzt mit Deiner Seele in meinem Körper lebst, war ich ein berühmter Astrophysiker. Leider hat man mich später als Spinner abgetan, weil meine Theorie der „multiplen Welten“ allgemein nicht verstanden oder akzeptiert wurde. Das war ehrlich gesagt auch weiter nicht so schlimm, weil ich persönlich ein ziemlich großes Geldvermögen besaß, das mir bis ans Lebensende ein sorgenfreies und unabhängiges Leben garantierte hätte. In der oberen linken Brusttasche des Ledermantels findest Du alle notwendigen Papiere, die es Dir ermöglichen, an dieses Vermögen heran zu kommen. Meine Unterschrift nachzumachen wird Dir sicherlich mit meinem Körper keine allzu großen Schwierigkeiten bereiten. Er kennt seine Handbewegungen bestimmt noch. Aber ein paar Übungen vorher könnten nicht schaden.
Darüber hinaus habe ich Dir alle wichtigen Daten aus meinem Leben Punkt für Punkt aufgeschrieben. Da ich sehr zurückgezogen gelebt habe (oft auch wegen meiner Experimente), dürfte Dir somit Dein neues Leben in meinem Körper wohl keine allzu großen Schwierigkeiten bereiten (auch wenn er zugegebenermaßen etwas älter ist als Deiner).
Solltest Du eventuell auf die Fortführung meines ehemaligen Lebens keinen großen Wert legen, dann versuche einfach etwas anderes. Meinen Segen dazu hast Du! Es steht Dir alles völlig frei! Die Leute hielten mich sowie für einen ausgemachten Spinner, dem seine wissenschaftlichen Theorien zu Kopfe gestiegen sind.
Tja, mein Lieber, so langsam komme ich zum Ende meiner Ausführungen. Solltest Du vielleicht mal Interesse daran zeigen, die Welt dennoch wieder wechseln zu wollen, habe ich eigens zu diesem Zweck für Dich einige dieser periodisch wiederkehrenden Koordinaten aufgeschrieben, die Du im Safe meines Landhauses finden wirst. Mach’ es einfach so wie ich! Such Dir rechtzeitig einen jüngeren Körper für ein Leben in der nächsten Welt! Zum Glück liegen die von mir aufgezeichneten Koordinaten (die ich sinnigerweise als „Treffpunkte der Parallelwelten“ bezeichnet habe) sehr dicht beieinander.
Wenn Du am Leben hängst, solltest Du bald damit anfangen, um jene Orte ausfindig zu machen, die ich anhand dieser Koordinaten auf einer eigens dafür angefertigten Weltkarte eingetragen habe. Dann liegt es nur noch an Deiner Überredungskunst jemanden zu finden, der bereit dazu ist, Deiner fantastischen Geschichte Glauben zu schenken und Dir ohne Wenn und Aber in den Nebel folgt. Natürlich kann es auch zu anderen Wettererscheinungen kommen (auch diese habe ich genau aufgezeichnet), aber in der Regel ist es ein äußerst dichter Nebel. Versuche aber auf gar keinen Fall die Person deiner Wahl etwa mit Gewalt in die andere Welt zu befördern. Das funktioniert aus verschiedenen Gründen nicht, die ich hier aus Zeitnot einfach nicht näher erläutern möchte (hat was mit den Seelen zu tun).
Und was den Namen Barkley angeht, so kann ich nur dazu sagen, dass unsere Begegnung eigentlich kein Zufall war. Denk an meine Worte von den Parallelwelten! Sie sind zwar identisch miteinander, was beispielsweise die Existenz der belebten Natur betrifft usw., aber dennoch können gravierende Unterschiede vorkommen. So hatte ich einen jüngeren Bruder, der Dir sehr ähnlich war. Du aber hattest eben keinen älteren Bruder, sondern warst schlichtweg ein Einzelkind geblieben. Du und ich, wir sind alle Barkleys, jeder in seiner eigenen Welt.
Nun denn, mein lieber Freund, sei mir nicht nachtragend! Mach das Beste aus Deiner Situation, die so unangenehm doch gar nicht ist – oder? Ich wünsche Dir auf jeden Fall alles Gute in meinem Körper und in Deinem neuen Leben!
Robert Barkley
(Astrophysiker)
jetzt
Frank Barkley
(Angestellter)
Als ich den Brief durchgelesen hatte, faltete ich ihn wieder sorgfältig zusammen und steckte ihn zurück in die rechte Seitentasche meines schwarzen Ledermantels. Dann machte ich mich so schnell ich konnte auf den Weg zu meinem Landhaus. Ich wollte die Zeit nutzen. Es lag noch eine Menge Arbeit vor mir.
Ende
(c)Heiwahoe
***
16. Zeitreise nach Golgatha
Ein flimmernder, gleißend heller Lichtschein erhellte die Umgebung und wurde schnell größer. Es roch nach elektrischer Entladung, wie nach einem Blitzeinschlag. Eine menschliche Gestalt in einem langen altertümlichen Gewand materialisierte, blieb zuerst regungslos stehen, sah sich schließlich nach allen Seiten verwundert um, als würde sich der Verstand weigern, die ungeheuerliche Tatsache zu akzeptieren, was soeben geschehen war und trat schließlich behutsam einen Schritt vor. Das pulsierende Energieportal hinter ihm schrumpfte mit einem scharfen Zischgeräusch plötzlich in sich zusammen, bis es schließlich in einem immer kleiner werdenden Lichtpunkt ganz verschwunden war.
Im nächsten Moment brach eine wahre Flut von Sinneseindrücken über den Zeitreisenden herein. Ein Gefühl des Triumphes kam in ihm hoch, das ihn zu übermannen drohte. Sein Verstand bewegte sich hart an der Grenze zwischen Normalität und Wahnsinn. Doch er riss sich zusammen.
Er hatte den Zeitsprung ohne jeden Schaden überstanden.
Trotz einer mehrere Sekunden lang anhaltenden Schwäche, die er als Zeichen der vorausgegangenen Anspannungen deutete, empfand er eine vollkommene Genugtuung über das gerade Geschehene.
Er warf einen kurzen Blick auf die klobige Multifunktionsarmbanduhr, die sich unter seinem weiten Ärmel am linken Handgelenk befand. Ihm wurde sofort klar, dass ihm ab jetzt nur zehn bis fünfzehn Minuten blieben, um einige Fotos mit der Spezialkamera für den Beweis seines erfolgreichen Zeitsprunges machen zu können.
Es wurde also höchste Zeit.
Die versteckte Navigationseinheit an seinem präparierten Holzstab war ein technisches Wunderwerk in Miniformat und wies dem Zeitreisenden den Weg zur Schädelstätte, die außerhalb der Mauern der Stadt Jerusalem lag. Der Platz hieß auf hebräisch „Golgatha“. Es war der Ort, wo man den Juden Jesus Christus hingerichtet hatte, der sich als Sohn Gottes ausgab und dafür sterben musste. Der Zeitreisende wusste, dass er ganz in der Nähe seines Zieles angekommen war.
Draußen war der Himmel tief dunkel behangen. Eine bedrückende Atmosphäre machte sich breit. Alles wirkte finster, bis auf die Umgebung der drei Kreuze, die in einem seltsam anmutenden Licht standen.
Am Hügel Golgatha angekommen, sah er eine leblose Gestalt am mittleren Kreuz hängen, die eine Dornenkrone auf dem Kopf trug. Hände und Füße waren an den breiten Holzbalken mit großen Nägeln durchschlagen worden. Es roch nach Schweiß, Blut und Exkrementen.
War das der Mann, den er suchte? Den historischen Angaben zufolge musste er es sein.
Langsam schritt der Zeitreisende die sanfte Anhöhe des Hügels hinauf. Zwei römische Soldaten standen neben einigen Frauen in einiger Entfernung des Hinrichtungsplatzes. Sie hantierten mit einem Kleidungsstück herum. Offenbar waren sie sich nicht einig, wer es bekommen sollte. Sonst waren keine anderen Menschen mehr zugegen. Jedenfalls im Moment nicht. Die Gelegenheit war also günstig, unbemerkt an die Kreuzgruppe zu gelangen.
Der Mann aus der Zukunft näherte sich unauffällig von der Seite des in der Mitte stehenden Kreuzes, das höher und wuchtiger war als die übrigen zwei daneben. Es wies eine leichte Schräglage nach vorne auf. Das Gesicht des Mannes, der sich Jesus Christus nannte, war von ihm abgewandt und es schien, als würde der Kopf wie tot auf der Schulter liegen. Blut tropfte aus seinen langen, von Dornen durchdrungenen Haaren und aus einigen tiefen Wunden seines geschundenen Leibes.
Weder die beiden Soldaten noch die auf dem Boden hockenden Frauen beachteten ihn. Sie schauten noch nicht einmal zu ihm hinüber, obwohl er jetzt direkt neben dem Gekreuzigten stand, der keinen einzigen Laut von sich gab. Offensichtlich war dieser Christus schon gestorben. Es sah jedenfalls danach aus.
Trotzdem war der Zeitreisende vorsichtig und vermied jede noch so kleine Auffälligkeit.
Sollten ihm allerdings die anwesenden Personen aus irgendwelchen Gründen Schwierigkeiten bereiten, müsste er sie wohl oder übel mit seiner wirkungsvollen Destruktionswaffe unschädlich machen, zwar nicht gleich töten, dafür aber in eine tiefe Bewusstlosigkeit versetzen, um durch eine kurzfristig erzeugte Schockwelle im Gehirn die Erinnerungen dieser Menschen zu löschen.
Plötzlich erschrak der Zeitreisende, denn der vermeintliche Tote bewegt sich etwas. Der Mann in dem wallenden Gewand wich augenblicklich zurück und griff im nächsten Moment unter seine weite Kleidung, um die mitgeführte Spezialkamera hervor zu holen.
Noch während er den Sensor für die Einschaltfunktion betätigte, das Objektiv leise surrend automatisch herausfuhr, riss er die Kamera hoch, drückte mit zitternden Händen mehrmals hintereinander wie gebannt auf den Auslöser und beobachtete dabei konzentriert das Bild auf dem kleinen LCD-Display.
Gerade als er dabei war, eine Serie von Bildern aus nächster Nähe vom Kopf mit der Dornenkrone zu machen, drehte der Mann am Kreuz plötzlich wie in Zeitlupe sein Haupt zu ihm herum, sodass der Zeitreisende in sein gemartertes Gesicht sehen konnte. Dann hoben sich ohne jede Vorwarnung mit einem Schlag die blutverschmierten Lider des Gekreuzigten, dessen Augen jetzt den Kamera haltenden Mann mit sehnsüchtig verklärtem Blick anstarrten, fast so, als glaubte dieser Jesus, Gott selbst stünde vor ihm.
Rasch machte der Zeitreisende noch ein paar Aufnahmen, schaltete dann das Gerät aus und verstaute es hastig in einer kleinen Tasche unter seinem wallenden Gewand.
Die gesamte Aktion hatte kaum mehr als ein oder zwei Minuten gedauert.
Wieder setzte ein kurzes Triumphgefühl ein, welches den Zeitreisenden wie eine Welle der Begeisterung überkam. Doch er riss sich zusammen. Schnell wich die aufkommende Freude einer gespannten Konzentration. Ehe er seinen Emotionen freien Lauf lassen durfte, musste die Rückkehrphase reibungslos verlaufen. Er wollte seine Mission nicht durch eigene Disziplinlosigkeit gefährden.
Zwar war auch dieser Teil des Zeitsprunges theoretisch erprobt, aber die praktische Durchführung fand hier und jetzt statt. Ein maschineller Defekt war mit fast hundertprozentiger Sicherheit auszuschließen, die Tests waren perfekt gewesen, doch es gab genügend Faktoren, welche, im ungünstigsten Fall gleichzeitig auftretend, Schwierigkeiten auslösen konnten.
Doch alles schien reibungslos abzulaufen.
Der Zeitreisende öffnete die Sperrschaltung an seiner Multifunktions-Armbanduhr, die sofort ein hochsensibles Hypersignal an die Gegenstation sendete und die höher dimensionierte Energie der Zeitmaschine aktivierte. Das Transportfeld, das ihn wieder in die Zukunft befördern sollte, baute sich noch im gleichen Augenblick keine zwei Meter vor ihm knapp über den Boden als hell pulsierender Lichtbogen auf. Schnell ging er darauf zu und verschwand darin.
Eine seltsame Finsternis breite sich währenddessen in der gesamten Landschaft aus.
Bevor sich das Energieportal wieder schloss, drehte sich der Zeitreisende ein letztes Mal zu dem sterbenden Mann am Kreuz um, der anscheinend gerade sein volles Bewusstsein für wenige Sekunden wiedererlangt hatte und mit weit aufgerissenen Augen bittend zu ihm rüber sah.
Dann rief er mit laut klagender Stimme: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Im nächsten Moment sackte sein Kopf leblos nach vorne auf seine Brust. Dann starb er.
Die römischen Soldaten waren mittlerweile laut schreiend mit gesenkten Speeren herbeigeeilt, da sie vom hell flimmernden Lichtschein der Energieentladungen angelockt wurden und wissen wollten, was da vor sich ging.
Aber das Zeitportal war zusammen mit dem Zeitreisenden schon längst wieder verschwunden. Ungläubig starrten sich die beiden Soldaten gegenseitig an und konnten keine plausible Erklärung dafür finden, was sie gerade mit ihren eigenen Augen gesehen hatten.
Da der Mann am Kreuz zur gleichen Zeit gestorben war, brachten sie einfach die unerklärliche Lichterscheinung mit seinem Gott in Verbindung, von dem dieser Christus den Menschen immer erzählt hatte.
So muss es wohl gewesen sein, dachten sie und gaben sich mit dieser Feststellung zufrieden.
Nichts deutete darauf hin, dass ein Besucher aus der Zukunft ein gefährliches Zeitparadoxon in Kauf genommen hatte, nur weil er ein paar Fotos vom sterbenden Christus machen wollte, um damit seinen maßlosen Ehrgeiz zu befriedigen.
ENDE
(c)Heiwahoe
***
17. Die Frau in Weiß
Sind wir allein im Universum? Allein in Raum und Zeit? Allein in der Ewigkeit? Bis heute sind diese Fragen die interessantesten überhaupt, die es in der Astrophysik gibt. Doch eine schlüssige Antwort haben wir bis heute nicht gefunden. Wir Menschen können nur spekulieren. Kann im Universum noch anderes Leben entstanden sein und hat es sich bis zur Intelligenz entwickelt? Ist Bewusstsein und Intelligenz an ein Gehirn, wie das unsrige, gebunden oder kann beides auch außerhalb eines Gehirns existieren? Ich denke..., ja.
***
Die Amper nahe Fürstenfeldbruck bei Einbruch der Dunkelheit: aufsteigender Nebel; aus dem flachen steinigen Flussbett murmeln die vielen Stimmen des dahin plätschernden Wassers.
Ich war auf einem Spaziergang und hatte es gut bis zu einem abgelegenen Stück in den Amperauen bei Schöngeising geschafft. Gerade warf ich einen Blick über das vorbeifließende Wasser, als ich eine Gestalt am Ufer stehen sah.
Eigentlich nichts besonderes, doch in diesem Falle war ich sehr erstaunt darüber, denn das, was ich da sah, hatte ich nicht erwartet: eine große Blondine in einem eng anliegenden weißen Kleid, das über und über mit kleinen roten Blumen bedruckt war, die aussahen wie Rosen. Sie hätte die Zwillingsschwester von Marilyn Monroe, dieser verstorbenen, legendären US-amerikanischen Schauspielerin sein können, die ich mal irgendwo auf einem alten schwarz-weiß Poster gesehen habe, wie sie mit gespielter Laszivität versucht, ihren nach oben wehenden Rock zu bändigen, um der lüsternen Männerwelt das vorzuenthalten, wonach sie naturgemäß dürsten.
Die unbekannte Frau stand zögernd im ufernahen Gebüsch und fingerte mit ihren Händen ziemlich nervös an den Seiten ihres Kleides herum, gerade so, als ob ihr daran nichts gefallen würde. War ihr das deplatzierte Outfit peinlich? Ich vermutete jedenfalls so was ähnliches in diesem Moment. Aber vielleicht gab es ja auch noch andere Gründe für ihr ungewöhnliches Verhalten.
Wie auch immer. Sie hatte mich jedenfalls ziemlich stark abgelenkt, sodass ich für einige Augenblicke nicht so recht wusste, warum ich überhaupt hier draußen in der grünen Wald- und Wiesenlandschaft herum spazierte.
„Hallo“, sagte ich halblaut etwas verlegen und ging einige Schritte auf sie zu.
Sie antwortete mir nicht.
Ich bemerkte rein zufällig ihren wuchtigen Unterkiefer, der sie irgendwie unvorteilhaft erscheinen ließ und einfach nicht zu ihrer Gesamterscheinung passen wollte. Aber sie hatte eine unglaublich schöne Haut.
Die ganze Zeit über war ich mir bewusst, dass sie mich beobachtete. Ich empfand das als grobe Unhöflichkeit, zumal sie auf meine freundliche Begrüßung nicht reagierte. Vielleicht war sie nicht von hier oder verstand meine Sprache nicht, fiel mir dazu ein. Ich sinnierte darüber nach, warum sich eine derart schicke Frau in den matschigen Boden eines Flussufers stellte, nur um vorbeigehende Spaziergänger anzustarren.
Schließlich ging ich mit der nötigen Zurückhaltung weiter auf die blonde Schönheit zu.
„Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“ fragte ich sie direkt, als ich sie fast erreicht hatte.
Ich empfand nicht die geringste Vorahnung einer drohenden Gefahr.
Dann stand ich unmittelbar vor ihr, sozusagen von Angesicht zu Angesicht. Auch sie bewegte sich ein Stück auf mich zu und kam mir jedoch für meinen Geschmack viel zu nah, sodass ich gleich wieder einen Schritt zurückwich, um die neu eingetretene Situation nicht peinlich erscheinen zu lassen. Dafür konnte ich sie jetzt aber umso besser erkennen.
Anscheinend musterte sie mich ebenfalls interessiert von oben bis unten.
Sie war größer als ich, und ihre Augen waren dunkle, schattenhafte Löcher, als wären sie zu stark geschminkt worden. Um die breiten Lippen hatte sie einen hinterhältigen Zug, und aus der Nähe betrachtet verlor ihre Schönheit schnell an Faszination. Um ehrlich zu sein, war ich mehr als enttäuscht. Vielmehr rief in mir diese unbekannte Frau irgendwie eine unbestimmte, nicht näher erklärbare Angst hervor.
Ich schaute mich deshalb vorsichtig um und musste feststellen, dass ich mit ihr ganz allein hier am Flussufer stand. Weit und breit war niemand zu sehen und jede Hilfe fern.
Es wurde langsam noch dunkler.
Schattenhaft konnte ich die Konturen ihrer Muskeln sehen; offensichtlich war sie kräftig. Die komische Vorstellung drängte sich mir auf, dass diese Frau möglicherweise ein Produkt hinterwäldlerischer Inzucht sein könnte, da sich besonders in dieser Gegend in den letzten Jahren immer mehr Fremde herum trieben. Es konnte durchaus sein, dass sie eine von diesen herumvagabundierenden Personen war.
Dann roch ich etwas Schreckliches. Ich war wie vom Donner gerührt und beinahe hätte es mich umgehauen. Ein vertrauter und doch lähmender Geruch nach Schwefel haftete diesem weiblichen Geschöpf an.
Wieder stieg eine unbestimmte Furcht in mir hoch. Mein Gefühl sagte mir, dass hier irgendwas nicht stimmte. Ich wollte nur noch weg.
Anstatt zurück zum Wanderweg zu laufen, sprang ich einfach vom seichten Ufer hinab in den Fluss, der an dieser Stelle um diese Jahreszeit sehr niedrig war. Mühselig kämpfte ich mich mit meinen klobigen Wanderschuhen durchs fließende Wasser, indem ich mich vorsichtig über das flache Kiesbett vorwärts tastete, so schnell es mir nur möglich war. Hier gab es überall von der Strömung ausgespülte Strudeltöpfe.
Die seltsam anmutende Blondine schien mir zu folgen. Ängstlich schaute ich zu ihr hinüber, wobei ich voller Entsetzen noch aus dem Augenwinkel mitbekam, dass sich ihr makelloser Körper scheinbar unablässig und Schritt für Schritt in ein außerirdisches Wesen veränderte, das aussah wie ein Alien mit Teller großen Augen, schlankem Hals und einem oval geformten Schädel.
Am anderen Ufer angekommen griff ich in panischer Angst nach einem herab hängenden Busch und zog mich daran hoch. Ich stieß auf ein Gewirr von herum liegenden morschen Ästen und losen Zweigen im Unterholz. Ich sah nichts mehr und rannte kopflos in die wachsende Finsternis hinein, bis mich schließlich eine knorrige Wurzel zu Fall brachte.
Meine Gedanken kreisten wie ein Wirbelwind im Kopf herum, als ich auf dem feucht-kalten Waldboden lag. Dieser komische Geruch. Aber das war doch eine Frau, eine ganz normale Blondine, wie man sie überall antreffen kann, dachte ich halb benommen. Wieso kann sie sich ein Alien verwandeln? So was kann es nicht geben. Nie und nimmer, dachte ich.
Ich rappelte mich schnell wieder auf und schaute hinüber auf das vorbeifließende Wasser der trübe glitzernden Amper. Ich war schon ziemlich weit von der Stelle weg, wo ich das unheimliche Wesen gesehen hatte.
Offenbar hatte ich die Kreatur abgehängt. – Dachte ich jedenfalls.
Dieser auffällige Geruch – nie werde ich ihn vergessen, und wenn ich alt wie ein Methusalem werden sollte.
Dann sah ich hinter mir das kurze Aufflackern eines Lichtscheins.
Ich verlor keine Sekunde. Das unheimliche Wesen verfolgte mich hartnäckig wie der böse Wolf das scheue Reh.
Ich rannte noch weiter vom Fluss weg. Ich musste schnell machen, sonst konnte ich sie seitlich nicht umgehen, denn ich wollte wieder zurück auf die andere Seite der Amper, wo sich der Wanderweg befand.
In der Dunkelheit knackten auffällig hinter mir einige trockene Äste und dürre Zweige. Mir wurde buchstäblich schwindlig vor Angst.
Ich lief noch weiter in den Wald hinein, zerriss mir dabei Jacke und Hose und schürfte mir die Hände blutig.
Die Frau in Weiß, jetzt zu einem außerirdischen Alien mutiert, war mir immer noch dicht auf den Fersen und..., sie kam näher. Wie ein Geist schien sie mit Leichtigkeit durch die Bäume und Sträucher zu huschen, wobei ihr das sporadisch aufleuchtende Licht offenbar der Orientierung diente. Auch glaubte ich zu hören, dass sie einen Laut von sich gab, das wie ein schwaches Pfeifen klang.
Plötzlich stürzte ich eine baumlose Anhöhe hinunter und rutschte in eine mit hohem Laub bedeckte Waldmulde, die von einem kleinen Felsvorsprung überdeckt wurde. Ich presste mich instinktiv fest auf den Boden liegend in eine kleine Nische am Fuße des Felsens.
Nur wenige Sekunden später konnte ich aus dem Blickwinkel heraus meine außerirdische Verfolgerin deutlich am oberen Rand der Mulde wie einen dunklen Schatten erkennen. Ihr schwefelartiger Geruch drang mir in die Nase. Sie bewegte sich nicht und war ganz still. Ich konnte sie sogar atmen hören. Sie lauschte.
Wieder blitzte ein heller Lichtstrahl über mir auf.
Ich schob mich noch weiter unter den Felsen, scharrte so leise es ging Laub über meinen Körper und verhielt mich ganz ruhig.
Kurz darauf sah ich eine knöcherne Hand über dem kleinen Felsvorsprung hervor schießen, gefolgt vom ovalen Kopfansatz der außerirdischen Kreatur. Sie war also schon da und hatte mich die ganze Zeit scheinbar wie eine blutrünstige Jägerin verfolgt. Sobald ihre Augen über der kleinen Felskante auftauchten, würde sie mich sehen.
Mir stockte der Atem.
Ich zwang mich noch weiter an den schroffen Fels und unter das feucht faule Laub. Ich wollte so tief wie möglich darunter kriechen, bis ich vollständig darin verschwunden war. Moos und Erde rutschten mir in den Mund. Krabbelnde Insekten verhedderten sich in meinen Haaren und krochen mir in den Nacken hinab.
Dann schien plötzlich etwas ganz in meiner Nähe zu sein. Überall um mich herum hörte ich ein seltsames Keuchen und Rascheln.
Ich war wie gelähmt und verhielt mich mucksmäuschenstill. Auf einmal nahm ich kurz hinter einander drei gedämpfte Schreie wahr. Sie hatten irgendwie einen zärtlichen Ton, doch in meinen Ohren klang es wie die Liebe des Löwen zu einer scheuen Gazelle oder wie die Liebe einer hungrigen Riesenschlange zum verängstigten Kaninchen.
Die drei Schreie wurden wiederholt, diesmal aus kürzer Entfernung. Es waren drängende, verführerische Laute.
Da.
Mir standen die Haare zu Berge. Eine Gänsehaut überzog meinen zitternden Körper.
Knochige Hände schlossen sich von einer Sekunde auf die andere unvermittelt um meine beiden Fußgelenke. Ich strampelte mich verzweifelt mit einem Ruck los und schrie laut auf. Ein heftiger Wind umwehte mich daraufhin. Ich schlug mit den Armen um mich und schrie wie von Sinnen.
Dann fiel ich scheinbar ins Bodenlose. Ich schlug nirgendwo auf; ich fiel und fiel und fiel.
Schlagartig HELLIGKEIT, als würde jemand einen Lichtschalter betätigen.
Ich öffnete meine Augen und betrachtete zu meiner allergrößten Überraschung eine großartige Aussicht. Ich verstand gar nichts mehr. Wo war die mit dichtem Laub bedeckte Mulde und dem kleinen Felsen im nächtlichen Auenwald geblieben?
Träumte ich nur alles?
Ich erhob mich über den spätabendlichen Sonnenuntergang hinaus in die wolkenlose Atmosphäre und befand mich kurz darauf im hellen Tageslicht, das zu erreichen sich aufsteigende Lerchen bemühten.
Das pure Entsetzen erfasste mich über diesen plötzlichen Ortswechsel. Ich war derart überwältigt, dass ich auf eine primitive Stufe der Entwicklung zurückfiel. Mein Menschsein zerbröckelte. Ich spürte, wie die Hülle der menschlichen Natur wie ein dünnes Kostüm von mir abglitt und mit dem Wind davon flatterte.
Ich heulte wie ein kleines Kind. Aber meine lauten Schreie verhallten ungehört. Hier oben hörte mich niemand.
Nichts hielt mich auf oder begrenzte mich in irgendeiner Weise. Ich befand mich noch immer im freien Fall. Oder war es genau umgekehrt? Wurde ich nach oben gerissen?
Die unzähligen Lichter meiner schönen Stadt an der sich durch die weite Landschaft schlängelnden Amper verschwanden abrupt in der umfassenden Dunkelheit einer aufsteigenden Erdkugel. Als ich versuchte zu atmen, schien das anfangs nur schwer zu funktionieren. Doch ich riss mich zusammen. Die Kälte kroch mir unter die Haut. Ich fror wie ein Schneider.
Was hatte man mit mir vor? Wer oder was tat mir das an?
Dann bemerkte ich etwas seltsames.
Um mich herum war kein Wind zu hören, obwohl ich fiel. Aber wohin? Nach oben oder unten oder zur Seite? Ich wusste es nicht, weil ich meinen Orientierungssinn total verloren hatte.
Meine Haut fühlte sich an, als würde sie sich spannen. Meine Augäpfel traten heraus.
Die Welt unter mir war ein einziger purpurfarbener Schatten, zweigeteilt durch eine leuchtende Linie des Sonnenlichts. Auf der einen Seite breitete sich der Abend über das weite Land, und auf der anderen Seite ruhte es gleichzeitig im Licht des Tages. Ein ungewöhnlicher Anblick.
In meinem Körper rumorte es plötzlich. Mein Magen verkrampfte sich, meine Knie wurden weich und schlotterten unkontrolliert hin und her. Mein Herz pochte in meinem Brustkorb wie nach einem Tausend-Meter-Lauf. Ich hatte das Gefühl, dass sich meine Kehle langsam aber sicher zuschnürte. Es gab kein Entrinnen für mich. Ich dachte schon, ich müsste sterben. Weißer Schaum flog mir vom Mund, und genau in diesem Augenblick allerhöchster Pein meinte ich, wieder auf dem Boden zu sein.
Ich hustete und würgte; ich konnte den Brechreiz nicht mehr zurückhalten. Das Zusammenwirken von Schock, Kälte und Sauerstoffmangel hatte offensichtlich diese heftige Reaktion hervor gerufen. Ich erlitt einen Anfall, spuckte und keuchte, bis ich beinahe daran erstickt wäre.
Ganz langsam erholte sich schließlich mein Körper wieder. Nach einiger Zeit hatte ich mich dann soweit im Griff, dass ich klar denken konnte. Ich stemmte mich auf die Beine. Scheinbar befand ich mich in einem total finsteren Raum, alles um mich herum war pechschwarz. Nichts konnte ich erkennen, noch nicht einmal meine Hand vor mein Gesicht.
Ich erinnerte mich daran, dass ich ein Benzinfeuerzeug in meiner Tasche mit herum trug. Ich holte es heraus und rieb den Feuerstein.
Dann erschrak ich bis aufs Innerste meiner Knochen. Einen Augenblick lang verstand ich nicht, was ich da in der zitternden Flamme erblickte.
Waren das Raumanzüge? Reihen von glitzernden Objekten lösten sich wie von selbst auf: Dutzende von riesigen Augenpaaren glotzten mich aus der schummrigen Dunkelheit an.
Mit einem Schreckensgebrüll schleuderte ich das Feuerzeug vom mir weg, mitten in die mich anstarrenden Augen hinein. Ich machte einen Satz nach hinten, aber die Augenwesen verfolgten mich und griffen sogar mit ihren knöchernen Fingern nach mir. Bald spürte ich, wie sich ihre Klauen in meine Haut krallten.
Ich wusste nicht, was das für Kreaturen waren, aber ihre langen Arme fühlten sich irgendwie pflanzlich an, fast so wie biegsame Lianen.
Ich schrie und kämpfte um mein Leben wie ein wildes Tier in der Falle.
Immer wenn ich nach den aufdringlichen Augenwesen schlug, zogen sie sich ins Dunkel zurück. Danach herrschte für eine Weile absolute Ruhe.
Ich kämpfe mit der Kraft eines Wahnsinnigen. Beim Atmen brannten mir die Lungen, und meine Beine wackelten vor Erschöpfung. Um mich herum gurrte und wisperte es, und direkt in meinem Kopf hörte ich eine Frau, die ein sanftes Lied in einer unbekannten Sprache sang.
Ich spürte, wie ihre weichen Hände über meinen Rücken glitten. Eine der Kreatur zog mich näher zu sich heran. Ich war vom dauernden Kämpfen so erschöpft, dass ich die Arme nicht mehr hochbrachte.
Dann stand noch jemand hinter mir, und noch einer und noch einer. Es wurden anscheinend immer mehr.
Ich war umzingelt und schrie mit aller Kraft, so laut ich konnte.
Die unbekannten Wesen gurrten und wisperten in einem fort, und schließlich sprach eine Stimme zu mir. Es war fast so, als spreche ein Automat.
„Was müssen wir tun, damit du aufhörst zu schreien?“
Ich hörte nicht auf ihre Worte, sondern schrie einfach weiter. Nichts konnten sie für mich tun. Irgendwann versagten schließlich meine Stimmbänder und meine Schreie gingen in ein armseliges Krächzen über, bis ich gänzlich verstummte.
Ich kippte nach hinten weg und fiel der Länge nach auf den Boden. Die außerirdischen Wesen waren jetzt überall und streichelten mich mit ihren weichen, knöchern aussehenden Händen am ganzen Körper.
Sie redeten in meiner Sprache zu mir.
„Sollen wir dich ausziehen oder willst du das lieber selbst machen?“
Die Stimme war ohne Atem und klang etwa wie die eines zwölfjährigen Kindes.
Dann wieder ein gleißend heller Lichtblitz.
Von einer Sekunde auf die andere befand ich mich auf einem goldgelben Stoppelfeld, weit ab einer kleinen Siedlung, wo ich früher einmal in meiner Jugendzeit gewohnt hatte. Dann sah ich das Buchenwäldchen, das dunkel vor mir lag. Ich spielte Cowboy und Indianer mit meinen damaligen Schulfreunden. Wir hatten uns versteckt, als plötzlich diese außerirdischen Wesen wie aus dem Nichts vor mir standen und mich zu sich hochzogen.
Ich war damals noch ein kleiner Junge gewesen, und sie hatten mich getragen. Ja, sie hatten mich getragen. Ich konnte es mir bis heute nicht erklären, warum sie es getan haben. Dann muss ich wohl bewusstlos geworden sein. Später fanden mich meine Freunde schlafend am Waldrand vor. Meine rechte Körperseite war stellenweise blau angelaufen und schmerzte fürchterlich. Alle glaubten, ich sei vom Baum gefallen und hätte mich dabei verletzt.
Wie im Fieberwahn fing ich wieder an zu schreien.
„Lasst mich endlich in Ruhe. Ihr..., ihr...“
Die fremden Wesen fingerten abermals an mir herum, zogen mir die Jacke aus und öffneten mein Hemd. Ich vernahm ein schnelles Atmen und schnell hintereinander folgende kurze Schnapplaute. Dann zog man mir die Hose und den Rest meiner Kleidung aus. Offenbar wurde ich von ihnen eingehend untersucht. Hin und wieder summte eine Apparatur im Hintergrund und ein blaues Licht tastete meine Haut ab.
Ich spürte, wie man vehement an mir herum fummelte. Es gab ein Geknuffe und Gezerre. Nach einer Weile war Schluss damit.
„Ihr habt mich ausgezogen. Warum tut ihr das? Mir ist kalt.“
„Wir sind auch nackt“, antworteten sie.
Dann fuhr einer von ihnen fort. „Erinnerst du dich überhaupt nicht mehr an uns? Wir haben dich schon oft besucht, Erdenkind. Sieh her!“
Ich erblickte plötzlich mein kleines gelbes Holzauto. Es stand da, von einem pulsierenden Lichtkranz umgeben. Der verlorene Schatz meiner Kindheit. Ich hatte so sehr daran gehangen. Ich streckte meine Hand danach aus und legte sie behutsam darauf. Ja, es war wirklich mein über alles geliebtes gelb farbenes Holzauto, das ich im Alter von etwa vier oder fünf Jahren verloren hatte.
Noch viele Jahre später hatte ich davon geträumt. Ich habe es lange Zeit vermisst. Wie niedlich es doch war. Tränen liefen mir über die Wangen. Mein Herz tat mir weh, als ich es liebevoll von allen Seiten betrachtete. Dann verschwand es langsam wieder vor meinen Augen.
Schon damals waren diese fremden Wesen also bei mir gewesen. Ich erinnerte mich daran, wie ich als kleines Kind von ihnen besucht worden bin. Ich war mit ihnen zusammen geflogen..., ja geflogen. Sie haben mich in ihrem Raumschiff mitgenommen und danach wieder zurückgebracht.
Wieder ein heller Lichtblitz.
Ich war plötzlich allein und stand einsam auf dem schmalen Wanderweg in den nächtlichen Amperauen zwischen Fürstenfeldbruck und Schöngeising.
Obgleich ich rein körperlich die einzig anwesende Person war, hatte ich nicht das Gefühl, geistig allein zu sein. Von überall her hörte ich flüsternde Stimmen und leise Kommandos. Es war so, als würde unmittelbar vor mir ein unsichtbares Raumschiff gestartet. In der abendlichen Stille vernahm ich die verstümmelten Botschaften einer außerirdischen Rasse, die von ganz weit her irgendwo aus einer Ecke des Universums zu uns Menschen auf die Erde gekommen war.
Wie lange taten sie das schon, diese fremden Besucher aus dem All?
Vielleicht schon länger, als es uns Menschen auf der Erde gibt?
Irgendwann, wenn ich einmal alt und grau geworden bin, werden sie mich bestimmt für immer mitnehmen.
ENDE
(c)Heiwahoe
18. Die Plasmakrake aus den Tiefen des Alls
Sie kommt, um alles zu zerstören.
***
Ein gigantisches Etwas schwebte seit undenklichen Zeiten schwerelos durchs Tinten schwarze Universum.
Dank der besonderen Beschaffenheit seines einzigartigen plasmatischen Körperaufbaues überlebte es sogar in der absolut tödlichen Umgebung des Alls.
Es schlief nicht, denn es kannte keinen Schlaf; aber es ruhte und absorbierte die kosmische Strahlung im Weltall, die überall anzutreffen war. Sie wurde von seltsam geformten Höhlungen in seinem langen, Patronen förmigen Rumpf aufgefangen und ins Innere seines gewaltigen Körpers geleitet, wo sie in lebenserhaltende Energie umgewandelt wurde und als Nahrung für das monströs aussehende, Kraken ähnliche Gebilde diente. Auf diese Weise konnte es sich, ohne je richtigen Hunger zu leiden, durch die endlosen Weiten des Alls treiben lassen.
Es hatte acht gigantische Riesententakel, die sich wie geschmeidige Arme bewegten und normalerweise nicht zu sehen waren. Wenn diese seltsame Kreatur jedoch von irgend etwas bedroht wurde oder aus Mord- und Fressgier in wilde Ekstase geriet, schossen seine bläulich leuchtenden Fangarme wie riesige Torpedos hervor, die alles, was sie einmal umklammerten, nicht mehr losließen.
Es kannte keine Feinde. Daher betrachtete es alle anderen eventuell vorhandenen Lebewesen im Weltall als potenzielle Beute. Es gab nicht eine einzige Lebensform im Kosmos, die von ähnlicher Angriffslust beseelt war, wie diese unwirklich aussehende Kreatur aus plasmatischer Energie, die eine Ausgeburt der Hölle zu sein schien.
Wäre die Außenhaut mit dem menschlichen Auge sichtbar gewesen, so hätte man die Farbe dieser außerirdischen Monsterkrake als Violettbraun bezeichnen können, allerdings nur in einem Zustand der Ruhe. In der Erregung konnte es alle möglichen Farben annehmen.
Die einzige Beschaffenheit des Universums, die von dem Sinnesapparat des unheimlichen Wesens beständig überwacht wurde, war das gleißend helle Licht der vorbeiziehenden Sterne. Und während es wie ein einsamer Komet durch die unendlichen Weiten des Alls trieb, bewegte es sich, einzig und allein beeinflusst von der unterschiedlichen Strahlungsintensität der jeweiligen Sonne, entweder darauf zu oder driftete einfach an ihr achtlos vorbei, wenn es in dem System keine Planeten registrierte, auf denen sich Leben entwickelt hatte. Denn es trachte seit Urzeiten danach, alles was nicht unbelebten Ursprungs war, zu vernichten .
Doch jetzt spürte es eine aufregende Veränderung. Urplötzlich war das helle Licht eines unbekannten Gestirns am kosmischen Hintergrund aufgetaucht und hatte die empfindlichen Solarzellen in Unruhe versetzt. Außerdem registrierten die Sensoren einen blauen Planeten, auf dem sich üppiges Leben entwickelt hatte.
Der gigantische Oktopus wechselte abrupt die Farbe, seine schrecklichen Tentakel waren ausgefahren und trieben ungestüm tastend nach allen Seiten wie Suchantennen aus ihren zuckenden Vertiefungen hervor.
Zwei Instinkte trieben das Plasma-Ungeheuer jetzt an – der Mordinstinkt und seine animalische Fressgier auf alles, was man der lebendigen Materie zurechnen konnte.
Der Angriff auf die Erde begann. Ihr Untergang war in diesem Moment besiegelt.
Die Tatsache, dass die Natur des Universums ihre geheimnisvollen Seiten hatte, konnte man an der gewaltigen Größe dieses Monsters erkennen, das den anvisierten Erdplaneten um ein Vielfaches übertraf.
Das intergalaktische Mordungeheuer schwebte am Erdtrabanten vorbei und raste auf die Erde zu. Als es nahe genug war, drehte es sich in die Richtung seiner planetarischen Beute und holte mit seinen riesigen Tentakeln zum tödlichen Schlag aus. Die knotigen Enden durchschlugen die explodierende Atmosphäre und trafen mit erschütternden Donnerschlägen die auseinanderbrechende Erdoberfläche. Die übrigen Tentakeln griffen ebenfalls an und taten das Gleiche. Ein Inferno setzte ein. Die sterbende Erde barst zuerst etwas auseinander, hob sich in einem verzweifelten Todeskampf leicht nach oben und kollabierte kurz darauf schlagartig nach innen, als die wütenden Tentakel des gigantischen Monsters aus dem All den Planeten von allen Seiten fest umschlossen. Dann begann es damit, die glühenden Fragmente der rauchenden Kontinentalkrusten Stück für Stück in sich hinein zu schieben.
Die sich darbietende Apokalypse war unbeschreiblich.
Bald waren auch die letzten Reste des Planeten Erde im Schlund des kosmischen Plasma-Monsters verschwunden, das jetzt langsam weiter schwebte, den schrecklichen Ort der totalen Vernichtung hinter sich lassend, bis es bald irgendwo in den unendlichen Weiten eines Sternen übersäten Weltalls verschwunden war.
Zurück blieb ein einsam dahin torkelnder Mond, der, nun seines fesselnden Heimatplaneten beraubt, irgendwann in die Sonne stürzen würde.
Das Meer ist weg! Gerade kam
es im Radio. Die Flüsse fließen
noch. Die Seen sind voll wie nie.
Die Brunnen laufen über. Und
die Sonne ist auch noch da.
Und der Mond. Und die Sterne. [ ... ]
Herzflimmern
Ich schaue zur späten Stunde in die tiefe Nacht hinein.
Mein Herz scheint nach dir zu weinen.
Ich warte auf eine Nachricht von dir, bin traurig und trinke silbernes [ ... ]