Apostolykta, die Reise des Ythul/Prolog

Leise schnaufend blieben unsere Sumpfläufer stehen, als ich und Ynthylla sie zum Halt brachten. Vor uns erhob sich endlich das Ziel unserer Reise: die große Stadt der Zyvianti, Zhanka. In meiner Heimat Yren war sie im Krieg stets ein Mythos geblieben, und die zyviantischen Kriegerinnen hatten so überschwänglich von diesem Ort erzählt, dass wir ihre Worte nie ernst genommen hatten. Doch nun, vor dem imposanten Tor stehend, das wie ein Schwert aus dem Boden der Hochebene dieses Landes emporragte, wirkte jede ihrer Beschreibungen zu schwach, um es gerecht zu beschreiben. Ynthylla neben mir schien vor Staunen den Mund nicht mehr schließen zu können, und kichernd sprang ich von meinem Sumpfläufer ab.
„Wer hätte gedacht, dass meine Schwester so begeisterungsfähig ist“, sagte ich in spöttischem Ton. Ihr Mund schloss sich, und mit einem Salto sprang sie von ihrem Läufer, zog einen ihrer grünschwarzen Dolche und hielt ihn mir sanft an die Kehle. „Vergiss nicht, mit wem du sprichst, Priesterchen“, flüsterte sie mit einem Grinsen, und ich lachte auf. Sie zog den Dolch zurück und straffte ihre grünschwarze Lederrüstung, die eng an ihrem Körper lag, um sie in den Schatten nahezu unsichtbar werden zu lassen. Meine Robe wirkte dagegen schwer und für den Kampf ungeeignet.
Als sie die Handschuhe über ihre Hände zog und sie straffte, deutete sie auf zwei Frauen, die offenbar Kriegerinnen der Zyvianti waren. Sie trugen rotsilbrige Rüstungen, waren etwa zwei Köpfe größer als wir beide und kamen stampfend vom Tor auf uns zu. Mit einem Klaps auf die Seite unserer Sumpfläufer schickten wir sie zurück nach Yren. Der lange Ritt hierher auf die Hochebene hatte ihnen viel Kraft gekostet, doch den Weg in unsere sumpfige Heimat würden sie auch ohne uns finden.
Der Zustrom von allerlei Karawanen in die Hauptstadt schien nicht abzureißen. Wir standen etwas abseits des Hauptwegs und waren eher Nebenfiguren in dem Treiben, das sich vor uns ausbreitete. Doch unsere fremdartige Kleidung und die Sumpfläufer, die dunklen, großen Katzen ähnelten, mussten Aufmerksamkeit erregt haben. Die zwei Kriegerinnen, die nun bei uns ankamen – imposant wie die kämpferischen Frauen, die ich kannte – beäugten uns, vor allem mich, mit großem Misstrauen. Schon im Krieg war es ein Problem gewesen, dass eben jene Frauen mich als Mann verachteten. Zu Beginn des Konflikts mit den Utlortern hatten sie zunächst im Vorteil gelegen und unsere Hilfe abgelehnt. Doch als sie mit den Schattenkreaturen konfrontiert wurden und wir ihnen mit der Macht unseres schlafenden Gottes halfen, diese zu bezwingen, änderten viele ihre Meinung. Dennoch war eine unterschwellige Verachtung gegenüber meinen Brüdern stets geblieben.
„Seid ihr die Ynorrer, die hier in die Armee integriert werden sollen?“, fragte die ältere der beiden. Ich wollte etwas erwidern, doch die andere Wache, eine deutlich jüngere, zog sofort ihren Speer und raunte mich an: „Ihr Männer redet nur, wenn man es euch befiehlt.“ Sie wirkte noch sehr jung auf mich – zu jung, um die Schrecken des Krieges erlebt zu haben, aber indoktriniert von dieser Abneigung gegenüber Männern. Die ältere Wache riss ihr den Speer aus der Hand und entschuldigte sich bei mir. Die Verwunderung der Jüngeren stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben, doch mit befehlendem Ton sagte die Ältere: „Das sind die Verbündeten unserer Kaiserin. Zeig gefälligst Respekt, egal ob er ein Mann ist.“ Widerwillig nickte die Jüngere, nahm ihren Speer zurück und wandte sich der Hauptstraße zu, als wolle sie uns nicht länger beachten.
Nun ergriff Ynthylla das Wort und konnte einen spöttischen Kommentar über die Jüngere nicht unterdrücken: „Ja, so war ich auch damals, weißt du noch, Ythul? So erbarmungslos den Regeln folgend.“ Ich spürte, wie eine Spannung, die kurz gebrochen schien, sich wieder aufbaute, und schüttelte nur den Kopf. Meine Schwester war forsch und durchsetzungsstark, aber ihr fehlte das Geschick der Diplomatie.


Ich klopfte an meiner Robe herum, versuchte die Situation zu entschärfen und sagte: „Was meine vorlaute Schwester sagen möchte, ist, dass wir auf Anweisung unseres Abtes Ynaran hier sind. Wie ihr bereits erwähnt habt, sollen wir in eure Armee als Priesterritter integriert werden, und wir sind stolz, in eurer Hauptstadt zu sein.“ Ynthylla schnaufte genervt, und auch die ältere Wache konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Sie schaute kurz von mir zu Ynthylla und meinte: „Genau wie ihr Ynorrer seid – gut mit Worten und in den Schatten tötlich.“ Dann schlug sie ihrer Begleiterin auf den Rücken und deutete an, dass wir ihnen folgen sollten. Ich nickte, doch Ynthylla zog nur eine Augenbraue hoch und warf mir einen grimmigen Blick zu. Sie war schon immer etwas aufbrausend, aber ich wusste mit ihren Launen umzugehen. Wenn sich ihre Wut auf mich richtete, konnte ich sie zumindest davon abhalten, Dummheiten zu begehen.
Als wir den beiden Wachen folgten, erhob sich vor uns das große, schwertartige Tor, das aus einem rotschwarzen Stein oder Holz zu bestehen schien. Die Morgensonne beleuchtete es, doch es schien das Licht zu verschlucken. Der weiße Marmor, der das Tor umgab, leuchtete hell vor der Bergwand, in die die Stadt hineingebaut war. Der Weg zum Tor war geschickt aufgeteilt: ein Teil für die handelnden Karawanen, ein anderer für Reisende. Mir war solche ausgeklügelte Architektur und Ordnung fremd. In meiner Heimat Yren waren der Sumpf und seine Wege meist verwinkelt, und von einem Tag auf den anderen konnte ein Pfad auch einfach verschwinden. Doch hier lief alles nach einer Ordnung ab, die alle Menschen in sich vereinte.
Bei dem Tor angekommen, traten den Wachen, die uns zunächst in die Stadt bringen wollten, zwei seltsam gekleidete Frauen entgegen. Sie trugen gelbschwarze Gewänder, die im Morgenwind wehten. Ihre langen, blonden Haare hingen schimmernd im Sonnenlicht über ihre Schultern, und ihre Gesichter waren von einem schwarzen Schleier verdeckt, der sie unnahbar und mystisch wirken ließ. Ich hatte von diesen Frauen gehört – so schlank und groß, dass sie weniger menschlich als vielmehr wie entrückte, göttliche Wesen erschienen. Die Priesterinnen hatten von ihnen erzählt, doch sie nun leibhaftig zu sehen, ließ mich erschauern, ohne dass ich verstand, warum.
Sie stellten sich den Wachen in den Weg, und die Tatsache, dass die Wachen schon gut zwei Köpfe größer als wir waren, diese Frauen sie jedoch noch einmal um einen Kopf überragten, machte es noch unheimlicher. Ihre Bewegungen waren langsam und grazil, sodass es beinahe wirkte, als würden sie über den Boden schweben. Die jüngere Wache fragte die Priesterinnen, warum sie sich in den Weg stellten, doch eine der beiden machte eine Handbewegung und hauchte ein leises „Schweig“, das so eiskalt klang, dass selbst meine Schwester zu erzittern schien. Ynthylla und ich schauten uns an, unschlüssig, wie es weitergehen sollte. Da wandte sich die ältere Wache an uns und sagte mit einem leichten Beben auf den Lippen: „Ynorrer, der Klerus will euch sehen, bevor ihr zu eurem Abt gebracht werdet. Folgt den beiden Priesterinnen, sie werden euch zum Tempel der Stadt und zur Hohen Priesterin führen.“
Eine der seltsamen Frauen legte den Kopf zur Seite, was irgendwie wirkte, als wäre sie amüsiert darüber, wie wir hier standen und innerlich zitterten. Es schien auch, als würde durch den schwarzen Schleier, an der Stelle, wo ich ihre Augen vermutete, ein gelbes Licht durchblitzen. Ynthylla hatte die Hände an ihre Dolche gelegt, und ich umschloss mit den Händen den Lederriemen des Beutels, der mir um die Schulter hing. Ynthylla durchbrach die Stille mit ihrer markanten Furchtlosigkeit: „Ob nun metallgepanzerte Frauen oder geisterhafte Priesterinnen – bei Ynorr, wir haben eine lange Reise hinter uns und würden gerne einmal ankommen.“ Meine Hand schloss sich noch fester um den Riemen meines Beutels, da ich fürchtete, diese übernatürlich wirkenden Frauen könnten das als Beleidigung auffassen. Doch ich sollte überrascht werden. Sie nickten Ynthylla zu und deuteten mit einer Geste ihrer Arme an, dass wir ihnen folgen sollten. Meine Schwester grinste triumphierend in meine Richtung, und ich musste ihr nickend zugestehen, dass ich froh war, sie an meiner Seite zu wissen. Die zwei Wachen postierten sich wieder am Tor, und wir folgten diesen unwirklichen Wesen in die Stadt.


Die Stadt, die sich nun vor mir auffächerte, war ein absolutes Bild von Ordnung und gebändigtem Chaos. Der Platz, über den wir liefen, war gepflastert mit rotweißen Steinen, die in ihrem Muster ein flammendes Schwert ergaben – ein Symbol, das mich an die Göttin Zyva erinnerte. Alle Häuser, die den großen Platz umgaben, waren in derselben Bauweise errichtet: würfelförmig, aus weißem Sandstein, mit Fenstern an exakt denselben Stellen. Nichts deutete auf eine Abweichung hin. Der Platz selbst wurde als Marktplatz genutzt, mit gezogenen Markierungen, die genau vorgaben, wo die Händler ihre Stände aufbauen und die Kunden sich bewegen sollten. Im Vergleich dazu wäre ein Platz dieser Größe in Yren wohl ein einziges Chaos – die verwinkelten Sumpfwege meiner Heimat boten selten solche Übersicht.
Während wir den Priesterinnen folgten, hielt ich gezielt Ausschau nach anderen Männern. Auf dem Markt sah ich fast ausschließlich Frauen – Händlerinnen, Käuferinnen, Kriegerinnen –, und ich fragte mich einmal mehr, wie dieses Volk sich fortpflanzte, wenn Männer hier so verachtet wurden. Kannten diese Frauen überhaupt so etwas wie Liebe zu einem Mann? Beziehungen zwischen Frauen waren mir bekannt, doch keine der Kriegerinnen oder Priesterinnen, die ich im Krieg kennengelernt hatte, sprach je darüber. Es schien, als empfänden sie es als etwas Widerliches, das Thema auch nur anzuschneiden. Diese Kultur verwirrte mich, und ich versuchte krampfhaft, sie zu verstehen.
Ynthylla kam merklich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sie drehte sich mehrmals im Kreis, um alles um sich herum aufzusaugen, und griff irgendwann aufgeregt nach meiner Schulter, um auf den großen Palast zu zeigen, der sich thronend über der Stadt erhob. Mehr ein Berg als ein Gebäude, war er aus der Felswand der Hochebene geschlagen. Einige Stockwerke bestanden aus diesem seltsamen, holzartigen Gestein, das wie ein schwarzes Band im Himmel wirkte und das Licht ebenso zu verschlucken schien wie das Tor. Ich stieß sie von mir weg und deutete ihr an, sich zusammenzureißen und nicht zu vergessen, warum wir hier waren. Sie grummelte vor sich hin, unterdrückte aber ihre erstaunten Ausrufe und fokussierte sich wieder auf unseren Weg.
Eine der Priesterinnen wandte sich zu uns um. Wir mussten für sie – so war mein Eindruck – wie süße Miniaturmenschen gewirkt haben. Mit ihrer kalten, hauchigen Stimme sagte sie: „Wenn wir beim Tempel ankommen, bitten wir euch, eure Schuhe vor den Stufen auszuziehen. Denn die Steine des Tempels wurden von Zyva berührt, und nur lebendiges Fleisch darf auf ihnen gehen.“ Ihre Stimme klang seltsam freundlich, doch etwas darin war beißend und tat mir in den Ohren weh. Ynthylla lachte: „Das passt gut – nach dem langen Ritt tun meine Füße in den engen Stiefeln schon weh.“ Wieder nickte die Priesterin Ynthylla zu und wandte sich dann in die Richtung des Weges, den wir gingen. Ich unterließ es, meine Schwester weiter dazu zu bringen, sich vorsichtiger auszudrücken. Es war ohnehin meist von Versagen gekrönt – ihr Mund flatterte schneller mit Worten als ihre Dolche.
Als wir den Platz hinter uns gelassen hatten, bogen wir in eine Seitenstraße ein, die seltsam wirkte. Keine Menschen waren auf ihr zu sehen. Ich drehte mich kurz um, um den Kontrast für mich zu erfassen: Es schien, als wäre diese Straße abgetrennt von der lebendigen Welt. Sie war eingerahmt von rotschwarzen, vibrierenden Steinen, die einen dumpfen Ton von sich gaben – ein Summen, das durch meine Schädelknochen direkt in mein Gehirn drang. Auch Ynthylla wirkte merklich angespannter, und alles deutete darauf hin, dass diese Priesterinnen uns zu einem Ort führten, an dem sie unbeobachtet mit uns sein konnten. Ynthylla nahm einen ihrer Dolche in die Hand und ging ein Stück vor mir. Ich versuchte, schlau daraus zu werden, doch die vibrierenden Steine schienen meinen Verstand zu benebeln. Links und rechts standen die üblichen Häuser, und durch die Fenster konnte ich erkennen, dass die Innenräume ganz normal eingerichtet waren. Doch der Eindruck, dass diese Straße nicht mehr Teil unserer Realität war, verstärkte sich, als ich zwei Frauen neben einem Haus stehen sah, die keinerlei Notiz von uns oder den Priesterinnen nahmen. Vielleicht waren sie den Anblick der Priesterinnen gewohnt, aber selbst auf dem Platz hatte meine Anwesenheit als Mann viele Blicke auf sich gezogen.
Ein ungutes Gefühl beschlich mich, als die Priesterinnen vor einer Felswand zum Stehen kamen. Ynthylla umschloss den Griff ihres Dolches fester, bereit, bei der kleinsten aggressiven Regung einzugreifen. Da wandte sich die Priesterin, die schon auf dem Platz mit uns gesprochen hatte, an uns, während die andere unverständliche Sprüche murmelte. „Bitte zieht nun, wie erwähnt, eure Schuhe aus. Keine Sorge, ihr könnt sie hier stehen lassen – es wird sie niemand stehlen.“ Wieder durchzog mich ein kalter Schauer, denn etwas in ihrer Stimme flüsterte meinem Unterbewusstsein von Gefahr. Ich murmelte ein leises Gebet zu Ynorr, meinem Gott, dass er mich und meine Schwester führen möge, und hoffte auf sein Flüstern in den Schatten. Ynthylla steckte ihren Dolch ein, schüttelte die Lederstiefel von ihren Füßen – wobei einer gegen die Felswand flog – und kicherte. Sie ließ ihre Zehen tanzen, sichtlich froh, die Stiefel los zu sein. Ich zog meine mit etwas mehr Würde aus, stellte sie ordentlich nebeneinander und tat dasselbe mit Ynthyllas Stiefeln, ohne ein Wort zu sagen.
Die Priesterin, die die Sprüche gemurmelt hatte, machte nun eine Handbewegung an der Felswand. Plötzlich brach sich das Licht, die Wand verschwand, und dahinter erstreckte sich eine Treppe, die hoch in den Berg führte. Die Steine, aus denen sie erbaut war, glimmten seltsam bläulich, wie Fackeln mit blauer Flamme. Ynthylla war von diesem Kunststück der Illusion so gefesselt, dass ihr Mund wieder einmal offen stand. Wir hatten von der Illusionsmagie der Priesterinnen gehört und einige ihrer Künste in Yren gesehen – nun fühlte ich mich bestätigt, dass wir mit ihnen unentdeckt und ohne Übergang in eine andere Existenzebene gelangt waren. Die Priesterin, die den Weg geöffnet hatte, stieg die Treppe hinauf. Wir wollten ihr schon folgen, doch die andere hielt uns zurück und sagte: „Wartet noch, Ynorrer. Die Hohe Priesterin muss sich vorbereiten, damit ihr in ihrer Gegenwart nicht erblindet.“
Ynthylla zog die Augenbrauen hoch und fragte kichernd: „Wie, erblinden? Ist diese Frau etwa ein Stern, der so hell leuchtet?“ Ich stieß ihr leicht mit dem Ellbogen in die Seite und warf ihr einen mahnenden Blick zu. Leise erklärte ich: „Man sagt, die Hohen Priesterinnen wurden vom Feuer Zyvas berührt – ihre Augen sollen so hell strahlen, dass man erblinden kann, wenn man sie direkt ansieht.“ Ich deutete auf den Schleier der Priesterin vor uns, und Ynthylla schien zu begreifen. Mit einem scherzhaften Flüstern meinte sie: „Ythul, und ich dachte, sie wären durch ihr Feuer so entstellt, dass sie ihr Gesicht nicht zu zeigen trauen.“ Ich rollte die Augen, doch ein seltsam leises Kichern schien von der Priesterin vor uns auszugehen. Es überraschte mich – ich hatte geglaubt, diese Wesen würden Humor oder Lachen gar nicht kennen.
Dann erklang ein leises, gehauchtes Flüstern die Treppe hinunter: „Kinder Ynorrs, kommt herauf.“ Die Priesterin vor uns fiel auf die Knie, sodass wir unsicher waren, was wir tun sollten. Wieder ertönte die Stimme, diesmal mit einem fast mütterlichen Ton: „Keine Angst, Kinder Ynorrs. Die Schwester ist noch jung und muss noch viel lernen. Kommt nun herauf, habt keine Angst.“ Ynthylla und ich sahen uns an. Natürlich schritt sie schnellen Fußes die Treppe hinauf, drehte sich zu mir um und sagte: „Na los, Ythul, ich glaube, sie wird uns nicht nochmal hinaufbitten.“ Ich seufzte und folgte ihr, doch ein gruseliges Erschauern begleitete mich – irgendetwas stimmte hier nicht.
Die Treppe wand sich um eine Kurve, sodass ich Ynthylla kurz aus den Augen verlor. Je höher wir kamen, desto deutlicher wurde ein Singsang, der durch die Steine der Treppe widerzuhallen schien. Es waren Worte, die ich nicht verstand, doch sie klangen wie ein Ritual, das dauerhaft aufrechterhalten wurde – ein leises Echo, das einen seltsamen Schwindel in mir auslöste, als würde der Boden unter mir leicht schwanken. Als ich Ynthylla wieder eingeholt hatte, sagte sie zu mir: „Ich glaube, wenn der Krieg vorbei ist, müssen diese Priesterinnen uns ihren Gesang beibringen. So schöne Töne sollten wir auch in Yren haben.“ Sie sprach aus, was ich dachte, denn der Gesang vermittelte eine trügerische Sicherheit, die fast unheimlich wirkte.




Als wir dem Ende der Treppe näher kamen, erhob sich ein Gebäude, das in Glanz und Helligkeit alles übertraf, was ich in meinem Leben je gesehen hatte. Es war sichtlich aus dem Berg geschlagen – ein Hinweis darauf, dass diese Steine schon hier waren, als die Stadt vor Äonen erbaut wurde. Vier mächtige Säulen stützten ein Dach, das den Thron in der Mitte der Halle überspannte. An den Seiten des Weges, der zu diesem Thron führte, standen Priesterinnen, die den Singsang anstimmten und ihn unablässig wiederholten. Er erinnerte mich seltsam an ein Wiegenlied, das Mütter in Yren ihren Kindern vorsangen, mit diesem beruhigenden Effekt – und doch lag eine unterschwellige Kälte darin. Ynthylla wirkte so entspannt, wie ich sie noch nie gesehen hatte, ein ungewohnter Anblick, der mich beunruhigte.
Das blaue Licht der Steine flimmerte leicht, als würden die Flammen der unsichtbaren Fackeln unruhig tanzen, und es fröstelte mich an den Füßen. Als ich nach unten schaute, bemerkte ich, dass der Saum meiner Robe angesengt wirkte, als stünde ich knapp über einem Feuer. Ich zog den Stoff hoch, und Ynthylla fragte verwundert, was mit mir los sei. Ich erinnerte mich an die Worte der Priesterin – die Steine seien von Zyva berührt, und nur lebendiges Fleisch könne darauf gehen. Neugierig ließ ich den Stoff wieder fallen und beobachtete, wie einzelne Fasern, die zu nah am Boden waren, sich auflösten. Es entstand kein Geruch, der an Verbrennen erinnerte; sie verschwanden einfach, als hätten sie nie existiert. Alle Legenden, die uns erzählt worden waren, schienen in diesem Moment zusammenzufließen und uns einzuhämmern, dass dies keine Märchen, sondern Tatsachen waren.
Auf dem Thron in der Tempelhalle saß eine Frau, die unerwartet dunkel wirkte. Ihr Kleid, das wie eine zweite Haut an ihr lag, war nicht strahlend, wie ich erwartet hatte, sondern rotschwarz. Ihre Hände trugen Zeichnungen auf der Haut, die wie Textstellen aus einem alten Buch wirkten. Die Fingernägel, weiß und scharf, erinnerten an die Krallen einer nächtlichen Kreatur auf Beutefang. Ihr blondes Haar war so lang, dass es über die Seiten des Thrones wie ein Umhang auf den Boden floss. Auf ihrem Kopf ruhte ein goldener Kranz, der den schwarzen Schleier vor ihrem Gesicht hielt, den ich vermutet hatte. Sie hob eine Hand – eine langsame, gebieterische Geste, die uns andeutete, näher zu kommen. Von Ehrfurcht ergriffen schritten wir langsam den blau leuchtenden Weg entlang, das Flimmern des Lichts wie ein stummer Ruf aus einer anderen Welt.
Als wir kurz davor waren, die Stufen zum Throngebäude zu erreichen, machte die Hohe Priesterin eine Geste, die uns zum Stoppen brachte. Ein Schauer durchfuhr mich, denn ein Druck bohrte sich in meinen Verstand, den ich nicht zuordnen konnte. Ich legte die Hände an meinen Kopf – er fühlte sich an, als wöge er mehrere Felsen –, und Ynthylla erkannte die Zeichen, die ich immer zeigte, wenn Ynorrs Flüstern zu mir drang. Sie stützte mich und griff mir unter den rechten Arm. Die Hohe Priesterin erhob sich von ihrem Thron. Ihr schwarzer Schleier bestand aus dickem, dunklem Stoff, und doch schien ab und zu ein kurzes Licht hindurchzublitzen. Ynthylla fragte mich eindringlich, was los sei, doch ich konnte nichts sagen. Etwas lastete auf meinem Verstand oder hielt ihn zurück.
Dann erklang die Stimme der Hohen Priesterin, mehr ein Hauch als eine Stimme: „Kinder Ynorrs, ihr steht hier auf den Steinen, die von Zyva, der Aufgestiegenen Göttin, berührt wurden. Ihr seid in ihrer Stadt und sollt Teil ihrer Armee werden.“ Ich konnte nicht aufschauen, hörte nur ihre Worte. Es fühlte sich an, als läge eine unsichtbare Hand in meinem Nacken und drückte meinen Kopf nach unten. Ynthylla schien von diesem Druck unberührt, stand unbeeindruckt neben mir und hielt mich fest. Wieder hauchte die Stimme: „Ich bin Fringa, die Hohe Priesterin dieser Stadt, und frage euch, Kinder Ynorrs: Wie kann euer Gott Zyva dienen, und wie gedenkt ihr, den Zyvianti zu dienen?“





Ich traute meinen Ohren nicht. Hatte diese Frau gesagt, Ynorr solle ihrer Göttin dienen? Plötzlich verschwand der Druck aus meinem Nacken, und ich blickte auf. Fringa stand da, ihre Körperhaltung strahlte einen Stolz aus, der auf mich wie blanker Hohn wirkte. Mein Mund fand seine Kraft wieder, und gestützt von meiner Schwester antwortete ich: „Ynorr ist der Schläfer im Schatten, der Flüsterer, der alles gleich macht und alles ungleich hält. In unseren Träumen spricht er zu uns, in den Schatten führt sein Name zu Angst und Entsetzen. Er war es, der die Schattenkreaturen der Utlorter verbannte, denn auch sie fürchten ihn. Er dient nicht – er leitet und deckt auf.“ Meine Stimme wurde fester. „Wie könnt ihr sagen, er würde eurer Göttin dienen? Ynorr ktaghn!“ Den letzten Satz sprachen Ynthylla und ich gemeinsam, und ein tiefes Dröhnen ging von den Steinen aus, begleitet von einem leisen Flüstern, das Ynorrs Namen zu tragen schien. Die Säulen bebten leicht, als würden sie auf unsere Worte antworten.
Der Singsang der Priesterinnen brach ab, das blaue Licht wurde schwächer. Fringa ballte die Fäuste, ihre langen Fingernägel gruben sich in ihre Haut, und Blut rann über ihre Finger. Ich spürte, dass etwas in Gang gesetzt worden war, das weder ich noch Ynthylla begriffen. Doch sollten wir unseren Gott so beleidigen lassen – Diener ihrer Göttin, die nicht einmal eingriff, als ihre Priesterinnen von den Schattenkreaturen zerfetzt wurden? Alle Ruhe und trügerische Sicherheit verflog. Fringas Stimme war jetzt kein Hauchen mehr, sondern ein boshaftes Röcheln: „Ihr habt mit der Stimme Ynorrs an diesem Ort gesprochen, der Zyva geweiht ist. Dass die Steine so auf euch reagieren, zeigt nur, dass ihr eine Gefahr für die Zyvianti darstellt.“
Ynthylla griff nach ihrem Dolch und sagte mit einem bitteren Lachen: „Wisst ihr, in all den Kriegsjahren, als die Utlorter euch schlachteten und fraßen, habe ich keine einzige Hohe Priesterin gesehen. Wo wart ihr, als eure Schwestern bei lebendigem Leib verschlungen wurden? Wo wart ihr, als wir sie retteten – als Ynorr, nicht eure Zyva, sie vom Wahnsinn der Utlorter befreite?“ Jedes Wort stach schärfer, als ihre Dolche es je könnten. Mit einem dumpfen Knirschen verblasste der blaue Schimmer der Steine und wich einem tiefen Schwarz – jenem Schwarz, das wir schon am Tor und am Palast gesehen hatten. Die Priesterinnen, die den Singsang angestimmt hatten, knieten zitternd am Boden. Von der Treppe hinter uns erklang ein Poltern – das schwere Stapfen von Rüstungen, das näher kam. Fringa straffte ihren Körper, als würde sie sich auf das vorbereiten, was die Stufen heraufstieg.
Wir drehten uns um, und plötzlich sah ich einen grünschwarzen Schimmer, der die Treppe heraufkroch. Die Farbe Ynorrs an diesem Ort? Die wabernde, kriechende Masse nahm die Form einer Frau an und kam auf mich zu. Ich blickte mich um – alles war in ein tiefes Schwarzgrün getaucht, und die Zeit schien stillzustehen. Es war absolut ruhig. Ynthylla, die mich eben noch stützte, wirkte wie festgefroren. Was geschah hier? Verlor ich den Verstand, oder griff Ynorr wieder auf seine Weise in die Realität der Schatten ein? Als die Frau – nur ein grünschwarzer Umriss mit einem schwachen Glühen in ihren Konturen – bei mir ankam, legte sie ihre Hand auf meine Wange. Ein kalter Hauch ging von ihr aus, und ich spürte eine seltsame Verbindung zu etwas, das Teil von mir zu sein schien, ohne dass ich es je geahnt hatte. Eine sanfte, anmutige Stimme sprach zu mir: „Folge nicht den Gesetzen der Menschen, folge dem Willen Ynorrs, dem Vater.“ Ein widerwärtiger Pfeifton schrillte in meinen Ohren, und ich kniff angestrengt die Augen zusammen.
Plötzlich hörte ich Ynthylla neben mir wieder atmen. Der Geruch der kalten Luft dieses Ortes kehrte zurück, der Druck auf meinen Verstand und die Schwäche meines Körpers waren gewichen. Ich blickte auf: Vor der Treppe standen etwa zwanzig Ritterinnen in ihren rotsilbrigen Rüstungen, Schwerter und Speere gezückt, bereit zum Kampf. An der Spitze des Trupps stand eine Frau mit kurzem, pechschwarzem Haar und stechenden grünen Augen. Sie hatte ihren goldverzierten Helm unter den Arm geklemmt, und ihre goldschimmernde Rüstung – mit dem flammenden Schwert Zyvas auf dem Brustpanzer – strahlte eine Autorität aus, die keinen Zweifel duldete. Ynthylla und ich hörten nur, wie Fringa röchelte: „Wie könnt ihr es wagen…“ Doch die Frau in der goldenen Rüstung unterbrach sie streng: „Ich wage es, Fringa, weil die Exarchin sehr verwundert ist, dass die Ynorrer in euren Tempel geleitet wurden.“ Sie kam langsam auf uns zu und fuhr ernst fort: „In euren Tempel der Illusionen unserer Göttin – was habt ihr euch dabei gedacht?“
Die etwa zwanzig Frauen folgten ihrer Anführerin mit etwas Abstand. Aus Ritzen und Spalten des Tempels traten nun Ritterinnen in rotschwarzen Rüstungen hervor, alle mit Schleiern vor dem Gesicht. Alles, was wir an Sicherheit geglaubt hatten, brach zusammen – zwischen diesen titanischen Frauen wirkten wir wie kleine Insekten. Fringa polterte: „Ihr, Elisha, habt mit eurem Rang als Meisterritterin eure Kompetenzen weit überschritten. Wenn die Exarchin erfährt, dass der Name ihres Gottes die Steine erzittern ließ, wird sie die Gefahr genauso erkennen wie ich.“ Die Frau, die sie Elisha nannte, stand nun vor uns – ein Gebilde aus Muskeln, Metall und unerschütterlicher Autorität. Sie schaute auf uns herab, lächelte bissig und wandte sich wieder Fringa zu: „Kompetenzen überschritten? Die Befehle und Dekrete der großen Drei Schwestern sind mehr als eindeutig, Fringa. Alle drei – Exarchin, Kaiserritterin und Kaiserin – haben bestimmt, dass die Ynorrer Teil von Zyvas Armee werden. Wenn hier jemand Kompetenzen überschreitet, dann seid ihr es. Ich rate euch, Priesterin der Illusionen, es nicht weiter zu tun.“
Fringa grummelte merklich. Ynthylla drehte sich zu ihr um, ein triumphierendes Lächeln auf dem Gesicht. Ich war bemüht, die Vision zu verarbeiten, und nahm das Geschehen um mich herum wie durch einen wabernden Nebel wahr. Ich hörte nur ein Grummeln und Röcheln hinter mir, als Elisha uns mit einem kurzen Wink ihrer Hand befahl, ihrem Trupp zu folgen. Ynthylla schaute begeistert zu Elisha auf, als hätte sie eine Göttin gesehen – sie war alles, was Ynthylla verkörperte, nur doppelt so groß und stark. Ich folgte mühsam, während Ynthylla mich an der Hand die Stufen hinunterführte, die nun wie gewöhnliche Stufen wirkten. Die Priesterin, die unten am Eingang auf die Knie gefallen war, erschien jetzt auch nicht mehr so unnatürlich wie zuvor. Tempel der Illusionen – es dämmerte mir, und ich fragte mich, was von alledem echt gewesen war.
Mein Blick fiel auf die Priesterin am Eingang, um deren Kopf ein grünschwarzer Schimmer zu wabern schien. Es traf mich so tief, dass ich sie anstarrte, bis Ynthylla es bemerkte. In ihrer Ungeduld verpasste sie mir eine Ohrfeige, deren Schmerz mich aus meiner Trance riss. Kichernd sagte sie: „Du schaust diese Priesterin ja an, als wolltest du sie im Sumpf heiraten, Bruder.“ Ihre Augenbrauen tanzten auf eine Weise, die keinen Zweifel an ihrer Andeutung ließ.
Sowohl die Ohrfeige als auch ihre Andeutung rissen mich zurück in die Realität. Ich versuchte, es wegzulächeln, schlug ihr spielerisch gegen die Schulter und deutete an, dass wir uns beeilen müssten, da Elisha mit ihren Kriegerinnen einen größeren Vorsprung gewann. Ynthylla hob drohend einen Finger und sagte: „Darüber reden wir noch später, Priesterlein.“ Ich zwang mich, den Blick von der am Boden knienden Priesterin abzuwenden, und folgte meiner Schwester, um mit den Kriegerinnen Schritt zu halten. Die zwei Frauen am Wegesrand musterten uns jetzt so misstrauisch, wie ich es erwartet hätte. Alles seit dem Verlassen des großen Platzes mit den zwei Priesterinnen schien eine Illusion gewesen zu sein.
Elisha war mit ihren Ritterinnen wie eine Welle, die uns durch die Menschenmassen auf dem Platz schob. Jeder wich zurück, wagte es nicht, ihnen im Weg zu stehen. Wir gingen eine Straße hinauf, die vom Platz abging, bis am Ende – einsam zwischen den Würfelhäusern – ein scheinbar neu errichtetes Holzhaus stand, das seltsam wirkte. Eine dunkle Aura umgab es, und das Holz sah faserig und beinahe morsch aus, wie die Bauten unserer Heimat. Ein leises Flüstern, kaum hörbar, schien aus den Wänden zu dringen, als wir näher kamen. Es roch modrig nach Yren, und eine dezente Feuchtigkeit stieg vom Boden auf. Mein Herz schlug beruhigt – es war wie ein Splitter des Ortes, den meine Schwester und ich Zuhause nannten.
Mit einem beinahe donnernden, metallischen Klirren kamen die etwa zwanzig Ritterinnen zum Stehen. Elisha wandte sich uns zu, musterte uns mit einem prüfenden Blick und sprach mit militärischer Korrektheit: „Ynorrer, hier ist eure Stelle, an der alle Beziehungen zwischen uns, den Zyvianti, und euch zusammenlaufen. Hier residiert euer Abt Ynaran. Ihr werdet ihn kurz sprechen, bevor ihr euch den neuen Rekrutinnen anschließt, um Teil eines Trupps wie diesem zu werden.“ Kaum hatte sie geendet, riefen die zwanzig Ritterinnen im Chor: „Das Feuer Zyvas!“ Eine kurze Stille wurde durch ein Knarzen unterbrochen, als die Tür des seltsamen Hauses sich öffnete. „Sagt mal ‚Ynorr ktaghn‘ so laut Elisha, mit eurem Trupp – das würde unsere Beziehungen sicher bereichern.“ Die Stimme gehörte unserem Abt Ynaran, der lächelnd in der Tür stand. Seine langen schwarzen Haare lagen wie ein Umhang über seinem Rücken und berührten fast den Boden. Das eine metallene Auge, ein Relikt aus Yren, fixierte die Meisterritterin, während sein schimmerndes grünschwarzes Auge väterlich auf mich und meine Schwester blickte.
Elisha räusperte sich und antwortete: „Abt, das überlasse ich euren Abgesandten.“ In ihrem Gesicht war deutlich der Respekt vor unserem Abt zu spüren. Es verwunderte mich, da er ein Mann war und Elisha mich mit misstrauischen Blicken beäugte. Ich vermutete, dass seine Macht und Autorität über den Orden sie dazu zwangen. „Ythul, Ynthylla, es ist schön, euch wohlbehalten hier zu sehen. Ich hoffe, die etwas schwierigen Umstände haben euch nicht allzu große Schwierigkeiten bereitet“, sagte er, die Hände in die Hüften gestemmt. Das Sonnenlicht des Morgens, das nun über der Stadtmauer aufging, spielte mit den grünschwarzen Runen auf seiner Robe, die in ihm zu leuchten schienen. Ich nickte, wollte keine Aufmerksamkeit auf das lenken, was geschehen war – ich wusste nicht, wie Elisha reagieren würde. Doch was dachte ich mir dabei? Ynthylla polterte los: „Vater, diese Priesterin – Fringa oder wie sie heißt – hat mich und Ythul in ihren Tempel gelockt und uns gefragt, wie Ynorr Zyva dienen könne und wie wir Ynorrer den Zyvianti dienen könnten. Wir sind doch keine Bittsteller! Ein toller Empfang – weniger für Verbündete, eher für Gefangene mit der Erlaubnis, sich unter bestimmten Umständen zu bewegen.“
Jedes Wort von ihr schnitt durch die Luft, und ich meinte, ein anerkennendes Grinsen auf Elishas Gesicht zu sehen. Das gesteigerte Interesse ging also nicht nur von Ynthylla aus. Ich grinste innerlich und nahm mir vor, sie damit zu konfrontieren, falls sie mich wieder wegen meines Blicks auf die Priesterin ansprach. Ynaran trat einen Schritt aus dem Haus und schüttelte spöttisch den Kopf. Er zupfte an den Ärmeln seiner Robe und sprach mit gesenktem Blick zu Elisha: „Nun weiß ich zumindest, warum ihr so einen Aufmarsch vor meinem Haus veranstaltet, Elisha. Ich hoffe, ihr habt der Hohen Priesterin klargemacht, dass Exarchin Tregora jeden Einfluss ihres Klerus unterbunden und dem Militär die Verantwortung über mich und meine Kinder übertragen hat.“ Elisha nickte kurz, und man spürte die Scham, die in ihr aufstieg. Der Abt zog einen Zettel hervor, dessen Ränder goldverziert waren, und las: „Exarchin Tregora des Klerus der Zyva, Oberste Richterin und Sprecherin der Zyvianti und Seherin des Feuers der Göttin, erkläre hiermit, dass die Angelegenheiten der Ynorrer eine rein militärische sind. Dem Klerus und allen seinen Untertanen ist es untersagt, den Ablauf der militärischen Arbeit in irgendeiner Form zu stören.“
Er drehte das Blatt um, hielt es Elisha entgegen und deutete auf die drei Namen, die das Dokument unterzeichnet hatten: Neben der Exarchin stand Kaiserritterin Takra, und in großer, goldener Schrift prangte Kaiserin Ilena. Ich schloss daraus, dass dies die „Drei Schwestern“ waren, von denen Elisha im Tempel gesprochen hatte. Sie knirschte nun mit den Zähnen und presste eine Entschuldigung hervor. Der Abt winkte Ynthylla und mich zu sich, und wir folgten seinem Befehl, stellten uns neben ihn. Dann deutete er auf uns und sagte ernster: „Wenn nicht einmal meine Kinder vor euren fanatischen Priesterinnen sicher sind, wie kann ich sicher sein, dass sie in euren Kasernen geschützt sind? Wir Ynorrer verteidigen mit unserem Blut und im Atem Ynorrs die Mauer, die ihr gegen die Utlorter errichtet habt. Eure Kaiserin hat uns eingeladen – behandelt man so seine Gäste? Angesichts dieser Lage sollte ich mir das Bündnis…“
Er wurde vom Rasseln des Metalls der Ritterinnen unterbrochen, die sich mit einem Schlag tief verneigten. Auch Elisha neigte den Kopf in Richtung einer Gestalt, die den kleinen Platz vor dem Haus betrat – ein Schatten, dessen Umhang im Morgenlicht kurz aufblitzte.
Die Frau, die nun auf den Platz trat, hatte wallendes schwarzes Haar, Augen in einer Mischung aus Gelb und Blau und trug eine goldrot schimmernde Rüstung, die wie die schwarzgelben Kleider der Priesterinnen wirkte – weniger menschlich, mehr wie ein außergöttliches Wesen. Ein leises Knistern umgab sie, als würde die Luft um ihre Rüstung vibrieren. Ihre Autorität ließ selbst Ynthylla unsicher zucken. „Ich entschuldige mich aufrichtig für das Verhalten der Hohen Priesterin, Ynaran. Sie wird von meiner Schwester Tregora streng bestraft werden. Dafür stehe ich mit meinem Wort und meiner Autorität als Kaiserritterin.“ Ich schaute unsicher an unserem Abt vorbei und schloss, da sie sich Kaiserritterin nannte, dass dies Takra sein musste. Wenn sie, eine der obersten Autoritäten, schon mehr göttlich als menschlich wirkte, wie mochte dann erst Kaiserin Ilena sein?
Doch Ynaran zeigte sich weder beeindruckt noch unsicher. Seine Stimme trug Enttäuschung, aber auch die Sanftheit der Diplomatie: „Takra, dass ihr hier auftaucht, erfreut mich. Es zeigt, dass den Anführern der Zyvianti das Wohl ihrer Verbündeten am Herzen liegt. Gut, wenn Tregora diese Frau bestraft, soll dem Unrecht Genüge getan sein. Doch weitere Einmischungen oder Verunsicherungen meiner Kinder dulde ich nicht. Wir sind hier, weil ihr es wolltet – wir haben weder darum gebeten, noch wurde es uns befohlen. Ihr wart beim Treffen mit eurer Kaiserin dabei und wisst genau, was vereinbart wurde.“ Ein Stolz keimte in meinem Herzen auf, diesen Mann meinen Ziehvater nennen zu dürfen. Ynorrs Entschlossenheit wirkte durch ihn, und selbst diese titanischen Frauen konnten ihm nichts entgegensetzen.
Takra machte eine Handbewegung, und Elisha sowie ihre Kriegerinnen versammelten sich hinter ihr. „Ich weiß sehr wohl, Ynaran, was vereinbart wurde. Bereitet eure Kinder vor – die Karren mit den Rekrutinnen brechen bald auf. Wählt, welches eurer Kinder in welche Stadt geht: eines nach Tinarra, die Stadt des Aufstiegs unserer Göttin, und eines nach Tonorru, die Stadt des Kampfes und des Feuers. Zyvas Feuer!“ Der Abt nickte, und Takra zog sich mit Elishas Trupp in die Stadt zurück. Es faszinierte mich, wie eine Frau wie Elisha auf einen Fingerschnippen bedingungslos folgte und diese absolute Autorität akzeptierte. Ich schaute zu meiner Schwester – in ihren Augen lag ein Staunen, das tiefer ging als Worte. Hatte ihr Blick auf Elisha schon Ehrfurcht ausgedrückt, so schien sie nun zu überlegen, ob sie nicht lieber Takra anstelle von Ynorr anbeten sollte.
Ynaran drehte sich zu uns um und lachte leise über Ynthyllas Reaktion, die es grummelnd hinnahm. Dann breitete er die Arme aus und umarmte uns als seine Ziehkinder. Es war ein schöner, vertrauter Moment, der den Krieg und diesen fremden Ort für einen kurzen Augenblick verblassen ließ.
Als er die Umarmung löste, deutete er mit der Hand auf die Tür und sagte: „Lasst euch ein letztes Mal von den Schatten Yrens einhüllen.“ Einhüllen war das richtige Wort, denn aus der Tür waberte ein kalter, vertrauter Schatten – mehr ein dunkler Nebel –, der sich an der Schwelle bewegte wie ein eingesperrtes Tier, dessen Wildheit durch jede Zuckung betont wurde. Ich kannte diese Schattenmanifestationen gut und trat mit Zuversicht hinein. Im Haus löste sich der Schatten nicht auf; er wurde dichter und griff nach meinem Verstand. Viele Stimmen zuckten wild durch meinen Kopf, wollten Panik und Angst auslösen, doch ich hielt meinen Geist ruhig und still. Als ich bemerkte, dass Ynthylla neben mir stand, sprachen wir beide den Singsang unseres Ordens: „Ynorr … Ynorr … Schat Grutol schich Yren Ktaghn.“ Sofort schwiegen die Stimmen, und der Nebel zog sich mit einem leisen Zischen an die Wände des Hauses zurück, als würde er vor Furcht erstarren und so viel Abstand wie möglich suchen.
An seiner Stelle erklang in unseren Köpfen das vertraute Summen Ynorrs – undeutlich, aber stabilisierend inmitten der Schatten. Da kniete der Abt vor einem Götzen Ynorrs, der imposant auf einem Felsenthron saß, in einer menschlich wirkenden Form. Sein Kopf war durchzogen von tentakelartigen Fortsätzen, ebenso seine Arme. Lange Finger, die in noch längeren Krallen endeten, umfassten entschlossen die Lehnen des Thrones. Seine aufgeschwemmten Augen blickten in verschiedene Richtungen, und seine Fledermausschwingen waren stolz ausgebreitet, als könnte er jederzeit losfliegen. Es musste ein Götze direkt aus Yren sein – die Zyvianti hätten so etwas unmöglich hier gefunden oder hergestellt. Den Abt kniend zu sehen, obwohl er eigentlich hinter uns hätte stehen sollen, entlockte mir ein Grinsen. Ich sprach: „Ynorr ktaghn, Vater, eure Schattentäuschungen sind wirklich unvergleichlich.“
Ich schaute zu Ynthylla, die nickte und mit einem seltenen, lobenden Ausdruck sagte: „Hast du ihre Gesichter gesehen? Ich glaube, sie hatten noch nie Kontakt mit dem echten Ynaran.“ Ihr Kichern erhellte das dunkle Haus, und die Schatten zogen sich noch weiter zurück. Ynaran erhob sich schwerfällig, stützte sich auf einen Stab mit einem kleinen Götzen Ynorrs darauf, und drehte sich zu uns um. Das größte Merkmal seiner Täuschung waren die Haare – in Wirklichkeit hatte er eine vernarbte Glatze, ebenso wie der Rest seines Kopfes. Das metallene Auge, ein Relikt aus Yren, flackerte leicht, als hätte es während eines Rituals durch eine Schattenkreatur Leben erhalten. Seine grünschwarze Robe war vergilbt und matt, und ihm fehlte die rechte Hand. Sein vernarbter Mund verzog sich zu einem Lächeln, und er sprach sanft, aber tadelnd: „Lasst es gut sein und redet nicht zu viel darüber, meine Kinder.“
Anscheinend war seine Tarnung so effektiv, dass die Zyvianti seine wahre Gestalt wirklich noch nie gesehen hatten. Es verwunderte mich nicht, dass er zu dieser List griff – er musste sich schließlich gegenüber fast außergöttlichen Wesen behaupten.
Ynaran deutete mit seinem Stab in die Ecke des Raumes. Dort lauerte ein dicker, schwarzer Schatten, der etwas zu verbergen schien, denn er wehrte sich gegen den Einfluss des Abts. Doch Ynaran zeichnete eine Rune in die Luft und sprach: „Ynorr ktaghn.“ Der Schatten wich mit einem Ruck zur Seite aus und enthüllte einen Tisch, auf dem drei Kerzen standen. Ihre Flammen brannten nicht in vertrautem Orangerot, sondern gaben einen schwarzgrünen Schein ab, der die Schatten eher vertrieb, als sie zu erhellen. Auf dem Tisch lagen zwei Ringe, deren Umrisse im seltsamen Licht schwer erkennbar waren. Der eine zeigte eine eingearbeitete Figur, die im Schimmer pulsierte, als würde sie atmen, während der andere einen schwarzen Stein trug, der das Licht zu schlucken schien. Ynaran schnaufte angestrengt – die Schattentäuschung forderte ihren Tribut, und auch diese Enthüllung schien ihn viel Kraft zu kosten. Mit zitternder Stimme sagte er: „Ythul und Ynthylla, ich werde heute diese Welt im Schatten unseres Vaters verlassen…“
Ein Schock durchfuhr mich, schlimmer als alle Schatten oder Feuergöttinnen es je vermocht hätten. Ynthylla zitterte am ganzen Körper, Tränen liefen ihr über die Wangen. Ich wollte etwas sagen, doch sein metallenes Auge flammte auf, und seine tiefe, grollende Stimme unterbrach mich: „Wir haben keine Zeit für menschliche Schwächen – diese Ringe, meine Kinder, sind mit Ynorrs Macht erfüllt. Ythul, du wirst den Ring der Tochter Ynorrs, Ythalla, an dich nehmen, und du, meine Tochter, den Ring mit dem Blute Ynorrs. Ihr werdet die Herren der Schatten sein und über den Orden herrschen.“ Plötzlich hustete er heftig; grünschwarzes Blut spritzte aus seinem Mund und tropfte schwer auf den Boden, wo es zischend verdampfte. Der Anblick war unerträglich. Ich stürzte zu ihm, um ihn zu stützen, doch er stieß mich mit überraschender Kraft zurück, sodass ich auf den Boden fiel.
Grollend rollte seine Stimme durch den Raum: „Ythul, denk an deine Aufgabe und daran, dass die Gesetze des Ordens nicht gebrochen werden dürfen.“ Mit diesen Worten erlosch das Licht in seinem metallenen Auge, und seine Hand ließ den Stab fallen. Der Stab zerfiel zu weißgrauem Staub, der langsam zu Boden schwebte. Mit einem letzten Blick seines grünschwarzen Auges, der über Ynthylla und mich glitt, verzog sich sein Gesicht zu einem Lächeln. Dann kamen die Schatten über ihn, und er löste sich in ihnen auf. Seine Robe fiel leer zu Boden, und er wurde eins mit den Schatten Ynorrs. Ein letztes Flüstern – sein Flüstern – mischte sich in das Summen der anderen Stimmen, kaum hörbar, doch voller väterlicher Wärme.
Ich saß zitternd auf dem Boden und sah, wie die Schatten, die Ynaran verschlungen hatten, vom Götzen Ynorrs aufgesaugt wurden. Es war, als hätte die Präsenz der Schatten mit ihm diese Ebene verlassen, und seine Worte – dass wir ein letztes Mal von den Schatten Yrens umschlossen sein sollten – hallten bedrückend in meinem Kopf wider. Sonnenlicht fiel nun ins Haus, was zuvor unmöglich schien. Ynthylla griff schluchzend nach Ynarans Robe und weinte hinein. Ich erhob mich, ging zu meiner Schwester, umarmte sie, und wir trauerten gemeinsam. Der lange Weg, der Krieg, das Erlebnis mit der Hohen Priesterin und nun der Übergang unseres Ziehvaters in die Schatten – all das war in diesem Moment zu viel.
Ynthylla löste sich von mir, warf in einem Ausbruch von Wut einen ihrer Dolche in die Wand des Hauses und schrie ihren Schmerz heraus, die Fäuste geballt. Es fühlte sich an, als würde das Haus erzittern. Doch dann sank sie zu Boden und sagte schluchzend: „Ythul, er ist fort. Was sollen wir jetzt tun? Er hat uns einfach allein gelassen.“ Ich versuchte, meinen eigenen Schmerz für sie herunterzuschlucken, kniete mich neben sie, legte meine Hand auf ihre Schulter und sprach: „Schwester, er wird immer ein Teil des Flüsterns der Schatten sein. Er ist jetzt in den Gedanken Ynorrs, ein Teil von ihm und seiner Macht. Alles, was er für sich und uns wollte, war eine sichere Zukunft – und die hat er uns anvertraut.“ Ynthylla griff nach meiner Hand und weinte bitterlich.
Ihr Schrei hatte Wachen angelockt, denn es klopfte zaghaft, aber bestimmt an der Tür. Ynthylla zuckte mit dem Blick zur Tür, und ich hatte Mühe, ihren Zorn zu zügeln. Eindringlich sagte ich: „Denk an die Verantwortung, die wir nun für alle Ynorrer tragen.“ Das ließ sie durchatmen. Ich ging zur Tür, während sie sich die Tränen aus dem Gesicht wischte und zum Tisch eilte, um die Ringe in eine ihrer Taschen zu stecken, bevor ich öffnete. Das Tageslicht, das mich von außen anstrahlte, blendete mich leicht. Vor mir standen zwei Ritterinnen in rotsilbernen Rüstungen, ihre Helme unter den Arm geklemmt. Das Gesicht der einen war zur Hälfte so vernarbt, dass es aussah, als hätte eine schwere Brandwunde oder eine Kralle es aufgerissen – in den Rillen der Narben meinte ich die Form von Utlorter-Kreaturen zu erkennen. Ihr rechtes Auge fehlte. Die andere stand mit dem rechten Arm in die Hüfte gestemmt; ihr linker Arm fehlte bis zur Schulter. Beide hatten kurz geschnittene, streng zurückgebundene Haare, die exakt gleich wirkten. Das Klirren ihrer Rüstungen hallte leise nach.
Die vernarbte Ritterin sprach mit misstrauischem Ton: „Wir haben einen Schrei aus diesem Haus gehört. Ist hier alles in Ordnung bei euch Ynorrern? Takra hat befohlen, dafür zu sorgen, dass es euch an nichts fehlt.“ Ich winkte Ynthylla zu, mir Ynarans Robe zu bringen. Als sie es tat, liefen ihr erneut Tränen übers Gesicht, und sie wandte sich augenblicklich von den Wachen ab, während sie sie mir reichte. Ich faltete die Robe zusammen, hielt sie den Ritterinnen entgegen und sagte mit einem Stocken in der Stimme: „Abt Ynaran ist in die Schatten übergegangen – oder, wie ihr es sagen würdet, er hat diese Welt verlassen und ist erhoben worden. Bei seinem Ende hat er mich und meine Schwester beauftragt, den Orden in seinem Sinne fortzuführen. Bitte meldet dies Takra und wem auch immer ihr es melden müsst. Verschiebt unsere Ankunft in den Städten Tinarra und Tonorru um drei Tage, denn meine Schwester und ich müssen trauern und die Ynorrer unter uns ordnen.“
Der Schock über diese Nachricht zeichnete sich deutlich in ihren Gesichtern ab. Sie nickten mir zu, gaben Anweisung, diesen Ort nicht zu verlassen, bis weitere Instruktionen kämen, postierten zwei weitere Wachen in der Nähe des Hauses und verschwanden dann. Ich atmete durch und hoffte, dass die oberen Drei Schwestern Einsicht zeigen und uns diese Tage gewähren würden. Ich drehte mich um, legte die Robe auf den Tisch, wo die Ringe gelegen hatten, und wandte mich an Ynthylla: „Schwester, lass uns ihn stolz machen und die Ynorrer in die Sicherheit führen, die er für uns wollte.“ Daraufhin entkam Ynthylla ein Lächeln, und ihr Gesicht nahm die selbstbewusste Form an, die ich von ihr kannte. Sie griff in ihre Tasche, nahm die Ringe heraus, öffnete die Hand und sagte beinahe andächtig: „Ynorr ktaghn.“ Ich antwortete ihr, nahm den Ring der Ythalla, und genauso wie wir zusammen gesprochen hatten, zogen wir die Ringe über die Finger. Ein leichtes Kribbeln lief durch meine Hand, und ein leises Echo – Ynarans Flüstern – schien kurz im Summen der Schatten mitzuschwingen.
Das Vibrieren des Rings an meinem Finger wandelte sich in einen dumpfen Ton, und die Welt schien wieder stillzustehen. Wie im Tempel war alles in dieses grünschwarze Muster eingefroren. Ich sah, wie Ynthylla vor mir stand und den Ring betrachtete, in dessen Stein ein Nebel waberte. Dann hörte ich die Worte Ynarans, die wie ein Echo wiederhallten: „Die Gesetze des Ordens dürfen nicht gebrochen werden.“ Immer und immer wieder. Doch plötzlich durchbrach eine Hand den dumpfen Ton, und die grünschimmernde Frau erschien vor mir, dieses Mal deutlicher sichtbar. Sie war immer noch ein Schimmer, doch ich meinte, tentakelartige Fortsätze an ihrem Kopf auszumachen. Ihre Stimme, kalt und meinen Verstand durchströmend, sprach, begleitet von einem eisigen Hauch: „Achte nicht auf die Gesetze der Menschen, folge dem Willen Ynorrs, dem Vater.“ Ein stechender Schmerz erschütterte meinen Kopf, der Ring wurde schwer wie Blei, und ein grelles Pfeifen ließ die Zeit um mich herum wieder weiterlaufen.
Im selben Augenblick fing Ynthylla mich auf, denn ich stürzte nach vorn – mein Körper hatte seine Kraft verloren. Ich atmete schwer, alles schien erschüttert. Was wollte diese Vision mir sagen? Warum sagte sie mir ständig, ich solle mich nicht an die Gesetze der Menschen halten? Bei Ynorr, was sollte das bedeuten? Ynthylla, die Mühe hatte, mich zu halten, fragte: „Was will dir wer sagen, Ythul? Hat Ynorr dich wieder berührt?“ Ich ballte die Fäuste, versuchte, meinen Verstand die Kontrolle über meinen Körper zurückgewinnen zu lassen. Nach mehrfachem tiefem Einatmen und Ynthyllas Zureden gelang es mir, und ich spürte wieder den Boden unter meinen Füßen. Ynthylla liefen erneut Tränen über das Gesicht; ihre Augen waren rot und unterlaufen. Zitternd sagte sie: „Du darfst mich nicht auch noch im Stich lassen, Ythul. Nicht jetzt. Ynorr wird dich mir nicht wegnehmen, sonst werde ich ihn finden und dich zurückholen!“
Ich lächelte angestrengt und legte meine Hand an ihre Wange. „Pass auf, was du sagst, Schattentänzerin, sonst holt dich Ynorr vor mir.“ Sie griff nach meiner Hand, legte ihre Stirn an meine und sagte trotzig: „Ich bestimme, wann du gehst, Priesterlein, und nicht Ynorr.“ Wir lachten zusammen, und ich fühlte, wie das den Stress ein wenig fortnahm. Doch die Vision, die mich überkommen hatte, verwirrte mich, und eine leise Unruhe durchdrang meine Gedanken. Einige Zeit verging, und ich erzählte Ynthylla von den Dingen, die ich gesehen hatte, und wie wir den Orden unter uns aufteilen würden. Wir einigten uns darauf, dass die Schattenkrieger unter Ynthylla stehen sollten und die Priester unter mir. Es wirkte, als hätte unser Ziehvater diesen Moment perfekt organisiert – und es sollte nicht bei der Organisation seines Nachlebens bleiben.
Als es erneut an der Tür klopfte, stand dieses Mal Elisha davor, ein Schreiben in der Hand. Sie übergab es mir mit einem respektvollen Blick, der Ynarans Größe zu ehren schien, und sagte: „Ynaran war ein großer Mann Ynorrs. Diesen Brief übergab er der Kaiserin im Wissen, dass er bald diese Welt verlassen würde. Lest ihn, und ihr werdet verstehen, was als Nächstes geschehen wird.“ Ich schaute sie verblüfft an. Ynthylla trat zu mir, und gemeinsam lasen wir den Brief, den Ynaran uns hinterlassen hatte.
„Wenn ihr diese Zeilen lest, meine Kinder, bin ich schon in den Schatten Ynorrs. Ich möchte euch sagen, dass ich euch als Meister der Schatten immer bewundert habe – eure Entschlossenheit, für die Freiheit unseres Volkes zu kämpfen. Als Ziehvater habe ich euch geliebt wie mein eigenes Fleisch und Blut seit jenem Tag, an dem ich euch auf das Wort Ynorrs aus dem Opferritual der Utlorter befreite. Nun liegt es an euch, unser Volk zu stärken und zu führen. Um weiter Kraft gegen die Utlorter zu entwickeln, brauchen wir die Zyvianti. Ihr sollt sie in den Lehren des Schattenlesens und des Schattenkrieges ausbilden. Zeigt ihnen die Wege Ynorrs, doch erforscht auch ihre Rituale und ihre Göttin Zyva. Nehmt an der Kriegerausbildung teil und stählt euren Körper, wie sie es tun, damit die Verbindung zwischen Zyvianti und Ynorrern enger wird. Der Orden wird durch mein Schattenflüstern von meinem Ableben erfahren, und ich habe Anweisungen an die Brüder und Schwestern geschickt, sodass ihr eurer Aufgabe hier in Zhanka nachkommen könnt.“
Tränen fielen von mir und Ynthylla auf das Blatt, und da geschah es: Ein Text bildete sich, begleitet von einem leisen Flüstern der Schatten, das zuvor unsichtbar gewesen war. Ynthylla flüsterte mir zu: „Emotionale gebundene Schrift, Ythul – er wollte etwas vor den Zyvianti verstecken.“ Ich nickte ihr zu, drehte mich leicht von Elisha weg, und gemeinsam lasen wir die Worte, die sich offenbart hatten:
„Berührt nicht das Feuer ihrer Göttin. Geht nicht hindurch und seid nicht in seiner Nähe. Benutzt eure Ringe – sie kanalisieren die Stimmen der Schatten und beeinflussen die Zyvianti, sodass sie nicht von euch erwarten, diesen Ritus zu durchlaufen. Unter keinen Umständen. ‚Ynorr ktaghn‘.“
Diese Worte zeigten mir, was der Abt wirklich wollte. Er war ein Meister darin, Dinge zu verbergen und sie zur rechten Zeit zu enthüllen. Er wusste, dass die Zyvianti uns den Brief niemals übergeben würden, wenn sie dies gelesen hätten. Eine tiefe Ehrfurcht ergriff mich, und meine Trauer um seinen Verlust vertiefte sich. Ynthylla nickte mir zu und wandte sich an Elisha: „Ich denke, ihr habt den Brief gelesen wie wir. Die Priester des Ordens werden organisiert an der Mauer auftreten, und die Schattenkrieger werden weiter kämpfen um die Utlorter aufzuhalten. Alles wird wie vorgesehen weitergehen, und wir kommen dem letzten Auftrag unseres Vaters nach.“ Elisha lächelte Ynthylla an und nickte respektvoll, ihre Stärke ehrend.
Ich faltete das Blatt zusammen und steckte es in meine Tasche. Der Text, der durch unsere Tränen aufgedeckt worden war, verschwand wieder, und ein Gefühl, als könnte die Situation mich zu erdrücken drohen, breitete sich in meinem Verstand aus. Ich versuchte, neben Ynthylla stark zu wirken, und straffte meine Robe. „Wie wollen wir also entscheiden, wer in welche Stadt geschickt wird? Ich denke, unser Abt hat euch darüber in Kenntnis gesetzt?“, sagte ich mit fester Stimme, die Hände geballt, so viel Stärke ausstrahlend, wie mir möglich war.
Elisha machte eine Handbewegung, und eine mir bekannte Ritterin trat uns entgegen. Es war die vernarbte Frau, die nach Ynthyllas Schrei mit der einarmigen Ritterin vor der Tür gestanden hatte, um zu fragen, ob alles in Ordnung sei. Ohne Umschweife begann Elisha: „Das ist Friga, eine meiner stärksten und erfahrensten Oberritterinnen. Sie wird den Mann mit den neuen Rekruten nach Tinarra bringen. Euer Abt hat euch nach euren Fähigkeiten in die Städte geschickt. Er sprach stets davon, dass ihr, der Mann, das Flüstern eures Gottes hören und die Schatten lenken könnt. Das ist perfekt für die Ausbildung der Priesterritterinnen in Tinarra und dem Tempel des Aufstiegs. Dazu kenne ich euch – denn Tinarra ist meine Festung. Kommt, Friga ist schon spät genug dran.“
Elisha war also die Herrin von Tinarra – jetzt meine direkte Vorgesetzte. Ich schaute zu Ynthylla, die enttäuscht wirkte. Ich denke, sie wäre lieber mit Elisha gegangen, so wie sie sie wieder ansah. Vielleicht war es besser so; Ynthylla sollte sich auf ihre Aufgabe konzentrieren und nicht auf das Begaffen dieser Frauen. Sie verschränkte die Arme, und es war offensichtlich, dass sie erneut aufsteigende Tränen unterdrückte. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals – die Erkenntnis, dass nun, nach dem Verlust unseres Vaters, der Moment der Trennung bevorstand, machte alles noch schwerer. Ich umfasste den ledernen Riemen meiner Tasche fest, suchte Halt, und sagte zu ihr: „Ynorr ktaghn.“ Sie antwortete gebrochen, ihre Stimme zitternd.
Langsam wandte ich mich ab und ging auf Friga zu, die mich misstrauisch beäugte. Ich spürte, dass sie nur wegen Elishas Autorität ihren Auftrag mit mir erfüllte. Dass ich ein Mann war, würde meine Aufgabe erschweren, doch ich musste stark sein für den Orden, der nun hinter mir stand. Als ich die Türschwelle erreichte, packte mich etwas am Arm, riss mich herum und umarmte mich fest. Ynthyllas Gefühle übermannten sie; ihr Kopf ruhte an meiner Brust. Ich legte meine Hand auf ihren Kopf und spürte die Schwere des Moments auf meinen Schultern. Der Ring an meinem Finger flackerte kurz, als würde er auf ihre Nähe reagieren.
Friga spuckte auf den Boden, als wolle sie ihren Ekel ausdrücken, und sagte spöttisch: „Ist dir etwa dieser Mann zugewiesen worden, Schwester? In Tonorru könntest du dir einen besseren und stärkeren suchen als den da.“ Elisha schlug ihr tadelnd gegen die Schulter, den Schwertknauf fester umfassend, während Ynthylla aufsah und leise lachte: „Jeder Zyvianti würde vor Furcht fliehen, wenn sie die wahre Natur meines Bruders kennen würden. Ich gebe euch einen Rat: Unterschätzt ihn nicht. Er ist ein tiefer, ruhiger See, doch wenn der Sturm tobt, reißen seine Wellen alles mit sich, was ihnen im Weg steht.“
Ich schob sie sanft von mir, griff ihr ans Kinn und sagte: „Schwester, vergiss nicht, welche Verantwortung wir tragen. Überdenke deine Worte und nutze deine Gefühle, um alles zu vernichten, was dich aufzuhalten versucht.“ Wir nickten uns zu. Ein deutlicher Schauer fuhr Elisha und Friga übers Gesicht. Friga spannte die Muskeln an und sagte tief: „Also los, Ynorrer! Der Karren fährt auch ohne euch ab.“ Ich ging an Elisha vorbei und warf einen letzten Blick zurück zu Ynthylla. Sie machte den Handgruß des Ordens, die Hand an die Stirn führend. Ich atmete tief durch, erwiderte den Gruß und wandte mich Friga zu, die straff Richtung Westen marschierte.
Ich folgte Friga, und das Klappern ihrer Rüstung verdeutlichte, wie sehr sie es eilig hatte. Wir huschten durch dunkle, enge Gassen, vorbei am Trubel der Hauptstraßen und den Marktständen. Mit der Zeit schien es, als wolle Friga mich bewusst von den Einwohnern Zhankas fernhalten – weniger darum, schnell zum Startpunkt der Rekrutinnen nach Tinarra zu gelangen, sondern mich abzuschirmen. Es fühlte sich an, als würden wir durch ein Labyrinth laufen: Mal waren wir in dunklen Gängen mitten im Berg, mal wieder auf breiten Straßen, die im Licht der Abendsonne erstrahlten. Dort trafen mich erneut verwunderte und abschätzige Blicke, die mich bedrückten. Doch ich schaute auf meinen Ring, der die Ythalla abbildete, und zog daraus neue Kraft.
Nachdem wir wieder in eine der dunkleren Gassen des Berges abgetaucht waren, öffnete sich am Ende plötzlich ein großer, breiter Platz, gesäumt von Ställen. Der Geruch von Pferdedung und Heu stieg mir in die Nase. Der Platz war ebenso gepflastert wie der, an dem wir angekommen waren, und ein turmhohes Tor ragte zwischen mir und der endlosen Wiesenlandschaft dahinter empor. In der Mitte stand ein großer Karren, an dessen Seite etwa zehn Frauen in rotgrauen Leinenanzügen warteten. Sie trugen den Staub und die Spuren von körperlichem Training und Arbeit, ihre Füße in Lederstiefeln gehüllt. Ihre Haare waren – wie bei allen Ritterinnen – schwarz und streng nach hinten gebunden. Mir fiel zum ersten Mal auf, dass es ein Merkmal gab, das Priesterinnen und Kriegerinnen unterschied: Alle Priesterinnen, die ich gesehen hatte, hatten langes, blondes Haar, während die Kriegerfrauen pechschwarzes Haar trugen. Gab es da eine Verbindung? Ich schüttelte den Gedanken ab, denn Friga marschierte bereits den Weg hinunter auf den Platz zu.
Als wir an den Ställen vorbeiliefen, sah ich diese prachtvollen Stuten – so muskulös und groß wie ihre Herrinnen –, die mich fast ebenso misstrauisch anblickten wie sie. Etwas musste an den Legenden der Zyvianti dran sein, auch wenn ich sie nicht guthieß: Alles Weibliche in diesen Landen wirkte größer, stärker, fast unmenschlich erhaben. Die wenigen Männer, die ich sah, erschienen dagegen klein und schwach. Einige arbeiteten in den Ställen, schaufelten Mist oder wuschen die Stuten. Sie waren etwa meine Größe, hatten einen gebeugten Gang und verneigten sich tief, als Friga vorbeiging. Doch als sie fort war, schaute einer der Männer zu mir auf. Sein Gesicht strahlte nicht Angst oder Unterdrückung aus, sondern eine Akzeptanz, die ich nicht erwartet hatte. Ich wandte mich von meinen Beobachtungen ab und folgte Friga, die schon fast den Karren erreicht hatte.
Schwer atmend blieb ich neben ihr stehen – solche Märsche war ich nicht gewohnt. Friga drehte sich ernst zu den Rekrutinnen: „Schwestern, wir haben die zweifelhafte Ehre, einen Mann in unseren Trupp aufzunehmen. Er kommt mit uns nach Tinarra, und wehe, eine von euch legt sich mit ihm an. Sollte jemand ihn missbrauchen oder abschätzig behandeln, bekommt sie es mit Elisha und vielleicht allem zu tun, was über mir steht. Habt ihr das verstanden?“ Ein abschätziges „Jawohl“ kam aus den Mündern dieser Frauen, die gut zwei Köpfe größer waren als ich.
Doch dann fiel mir eine Frau auf, kleiner, fast zierlich, die etwas abseits stand. Sie trug eine weißrote Robe mit einem Kragen, der ihren Hals wie ein Gürtel umschloss. Ihre Handschuhe waren schwarz, und ihr kurzes, blondes Haar wehte im Abendwind. Als sie mich bemerkte und Frigas Worte hörte, schien Leben in sie zu fahren. Sie kam auf uns zu, ihr Gang spöttisch und arrogant, ihre gelben Augen funkelten mich an. Neben Friga blieb sie stehen, die sich als Gruß gegen die Brust schlug. Die Frau – die ich wegen ihres blonden Haares als Priesterin einordnete – sprach: „Ach, Friga, dann kommt der Sumpfmann also wirklich nach Tinarra. Wer hätte das nach den Ereignissen im Tempel gedacht?“
Ich schaute zu ihr auf, und für einen flüchtigen Moment waberte ein grünschwarzer Schimmer um ihren Kopf, begleitet von einem kalten Hauch, der mir über die Haut strich. Es war nur ein Augenblick, doch ihre sanfte, kalte Stimme kam mir bekannt vor. Sie lachte spöttisch, einen Finger über ihre Handschuhe streichend, und sagte: „Euer Blick verrät, dass Ihr Euch nicht erinnert, Sumpfmann. Wisst Ihr noch, als Ihr vor dem Tempel die Schuhe auszogt?“ Ich zog die Augenbrauen hoch und versuchte, mich zu erinnern. Da waren doch nur diese zwei riesigen Frauen, so entrückt und göttlich, dass Ynthylla und ich sie kaum für menschlich hielten – und die Priesterin am Eingang … „Ihr seid die Priesterin, die uns zum Eingang geführt und dort auf die Knie gefallen ist?“
Sie kicherte erneut, straffte ihre schwarzen Lederhandschuhe und schlug Friga spielerisch gegen den Arm. „So hat noch nie ein Mann mit mir gesprochen, Friga. Kannst du dir vorstellen, wie dieser Sumpfmann in Tinarra, unserer heiligen Stadt, herumlungert?“ Friga schüttelte leicht den Kopf, eine Ruhe ausstrahlend, die wie ein Panzer ihre wahren Gedanken verbarg. Wieder blitzte der grünschwarze Schimmer um ihren Kopf auf, und der Ring an meinem Finger vibrierte leicht. Was hatte das zu bedeuten? Welche Verbindung hatte diese fanatische Zyva-Gläubige mit Ynorr? Ich verbeugte mich vor ihr, um die Spannung nicht zu steigern. „Ihr wisst wenigstens, wo Euer Platz ist, Ynorrer – vor mir auf den Knien“, lachte sie hämisch.
Ein metallisches Scheppern erfüllte den Platz. Ich drehte mich in die Richtung des Geräuschs und sah zu meiner Überraschung Elisha auf uns zukommen. Friga wirkte sichtlich überrascht, und auch die vorlaute Priesterin schien unerfreut. Als Elisha vor uns stand, die Hände in die Hüften gestemmt, schaute sie verachtend auf die Priesterin und sprach: „Tinsu, was macht Ihr hier? Wo ist die Priesterin aus Tinarra? Ich dachte, Eure Herrin hätte die Botschaft verstanden.“
„Tinakra schickt euch Grüße aus Tinarra. Sie konnte leider keine ihrer Priesterinnen für diese Aufgabe entbehren, also hat sich meine Herrin Fringa angeboten und mich hierher geschickt, um die Begleitung der Rekrutinnen zu übernehmen.“ Elisha grinste bösartig, ihre Zähne knirschten hörbar, während sie die Armmuskeln anspannte. „Das passt gut zu deiner Schwester Tinakra, nicht wahr? Die Exarchin hat alles versucht, sie von euch fernzuhalten, und jetzt stehst du hier – eine Flammenpriesterin, geschickt von einer Hohen Priesterin zur anderen. Was auch immer du hier spielst, ich werde dich im Auge behalten.“
Tinsu machte eine abschätzige Geste in Elishas Richtung, und ich bemerkte, wie auch die Rekrutinnen ihr leicht zustimmten. Die Anspannung in ihren Gesichtern mir gegenüber war mit Händen zu greifen. Elisha preschte nach vorn, schob Tinsu und Friga zur Seite und erhob ihre Stimme, sodass der ganze Platz sie hören konnte: „Dieser Mann ist Teil unserer Armee! Dieser Mann ist ein Verbündeter und der Herr über die Priester, die die Schattenkreaturen vertrieben – jene, die unsere Schwestern im Krieg fraßen und auf brutalste Weise zerfleischten! Seht euch Friga an, Rekruten! Ihr Gesicht wurde von einer Kralle zerfetzt, deren Ursprung ich für einen Schatten hielt! Ein Bruder dieses Mannes hat sein Leben geopfert, um Friga zu retten! Diese starke Frau würde nicht hier stehen, hätte der Gott dieses Mannes nicht eingegriffen! Also, wenn ich auch nur den Hauch von Missbrauch, Verrat oder Herabwürdigung dieses Verbündeten mitbekomme oder davon höre, werdet ihr aus der Armee verbannt und den Ynorrern an der Mauer übergeben! Habt ihr das verstanden?“
Ihre Stimme duldete keinen Widerspruch. Alle Rekrutinnen standen wie unter einem Willen vereint und riefen: „Jawohl!“ Auch Friga nahm eine angespannte Haltung ein, die Hände gerade an der Hüfte ausgerichtet, wie ein unbeweglicher Krieger, der auf die Befehle seines Anführers wartete. Tinsu wirkte merklich verunsichert über Elishas Worte und ihren Auftritt – sie trat einen Schritt zurück, als wolle sie liebend gern fliehen. Doch die Aufgabe, die sie hatte, schien wichtiger zu sein, als aus dieser Situation zu entkommen.
Sie war also die Schwester der Hohen Priesterin in Tinarra? Warum wollte die Exarchin sie vor deren Einfluss bewahren? Ich fühlte mich zunehmend fehl am Platz und schaute zu Elisha, die ernst auf die Rekrutinnen starrte und ihre Worte wirken ließ.
In dieser Stille reflektierte ich kurz über Elishas Worte, und eine Frage bohrte sich in meinen Geist. Ich hatte von missbräuchlichem Verhalten gehört – Kriegerinnen, die sich an ihren männlichen Feinden vergingen. Doch war das hier in Zyvianti selbst ein Problem? Ich wusste, dass Männer in diesen Landen als minderwertig galten, aber dass es so tief verwurzelt war, hatte ich nicht erkannt. Der Gedanke ließ mich erschauern, als Elishas Stimme kurz ertönte: „Aufsitzen!“
Kaum hatte sie den Befehl ausgesprochen, stiegen die Rekrutinnen wie an einer Schnur gezogen in den Karren. Das Gepolter des Holzes wurde nur von den großen Stuten übertönt, die mit den Hufen scharrten – ungeduldig wie Elisha selbst. Als Letzte stiegen Tinsu und ich ein; sie setzte sich mir gegenüber. Ich versuchte, die Klappe hinten am Karren zu schließen, doch eine Rekrutin schob mich lachend zur Seite, ein spöttisches Grinsen im Gesicht. „Überlass das einer starken Frau, Kleiner“, sagte sie rau und griff mit nur einem Arm nach der Kette, die an der Klappe befestigt war. Sie zog daran, als wäre es nichts, die Klappe schloss sich, und ich schob den Riegel ins Schloss.
Tinsu schüttelte den Kopf, schaute von allem weg und murmelte mit leisem Zischen: „So eine Schande.“ Ihre Worte wurden weitgehend ignoriert. Elisha und Friga stiegen vorne ein, wobei Friga die Zügel nahm. Als sie sie knallen ließ, ging ein so starker Ruck durch den Karren, dass er mich beinahe hinausgeschleudert hätte. Doch die Rekrutin neben mir griff nach meiner Robe, zog mich zurück, und alle im Karren lachten gedämpft, als trauten sie sich nicht richtig. Elisha drehte sich noch einmal um, als wir durch das gigantische Tor fuhren, das sich wie von selbst öffnete. Staub fiel von den Rändern der schwarzen Tore herab, und ich blickte hinauf – es wirkte wie ein Schauspiel, als überschritt ich die Grenze zu einer neuen Welt, die ich nicht verstand und von der ich kein Teil war.
Ich schaute zurück auf die Stadt, während die Räder über die in die Wiesenlandschaft getrampelte Staubstraße polterten. Die Abendsonne tauchte den Himmel in ein dezentes Rot, und die Lichter der Fackeln in Zhanka begannen nach und nach aufzuleuchten. Auf Elishas Befehl entzündeten die Rekrutinnen die Fackeln an den vier Ecken des Karrens, die die Wiesenlandschaft in ein schummriges, grünes Meer verwandelten. Als der Mond langsam aufstieg und seine Sichelform präsentierte, richtete ich den Blick nach Süden, wo ich das Meer erahnen konnte. Der Ring an meinem Finger vibrierte leicht, als ich mir vorstellte, dass hinter diesem Abhang Yren lag – meine Heimat, die ich nun woanders suchen würde.


© Peethulhu


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Beschreibung des Autors zu "Apostolykta, die Reise des Ythul/Prolog"

„In einer Welt, in der Frauen über Stärke gebieten und Schatten Geheimnisse flüstern, beginnt Ythuls Reise. Ein rätselhafter Brief seines Meisters treibt ihn und seine Schwester Ynthylla in die fremden Lande der Zyvianti – doch als die Geschwister getrennt werden, steht Ythul allein vor einem Tor, das ihn in eine unheimliche Bestimmung führt. Begleitet von misstrauischen Kriegerinnen und einer Priesterin mit dunklen Geheimnissen, rollt sein Karren in die Nacht – getrieben von einem Ring, der vibriert, und einer Heimat, die er verloren glaubt.



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