Die Rückkehr von Mary Poppins

© Jennifer Kall

Vorwort:

Der Wind und die Geschichten, die er bringt

Es gibt Geschichten, die kommen wie ein stiller Regen. Sie tröpfeln leise in unser Leben, ohne großen Aufruhr, bis wir merken, dass wir klatschnass vor Emotionen sind. Und dann gibt es Geschichten wie diese – Geschichten, die wie ein plötzlicher Windstoß durch die Tür fegen und alles durcheinander wirbeln, was wir zu wissen glaubten. Mary Poppins gehört zu letzterer Kategorie. Als ich das erste Mal von Mary Poppins hörte, war ich ein Kind. Sie war so real wie der Sommerhimmel und so rätselhaft wie der Nebel im Herbst. Es gab keinen Zweifel daran, dass sie existierte. Ihr Schirm, ihre Tasche, die Art, wie sie uns zeigte, dass hinter jedem Alltäglichen etwas Magisches lauert – all das fühlte sich nicht wie Fiktion an, sondern wie eine verschwommene Erinnerung an jemanden, den ich tatsächlich getroffen hatte. Jetzt, Jahre später, stehe ich hier, und dieser Wind ist wieder da. Er weht nicht nur durch die Straßen der Cherry Tree Lane, sondern auch durch mein eigenes Leben. Es ist ein Wind, der uns an unsere Kindheit erinnert, an die einfachen Wahrheiten, die wir vergessen haben: dass ein Löffel Zucker die bittersten Tage versüßen kann, dass eine gute Geschichte manchmal mehr rettet als ein langer Rat, und dass ein bisschen Magie genau dann erscheint, wenn wir sie am dringendsten brauchen. Mary Poppins kehrt zurück. Sie kommt, wie immer, ohne Einladung, aber genau zur richtigen Zeit. Sie bringt uns die Lektionen, die wir schon kannten, aber vergessen haben. Und wenn sie wieder geht, hinterlässt sie uns nicht nur mit besseren Erinnerungen, sondern mit einem besseren Blick auf die Welt. Also machen Sie die Tür auf. Lassen Sie den Wind herein. Und vor allem: Halten Sie Ihren Schirm fest – Sie wissen nie, wann Sie ihn brauchen könnten.

Prolog:

Die Winde des Wandels

Der Wind ist eine seltsame Sache. Er kommt aus dem Nichts, heult über die Dächer, jagt alte Zeitungen über die Straßen, und wenn er genug Unruhe gestiftet hat, verschwindet er wieder, als wäre er nie da gewesen. Aber manchmal – nur manchmal – trägt der Wind etwas mit sich, das man nicht sehen kann. Etwas, das größer ist als ein umherwehendes Blatt oder ein zufälliges Flüstern. Etwas, das die Welt verändert.
An diesem Nachmittag in London war der Wind genau so ein Wind. Er kam aus dem Osten, scharf wie ein frisch geschärftes Messer, und er hatte es auf die Cherry Tree Lane abgesehen. Die Straße war ruhig – so ruhig, dass man den Schrei eines Vogels hören konnte, der in den grauen Himmel aufstieg. Aber es war die Ruhe vor dem Sturm, und in einer Straße wie dieser weiß der Wind immer, wo er anklopfen muss. Das Banks-Haus, Nummer Siebzehn, stand wie immer auf seinem Platz. Es war das gleiche alte Haus, mit denselben alten Fenstern, demselben knarrenden Zaun und derselben Tür, die schon unzählige Male geöffnet und geschlossen worden war. Aber wenn man genauer hinsah – wirklich genau – dann konnte man spüren, dass etwas nicht stimmte. Das Lachen, das einst die Wände des Hauses gefüllt hatte, war verschwunden. Die fröhlichen Lieder, die man in alten Tagen hören konnte, waren verstummt. Und die Menschen darin, die einst glaubten, dass alles möglich sei, hatten vergessen, wie es sich anfühlt, daran zu glauben.
Michael Banks, inzwischen erwachsen, saß im Wohnzimmer, die Stirn in die Hände gestützt. Er sah aus wie ein Mann, der versuchte, an einem Puzzle zu arbeiten, bei dem die Hälfte der Teile fehlte. Seine Kinder, Annabel und Georgie, spielten draußen, doch selbst ihr Lachen klang gedämpft, als würde der Wind es mit sich reißen, bevor es die Wände des Hauses erreichen konnte. Jane Banks, Michaels Schwester, war zu Besuch, aber auch sie konnte den grauen Schleier nicht vertreiben, der sich über die Familie gelegt hatte. Und dann – genau um 15 Uhr und 32 Minuten – veränderte sich alles. Der Wind drehte sich. Es war nicht einfach ein Wechsel der Richtung. Nein, dieser Wind war anders. Er roch nach Regen und Sonne zugleich, nach Erinnerungen und Geheimnissen, die man lieber vergessen hätte. Er rüttelte an den Fenstern, schlug gegen die Tür und fegte durch die Straße, als hätte er es eilig, etwas Wichtiges zu verkünden.

Und dann kam sie.

Vom Himmel herab, ruhig und doch majestätisch, als wäre sie schon immer ein Teil der Landschaft gewesen. Der Wind trug sie mit sich, wie ein vergessener Traum, der plötzlich wiederkehrt. Der Regenschirm in ihrer Hand war geöffnet, obwohl kein Regen fiel, und ihr Mantel flatterte wie die Flügel eines Vogels. Sie landete sanft vor Nummer Siebzehn, strich ihren Rock glatt und klopfte sich ein unsichtbares Staubkorn von der Schulter.

Mary Poppins war zurück.

Sie sah auf die Tür vor sich, und für einen Moment schien es, als würde sie lächeln. Nicht breit, nicht fröhlich, sondern nur ein Hauch, ein Flüstern von Zufriedenheit. Der Wind legte sich, und in der plötzlichen Stille der Straße konnte man fast hören, wie die Welt den Atem anhielt.

„Nun“, sagte sie leise zu niemand Bestimmtem, „es wird Zeit, dass hier wieder ein bisschen Ordnung herrscht.“

Und dann klopfte sie an.

1. Der vergessene Drachen

Manchmal haben alte Dinge eine Seele. Das klingt verrückt, oder? Aber es stimmt. Es gibt Spielsachen, die in den Regalen verstauben, Möbel, die jahrelang nicht benutzt werden, und irgendwo tief in ihrem Inneren sammeln sie all die Erinnerungen, die Menschen in ihrer Nähe hinterlassen haben. Ein Löffel, den eine Mutter zum Füttern eines Kindes benutzt hat, eine alte Uhr, die den letzten Herzschlag eines Menschen gezählt hat. Und dann gibt es Drachen. Der Dachboden des Banks-Hauses war ein Ort, an dem alte Dinge lebten. Es war dunkel, eng und muffig, der perfekte Platz für die Geister von Spielzeugen und Geschichten, die man vergessen hatte. Staub lag auf jedem Balken, und Spinnweben spannten sich wie Vorhänge über alte Kisten. Doch zwischen all den zerknitterten Pappkartons, den verblichenen Büchern und den rostigen Kinderwagen lag er. Der Drache.

Er war nicht groß, dieser Drache. Vielleicht einen halben Meter breit, mit einem bunten Stoffkörper, der einmal leuchtend rot gewesen sein musste. Jetzt war das Rot mehr ein schmutziges Rosa, von der Zeit und der Dunkelheit ausgeblichen. Seine Schnur, die ihn einst hoch in den Himmel getragen hatte, war verheddert und zerfranst, und ein Flügel hing lose herab, als hätte er die Lust am Fliegen verloren. Doch selbst so, inmitten all des Staubs und der Dunkelheit, strahlte er eine gewisse Traurigkeit aus – eine stille Bitte, die niemand hörte. Niemand außer Annabel Banks. Annabel hatte nicht vorgehabt, auf den Dachboden zu gehen. Eigentlich hatte sie überhaupt keine Lust auf irgendetwas. Es war einer dieser Nachmittage, an denen sich die Zeit hinzog wie ein zäher Kaugummi, und die Welt fühlte sich an, als wäre sie in Schwarz-Weiß gedruckt. Doch dann hatte sie Georgie, ihren kleinen Bruder, dabei erwischt, wie er die Falltür zum Dachboden öffnete.

„Du darfst da nicht hoch!“ hatte sie gesagt. Ihre Stimme war streng, so wie eine große Schwester es sein sollte. Doch Georgie hatte sie nur angelächelt – dieses Lächeln, das bedeutete, dass er nicht eine Sekunde lang daran dachte, auf sie zu hören – und war trotzdem hinaufgeklettert. Also folgte sie ihm, knurrend und fluchend, während sie sich an den rutschigen Sprossen der Leiter festklammerte. Der Dachboden war dunkler, als sie erwartet hatte. Es roch nach altem Holz und verrottendem Papier, und das Licht, das durch die schmalen Ritzen fiel, schien kaum genug, um die Schatten zu vertreiben.

„Georgie? Wo bist du?“

„Hier drüben!“ Seine Stimme kam aus einer Ecke, in der sich ein Berg von alten Kisten türmte. Und dann sah sie es. Der Drache lag halb verborgen unter einem Stapel zerfetzter Zeitungen, doch etwas an ihm zog ihren Blick magisch an. Vielleicht war es die Art, wie der Staub auf seinem Stoff glitzerte, oder die eigenartige, fast erwartungsvolle Haltung, in der er lag – wie ein Hund, der darauf wartete, dass sein Besitzer zurückkehrt. Annabel kniete sich hin, zog den Drachen vorsichtig hervor und strich über das brüchige Material.

„Was ist das?“ fragte Georgie, der plötzlich neben ihr stand.

„Ein Drache“, sagte sie. Ihre Stimme klang seltsam leise, als hätte sie Angst, etwas zu wecken.

„Können wir damit fliegen?“

Annabel wollte „Nein“ sagen. Sie wollte ihm erklären, dass der Drachen viel zu alt, viel zu kaputt war. Aber als sie ihn in den Händen hielt, spürte sie etwas. Es war, als würde eine kleine, kalte Hand ihre berühren, etwas, das keine Worte hatte, aber dennoch sprach.

„Vielleicht“, sagte sie schließlich. Und in diesem Moment, tief in den Schatten des Dachbodens, rührte sich ein Windzug – ein Wind, der nicht von außen kam, sondern aus dem Drachen selbst. Es war nur ein Hauch, kaum mehr als ein Flüstern, aber Annabel spürte ihn. Und wenn sie sich umgesehen hätte, hätte sie bemerkt, dass der Staub für einen Augenblick in der Luft zu tanzen schien.
Georgie kicherte. „Ich wette, wir kriegen ihn fliegen.“

Annabel wusste nicht, warum ihr Herz schneller schlug, aber sie nickte. Vielleicht war es der Wind. Vielleicht war es die Stimme, die tief in ihrem Inneren flüsterte: Es ist Zeit zu fliegen.

2. Ein stürmischer Tag

Manchmal beginnt ein Sturm nicht mit Regen oder Blitz, sondern mit einem Gefühl. Es war ein solches Gefühl, das sich an diesem Morgen über die Cherry Tree Lane legte – ein nervöses Flattern, das in den Knochen der Menschen vibrierte, ohne dass sie es wirklich bemerkten. Der Wind war noch nicht gekommen, aber die Luft war schwer, wie eine unausgesprochene Frage.
Annabel und Georgie saßen am Frühstückstisch. Ihre Müslischalen standen unangetastet vor ihnen, und die Milch begann schon, diesen dünnen Film zu bilden, der immer etwas eklig aussieht. Michael Banks, ihr Vater, blätterte hektisch durch einen Stapel Papiere, während er gleichzeitig versuchte, einen Schluck von seinem inzwischen kalten Tee zu nehmen.

„Die Arbeit, immer die Arbeit“, murmelte er, mehr zu sich selbst als zu irgendjemand anderem. Jane Banks, Michaels Schwester, stand am Fenster. Sie hatte die Arme verschränkt und starrte nach draußen, wo sich die Bäume kaum regten. Doch selbst die scheinbare Stille schien irgendwie geladen zu sein, wie eine Pause zwischen zwei Noten, die viel zu lange dauert.

„Es fühlt sich an, als würde etwas kommen“, sagte sie leise.

„Etwas wie was?“ fragte Georgie, der inzwischen sein Löffelspiel erfand und das Metall gegen die Tischkante klopfen ließ.

„Etwas Großes“, sagte Jane, ohne sich umzudrehen. Das erste Zeichen des Sturms kam gegen Mittag. Es war kein Donner, kein Regen, sondern ein Windstoß, der so plötzlich und heftig war, dass er die Fenstervorhänge nach innen drückte, obwohl die Fenster geschlossen waren. Annabel, die mit einem Buch auf dem Sofa saß, schreckte auf, und Georgie ließ vor Schreck eine Handvoll Spielzeugautos fallen, die er im Wohnzimmer verteilt hatte.

„Was war das?“ fragte Annabel.

„Nur der Wind“, sagte Michael aus dem Arbeitszimmer, aber selbst er klang nicht überzeugt. Draußen begann der Wind stärker zu werden, und die Welt veränderte sich mit ihm. Die Blätter auf den Bäumen tanzten nicht mehr, sie kämpften – gegen unsichtbare Hände, die an ihren Ästen zerrten. Ein Papierhut, den ein Kind vor dem Nachbarhaus auf den Gehweg gestellt hatte, wurde vom Wind ergriffen und flog wie ein gespenstisches Gesicht die Straße hinunter. Der Himmel, der am Morgen noch hell gewesen war, wurde von einer grauen Wand verschluckt. Es war keine gewöhnliche Wolkendecke, sondern etwas Lebendiges, etwas, das sich bewegte und formte, als wäre es in einem Wettlauf mit dem Wind selbst.

„Das ist nicht normal“, murmelte Jane, als sie zum dritten Mal die Gardine zurückzog und nach draußen spähte.
Plötzlich hörte man ein Krachen, gefolgt von einem Schrei. Michael rannte zum Fenster, und was er sah, ließ ihn erstarren. Ein altes Werbeschild, das früher an der Straßenecke gestanden hatte, war vom Wind umgestoßen worden und lag nun zerknittert auf dem Gehweg. Eine Frau hatte den Schreckensruf ausgestoßen, stand aber jetzt sicher auf der gegenüberliegenden Straßenseite und klopfte sich den Staub von den Kleidern.

„Wir sollten vielleicht die Fenster verriegeln“, sagte Michael schließlich, obwohl niemand antwortete. Der Sturm brach endgültig los, als die Dämmerung hereinbrach. Es war, als hätte die Welt auf diesen Moment gewartet. Der Wind heulte, als hätte er etwas zu beweisen, und die Regentropfen prasselten gegen die Fensterscheiben wie Finger, die Einlass verlangten. Annabel und Georgie hatten sich auf das Sofa gekuschelt, während Jane versuchte, die Kinder mit einer Geschichte abzulenken, doch ihre Stimme ging im Getöse des Sturms unter. Michael ging rastlos durch das Wohnzimmer, immer wieder zu den Fenstern blickend, als würde er erwarten, dass etwas – oder jemand – auftauchte.
Dann kam der seltsamste Moment des ganzen Tages. Mitten im Sturm, als der Wind am lautesten heulte und der Regen so dicht war, dass man kaum noch die Straße erkennen konnte, fiel plötzlich eine gespenstische Stille über die Cherry Tree Lane. Der Wind verstummte, der Regen hörte auf, und die Luft war so still, dass es fast wehtat. Jane hielt mitten im Satz inne und sah Michael an. „Das ist… merkwürdig.“ Bevor jemand antworten konnte, kam ein einziges, kräftiges Klopfen an die Tür. Annabel sprang auf, Georgie klammerte sich an Jane, und Michael blinzelte ungläubig. Wer konnte mitten in diesem Sturm vor der Tür stehen?

„Ich geh schon“, sagte Michael, obwohl seine Stimme einen Hauch von Unsicherheit verriet. Er ging zur Tür, zog sie langsam auf – und dort, vor ihm, stand sie. Ihr Mantel war makellos trocken, ihr Schirm hielt sie mit Leichtigkeit in der rechten Hand, und ihre Lippen formten das kleinste, wissendste Lächeln der Welt.

„Guten Abend“, sagte Mary Poppins. „Ich habe gehört, hier wird jemand gebraucht.“

3.Das Haus in der Cherry Tree Lane

Es gibt Häuser, die mehr sind als Stein und Holz. Sie atmen. Sie haben Geheimnisse in ihren Wänden und Erinnerungen in ihren Dielen versteckt. Das Haus in der Cherry Tree Lane Nummer Siebzehn war so ein Haus. Es hatte alles gesehen: Kinderlachen, Streitgespräche, stürmische Tage und stille Nächte. Und obwohl es in die Jahre gekommen war, schien es, als würde es immer noch zuhören – als könnte es fühlen, wie sich die Menschen darin bewegten, wie sie kamen und gingen.

Doch das Haus war nicht mehr das Gleiche wie früher.

Mary Poppins stand auf der Türschwelle und betrachtete das Gebäude mit kritischem Blick. Sie nahm jede Ritze wahr, jede schief hängende Dachpfanne, jede Stelle, an der der Lack von der Tür abgeblättert war. In der Abenddämmerung wirkte das Haus nicht nur alt, sondern irgendwie müde.

„Ein Jammer“, murmelte sie, während sie ihren Regenschirm zuklappte und ihn entschlossen abklopfte. Michael Banks, der immer noch ungläubig hinter ihr stand, räusperte sich. „Ähm, Miss Poppins... Sie sind wirklich…?“

„Natürlich bin ich es“, schnitt sie ihm das Wort ab. „Wer sonst? Und jetzt gehen Sie bitte zur Seite. Sie lassen die Kälte herein.“

Sie trat mit der Selbstverständlichkeit einer Person ein, die genau wusste, dass sie willkommen war, auch wenn niemand es ausgesprochen hatte. Ihre Absätze klackten auf den abgenutzten Holzdielen des Flurs, und Michael folgte ihr, unfähig, etwas anderes zu tun. Das Haus war eine Mischung aus alt und neu, Vergangenheit und Gegenwart. Die Möbel, die einst dem strengen Mr. Banks gehört hatten, standen immer noch da – der schwere, dunkle Schreibtisch, der Stehlampenschirm, der nie wirklich zur Tapete gepasst hatte. Aber dazwischen hatten sich die Spuren der neuen Generation eingeschlichen. Ein Regal mit Kinderspielzeug, ein paar bunte Zeichnungen an der Wand, die mit Klebeband befestigt waren. Es war, als würde das Haus versuchen, sich zu erinnern, wie es war, glücklich zu sein.
Mary Poppins ging durch den Flur, als würde sie jede Ecke, jedes Möbelstück prüfen. Ihre Augen glitten über den großen Spiegel, der leicht schief hing, und sie zog eine Augenbraue hoch.

„Ich sehe, Ordnung ist hier ein rares Gut geworden“, sagte sie, mehr zu sich selbst als zu jemand anderem.

„Entschuldigen Sie?“ fragte Michael, der sich plötzlich schuldig fühlte, obwohl er nicht genau wusste, warum. Mary drehte sich zu ihm um, und ihr Blick war so durchdringend wie ein Röntgenstrahl. „Es war einmal ein Haus, das voller Freude war, Mr. Banks. Und jetzt…“ Sie deutete auf die staubigen Bilderrahmen an der Wand. „Jetzt hat es vergessen, wie man atmet.“

„Es war… schwierig“, sagte Michael leise. „Nach… nach dem Verlust meiner Frau…“

Mary hielt inne. Für einen Moment schien es, als würde sie etwas sagen, doch sie ließ es bleiben. Stattdessen wandte sie sich ab und ging ins Wohnzimmer. Dort saßen Annabel und Georgie, die sie mit großen Augen anstarrten. Georgie hielt immer noch den Drachen aus dem Dachboden in den Händen, und Marys Blick fiel sofort darauf.

„Ah, da ist er ja“, sagte sie und klatschte einmal in die Hände. „Der alte Freund. Ich habe mich gefragt, wann er wieder auftaucht.“

„Kennen Sie den Drachen?“ fragte Georgie ungläubig.

„Natürlich kenne ich ihn“, sagte Mary, als wäre das die dümmste Frage der Welt. „Er hat Geschichten erlebt, die ihr euch nicht einmal vorstellen könnt. Und er hat mehr Mut bewiesen, als manch ein Mensch.“

Annabel runzelte die Stirn. „Es ist nur ein Drachen.“ Mary Poppins drehte sich zu ihr um und neigte den Kopf leicht zur Seite. „Nur ein Drachen?“ Sie sprach die Worte aus, als würden sie nach etwas schmecken, das sie nicht mochte. „Mein liebes Kind, nichts ist nur etwas. Alles hat eine Bedeutung, wenn man nur genau genug hinsieht.“

Das Wohnzimmer schien in diesem Moment heller zu werden, als hätte jemand die Glühbirne gewechselt. Die Kinder sahen sich an, verwirrt, aber auch irgendwie fasziniert. Michael stand in der Tür und fühlte sich, als würde er plötzlich wieder ein kleiner Junge sein, der Mary Poppins zum ersten Mal begegnete.

„Nun“, sagte Mary schließlich und wandte sich wieder an Michael. „Wo ist das Kinderzimmer? Es gibt viel zu tun, bevor ich anfange.“

„Anfangen womit?“ fragte Michael.
Mary zog ihren Hut ab, schüttelte ihn aus, obwohl kein Staub herauskam, und lächelte ihn an – dieses kleine, schiefe Lächeln, das nichts verriet und doch alles versprach.

„Das Haus zu erinnern, wie man lebt, natürlich.“

4. Ein neuer Morgen

Man sagt, der Morgen bringt neue Möglichkeiten. Aber in der Cherry Tree Lane Nummer Siebzehn begann der neue Tag, als wäre er ein müder, alter Bekannter, der sich widerwillig zum Frühstück schleppte. Die Sonne kämpfte sich durch die Vorhänge, und der Wind der letzten Nacht war verschwunden, hinterließ aber die Art von Stille, die noch immer nachklingt, wie der letzte Ton eines Liedes. Mary Poppins war früh auf. Sie war immer früh auf. Für jemanden wie sie, der Dinge erledigt, während die Welt noch schläft, schien der Morgen der perfekte Verbündete zu sein. In der Küche summte sie leise ein Lied – etwas, das so alt war, dass die Melodie fast vergessen schien. Der Teekessel pfiff, und der Duft von frischem Tee mischte sich mit dem sanften Brutzeln von Spiegeleiern in der Pfanne.

„Zeit aufzustehen“, murmelte sie, mehr zum Raum als zu jemand Bestimmtem, und ihre Worte schienen zu den Wänden zu kriechen, die Treppe hinauf, direkt in die Ohren derer, die noch schliefen. Annabel war die Erste, die die Augen öffnete. Es war ein seltsames Erwachen – nicht langsam und träge, sondern wie ein plötzliches Einschalten eines Lichtschalters. Sie wusste nicht warum, aber sie fühlte sich... anders. Als hätte die Luft in ihrem Zimmer über Nacht gewechselt, sauberer, klarer, voller Möglichkeiten.

„Annabel!“ Georgies Stimme kam von der Tür. Er stand schon vollständig angezogen dort, den Drachen unter dem Arm, und grinste sie an. „Frühstück ist fertig! Mary hat gesagt, wir sollen runterkommen.“

Annabel blinzelte. „Wer hat was gesagt?“

„Mary Poppins natürlich!“ Georgie verdrehte die Augen, als wäre das offensichtlich. Es dauerte einen Moment, bis Annabel sich daran erinnerte. Die Frau, die plötzlich aufgetaucht war. Der Sturm. Die seltsame Ruhe, die sie mitgebracht hatte, als hätte sie die Welt selbst angehalten.

„Das war kein Traum?“ fragte sie leise, mehr zu sich selbst. Georgie lachte. „Natürlich nicht! Sie ist unten und macht Frühstück. Beeil dich!“ Annabel warf sich schnell in ihre Kleider und folgte Georgie hinunter in die Küche, wo sie etwas sah, das sie nie erwartet hätte: ein perfekt gedeckter Tisch. Es war nicht nur das Essen, obwohl das schon beeindruckend genug war – goldbrauner Toast, Spiegeleier, die aussahen, als kämen sie aus einem Kochbuch, Marmeladengläser in allen möglichen Farben. Es war die Art, wie alles arrangiert war, als wäre es ein Kunstwerk. Sogar die Servietten waren kunstvoll gefaltet, in kleinen, spitzenartigen Mustern, die wie Blumen aussahen. Mary Poppins stand am Herd, elegant wie immer, in einer frisch gebügelten Schürze, die seltsamerweise weder zu ihrer restlichen Kleidung noch zur Küche passte – und doch irgendwie perfekt war.

„Guten Morgen“, sagte sie und drehte sich um, ein Tablett mit dampfenden Tassen Tee in der Hand. „Ihr seid spät dran.“

„Spät?“ Georgie runzelte die Stirn. „Es ist noch nicht einmal sieben Uhr.“

Mary stellte das Tablett ab und sah ihn streng an. „Pünktlichkeit, mein Lieber, ist nicht nur eine Tugend, sondern eine Kunst. Und wie jede Kunst will sie gepflegt werden. Jetzt setzt euch.“

Annabel und Georgie setzten sich, beide ein wenig eingeschüchtert, aber auch fasziniert. Mary Poppins ließ sich nicht von der Eile der Kinder beeindrucken. Jeder Handgriff, den sie machte, war präzise, als würde sie eine Choreografie tanzen, die nur sie kannte.

„Papa ist noch im Bett“, sagte Georgie schließlich, während er begann, ein großes Stück Toast zu bestreichen.

Mary nickte knapp. „Das dachte ich mir. Nun, er wird kommen, wenn er bereit ist. Erwachsene sind wie alte Uhren – manchmal brauchen sie nur einen sanften Stoß, um wieder zu laufen.“

Annabel kicherte, konnte aber nicht leugnen, dass Mary Poppins recht hatte. Ihr Vater war in letzter Zeit stehen geblieben – nicht körperlich, sondern in seinem Geist. Es war, als hätte er das Leben nur noch beobachtet, ohne daran teilzunehmen.

„Was machen wir heute?“ fragte Annabel schließlich, während sie sich eine Tasse Tee einschenkte. Mary Poppins legte die Hand ans Kinn, als würde sie nachdenken, aber ihr Lächeln verriet, dass sie die Antwort längst kannte. „Nun, das hängt ganz davon ab, was der Tag bringt. Aber eines ist sicher: Er wird nicht langweilig.“

Georgie wollte gerade protestieren – er wollte wissen, ob sie mit dem Drachen fliegen gehen konnten –, als plötzlich ein leichter Windstoß durch die Küche fuhr. Er war kaum spürbar, aber dennoch genug, um die Servietten auf dem Tisch ein wenig flattern zu lassen. Mary Poppins sah zum Fenster, und für einen Moment wirkte sie sehr still. Dann schloss sie langsam ihre Hände vor sich, als würde sie eine unsichtbare Entscheidung treffen.

„Was war das?“ fragte Annabel. Mary sah sie an, ihr Lächeln ruhig, aber voller Andeutungen. „Das, meine Liebe, war der Morgen, der uns ruft. Also zieht euch warm an. Wir haben Arbeit vor uns.“

Sie ließ keinen Raum für Diskussionen. Bevor die Kinder begriffen, was geschah, war sie schon aufgestanden, hatte ihren Schirm genommen und stand an der Haustür, bereit, den Tag zu begrüßen – oder vielleicht, wie es schien, den Tag herauszufordern. Und so begann der erste Morgen mit Mary Poppins, und obwohl noch niemand wusste, was passieren würde, war eines klar: Es würde nichts Gewöhnliches sein.

5. Der erste Ausflug

Der Himmel war strahlend blau, ohne ein einziges Wölkchen, doch in der Luft lag ein Prickeln, das Annabel und Georgie nervös und gleichzeitig aufgeregt machte. Es war, als würde die Welt selbst die Luft anhalten und auf etwas warten. Mary Poppins stand vor der Tür, makellos wie immer, mit ihrem Schirm in der einen Hand und ihrer bodenlosen Tasche in der anderen.

„Wo gehen wir hin?“ fragte Georgie, der vor Aufregung kaum stillstehen konnte.

„Ein Ausflug“, sagte Mary knapp, ohne ihm mehr Details zu geben.

„Aber wohin genau?“ hakte Annabel nach. Mary warf ihr einen scharfen Blick zu – nicht unfreundlich, aber einer, der klar machte, dass Fragen nicht immer Antworten verdienen. „Ein Ausflug ist ein Ausflug, meine Liebe. Es geht nicht darum, wohin man geht, sondern was man unterwegs entdeckt.“

Mit dieser Erklärung, die keine war, öffnete sie die Tür und schritt hinaus. Die Kinder folgten ihr, neugierig, wohin diese geheimnisvolle Frau sie führen würde. Der Weg führte sie in den Park – derselbe Park, in dem die Banks-Kinder oft gespielt hatten. Doch heute fühlte sich alles anders an. Die Farben schienen heller, die Geräusche klarer, und sogar die Bäume wirkten lebendiger, als würden sie sich ein wenig recken, um die kleine Gruppe besser sehen zu können.
Mary führte die Kinder zu einer kleinen Lichtung, die von hohen Bäumen umgeben war. In der Mitte der Lichtung stand ein altes Karussell, dessen Farben von der Zeit verblasst waren. Die Pferde wirkten müde, und die Lackierung blätterte ab, doch es gab etwas an diesem Ort, das magisch wirkte – als hätte es darauf gewartet, wiederentdeckt zu werden.

„Ein Karussell?“ fragte Annabel skeptisch. „Das sieht aus, als würde es gleich auseinanderfallen.“

„Oh, aber es ist mehr, als es scheint“, sagte Mary Poppins und zog ein kleines, goldenes Ticket aus ihrer Tasche. Sie hielt es in die Luft, und sofort begann das Karussell zu summen, als wäre es zum Leben erwacht. Die Kinder beobachteten mit großen Augen, wie die müden Pferde plötzlich ihre Köpfe hoben und die Farben des Karussells leuchtend wurden. Das Holz glättete sich, der Lack glänzte wie neu, und die Musik begann zu spielen – eine seltsame, wunderschöne Melodie, die ihnen das Gefühl gab, zu fliegen, obwohl sie noch mit beiden Füßen auf dem Boden standen.

„Komm schon, wir fahren!“ rief Georgie und lief los, um sich auf eines der Pferde zu schwingen. Annabel zögerte. „Aber das ist doch… nicht möglich.“

Mary Poppins legte ihre Hand leicht auf Annabels Schulter und sah sie an. „Die meisten Dinge, die sich lohnen, sind das nicht. Jetzt los, bevor du etwas verpasst.“

Annabel ließ sich überreden und setzte sich auf eines der Pferde, während Mary Poppins in aller Ruhe das Karussell bediente. Mit einem leisen Klick begann es sich zu drehen, erst langsam, dann immer schneller. Doch das war kein gewöhnliches Karussell. Als sich die Welt um sie herum zu verschwimmen begann, bemerkten die Kinder, dass die Bäume, die den Park umgaben, verschwanden. Stattdessen sahen sie grüne Wiesen, auf denen farbenfrohe Blumen wuchsen. Der Himmel war nicht länger blau, sondern schimmerte in Gold- und Orangetönen, als würde die Sonne gleichzeitig auf- und untergehen.

„Schaut mal!“ rief Georgie und zeigte nach vorne. Sein Pferd bewegte sich – nicht nur auf und ab, sondern tatsächlich vorwärts. Es galoppierte, und hinter ihm taten es die anderen ebenfalls.
Annabel hielt sich fest, während ihr eigenes Pferd zum Leben erwachte. Sie fühlte den Wind in ihren Haaren, hörte das Klappern der Hufe auf dem Gras und spürte eine seltsame Freude, die sie schon lange nicht mehr empfunden hatte.

„Das ist unglaublich!“ rief sie.

„Das ist nur der Anfang“, sagte Mary Poppins, die in der Mitte des Karussells stand, ohne sich festzuhalten, als würde sie schweben. Ihre Stimme war ruhig, aber ihre Augen leuchteten, als würde sie den Kindern heimlich erlauben, die Welt aus ihrer Perspektive zu sehen. Das Karussell führte sie durch eine Welt, die es so nicht geben konnte. Sie ritten durch einen Wald aus funkelnden Bäumen, deren Blätter wie kleine Diamanten glitzerten. Sie galoppierten über eine Brücke aus Regenbogenfarben, die sich über einen endlosen Fluss spannte. Und als sie schließlich anhielten, standen sie in einer großen, offenen Ebene, die mit Sternen übersät war – als wäre die Nacht selbst auf den Boden gefallen. Georgie sprang von seinem Pferd und sah sich um. „Wo sind wir?“

„Irgendwo, wo die Zeit keine Rolle spielt“, sagte Mary Poppins und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Aber wir können nicht lange bleiben. Die Magie hält nicht ewig.“

Annabel wollte protestieren, doch Mary hob die Hand. „Magie ist wie ein guter Kuchen, meine Liebe. Zu viel davon, und man wird krank. Jetzt wieder aufsitzen.“

Die Rückfahrt war kürzer, aber genauso magisch. Als das Karussell schließlich anhielt, fanden sie sich wieder in der Lichtung im Park, als wäre nichts passiert. Das Karussell wirkte wieder alt und müde, doch Annabel war sich sicher, dass die Pferde ihr zugezwinkert hatten, bevor sie abstiegen.

„Das war…“ begann Georgie, doch Mary Poppins schnitt ihm das Wort ab.

„… ein ganz normaler Ausflug“, sagte sie mit einem schmalen Lächeln. „Jetzt los, ihr beiden. Es gibt noch viel zu tun.“

Die Kinder folgten ihr, aber Annabel drehte sich noch einmal um und sah das Karussell an. Es sah wieder genauso aus wie vorher – und doch wusste sie, dass es mehr war. Und tief in ihrem Herzen wusste sie, dass mit Mary Poppins kein Tag jemals wirklich gewöhnlich sein würde.

6. Der sprechende Regenschirm

Es gibt Dinge, die mehr sind, als sie scheinen, und dann gibt es Dinge, die so erstaunlich sind, dass man sich fragt, ob sie überhaupt echt sein können. Der Sonnenschirm von Mary Poppins gehörte zweifellos zur zweiten Kategorie.
Annabel hatte ihn schon oft betrachtet, ohne ihn wirklich zu beachten. Er war elegant, aus schwarzem Stoff, mit einem geschwungenen Griff aus Holz, der wie ein Vogelkopf geschnitzt war. Aber an diesem Morgen, während Mary Poppins in der Küche beschäftigt war, lag der Schirm auf dem Tisch, und Annabel fühlte sich plötzlich seltsam von ihm angezogen.

„Es ist doch nur ein Schirm“, sagte sie zu sich selbst. Aber irgendetwas an diesem Vogelkopf ließ sie innehalten. Es war fast so, als würde er sie ansehen – mit diesen kleinen, eingravierten Augen, die glänzten wie Poliertes.

„Er ist nicht nur ein Schirm“, erklang plötzlich eine tiefe, krächzende Stimme.
Annabel zuckte zusammen und sah sich hastig um. „Wer… wer hat das gesagt?“

„Ich“, antwortete die Stimme, und als Annabel wieder hinsah, bemerkte sie, dass sich der geschnitzte Vogelkopf leicht bewegt hatte. Sein Schnabel öffnete sich, und die Augen schienen sie direkt anzusehen.

„Du… du kannst sprechen?“ fragte sie und trat einen Schritt zurück, unsicher, ob sie träumte.

„Natürlich kann ich das“, sagte der Schirm trocken. „Ich tue es nur nicht oft. Menschen sind so schrecklich uninteressant – außer, wenn sie Dummheiten machen.“

Annabel war sprachlos. Es war nicht nur die Tatsache, dass der Schirm sprach – es war auch die Art, wie er es tat. Seine Stimme war rau und ein wenig schnippisch, als würde er sich für etwas Besseres halten.

„Aber… du bist ein Schirm“, stammelte sie schließlich.

„Ich bin ein Regenschirm“, korrigierte er sie mit Nachdruck. „Und ich habe mehr gesehen und erlebt, als du dir in deinen wildesten Träumen vorstellen kannst.“

„Wie… wie ist das möglich?“ fragte Annabel. Der Schirm seufzte, ein Geräusch, das seltsam zu einem Objekt passte. „Ach, Kindchen, es gibt so vieles, was du nicht weißt. Die Welt ist voller Wunder – wenn du nur hinsiehst. Aber die meisten Menschen sind zu beschäftigt, sich Sorgen zu machen, um das Offensichtliche zu bemerken.“

Annabel wollte etwas erwidern, doch in diesem Moment betrat Mary Poppins den Raum.

„Ich hoffe, du treibst keinen Unsinn“, sagte sie, während sie eine Teekanne auf den Tisch stellte. Annabel sah sie an, unsicher, ob sie das Thema ansprechen sollte. „Miss Poppins… Ihr Schirm… er hat gerade mit mir gesprochen.“

Mary warf einen kurzen Blick auf den Schirm, der nun vollkommen still und unschuldig wirkte. „Hat er das?“ fragte sie mit einem kaum merklichen Lächeln.

„Ja! Er hat gesagt, dass er mehr gesehen hat, als ich mir vorstellen kann!“

Mary Poppins nahm den Schirm und hielt ihn hoch, sodass der Vogelkopf direkt auf sie herabblickte. „Du solltest den Kindern keine Flausen in den Kopf setzen“, sagte sie streng, aber mit einem Hauch von Belustigung.

„Ich habe nur die Wahrheit gesagt“, antwortete der Schirm, ohne die Schnitzerei zu bewegen, als käme die Stimme von irgendwo tief aus seinem Inneren. Mary Poppins schüttelte den Kopf und stellte den Schirm wieder an seinen Platz. „Nun, die Wahrheit ist etwas, das man mit Vorsicht genießen sollte.“

Annabel beobachtete die Szene mit offenem Mund. „Das ist unglaublich“, flüsterte sie. Mary Poppins sah sie an, ihre Augen funkelten. „Unglaublich ist nur das, was man nicht versteht, Annabel. Und jetzt los, der Tag wartet nicht.“ Sie drehte sich um und verließ den Raum, aber Annabel blieb noch einen Moment stehen und starrte den Schirm an.

„Du solltest auf sie hören“, sagte der Schirm leise, bevor er wieder verstummte. Von diesem Moment an wusste Annabel, dass nichts, was mit Mary Poppins zu tun hatte, jemals gewöhnlich sein würde – nicht einmal ein einfacher Regenschirm.

7. Die Probleme von Michael und Jane

In der Cherry Tree Lane Nummer Siebzehn schien alles ruhig. Doch hinter der vertrauten Fassade des Hauses, mit seiner abblätternden Farbe und den knarrenden Türen, stapelten sich die Sorgen von Michael und Jane Banks wie unsichtbare Wolken. Michael saß am Küchentisch, die Stirn in die Hände gestützt. Vor ihm lag ein Stapel Rechnungen, deren rote Zahlen ihn wie bedrohliche Warnsignale anstarrten. Die Hypothek auf das Haus war überfällig, und die Ersparnisse, die er und seine verstorbene Frau Kate einst für die Zukunft der Kinder zurückgelegt hatten, waren längst aufgebraucht.

„Wie soll ich das alles schaffen?“ murmelte er, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. Jane, seine ältere Schwester, lehnte an der Tür und beobachtete ihn. Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, regelmäßig vorbeizuschauen, um zu helfen – oder zumindest zu versuchen. Doch jedes Mal fühlte sie sich machtloser.

„Du kannst nicht alles alleine machen, Michael“, sagte sie schließlich.

„Und wer soll mir helfen?“ fragte er scharf, den Kopf hebend. Seine Augen waren gerötet, von Schlaflosigkeit und der ständigen Last, die auf ihm lag. „Du?“

Jane zuckte nicht zusammen, obwohl seine Worte sie trafen. Sie wusste, dass sein Zorn nicht wirklich ihr galt, sondern der Situation, die sie beide nicht kontrollieren konnten.

„Ich will nur sagen, dass du nicht alles auf deinen Schultern tragen musst“, sagte sie ruhig. „Es gibt immer Lösungen.“

Michael schnaubte. „Lösungen? Jane, wir stehen kurz davor, das Haus zu verlieren. Die Kinder brauchen mich, aber ich bin nicht genug. Ich versuche, für sie da zu sein, aber es… es reicht einfach nicht.“

Es war nicht das erste Mal, dass Jane dieses Gespräch mit ihm führte, und sie wusste, dass es nicht das letzte sein würde.

„Vielleicht solltest du…“ begann sie vorsichtig, doch Michael schnitt ihr das Wort ab.

„Was? Die Kinder zu jemand anderem schicken? Das Haus verkaufen? Sag mir, was ich tun soll, Jane! Ich weiß es nicht mehr.“

Es folgte eine unangenehme Stille, unterbrochen nur vom leisen Ticken der Küchenuhr. Jane ging zu ihm hinüber und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

„Du bist nicht alleine, Michael“, sagte sie leise. „Wir finden einen Weg. Gemeinsam.“

Doch Michael antwortete nicht. Stattdessen starrte er wieder auf die Rechnungen, als könnte er sie durch bloßen Willen zum Verschwinden bringen. Im Wohnzimmer saßen Annabel und Georgie auf dem Boden, mit einem Puzzle, das sie nur halbherzig zusammensetzten. Beide hatten die erhobenen Stimmen aus der Küche gehört, und obwohl sie die genauen Worte nicht verstanden hatten, spürten sie die Anspannung wie eine kalte, unsichtbare Hand.

„Papa ist immer so gestresst“, sagte Georgie leise. Annabel nickte, ihr Blick auf das Puzzle gerichtet. „Ich weiß. Es ist seit… seit Mama nicht mehr da ist.“

Das Wort „Mama“ hing schwer im Raum, wie ein verlorenes Echo.

„Glaubst du, wir müssen ausziehen?“ fragte Georgie. Annabel schüttelte den Kopf, aber ihre Stimme klang nicht überzeugt. „Papa wird es schon schaffen. Er hat immer einen Plan.“

Doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass dies nicht stimmte. Die kleinen Veränderungen waren unübersehbar: das billigere Essen, die gestrichenen Ausflüge, der immer müde Blick ihres Vaters.

„Vielleicht kann Mary helfen“, sagte Georgie plötzlich. Annabel sah ihn an. „Mary Poppins? Sie ist doch keine Zauberin. Sie kann keine Rechnungen bezahlen.“

„Aber sie kann Sachen machen… Dinge, die wir nicht verstehen.“ Georgies Augen leuchteten vor Hoffnung. „Vielleicht weiß sie etwas, was wir nicht wissen.“

Annabel wollte ihm sagen, dass das albern war, doch bevor sie sprechen konnte, trat Mary Poppins ins Wohnzimmer.

„Da redet jemand über mich“, sagte sie mit einem Hauch von Belustigung in der Stimme. Die Kinder sahen sie an, überrascht und ein wenig beschämt, dass sie belauscht worden waren.

„Wir haben nur…“ begann Georgie, doch Mary hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen.

„Ihr habt Sorgen. Das ist verständlich“, sagte sie und setzte sich anmutig auf einen Sessel. „Aber Sorgen lösen keine Probleme. Nur Taten tun das.“

„Aber was können wir tun?“ fragte Annabel, ihre Stimme voller Verzweiflung. Mary Poppins musterte sie einen Moment, bevor sie sagte: „Die richtigen Fragen stellen – und dann die Antworten finden.“ Bevor die Kinder weiterfragen konnten, stand sie auf und strich ihren Rock glatt. „Jetzt, meine Lieben, ist es Zeit für einen Spaziergang. Man denkt immer besser, wenn man sich bewegt.“

Annabel und Georgie tauschten einen Blick aus, unsicher, was Mary vorhatte. Aber eines wussten sie inzwischen: Wenn Mary Poppins etwas vorschlug, war es nie so einfach, wie es klang. Und vielleicht, nur vielleicht, würde sie diesmal tatsächlich helfen können – auf ihre ganz eigene, magische Weise.

8. Ein Brief vom Himmel

Der Morgen war ungewöhnlich ruhig, fast zu ruhig. Die Cherry Tree Lane lag still in der winterlichen Kälte, und ein dünner Schleier aus Nebel kroch über die Dächer. Im Haus Nummer Siebzehn saßen Michael, Jane, Annabel und Georgie schweigend am Frühstückstisch. Selbst Mary Poppins war für ihre Verhältnisse wortkarg, während sie Tee einschenkte und Toast mit einer Präzision schmierte, die fast unheimlich war. Es war Annabel, die die Stille brach. „Warum sieht der Himmel heute so seltsam aus?“ fragte sie und starrte aus dem Fenster..Mary Poppins folgte ihrem Blick. Der Himmel war in der Tat seltsam – ein weiches Rosa und Gold mischte sich mit dem Blau des Morgens, als hätte ein Maler einen besonderen Augenblick eingefangen.

„Manchmal“, sagte Mary leise, „hat der Himmel etwas zu sagen.“

Michael hob müde den Kopf. „Der Himmel spricht nicht, Mary. Das ist nur... Wetter.“ Marys Augen blitzten. „Der Himmel hat mehr Geschichten erzählt, als du dir vorstellen kannst, Michael Banks. Vielleicht hörst du nur nicht richtig hin.“ Michael wollte etwas erwidern, doch in diesem Moment flog ein Windstoß durch den Kamin. Er war nicht laut oder stürmisch, sondern sanft und warm – so unpassend für einen kalten Wintertag, dass alle am Tisch innehalten mussten.

„Was war das?“ fragte Georgie, der seine Tasse Tee fast fallen ließ. Bevor jemand antworten konnte, schwebte ein kleiner, weißer Umschlag durch den Raum. Er wirbelte wie ein Blatt im Wind, drehte sich in der Luft und landete schließlich direkt vor Michael auf dem Tisch.

„Was… ist das?“ flüsterte Annabel. Michael starrte den Umschlag an, als hätte er ein Gespenst gesehen. Er war schlicht, aus schwerem Papier, und sein Name stand darauf geschrieben – in einer Handschrift, die ihm so vertraut war, dass sein Herz einen Moment lang aussetzte.

„Das… das kann nicht sein“, flüsterte er.

„Nun, es ist wohl eindeutig, dass es für Sie bestimmt ist“, sagte Mary Poppins ruhig, ohne einen Anflug von Überraschung. Mit zitternden Händen nahm Michael den Umschlag. Er öffnete ihn langsam, fast ehrfürchtig, und zog ein einzelnes Blatt Papier heraus. Die Kinder beobachteten ihn gespannt, und selbst Jane hielt den Atem an. Michael las die ersten Worte, und seine Augen wurden sofort feucht. „Es ist von… Kate“, flüsterte er.

„Mama?“ fragte Georgie ungläubig. Michael nickte, unfähig, mehr zu sagen. Seine Hände zitterten, als er die Worte laut vorlas:

„Mein liebster Michael,
Wenn du diesen Brief liest, dann bedeutet das, dass ich dir etwas sagen muss, das ich dir nicht mehr persönlich sagen konnte. Du bist ein wunderbarer Vater, und auch wenn die Welt manchmal schwer auf deinen Schultern lastet, möchte ich, dass du eines niemals vergisst: Du bist nicht allein. Liebe und Hoffnung sind immer um dich – du musst sie nur sehen. Vertraue darauf, dass das Leben dich trägt, Michael. Und vertraue auf die Menschen, die dich lieben. Sie sind deine Stärke, genauso wie du ihre bist. Mit all meiner Liebe,
Kate“

Es war, als hätte die Zeit angehalten. Niemand am Tisch sprach, und selbst Mary Poppins war ungewöhnlich still. Die Worte schwebten im Raum, warm und lebendig, als wären sie gerade erst geschrieben worden. Michael legte den Brief vorsichtig auf den Tisch und verbarg sein Gesicht in seinen Händen. Jane legte ihm eine Hand auf die Schulter, und die Kinder rutschten näher, um ihn zu umarmen.

„Es ist wirklich von ihr, oder?“ fragte Annabel leise. Mary Poppins nickte. „Manchmal findet die Liebe einen Weg, sich Gehör zu verschaffen – selbst aus der Ferne.“

Georgie sah sie mit großen Augen an. „Aber… wie ist das möglich?“

Mary warf ihm einen Blick zu, der gleichzeitig streng und sanft war. „Manche Dinge sind nicht dafür gedacht, verstanden zu werden. Sie sind dafür gedacht, gefühlt zu werden.“ Michael hob schließlich den Kopf. In seinen Augen lag ein Ausdruck von Ruhe, den niemand mehr bei ihm gesehen hatte, seit Kate gegangen war. „Danke, Mary“, sagte er leise, und obwohl er nicht genau wusste, warum er sich bedankte, schien sie es zu verstehen.

„Es war nicht meine Arbeit“, sagte sie und stand auf. „Ich bin nur hier, um sicherzustellen, dass die Botschaften ankommen.“

In diesem Moment schien der Himmel draußen noch ein wenig heller zu werden, und der Wind, der den Brief gebracht hatte, legte sich. Die Stille, die folgte, war keine leere Stille – sie war warm, tröstlich, wie eine sanfte Umarmung. Von diesem Tag an trug Michael den Brief immer bei sich. Er war kein Mensch, der leicht an Magie glaubte, aber dieser Moment hatte ihm etwas zurückgegeben, das er fast verloren hatte: Hoffnung. Und während die Kinder in den kommenden Tagen immer wieder über den seltsamen Brief sprachen, wusste Michael tief in seinem Herzen, dass Kate irgendwie noch immer bei ihnen war – ein Teil des Himmels, der über der Cherry Tree Lane wachte.

9. Der magische Dachboden

Es gibt Orte in einem Haus, die Geschichten in ihren Wänden tragen. Der Dachboden der Cherry Tree Lane Nummer Siebzehn war einer dieser Orte. Er hatte alles gesehen: von den Spielen der jungen Michael und Jane Banks bis zu den leisen Tränen, die niemand bemerken sollte. Doch in letzter Zeit war er stiller geworden, als hätte er sich in den Schatten zurückgezogen, wartend auf den richtigen Moment, um wieder zu erwachen. An diesem Nachmittag führte Mary Poppins Annabel und Georgie entschlossen zur Leiter, die zum Dachboden führte.

„Warum gehen wir auf den Dachboden?“ fragte Annabel skeptisch, während sie hinaufkletterte.

„Weil man manchmal nach oben schauen muss, um zu verstehen, was unten schiefläuft“, sagte Mary Poppins in ihrem üblichen rätselhaften Ton. Georgie folgte ihr mit glänzenden Augen. Er liebte den Dachboden – nicht, weil er ihn oft besucht hatte, sondern weil er voller Geheimnisse war. Oben angekommen, mussten sich die Kinder an die Dunkelheit gewöhnen. Staub tanzte im schwachen Licht, das durch ein kleines, schmutziges Fenster fiel. Der Raum roch nach alten Büchern, vergessenen Erinnerungen und einem Hauch von Magie.

„Es ist nur ein Haufen Kram“, sagte Annabel, als sie sich umsah. Überall lagen Kisten, Koffer und Gegenstände, die von der Zeit vergessen schienen.

„Oh, meine Liebe, ‚Kram‘ ist oft ein anderes Wort für Schätze“, erwiderte Mary Poppins und zog mit einer eleganten Bewegung ein altes Tuch von einem großen Spiegel, der an der Wand lehnte. Der Spiegel war riesig, mit einem goldenen Rahmen, der mit feinen Mustern verziert war. Das Glas war nicht mehr ganz klar, sondern hatte einen leichten Schimmer, als würde es etwas verbergen.

„Wow“, sagte Georgie, seine Augen wurden groß. „Ist das ein magischer Spiegel?“

Mary Poppins schmunzelte. „Magisch? Das hängt davon ab, wie du Magie definierst. Aber er zeigt mehr als nur dein Spiegelbild – wenn du bereit bist, hinzusehen.“

Annabel trat näher heran und betrachtete ihr eigenes Spiegelbild. Doch das war nicht alles, was sie sah. Hinter ihr schien der Dachboden nicht mehr der staubige Raum zu sein, sondern ein heller, freundlicher Ort voller Leben. Sie sah Kinder lachen, Erwachsene tanzen und die Sonnenstrahlen, die durch ein klares Fenster hereinfielen.

„Was ist das?“ fragte sie leise.

„Das ist der Dachboden, wie er einmal war“, erklärte Mary. „Er zeigt, was Dinge sein könnten, wenn man sich erinnert, wie sie früher waren.“

Georgie rannte zu einer Kiste in der Nähe. „Gibt es hier noch mehr magische Sachen?“ fragte er, während er den Deckel öffnete.

„Das hängt davon ab, was du findest“, sagte Mary und setzte sich mit einem zufriedenen Lächeln auf einen alten Stuhl. Georgie zog ein altes Buch hervor. Der Einband war aus Leder, und der Titel war fast unleserlich. Als er es aufschlug, entdeckte er Zeichnungen von fantastischen Kreaturen, fliegenden Schiffen und Landschaften, die nicht aus dieser Welt zu stammen schienen.

„Schau dir das an!“ rief er. Annabel kam herüber und beugte sich über das Buch. Die Bilder schienen sich zu bewegen, als würde das Buch atmen.

„Das ist das Tagebuch eines Träumers“, sagte Mary Poppins. „Es gehört jemandem, der mehr sah, als nur das, was vor ihm lag.“

„Wem hat es gehört?“ fragte Annabel.

„Einem jungen Michael Banks“, sagte Mary leise, und die Kinder sahen sie überrascht an.

„Papa?“ Georgies Stimme war ein Flüstern. Mary nickte. „Er war nicht immer so, wie ihr ihn heute kennt. Einst war er ein Junge, der Drachen steigen ließ und an Wunder glaubte.“

Die Kinder sahen das Buch jetzt mit anderen Augen. Es war nicht nur ein Buch – es war ein Fenster in die Vergangenheit ihres Vaters.

„Vielleicht sollten wir es ihm zeigen“, sagte Annabel. Mary schüttelte den Kopf. „Nicht alles ist bereit, wiederentdeckt zu werden. Noch nicht. Aber es wird eine Zeit kommen, in der er daran erinnert werden muss.“

Georgie legte das Buch vorsichtig zurück in die Kiste, als wäre es ein Schatz, den er bewahren musste.

„Ist der ganze Dachboden magisch?“ fragte er. Mary Poppins stand auf und sah sich um. „Alles hat ein wenig Magie in sich – wenn man nur weiß, wie man sie findet.“

Die Kinder spürten, dass dies nicht nur eine Antwort auf Georgies Frage war. Es war eine Lektion, eine jener subtilen Wahrheiten, die Mary Poppins so geschickt in ihre Worte webte.

„Und jetzt“, sagte sie mit einem klirrenden Tonfall, der jede weitere Frage verstummen ließ, „räumt auf. Magie oder nicht, Staub gehört nicht dazu.“

Die Kinder seufzten, aber sie gehorchten. Während sie aufräumten, schien der Dachboden heller zu werden. Der Staub, der früher wie ein Schatten über allem lag, löste sich auf, und der Raum begann sich zu verändern – nicht äußerlich, sondern in seiner Stimmung. Und tief in einer Kiste, verborgen unter alten Decken, warteten weitere Geheimnisse, die nur darauf lauerten, entdeckt zu werden – vielleicht an einem anderen Tag, vielleicht von jemand anderem. Der Dachboden war nicht nur ein Raum voller Dinge. Er war ein Raum voller Geschichten, die darauf warteten, erzählt zu werden.

10. Das Karusell erwacht

Der Park wirkte an diesem Morgen wie eine leere Leinwand. Die kahlen Bäume warfen lange Schatten über den frostigen Boden, und die Luft war still, als würde die Welt auf etwas warten. Mary Poppins führte Annabel und Georgie über den Kiesweg, vorbei an Ententeichen, Bänken und einem alten Brunnen, der schon seit Jahren kein Wasser mehr spuckte.

„Wohin gehen wir?“ fragte Georgie, der die Hände tief in die Manteltaschen gesteckt hatte, um sie warm zu halten.

„Geduld, Georgie“, sagte Mary Poppins, ohne sich umzudrehen. „Die besten Dinge im Leben kommen zu denen, die warten können.“

Annabel war nicht ganz so überzeugt. Sie hatte gehofft, dass der Ausflug eine klarere Richtung hätte, aber mit Mary Poppins konnte man sich nie sicher sein.
Schließlich erreichten sie eine Lichtung, die wie aus einer anderen Zeit zu stammen schien. In ihrer Mitte stand ein Karussell – groß, prachtvoll, aber in einem Zustand, der alles andere als einladend war. Die Farben waren verblasst, die goldenen Stangen matt, und die geschnitzten Holzpferde wirkten müde, als hätten sie vergessen, wozu sie da waren.

„Ein Karussell?“ fragte Annabel skeptisch. „Das sieht aus, als hätte es schon seit Jahren niemand mehr benutzt.“

„Vielleicht“, sagte Mary Poppins, ihre Augen fixierten das alte Fahrgeschäft. „Oder vielleicht hat es nur geschlafen.“

Georgie lief vor, stellte sich vor eines der Pferde und legte seine Hand auf die bemalte Mähne. „Es fühlt sich… kalt an.“

Mary lächelte. „Das tut es. Aber kalte Dinge können wieder warm werden, wenn man weiß, wie.“ Sie öffnete ihre magische Tasche und zog einen kleinen, silbernen Schlüssel hervor. Er glänzte im Licht, obwohl keine Sonne zu sehen war. Die Kinder starrten ihn an, ihre Neugier geweckt.

„Was ist das?“ fragte Georgie.

„Das Herz dieses Karussells“, sagte Mary Poppins und steckte den Schlüssel in ein Schloss, das in die Mitte der Karussellsäule eingelassen war. Mit einem sanften Klicken drehte sie den Schlüssel, und etwas geschah. Ein leises Summen erfüllte die Luft, fast wie das Erwachen eines schlafenden Tieres. Die Pferde begannen leicht zu wackeln, als würden sie sich strecken, und die Farben des Karussells wurden lebendiger. Das verblasste Rot verwandelte sich in ein kräftiges Karmesinrot, das Gold glänzte wieder, und die geschnitzten Blumen und Muster an der Säule schienen neu bemalt.

„Wow“, flüsterte Georgie.

„Das ist noch gar nichts“, sagte Mary Poppins und klatschte einmal in die Hände. Die Melodie des Karussells begann zu spielen, eine wunderschöne, alte Melodie, die so vertraut klang, als hätte sie immer schon in der Luft gelegen. Die Pferde bewegten sich nun auf und ab, die Lichter flammten auf, und das Karussell begann, sich langsam zu drehen.

„Es lebt wirklich!“ rief Annabel, während sie staunend zusah. Mary nickte zufrieden. „Natürlich tut es das. Alles hat einen Funken Leben in sich – selbst Dinge, die stillstehen.“

„Können wir reiten?“ fragte Georgie aufgeregt.

„Natürlich“, sagte Mary. „Ein Karussell ist dazu da, benutzt zu werden.“

Die Kinder sprangen auf die Pferde, Georgie auf ein schwarzes mit einer glänzenden Mähne, Annabel auf ein weißes mit goldenen Hufen. Das Karussell nahm an Geschwindigkeit zu, und der Wind schien plötzlich warm und weich, als würde er sie umarmen. Doch dann passierte etwas Unerwartetes. Das Karussell hörte nicht auf, sich zu drehen – es beschleunigte nur leicht, und plötzlich schien die Welt um sie herum zu verschwimmen. Die Bäume des Parks, die Bänke, sogar Mary Poppins wurden zu einem farbigen Wirbel, bis alles verschwand. Als sich die Drehung verlangsamte, fanden sich Annabel und Georgie nicht mehr im Park, sondern auf einer weiten, grünen Ebene. Das Karussell stand mitten in einer Landschaft, die so fantastisch war, dass sie kaum zu glauben schien. Blumen in allen Farben blühten um sie herum, und am Himmel flogen seltsame Vögel mit schimmernden, durchsichtigen Flügeln.

„Wo sind wir?“ fragte Annabel atemlos.

„An einem Ort, der außerhalb der Zeit liegt“, sagte Mary Poppins, die wie aus dem Nichts aufgetaucht war. „Das Karussell zeigt uns, was wir sehen sollen.“

„Es ist wunderschön“, flüsterte Georgie, während er die Landschaft bewunderte.

„Und es ist nur der Anfang“, sagte Mary.
Die Pferde begannen sich plötzlich zu bewegen – nicht mehr im Kreis, sondern vorwärts, als könnten sie wirklich laufen. Annabel und Georgie hielten sich fest, während die Pferde über die Ebene galoppierten, durch blühende Wiesen und an funkelnden Seen vorbei.

„Das ist unglaublich!“ rief Georgie, sein Lachen hallte über die Landschaft. Annabel fühlte ein Gefühl der Freiheit, das sie nie zuvor erlebt hatte. Es war, als hätte das Karussell sie an einen Ort gebracht, an dem nichts unmöglich war.
Nach einer Weile verlangsamten die Pferde ihr Tempo und brachten die Kinder zurück zum Karussell. Die Welt um sie herum begann zu verblassen, und bald waren sie wieder im Park. Das Karussell drehte sich langsamer, die Melodie wurde leiser, und schließlich kam es zum Stillstand.

„War das real?“ fragte Annabel, während sie von ihrem Pferd stieg. Mary Poppins zog den Schlüssel aus dem Schloss und steckte ihn zurück in ihre Tasche. „Was ist schon real? Manchmal reicht es, dass es sich echt anfühlt. Und jetzt – ab nach Hause.“

Die Kinder folgten ihr, beide noch immer voller Staunen. Und während sie den Park verließen, schien das Karussell leise zu summen, als würde es darauf warten, wieder erwacht zu werden – vielleicht eines Tages, wenn die Zeit kommt.

11. Der Tanz der Sterne

Die Nacht war hereingebrochen, und die Cherry Tree Lane lag still unter einem klaren, funkelnden Himmel. Es war eine dieser seltenen Nächte, in denen die Sterne so hell leuchteten, dass sie den ganzen Himmel erhellten, als wollten sie etwas Besonderes ankündigen. Im Banks-Haus waren Annabel und Georgie gerade dabei, sich ins Bett zu schleichen, als Mary Poppins mit einem wissenden Blick im Türrahmen ihres Zimmers erschien.

„Ihr zwei“, sagte sie streng, aber nicht unfreundlich, „habt ihr vor, diese prachtvolle Nacht einfach zu verschlafen?“

„Wir sollen doch ins Bett“, protestierte Annabel leise, überrascht, dass Mary Poppins die Regeln offenbar ignorierte, die sie normalerweise so streng einhielt.
Mary schnalzte mit der Zunge. „Unsinn. Schlafen kann man immer. Aber solche Nächte wie diese… die warten nicht.“

Bevor die Kinder protestieren konnten, war sie schon wieder aus dem Zimmer verschwunden. Eine Minute später stand sie wieder da, in ihrem gewohnten makellosen Mantel und mit ihrem Sonnenschirm in der Hand.

„Aufstehen, anziehen und folgt mir. Und zieht warme Sachen an. Sterne mögen keine Frostbeulen.“

Georgie kicherte und schlüpfte eilig aus dem Bett. Annabel, die eigentlich müde war, konnte ihre Neugier nicht zurückhalten und zog sich ebenfalls an.
Mary Poppins führte sie durch die stille Cherry Tree Lane hinaus in den Park. Der Mond war voll und schien hell über den schlafenden Bäumen und Wiesen. Die Sterne glitzerten wie Diamanten, und die Luft war so klar, dass sie fast süß schmeckte.

„Warum sind wir hier?“ fragte Annabel, die sich an ihrem Schal festhielt.

„Geduld, meine Liebe“, sagte Mary. „Man tanzt nicht, bevor die Musik beginnt.“

Sie führte die Kinder auf eine Lichtung, die von alten Bäumen umgeben war. Die Sterne über ihnen schienen noch heller zu leuchten, und die Kinder bemerkten, dass sich die Dunkelheit der Nacht langsam veränderte. Die Sterne begannen, sich leicht zu bewegen, fast unmerklich, wie ein sanftes Pulsieren.

„Seht ihr?“ sagte Mary leise. „Die Sterne sind mehr als nur kleine Punkte am Himmel. Sie tanzen – aber nur für die, die bereit sind, zuzusehen.“

Georgie riss die Augen auf. „Tanzen? Wie können Sterne tanzen?“

„Die gleiche Frage könntest du stellen, wenn du ein Vogel fliegen oder ein Fisch schwimmen siehst“, sagte Mary. „Manches geschieht einfach, weil es so sein soll.“

Dann schwang sie ihren Sonnenschirm in einer eleganten Bewegung, und plötzlich begann der Himmel sich zu verändern. Die Sterne wirbelten umeinander, zogen funkelnde Bahnen, die wie goldene Fäden durch die Dunkelheit glitzerten. Einige Sterne stiegen höher, andere sanken tiefer, und zusammen formten sie Muster, die wie Tänzer in einem Ballett wirkten. Annabel und Georgie standen mit offenem Mund da, ihre Köpfe in den Nacken gelegt.

„Das ist unglaublich!“ rief Georgie.

„Das ist der Tanz der Sterne“, erklärte Mary Poppins. „Er geschieht nur an besonderen Nächten wie dieser – wenn die Welt still genug ist, um zuzusehen.“

Die Sterne schienen ihre Bewegungen zu beschleunigen, und bald war der gesamte Himmel ein Wirbel aus Licht und Farben. Blaue, goldene und silberne Bahnen zogen sich durch die Dunkelheit, und die Kinder fühlten sich, als stünden sie mitten in einem lebendigen Gemälde.

„Hört ihr die Musik?“ fragte Mary. Annabel lauschte und bemerkte, dass tatsächlich eine leise, fast ungreifbare Melodie die Luft erfüllte. Es war keine Musik, wie sie sie kannte – sie war weich und flüsternd, als käme sie von den Sternen selbst.

„Das ist wunderschön“, flüsterte Annabel. Mary Poppins nickte. „Die Sterne haben ihre eigene Sprache, ihre eigene Musik. Die meisten Menschen hören sie nie, weil sie zu beschäftigt sind, um hinzusehen.“

Plötzlich schien ein besonders heller Stern direkt über ihnen zu stehen. Sein Licht wurde stärker, bis es die Lichtung in ein sanftes, silbernes Leuchten tauchte. Mary Poppins hob ihren Schirm und drehte sich elegant unter dem Licht, als würde sie selbst Teil des himmlischen Tanzes werden.

„Tanzen wir mit?“ fragte Georgie, der bereits aufgeregt auf der Stelle hüpfte.

„Natürlich“, sagte Mary. „Was wäre ein Tanz ohne Tänzer?“

Sie nahm Georgies Hand und bedeutete Annabel, sich ebenfalls einzureihen. Gemeinsam drehten sie sich unter dem funkelnden Himmel, ihre Bewegungen geführt von der unsichtbaren Melodie der Sterne. Es war ein Tanz, der sich so leicht und mühelos anfühlte, dass die Kinder nicht einmal merkten, wie die Zeit verging. Die Sterne schienen sie zu umkreisen, als wären sie ein Teil der Choreografie, und Annabel fühlte eine Wärme in ihrem Herzen, die sie seit langem vermisst hatte. Es war, als hätten die Sterne all die Sorgen und Ängste, die sie in sich trug, weggewaschen. Nach einer Weile begann die Melodie leiser zu werden, und die Sterne kehrten langsam an ihre festen Plätze zurück. Der Himmel wurde wieder still, und die Lichtung lag wieder im Dunkeln, nur vom Mondlicht beleuchtet. Mary Poppins ließ Georgies Hand los und strich ihren Rock glatt. „Das war genug für eine Nacht. Die Sterne tanzen nicht ewig, und die Menschen auch nicht.“
Die Kinder folgten ihr schweigend zurück zur Cherry Tree Lane, ihre Herzen noch immer voller Staunen.

„Mary?“ fragte Annabel schließlich, kurz bevor sie das Haus erreichten.

„Ja, meine Liebe?“

„Passiert das… überall?“

Mary lächelte. „Die Sterne tanzen für alle. Aber nicht alle sehen es.“ Und mit diesen Worten führte sie die Kinder zurück ins Haus, wo sie bald einschliefen – ihre Köpfe noch voller Sterne und ihre Träume heller als je zuvor.

12. Ein Nachmittag im Zoo

Es war einer dieser seltenen Tage, an denen die Sonne schien, ohne zu brennen, und eine leichte Brise wehte, die den Park in der Nähe der Cherry Tree Lane angenehm kühl hielt. Mary Poppins hatte beschlossen, dass es ein perfekter Tag für einen Ausflug war.

„Heute gehen wir in den Zoo“, verkündete sie beim Frühstück. Georgie sprang begeistert auf. „In den Zoo? Wirklich?“

Annabel hingegen zog die Augenbrauen hoch. „Ich dachte, der Zoo ist langweilig. Tiere hinter Gitterstäben zu sehen, macht keinen Spaß.“

Mary Poppins legte ihr Messer mit einer eleganten Bewegung zur Seite und warf Annabel einen strengen Blick zu. „Langweilig ist ein Wort, das nur von Menschen benutzt wird, die nicht richtig hinschauen. Und ich werde euch beweisen, dass der Zoo alles andere als langweilig ist.“

Der Zoo war voller Menschen, doch es war keine unangenehme Enge, sondern eher ein lebendiges Durcheinander aus Lachen, Rufen und dem Summen der Gespräche. Kinder rannten aufgeregt von einem Gehege zum nächsten, und Eltern hielten ihre Hände voller Eis, Ballons und Kameras. Mary Poppins führte Annabel und Georgie durch die Hauptallee, ihre Schritte so zielgerichtet, als hätte sie einen genauen Plan.

„Wohin gehen wir zuerst?“ fragte Georgie, der sich kaum zurückhalten konnte.

„Zu den Elefanten? Oder den Löwen?“

„Zuerst gehen wir dorthin, wo man zuhören kann“, sagte Mary Poppins, ohne eine weitere Erklärung zu geben.
Die Kinder sahen sich fragend an, doch sie folgten ihr, bis sie vor einem großen Vogelhaus ankamen. Es war ein riesiges Gehege, umgeben von Maschendraht und dichtem Grün, und drinnen flatterten Papageien, Tukane und andere exotische Vögel umher.

„Vögel? Das ist doch nichts Besonderes“, murmelte Annabel leise, doch Mary hörte sie.

„Ach, wirklich?“ Mary Poppins klopfte mit dem Finger leicht gegen die Maschendrahttür. „Dann hör gut zu.“

Kaum hatte sie das gesagt, verstummten die Vögel plötzlich. Es war, als hätten sie sich abgesprochen, die Luft anzuhalten. Dann, einer nach dem anderen, begannen sie zu sprechen.

„Schau, wer da ist!“ krächzte ein Papagei mit buntem Gefieder.

„Mary Poppins! Mary Poppins!“ rief ein anderer und flatterte aufgeregt von Ast zu Ast. Annabel und Georgie starrten mit offenem Mund. „Sie… sie sprechen?“

„Natürlich sprechen sie“, sagte Mary. „Ihr habt nur nie zugehört.“

„Es ist Mary!“ rief ein Tukanküken begeistert, während es von einem Ast hüpfte. „Wir haben dich vermisst!“

„Das habt ihr sicher“, erwiderte Mary Poppins trocken. „Ich bin mir sicher, dass ihr ohne mich völlig aus der Bahn geraten seid.“

„Na ja, ein bisschen vielleicht“, gab ein älterer Papagei zu. „Aber du bist ja wieder da!“

Georgie platzte vor Neugierde. „Warum können sie sprechen? Das können doch keine normalen Vögel sein!“

Mary sah ihn mit ihrem typischen Blick an – einer Mischung aus Belustigung und mildem Tadel. „Wer sagt, dass sie es nicht können? Nur weil sie es vor den meisten Menschen nicht tun, heißt das nicht, dass sie es nicht können.“

Von den Vögeln ging es weiter zu anderen Gehegen, und jedes war auf seine Weise besonders. Bei den Affen, die sich anfangs nur wie gewohnt hin- und herschwangen, begannen die Tiere plötzlich, witzige Nachahmungen von Besuchern zu machen – ein Schimpanse stellte sich hin wie ein gestresster Vater, der zwei Eiscremes balancierte, während ein anderer versuchte, eine „Kamera“ aus einem Stück Ast nachzubilden.

„Siehst du, Annabel?“ fragte Mary Poppins, während ein Orang-Utan eine perfekte Nachahmung von Georgies aufgeregtem Herumspringen aufführte. „Langweilig sieht anders aus.“

Annabel konnte nicht anders, als zu lachen. „Ich nehme alles zurück!“

Der Höhepunkt kam jedoch, als sie zum Löwengehege gingen. Die mächtigen Tiere lagen träge in der Sonne, bis Mary Poppins die Hände in die Hüften stemmte und ein einziges Wort sprach:

„Aufstehen.“

Zu Annabels und Georgies Erstaunen hob der größte Löwe, ein beeindruckendes Tier mit einer dichten, goldenen Mähne, den Kopf und sah Mary direkt an.

„Mary Poppins“, sagte er mit einer tiefen, brummenden Stimme.

„Genau die“, sagte Mary. „Und jetzt hör auf, faul zu sein, und zeig diesen Kindern, dass du mehr bist als nur eine Dekoration.“

Der Löwe erhob sich langsam, schüttelte sich, und mit einer Eleganz, die den Kindern den Atem raubte, begann er im Gehege auf und ab zu schreiten.

„Er spricht!“, rief Georgie.

„Natürlich spreche ich“, sagte der Löwe. „Aber ich spreche nur, wenn es etwas zu sagen gibt.“

„Das… das ist unglaublich“, flüsterte Annabel, die plötzlich spürte, wie klein sie im Vergleich zu diesem majestätischen Tier war.

„Mary Poppins hat uns das Sprechen beigebracht“, sagte der Löwe. „Aber die Menschen haben vergessen, wie man zuhört.“

„Nun“, sagte Mary, „zum Glück sind diese beiden hier lernfähig.“

Als die Sonne begann, sich dem Horizont zuzuneigen, führte Mary Poppins die Kinder wieder aus dem Zoo.

„Das war der beste Zoobesuch überhaupt!“ rief Georgie.

„Ich wusste nicht, dass Tiere so… besonders sein können“, sagte Annabel nachdenklich. Mary Poppins lächelte leicht. „Alles ist besonders, wenn man genau hinsieht.“

Und während die Cherry Tree Lane wieder näher kam, bemerkten Annabel und Georgie, dass die Welt um sie herum ein wenig lebendiger wirkte – als hätten die Tiere ihnen gezeigt, dass es überall Magie gibt, wenn man nur bereit ist, sie zu sehen.

13. Das Lied der Winde

Der Tag hatte ruhig begonnen, mit einer stillen Morgenluft, die schwer von Sommerduft war. Doch gegen Mittag begann sich die Atmosphäre zu verändern. Der Himmel über der Cherry Tree Lane war nicht bedrohlich, aber die Wolken schienen lebendig zu sein, als würden sie sich versammeln, um eine Botschaft zu überbringen. Mary Poppins stand auf der Veranda und blickte hinauf, ihre Augen schmal zusammengekniffen.

„Da ist etwas in der Luft“, sagte sie leise, mehr zu sich selbst als zu jemand anderem. Annabel und Georgie spielten mit einem Drachen im Garten, doch der Wind machte es ihnen schwer, ihn unter Kontrolle zu halten. Immer wieder zog er die Schnur mit unberechenbarer Kraft, als wollte er etwas mitteilen.

„Der Wind ist heute komisch“, rief Georgie und kämpfte mit der Schnur.

„Komisch? Das ist ein bisschen zu harmlos ausgedrückt“, sagte Mary Poppins, während sie heranschritt. „Dieser Wind hat eine Stimme, wenn man genau hinhört.“

Annabel runzelte die Stirn. „Winde haben keine Stimme, Mary.“ Mary sah sie mit diesem Blick an – einem, der sagte, dass die Welt viel mehr enthielt, als Annabel sich vorstellen konnte. „Alles hat eine Stimme, meine Liebe. Die Frage ist, ob du bereit bist zuzuhören.“

Der Wind wurde stärker, zerrte an den Bäumen und raschelte durch die Blätter, als würde er Worte formen. Mary Poppins hob den Kopf, und ihre Augen funkelten, als hätte sie etwas gehört, was die Kinder nicht wahrnehmen konnten.

„Kommt mit“, sagte sie plötzlich.

„Wohin?“ fragte Georgie, noch immer mit dem Drachen kämpfend.

„Dorthin, wo der Wind am lautesten spricht.“

Sie führte die Kinder in den Park, wo die Bäume in alle Richtungen schwankten und das Rascheln der Blätter wie eine geheimnisvolle Melodie klang. Annabel und Georgie folgten ihr, obwohl sie nicht genau wussten, was sie erwartete.

„Was machen wir hier?“ fragte Annabel, ihre Stimme fast verloren im Brausen des Windes. Mary Poppins blieb stehen, genau in der Mitte einer Lichtung, und hob ihren Sonnenschirm. „Hört zu“, sagte sie, ihre Stimme klar und ruhig. Die Kinder versuchten, sich auf die Geräusche des Windes zu konzentrieren. Zuerst hörten sie nur ein unregelmäßiges Heulen, das durch die Äste zog, aber dann… dann wurde es zu etwas anderem.

„Ist das… eine Melodie?“ fragte Georgie ungläubig.

„Es klingt wie ein Lied“, flüsterte Annabel. Und tatsächlich, der Wind begann, sich in eine rhythmische, fast hypnotische Melodie zu verwandeln. Es war ein Lied ohne Worte, aber voller Geschichten – Geschichten von fernen Ländern, von stürmischen Meeren, von Bergen, die den Himmel berührten. Es klang wie die Essenz der Welt selbst, verpackt in Töne, die direkt in die Herzen der Zuhörer drangen. Georgie hielt den Atem an. „Wie kann der Wind singen?“

Mary Poppins lächelte sanft. „Der Wind singt immer. Manchmal flüstert er, manchmal schreit er. Aber an Tagen wie heute erzählt er seine Geheimnisse, wenn du bereit bist, zuzuhören.“ Annabel schloss die Augen und ließ die Musik auf sich wirken. Sie fühlte die Geschichten, die der Wind erzählte – von Abenteuern, die sie nie erlebt hatte, und von einer Welt, die größer war, als sie je gedacht hatte.

„Das ist wunderschön“, sagte sie schließlich, ihre Stimme leise.

„Es ist mehr als das“, sagte Mary Poppins. „Der Wind erinnert uns daran, dass wir ein Teil von etwas Größerem sind. Er trägt Erinnerungen, Hoffnungen und Träume. Wenn du genau hinhörst, kannst du vielleicht sogar deine eigene Geschichte darin hören.“

Georgie blickte in den Himmel, wo die Wolken nun wie tanzende Figuren wirkten, die den Rhythmus des Liedes widerspiegelten. „Hört der Wind irgendwann auf zu singen?“ Mary Poppins schüttelte den Kopf. „Nein. Der Wind singt immer weiter. Aber die meisten Menschen hören irgendwann auf zuzuhören.“ Die Kinder blieben eine Weile still, während sie die Melodie des Windes genossen. Es war ein Moment, den sie nie vergessen würden – ein Augenblick, in dem die Welt für einen kurzen Moment vollkommen und magisch schien. Als der Wind schließlich abflaute und der Himmel sich klärte, machte Mary Poppins eine elegante Bewegung mit ihrem Sonnenschirm und wandte sich zum Gehen.

„Zeit, nach Hause zu gehen“, sagte sie.

„Aber… was, wenn wir das Lied nie wieder hören?“ fragte Annabel. Mary blieb stehen und sah sie an. „Das Lied ist immer da, Annabel. Du musst nur innehalten und lauschen. Es gibt keinen Ort auf der Welt, an dem der Wind nicht singt.“

Und mit diesen Worten führte sie die Kinder zurück zur Cherry Tree Lane, während der Wind, jetzt nur noch ein sanftes Flüstern, weiterhin seine Melodie spielte – ein Lied, das nur die hörten, die bereit waren, es zu fühlen.

14. Die Bank von Mr. Banks

Die Bank war ein imposantes Gebäude. Groß, kühl und unerschütterlich, mit hohen Säulen und schweren Türen, die jeden Besucher daran erinnerten, dass sie hier nicht zum Spielen, sondern zum Arbeiten oder Verhandeln kamen. Es war die Bank, in der Mr. Banks, der Großvater von Michael und Jane, einst gearbeitet hatte – eine Bank voller Geschichten, Regeln und einer seltsamen Mischung aus Ehrfurcht und Bedrohlichkeit. An diesem Morgen stand Michael Banks mit Annabel und Georgie vor der mächtigen Fassade. Sein Gesicht war angespannt, seine Schultern wirkten schwer, und in seinen Händen hielt er eine kleine Mappe mit Papieren, die er immer wieder nervös durchblätterte.

„Warum sind wir hier?“ fragte Annabel und sah zu den hohen Säulen hinauf. Michael seufzte. „Ich… ich muss mit ihnen über das Haus sprechen.“

„Was hat das Haus mit einer Bank zu tun?“ fragte Georgie.

„Die Bank besitzt es“, sagte Michael leise.
Annabel und Georgie sahen sich an, die Bedeutung dieser Worte langsam begreifend. Die Empfangshalle der Bank war so beeindruckend wie einschüchternd. Der Boden glänzte vor Sauberkeit, und die Schritte der Besucher hallten von den hohen Decken wider. Es roch nach Papier, Tinte und einem Hauch von Möbelpolitur. Michael führte die Kinder zu einem der Schalter, wo ein Mann mit grauem Anzug und strengem Gesichtsausdruck auf sie herabsah.

„Herr Banks“, sagte der Mann und hob die Augenbrauen. „Was führt Sie her?“

Michael räusperte sich. „Ich bin hier, um… um die Hypothek zu besprechen.“

Der Mann nickte langsam, als hätte er erwartet, dass Michael das sagen würde. „Natürlich. Folgen Sie mir.“ Sie wurden in ein kleines Büro geführt, dessen Wände mit Regalen voller Akten bedeckt waren. Auf dem Schreibtisch lagen gestapelte Dokumente, und in der Ecke tickte eine große Standuhr, deren gleichmäßiger Rhythmus die Stille im Raum durchbrach. Michael setzte sich, während Annabel und Georgie unsicher in der Nähe der Tür stehen blieben.

„Die Situation ist klar, Herr Banks“, begann der Mann sachlich, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. „Ihre Zahlungen sind im Rückstand. Wenn keine Lösung gefunden wird, sehen wir uns gezwungen, das Haus in der Cherry Tree Lane zu veräußern.“

„Veräußern?“ fragte Georgie laut. Michael drehte sich um. „Das bedeutet, dass wir es verlieren könnten.“

Annabels Gesicht wurde blass. „Aber das ist unser Zuhause!“ Der Bankangestellte sah die Kinder mit einem Anflug von Mitleid an, doch seine Stimme blieb kalt. „Das tut mir leid, aber Regeln sind Regeln. Ohne Zahlung…“

In diesem Moment wurde die Tür des Büros mit einem Knall aufgestoßen, und Mary Poppins trat ein. Wie immer war sie makellos gekleidet, und ihre Augen funkelten mit einer Mischung aus Autorität und Verachtung.

„Entschuldigen Sie“, sagte sie, ohne zu warten, dass jemand sie einlud. „Aber ich glaube, hier wird etwas Wichtiges übersehen.“

Der Bankangestellte runzelte die Stirn. „Wer sind Sie?“

„Mary Poppins“, sagte sie kühl. „Und ich bin hier, um sicherzustellen, dass Gerechtigkeit ihren Platz findet.“

Bevor der Mann protestieren konnte, zog sie einen kleinen, abgenutzten Notizblock aus ihrer Tasche. „Wenn ich mich nicht irre, war der Großvater dieses Mannes, George Banks, ein treuer und langjähriger Mitarbeiter dieser Bank.“

„Das mag sein“, sagte der Angestellte. „Aber das ändert nichts an der aktuellen Situation.“

„Ach nein?“ Mary Poppins blätterte durch den Notizblock, obwohl die Seiten leer zu sein schienen. „Haben Sie vergessen, dass George Banks ein entscheidender Faktor dafür war, dass diese Bank einst einen enormen Gewinn machte, indem er einen bestimmten Zinsvorschlag durchsetzte? Oder dass er persönlich dazu beitrug, das Vertrauen der Investoren zu stärken, als es fast verloren ging?“

Der Mann blinzelte überrascht. „Nun, das ist lange her…“ „Mag sein“, sagte Mary, ihre Stimme scharf wie ein Messer. „Aber Geschichte ist wichtig. Und Respekt ebenso. Diese Familie hat mehr für diese Bank getan, als Sie sich vorstellen können. Es wäre nur fair, dass sie jetzt ein wenig Unterstützung erhalten.“ Michael sah sie mit geweiteten Augen an. „Mary, ich weiß nicht, ob das funktioniert…“

„Funktionieren wird es, wenn ich sage, dass es funktioniert“, sagte sie bestimmt.
Der Bankangestellte schien unsicher, ob er lachen oder sich ärgern sollte. Doch bevor er etwas sagen konnte, zog Mary Poppins ein weiteres Dokument aus ihrer Tasche – ein altes, vergilbtes Papier, das mit der geschwungenen Handschrift von George Banks beschriftet war.

„Das ist ein Beweis dafür, dass die Familie Banks einst eine beträchtliche Summe gespendet hat, um diese Bank während einer Finanzkrise zu retten“, erklärte sie. „Vielleicht möchten Sie das mit Ihrem Vorgesetzten besprechen?“

Der Mann sah auf das Papier und dann zurück zu Mary. Schließlich nickte er zögernd. „Ich… ich werde sehen, was ich tun kann.“

„Das werden Sie“, sagte Mary mit einem Hauch von Triumph. „Und jetzt entschuldigen Sie uns.“

Draußen vor der Bank waren Annabel und Georgie immer noch sprachlos.

„Wie haben Sie das gemacht?“ fragte Annabel schließlich. Mary Poppins hob die Augenbrauen. „Ich habe nichts gemacht. Ich habe nur dafür gesorgt, dass die Dinge wieder ins Gleichgewicht kommen. Gerechtigkeit, meine Liebe, ist eine Kunst.“

Michael sah sie mit einem leichten Lächeln an, das er lange nicht gezeigt hatte. „Danke, Mary. Ich weiß nicht, wie ich das jemals zurückzahlen soll.“ Mary winkte ab. „Zurückzahlen? Unsinn. Ein bisschen Dankbarkeit genügt. Und vielleicht – nur vielleicht – ein wenig mehr Vertrauen in die Dinge, die sich oft von selbst regeln.“ Während sie zurück zur Cherry Tree Lane gingen, fühlte sich die Welt plötzlich ein wenig leichter an – als hätten Mary Poppins und ihre unerschöpfliche Tasche wieder einmal das Unmögliche möglich gemacht.

15. Die zerbrochene Schneekugel

Die Kinder hatten sie auf dem Dachboden gefunden – eine alte Schneekugel, die beinahe vergessen in einer staubigen Kiste lag. Der Glaskörper war leicht zerkratzt, der Sockel aus Holz abgeblättert, aber das kleine Bild darin war noch deutlich zu erkennen: eine winzige Stadt mit schneebedeckten Dächern, die still und friedlich unter einer unsichtbaren Decke aus Schnee lag.

„Was für ein schöner Fund“, sagte Annabel, während sie die Kugel vorsichtig hielt. Georgie schüttelte sie leicht, und winzige, glitzernde Flocken wirbelten im Inneren herum. „Es sieht aus, als würde es wirklich schneien.“

„Seid vorsichtig“, warnte Mary Poppins, die plötzlich hinter ihnen stand. „Das ist keine gewöhnliche Schneekugel.“

„Was meinen Sie?“ fragte Annabel neugierig. Mary Poppins nahm die Kugel in die Hand, betrachtete sie einen Moment und hielt sie dann gegen das Licht. „Diese Kugel ist eine Erinnerung“, sagte sie leise. „Eine Erinnerung an eine Zeit, in der jemand etwas verloren hat – und es zurückgefunden hat.“

„Wem hat sie gehört?“ fragte Georgie. Mary lächelte geheimnisvoll. „Jemandem, der sie brauchte. Erinnerungen haben die Angewohnheit, immer zum richtigen Zeitpunkt aufzutauchen.“

Am nächsten Morgen stand die Schneekugel auf dem Kaminsims im Wohnzimmer, und die Kinder konnten kaum die Augen von ihr lassen. Sie hatte etwas Anziehendes, fast Magisches. Doch als Georgie sie erneut in die Hand nahm, passierte das Unglück: Die Kugel rutschte aus seinen kleinen Fingern, fiel zu Boden und zerbrach in tausend Stücke.

„Oh nein!“ rief er erschrocken. Annabel kniete sich sofort hin, um die Scherben aufzuheben, und Georgie starrte entsetzt auf das glitzernde Wasser, das sich über den Holzboden ausbreitete.

„Es tut mir so leid“, sagte er leise, die Tränen in den Augen. „Ich wollte das nicht.“

Mary Poppins betrat den Raum und blieb einen Moment stehen, während sie die Szene betrachtete. Sie sagte nichts, sondern hob die Hand, um die Kinder vom Boden wegzuführen.

„Ihr könnt sie nicht reparieren, indem ihr euch entschuldigt“, sagte sie schließlich. „Aber vielleicht kann sie etwas anderes zeigen.“

Die Kinder folgten Mary Poppins, die die Scherben und die Überreste der Kugel mit einem Handgriff aufhob und sie auf den Esstisch legte. Mit einer sanften Bewegung ihres Fingers formte sie die Teile wieder zu einer Art Kugel, obwohl sie jetzt nicht mehr wie vorher aussah.

„Was ist das?“ fragte Annabel.

„Manchmal muss etwas zerbrechen, damit es zeigt, was wirklich darin steckt“, sagte Mary Poppins ruhig. Die Kugel, obwohl immer noch gesprungen und unvollständig, begann plötzlich, ein schwaches Leuchten auszustrahlen. Die Kinder starrten gebannt, als die kleine Stadt in ihrem Inneren wieder auftauchte – doch diesmal war sie anders. Die Häuser wirkten lebendiger, der Schnee funkelte intensiver, und sie konnten winzige Figuren sehen, die sich durch die Straßen bewegten, als lebten sie tatsächlich in der Kugel.

„Das ist unglaublich“, flüsterte Georgie.

„Sie lebt“, sagte Annabel ehrfürchtig.

„Natürlich lebt sie“, sagte Mary Poppins. „Erinnerungen sind lebendig, wenn wir sie zulassen. Die Brüche in der Kugel haben sie nur noch klarer gemacht.“

In der kleinen Stadt in der Kugel schien die Zeit nicht zu existieren. Die Figuren bewegten sich, als würden sie einer unsichtbaren Melodie folgen, und die Kinder konnten fast hören, wie das Lachen der Menschen durch die Gassen hallte.

„Was bedeutet das?“ fragte Annabel. Mary Poppins sah sie an, ihre Augen sanft und voller Weisheit. „Es bedeutet, dass auch wenn etwas zerbricht, es immer eine Chance gibt, es neu zu sehen. Manchmal sind die Risse das, was eine Erinnerung wirklich zum Strahlen bringt.“

Georgie sah sie nachdenklich an. „Also… ist es gar nicht schlimm, dass ich sie fallen gelassen habe?“ Mary legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Es ist nur schlimm, wenn du nichts daraus lernst.“
Die Kinder schauten noch lange auf die Kugel, während das Leuchten langsam verblasste. Sie war nicht mehr die gleiche wie zuvor – aber sie war immer noch wunderschön, auf eine neue, unvollkommene Weise. Später an diesem Abend, als die Kinder schliefen, stellte Mary Poppins die Kugel zurück auf den Kaminsims. Ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie wusste, dass die Lektion, die die Kinder gelernt hatten, nicht nur in der Schneekugel steckte, sondern in ihrem eigenen Leben.
Denn wie die Kugel konnte auch eine Familie, ein Zuhause oder ein Herz Risse bekommen – und manchmal machten diese Risse es noch wertvoller.

16. Ein unerwarteter Freund

Die Tage in der Cherry Tree Lane waren nie wirklich langweilig, wenn Mary Poppins da war. Aber an diesem Nachmittag schien es selbst für sie nichts zu tun zu geben. Der Himmel war grau, und ein leichter Nieselregen machte es unmöglich, draußen zu spielen. Annabel und Georgie saßen auf dem Wohnzimmerboden und schoben lustlos ein Puzzle zusammen, während Mary Poppins in ihrem Sessel saß und ihre Stricknadeln klappern ließ.

„Ich wünschte, es würde etwas Spannendes passieren“, murmelte Georgie und drehte ein Puzzleteil in seiner Hand.

„Spannung ist selten etwas, das sich einfach vor die Tür stellt“, sagte Mary Poppins ohne aufzusehen. „Manchmal muss man hinausgehen und sie finden.“

„Aber es regnet!“ protestierte Annabel.
Mary zuckte mit den Schultern. „Regen hat noch niemanden geschmolzen, meine Liebe.“

Widerwillig zogen die Kinder ihre Regenmäntel an und folgten Mary Poppins in den Park. Die Wege waren nass und schlammig, und die Bäume tropften wie kleine Wasserfälle. Doch die frische Luft tat gut, und bald waren Annabel und Georgie nicht mehr so missmutig.

„Wohin gehen wir?“ fragte Annabel schließlich.

„Ihr werdet es sehen“, sagte Mary Poppins geheimnisvoll. Sie führte die Kinder auf einen kleinen Pfad, der tiefer in den Park führte, bis sie an eine alte, verlassene Bank kamen, die halb von Moos überwuchert war.

„Hier?“ fragte Georgie skeptisch. „Hier passiert doch nichts.“

„Geduld“, sagte Mary Poppins und klappte ihren Regenschirm zusammen.
In diesem Moment raschelte etwas in den Büschen hinter der Bank. Annabel und Georgie starrten in die Richtung des Geräuschs, während Mary Poppins entspannt blieb, als hätte sie es erwartet.

„Was war das?“ flüsterte Annabel.

„Vielleicht ein Hund“, sagte Georgie. Doch bevor jemand weiter raten konnte, tauchte ein kleines, pelziges Wesen aus den Büschen auf. Es war ein Dachs – mit glänzendem Fell und einer neugierigen, schlauen Miene. Doch das Seltsamste war, dass er ein kleines Bündel trug, das wie ein winziger Rucksack auf seinem Rücken befestigt war.

„Oh! Ein Dachs!“ rief Georgie begeistert.
Der Dachs richtete sich auf und schaute die Kinder direkt an. „Ein wenig lauter, und ich könnte dich für unhöflich halten“, sagte er in einer tiefen, sanften Stimme. Annabel und Georgie starrten ihn mit offenen Mündern an.

„Er… er spricht!“ rief Georgie.

„Natürlich spreche ich“, sagte der Dachs trocken. „Wie sonst sollte ich mich vorstellen? Ich heiße Montgomery.“

„Ein Dachs mit Namen?“ flüsterte Annabel ungläubig.

„Selbstverständlich habe ich einen Namen“, sagte Montgomery und warf ihr einen leicht beleidigten Blick zu. „Und ich bin kein gewöhnlicher Dachs, falls ihr das noch nicht bemerkt habt.“

Mary Poppins nickte ihm zu, als wäre er ein alter Bekannter. „Es ist eine Weile her, Montgomery.“

„Mary Poppins“, sagte Montgomery und verbeugte sich leicht. „Ich hätte mir denken können, dass du hinter diesen beiden steckst.“

Die Kinder erfuhren, dass Montgomery ein Wanderer war, der durch die Wälder und Felder zog und Geschichten sammelte. Sein Rucksack war voller Notizbücher und kleiner Souvenirs aus den Orten, die er besucht hatte.

„Was für Geschichten sammelst du?“ fragte Georgie neugierig.

„Alle möglichen“, antwortete Montgomery. „Geschichten von verlorenen Dingen, Geschichten von mutigen Herzen und manchmal sogar Geschichten von Regen, der mehr mit sich bringt, als nur Wasser.“

„Das klingt wundervoll“, sagte Annabel, ihre Skepsis war längst verflogen. Montgomery zog ein kleines Buch aus seinem Rucksack und blätterte durch die Seiten. „Ich könnte euch eine Geschichte erzählen, wenn ihr möchtet.“

Mary Poppins hob eine Augenbraue. „Nur, wenn sie keine Zeit verschwenden.“

Der Dachs lachte leise. „Ich glaube, Zeit mit Geschichten ist nie verschwendet, Mary.“ Sie saßen auf der alten Bank, während Montgomery ihnen eine Geschichte erzählte – eine Geschichte über einen kleinen Vogel, der sich verirrt hatte, und wie er seinen Weg zurückfand, indem er dem Wind vertraute. Seine Stimme war ruhig und beruhigend, und die Kinder lauschten gebannt. Als er fertig war, sah er Annabel und Georgie an. „Die besten Freunde sind oft diejenigen, die du nicht erwartest. Und manchmal, meine Lieben, sind sie es, die dir helfen, den Weg zu finden.“

„Das war wunderschön“, sagte Annabel leise.

„Und es ist wahr“, fügte Mary Poppins hinzu, während sie ihren Schirm wieder öffnete. „Manchmal findest du genau das, was du brauchst, wenn du am wenigsten danach suchst.“

Als sie zurückgingen, blieb Montgomery am Rand des Weges stehen. „Ich denke, das ist ein Abschied für heute“, sagte er und verbeugte sich erneut.

„Wo wirst du hingehen?“ fragte Georgie.

„Oh, ich habe noch viele Geschichten zu sammeln“, sagte Montgomery mit einem Lächeln. „Aber vielleicht kreuzen sich unsere Wege wieder.“

Mary Poppins nickte ihm zu. „Pass auf dich auf, Montgomery.“ Der Dachs verschwand zwischen den Büschen, und die Kinder fühlten sich, als hätten sie etwas Außergewöhnliches erlebt.

„Ich hätte nie gedacht, dass ich einen sprechenden Dachs treffe“, sagte Georgie.

„Er war ein unerwarteter Freund“, fügte Annabel hinzu.

„Die besten Freunde sind oft unerwartet“, sagte Mary Poppins mit einem kleinen Lächeln. „Und jetzt – nach Hause, bevor der Regen wieder anfängt.“

Die Kinder gingen Hand in Hand zurück zur Cherry Tree Lane, und die Welt fühlte sich ein bisschen magischer an als zuvor.

17. Die Reise ins Bilderbuch

Es war ein ruhiger Nachmittag in der Cherry Tree Lane. Der Regen hatte aufgehört, und die Welt war in sanftes, goldenes Licht getaucht. Annabel und Georgie saßen auf dem Wohnzimmerteppich und blätterten gelangweilt durch ein altes Bilderbuch, das sie im Regal gefunden hatten.

„Das ist langweilig“, sagte Georgie und ließ die Seiten achtlos umblättern.

„Es sind nur Bilder“, fügte Annabel hinzu. „Keine richtigen Geschichten.“

Mary Poppins, die wie üblich mit ihrem Strickzeug beschäftigt war, hob eine Augenbraue. „Nur Bilder, sagst du? Meine Liebe, manchmal sagen Bilder mehr als tausend Worte. Es kommt nur darauf an, ob du sie zu lesen weißt.“

„Wie kann man Bilder lesen?“ fragte Georgie skeptisch.

„Es ist ganz einfach“, sagte Mary Poppins, während sie ihr Strickzeug beiseitelegte und aufstand. „Man schaut genauer hin.“

Bevor die Kinder eine weitere Frage stellen konnten, ging sie zum Tisch und betrachtete das aufgeschlagene Bilderbuch. Es war ein wunderschön illustriertes Buch, voll von Landschaften, die von hohen Bergen, grünen Wiesen und funkelnden Seen erzählten.

„Dieses Buch sieht besonders aus“, sagte Mary leise und legte die Hand auf die Seite. Plötzlich begann das Papier zu leuchten. Die Farben der Zeichnung wurden heller, die Linien klarer, und die Szene im Buch begann, sich zu bewegen. Ein sanfter Wind wehte durch das Wohnzimmer, und die Kinder spürten, wie sich die Luft um sie herum veränderte.

„Was passiert da?“ fragte Annabel aufgeregt. Mary Poppins lächelte. „Ihr tretet ein.“

„Ein was?“ begann Georgie, doch bevor er den Satz beenden konnte, fühlte er, wie der Boden unter ihm verschwand. Die Welt um sie herum drehte sich, und die Farben des Bilderbuchs verschlangen sie wie ein Strudel. Als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten, standen Annabel und Georgie inmitten der gezeichneten Welt. Die Farben um sie herum waren lebendig und leuchtend, die Wiesen so grün, dass sie fast unwirklich wirkten, und der Himmel war ein tiefes, warmes Blau.

„Das… das ist das Bild aus dem Buch!“ rief Georgie.

„Wie sind wir hier reingekommen?“ fragte Annabel und drehte sich um.
Mary Poppins stand ruhig hinter ihnen, ihren Schirm in der Hand. „Manchmal genügt ein bisschen Magie und eine Portion Neugier.“

Die Kinder sahen sich um. In der Ferne ragten hohe Berge empor, und ein klarer Fluss schlängelte sich durch die Wiesen. Am Horizont sahen sie eine kleine Stadt, deren Häuser wie in einem Märchen wirkten.

„Wo sollen wir hingehen?“ fragte Georgie.

„Dorthin, wo das Bild uns führt“, sagte Mary Poppins. Sie wanderten durch die Landschaft, und die Kinder konnten nicht aufhören, zu staunen. Die Blumen schienen zu singen, wenn der Wind durch sie hindurchzog, und die Vögel am Himmel hinterließen funkelnde Spuren, als wären sie mit Sternenstaub bedeckt.
Als sie die Stadt erreichten, stellten sie fest, dass auch sie lebte. Die Türen der Häuser öffneten sich, ohne dass jemand sie berührte, und die Fensterläden wackelten, als würden sie winken. Auf dem Marktplatz standen Figuren – gezeichnete Menschen, die sich mit freundlichen Gesichtern bewegten, als wären sie genauso lebendig wie die Kinder selbst.

„Willkommen!“ rief eine Frau mit einem blauen Kleid und einer großen Schürze. „Ihr seid die ersten Besucher seit langer Zeit!“

„Was meint sie damit?“ fragte Annabel leise. Mary Poppins erklärte: „Bücher wie dieses werden oft vergessen, und mit ihnen die Welten, die darin leben. Wenn niemand sie öffnet, schlafen sie – aber sie warten immer darauf, wiederentdeckt zu werden.“

Georgie lief zu einem Brunnen in der Mitte des Marktplatzes. Das Wasser darin war so klar, dass er sein eigenes Gesicht sehen konnte – doch als er genauer hinsah, bemerkte er, dass auch der Brunnen ein Gesicht hatte.

„Hallo“, sagte der Brunnen und lächelte.
Georgie sprang erschrocken zurück, doch Mary Poppins schüttelte nur den Kopf. „Man sollte nicht überrascht sein, wenn hier die Dinge sprechen.“

Während sie weiter durch die Stadt gingen, zeigte Mary Poppins den Kindern die Geheimnisse der Welt im Buch. Sie gingen über eine Brücke, die im Rhythmus ihrer Schritte sang, und kletterten auf einen Hügel, von dem aus sie die gesamte Landschaft sehen konnten. Doch schließlich begann die Welt um sie herum zu verblassen. Die Farben wurden blasser, die Geräusche leiser.

„Was passiert?“ fragte Georgie besorgt.

„Jede Reise hat ein Ende“, sagte Mary Poppins. „Die Welt des Buches ruht sich aus, bis jemand anderes kommt, um sie wieder zu entdecken.“

„Aber ich will nicht gehen“, sagte Annabel.

„Erinnerungen an Abenteuer sind genauso wertvoll wie das Abenteuer selbst“, sagte Mary Poppins. „Und dieses Abenteuer gehört jetzt euch.“

Wieder zurück im Wohnzimmer der Cherry Tree Lane fühlten sich die Kinder, als hätten sie etwas Besonderes erlebt. Das Bilderbuch lag geschlossen auf dem Tisch, und nichts an ihm verriet, was sie gerade gesehen hatten.

„War das wirklich echt?“ fragte Georgie.

„Was denkst du?“ sagte Mary Poppins, während sie ihr Strickzeug wieder aufnahm. Annabel und Georgie sahen das Buch lange an, bevor sie lächelten. „Ich glaube, es war das wunderbarste Buch der Welt.“

„Das war es auch“, sagte Mary Poppins. „Aber denkt daran – es gibt noch viele andere Welten zu entdecken. Man muss nur die Augen offen halten.“

Und mit diesen Worten ließ sie die Kinder mit ihrer Fantasie allein, während sie sich auf den nächsten magischen Moment vorbereitete.

18. Das Geheimnis des Regenschirms

Der Regenschirm von Mary Poppins war schon immer ein Rätsel. Mit seinem eleganten, schwarzen Stoff und dem geschnitzten Vogelkopf schien er auf den ersten Blick nichts Besonderes zu sein. Doch Annabel und Georgie hatten längst bemerkt, dass er mehr war als nur ein gewöhnlicher Regenschirm.

„Warum lässt sie ihn nie aus den Augen?“ fragte Georgie eines Nachmittags, als Mary Poppins im Garten war und Unkraut jätete.

„Weil er wichtig ist“, antwortete Annabel, während sie ihn betrachtete, wo er ordentlich an der Garderobe hing. „Aber warum?“

Georgie sah sich um, dann flüsterte er: „Vielleicht ist er magisch.“

„Natürlich ist er das“, sagte Annabel. „Hast du nicht gesehen, wie er sie durch die Luft trägt?“

Georgie nickte. „Aber wie funktioniert er?“ Die beiden Kinder standen vor dem Regenschirm, als wäre er eine Schatztruhe, die darauf wartete, geöffnet zu werden.

„Vielleicht… können wir es herausfinden“, schlug Georgie vor und streckte vorsichtig die Hand aus.

„Was macht ihr da?“ erklang plötzlich Mary Poppins’ Stimme, und die Kinder zuckten zusammen. Sie stand in der Tür, ihre Hände auf die Hüften gestützt, und betrachtete sie mit einem Blick, der gleichzeitig belustigt und streng war.

„Ähm… wir wollten nur…“ begann Georgie, doch Mary Poppins unterbrach ihn.

„Ihr wollt wissen, was es mit meinem Regenschirm auf sich hat“, sagte sie.
Annabel und Georgie nickten unsicher.

„Nun“, sagte Mary Poppins, während sie den Schirm von der Garderobe nahm, „ich denke, es wird Zeit, dass ihr ein wenig mehr über ihn erfahrt.“

Die Kinder folgten ihr ins Wohnzimmer, wo sie sich mit einer Anmut, die nur Mary Poppins besaß, in ihren Sessel setzte. Sie hielt den Schirm vor sich, und der geschnitzte Vogelkopf schien sie direkt anzusehen.

„Dieser Regenschirm ist nicht einfach nur ein Schirm“, begann sie. „Er ist ein Reisender, genau wie ich. Er hat Geschichten gesehen, die ihr euch nicht vorstellen könnt, und Orte besucht, von denen ihr noch nie gehört habt.“

„Ein Reisender?“ fragte Georgie.

„Ganz genau“, sagte Mary. „Er war schon in den Wolken, über Meeren und durch Stürme, die so stark waren, dass sie Berge hätten versetzen können.“

„Aber wie?“ fragte Annabel. „Er ist doch nur ein Schirm.“

Der Vogelkopf bewegte sich plötzlich, und eine tiefe, krächzende Stimme erklang: „Nur ein Schirm? Du wagst es, mich zu unterschätzen?“ Annabel und Georgie sprangen zurück, ihre Augen weit vor Schreck. „Er… er kann sprechen?“ stammelte Georgie.

„Natürlich kann ich das“, sagte der Regenschirm mit einem Hauch von Stolz. „Aber ich tue es nur, wenn es wichtig ist. Worte sind kostbar, ihr wisst schon.“

„Woher kommst du?“ fragte Annabel schließlich, ihre Neugier größer als ihre Angst. Der Regenschirm schwieg einen Moment, als würde er überlegen. „Ich wurde vor langer Zeit gemacht“, sagte er schließlich. „Von jemandem, der verstand, dass die Welt voller Wunder ist. Ich bin nicht nur dazu da, vor Regen zu schützen – ich bin ein Begleiter, ein Wächter, ein Freund.“

„Ein Freund?“ fragte Georgie.

„Ja“, sagte Mary Poppins. „Ein Freund, der mich immer begleitet und mir hilft, Menschen wie euch daran zu erinnern, dass die Welt mehr ist, als das, was man auf den ersten Blick sieht.“

„Wie funktioniert er?“ fragte Annabel.
Mary Poppins lächelte. „Das, meine Liebe, ist ein Geheimnis, das nur er kennt. Und vielleicht auch ich.“

Um ihre Worte zu beweisen, öffnete Mary Poppins den Schirm mit einer geschickten Bewegung. Ein leiser Windzug erfüllte das Zimmer, obwohl alle Fenster geschlossen waren. Annabel und Georgie spürten, wie sich die Luft um sie herum veränderte, als würde der Schirm die Energie des Raumes einfangen.

„Er trägt mich durch die Luft, weil er den Wind kennt“, erklärte Mary. „Er schützt mich vor Regen, weil er mit den Wolken spricht. Und er zeigt mir den Weg, wenn ich ihn am dringendsten brauche.“

„Kann er uns auch helfen?“ fragte Georgie hoffnungsvoll. Der Vogelkopf neigte sich leicht zur Seite. „Vielleicht. Aber nur, wenn ihr bereit seid, zuzuhören und zu lernen.“

„Lernen?“ fragte Annabel.

„Lernen, dass es nicht immer um euch geht“, sagte der Regenschirm streng. „Die Welt ist voller Dinge, die größer sind als ihr – und doch seid ihr ein Teil davon. Wenn ihr das versteht, könnt ihr viel mehr erreichen, als ihr glaubt.“

Die Kinder sahen sich an, überwältigt von dem, was sie gerade gehört hatten. Als Mary Poppins den Schirm wieder schloss, schien der Raum wieder zur Normalität zurückzukehren. „Das war… unglaublich“, sagte Annabel leise.

„Das war nur ein kleiner Einblick“, sagte Mary Poppins. „Die wahren Geheimnisse dieses Schirms werden euch vielleicht eines Tages offenbart – aber nur, wenn die Zeit reif ist.“

Georgie sah den Schirm an, als wäre er ein lebendiges Wesen. „Danke“, sagte er leise, unsicher, ob er mit Mary oder dem Schirm sprach. Der Vogelkopf bewegte sich ein letztes Mal und sagte mit einem Hauch von Belustigung: „Schon gut, Junge. Aber lass dich nicht noch einmal dabei erwischen, mich ohne Erlaubnis anzufassen.“bDie Kinder lachten nervös, und Mary Poppins stellte den Schirm zurück an die Garderobe.

„Und jetzt“, sagte sie mit einem zufriedenen Lächeln, „sollten wir sehen, was der Nachmittag noch bringt. Es gibt immer mehr Geheimnisse zu entdecken – man muss nur wissen, wo man sucht.“

Die Kinder folgten ihr, ihre Köpfe voll von Fragen, und ein Gedanke blieb ihnen im Kopf: Mit Mary Poppins war nichts jemals nur das, was es zu sein schien.

19. Die flüsternden Blumen

Der Garten hinter dem Haus in der Cherry Tree Lane war ein ruhiger, friedlicher Ort. Umrahmt von alten Bäumen und einem kleinen, verwilderten Teich war er ein Rückzugsort, an dem die Kinder oft spielten. Doch heute wirkte der Garten anders – als hätte er etwas zu sagen.

„Warum sieht der Garten so… seltsam aus?“ fragte Annabel, als sie und Georgie mit Mary Poppins nach draußen traten.

„Seltsam?“ Mary Poppins hob eine Augenbraue und sah sich um. „Ich finde, er sieht genauso aus, wie er sollte. Ihr seid es, die nicht genau hinseht.“

Georgie kniff die Augen zusammen. Die Blumenbeete waren in voller Blüte, und die Farben der Blüten wirkten so lebendig, dass sie fast glühten. Doch es war nicht nur ihr Aussehen – es war die Art, wie sie sich bewegten. Die Blumen schienen sich zu neigen und zu drehen, obwohl kaum ein Windstoß durch den Garten wehte.

„Das ist doch nicht normal“, murmelte Georgie. Mary Poppins seufzte. „Was ist schon normal? Kommt mit, Kinder, und seid leise. Manche Dinge sprechen nur, wenn man ihnen zuhört.“

Mary führte sie zu einem besonders schönen Beet, in dem Rosen, Vergissmeinnicht und Mohnblumen dicht an dicht standen. Die Blumen schienen sich leicht zu bewegen, als würde eine unsichtbare Melodie sie wiegen.

„Warum bewegen sie sich so?“ flüsterte Annabel.

„Weil sie reden“, sagte Mary Poppins.

„Blumen reden nicht!“ protestierte Georgie. Mary Poppins warf ihm einen scharfen Blick. „Und warum nicht? Siehst du nicht, wie sie sich bewegen? Wie sie aufeinander reagieren? Jede Pflanze hat ihre eigene Sprache, wenn du bereit bist, sie zu hören.“

Annabel kniete sich neben das Beet und lauschte, aber sie hörte nichts. „Ich höre nichts, Mary.“

„Du hörst nicht mit deinen Ohren, meine Liebe“, sagte Mary geduldig. „Du hörst mit deinem Herzen.“

Die Kinder schwiegen und sahen die Blumen aufmerksam an. Nach einer Weile begann Annabel, etwas zu spüren. Es war kein Ton, sondern eher ein Gefühl – ein sanftes, flüsterndes Murmeln, das wie ein Hauch von Gedanken durch ihren Kopf strich.

„Ich… ich glaube, ich höre sie!“ rief sie überrascht.

„Was sagen sie?“ fragte Georgie ungeduldig. Annabel schloss die Augen. „Sie reden über… uns. Über den Regen, der heute Nacht gefallen ist. Und über den Wind, der ihnen Geschichten gebracht hat.“

„Der Wind erzählt Geschichten?“ fragte Georgie skeptisch.

„Natürlich tut er das“, sagte Mary Poppins, während sie sanft eine Rose berührte. „Die Blumen lauschen dem Wind, genauso wie ihr den Vögeln lauscht. Sie sprechen von den Dingen, die sie sehen und fühlen. Und manchmal… erzählen sie Geheimnisse.“

Georgie setzte sich neben Annabel und versuchte ebenfalls zu lauschen. Zuerst hörte er nur die üblichen Geräusche des Gartens – das Summen von Bienen, das entfernte Zwitschern eines Vogels. Doch dann, ganz leise, hörte er etwas anderes: ein flüsterndes Kichern, als würden die Blumen miteinander lachen.

„Ich… ich höre es auch!“ rief er. Mary Poppins nickte zufrieden. „Natürlich tust du das. Blumen mögen es, wenn man ihnen zuhört. Sie erzählen dir alles, wenn du respektvoll bist.“

„Aber warum reden sie?“ fragte Annabel.

„Weil sie es können“, sagte Mary Poppins. „Und weil sie euch etwas zeigen wollen.“ Mary Poppins ging ein paar Schritte weiter zu einer einsamen Sonnenblume, die größer und leuchtender war als alle anderen Blumen im Garten. Sie legte die Hand auf den Stängel und schien zu lauschen.

„Was sagt sie?“ fragte Georgie neugierig.

„Sie erinnert sich“, sagte Mary Poppins leise. „An einen Sommer vor vielen Jahren, als hier ein kleines Mädchen mit ihrem Vater spielte. Es war ein glücklicher Tag, und sie wünscht sich, dass die Familie wieder so glücklich ist.“

Annabel und Georgie sahen sich an. Sie wussten, dass Mary von ihrer Mutter sprach.

„Meint sie uns?“ fragte Annabel leise. Mary Poppins nickte. „Blumen spüren mehr, als ihr glaubt. Sie sehen die Sorgen, die Menschen mit sich tragen, und sie tun ihr Bestes, um sie zu trösten – mit ihrem Duft, ihrer Farbe und manchmal mit ihren Worten.“

Die Kinder blieben eine Weile bei der Sonnenblume, lauschten und fühlten die Wärme ihrer leisen Botschaften. Es war, als würde sie ihnen sagen, dass alles wieder gut werden könnte, wenn sie nur aneinander glaubten. Als sie schließlich zurück ins Haus gingen, schien der Garten hinter ihnen lebendig zu summen, als würden die Blumen noch immer miteinander sprechen.

„Das war wunderschön“, sagte Annabel leise.

„Es war magisch“, fügte Georgie hinzu.
Mary Poppins warf ihnen einen Seitenblick zu. „Es war nur der Garten, meine Lieben. Die wahre Magie liegt darin, zuzuhören. Die meisten Menschen hören nie zu, und deshalb verpassen sie die Wunder, die überall um sie herum sind.“

Annabel und Georgie nickten nachdenklich, und als sie ins Haus gingen, schauten sie sich noch einmal um. Der Garten wirkte wieder still, doch die Kinder wussten, dass die Flüsternden Blumen immer da sein würden – bereit, ihre Geschichten zu erzählen, wenn man ihnen die Zeit gab, sie zu hören.

20. Die verlorene Zeit

Teil 3. Prüfungen und Erkenntnisse

Es war ein kühler, klarer Morgen in der Cherry Tree Lane, doch im Haus Nummer Siebzehn herrschte eine bedrückende Stille. Michael Banks saß am Küchentisch, ein alter Wecker vor ihm, dessen Zeiger sich nicht mehr bewegten. Neben dem Wecker lagen Stapel von Papieren und Rechnungen, die sich wie eine unsichtbare Last auf ihn legten. Annabel und Georgie beobachteten ihn aus der Tür, unsicher, ob sie ihn stören sollten. Sein Gesicht war müde, und seine Schultern hingen so tief, dass er fast in sich zusammenzubrechen schien.

„Warum ist Papa so oft traurig?“ fragte Georgie leise.

„Er hat viel zu tun“, sagte Annabel, obwohl sie wusste, dass das nicht die ganze Wahrheit war. Mary Poppins trat plötzlich hinter ihnen auf, ihre Anwesenheit wie immer überraschend und doch beruhigend. „Euer Vater trägt eine schwere Last“, sagte sie. „Er hat etwas Wichtiges verloren.“

„Was hat er verloren?“ fragte Georgie. Mary Poppins sah die Kinder an, ihre Augen voller Bedeutung. „Zeit.“

Später an diesem Tag führte Mary Poppins die Kinder in den Park. Der Wind spielte sanft mit den Blättern, und die Sonne warf ein warmes Licht auf die Wege. Doch Mary schien etwas Bestimmtes zu suchen.

„Wo gehen wir hin?“ fragte Annabel.

„Wir suchen die verlorene Zeit“, sagte Mary Poppins, ohne eine weitere Erklärung. Nach einer Weile kamen sie zu einer alten Sonnenuhr, die auf einer kleinen Lichtung stand. Sie war mit Moos bedeckt, und die Zeiger warfen keinen Schatten, als wäre die Zeit selbst stehen geblieben.

„Das sieht aus, als würde es nicht funktionieren“, sagte Georgie und klopfte vorsichtig gegen die Sonnenuhr.

„Oh, sie funktioniert“, sagte Mary Poppins. „Sie wartet nur.“

„Worauf?“ fragte Annabel.

„Auf jemanden, der bereit ist, sich an die Zeit zu erinnern, die er verloren hat.“

Mary zog einen kleinen, silbernen Schlüssel aus ihrer Tasche und steckte ihn in eine fast unsichtbare Öffnung an der Basis der Sonnenuhr. Ein leises Klicken ertönte, und plötzlich begann die Sonnenuhr zu vibrieren. Die Zeiger bewegten sich, und die Kinder spürten, wie die Luft um sie herum schwerer wurde – als würde die Zeit selbst durch sie hindurchströmen.

„Was passiert hier?“ fragte Georgie und hielt sich an Marys Rock fest.

„Die verlorene Zeit kehrt zurück“, sagte Mary Poppins ruhig. Vor den Augen der Kinder erschien ein schwaches, goldenes Licht, das sich wie ein Film über die Lichtung legte. Bilder flackerten auf – Erinnerungen, die wie kleine Theaterstücke abliefen. Sie sahen Michael als jungen Vater, der mit Annabel und Georgie Drachen steigen ließ. Sie sahen ihn mit ihrer Mutter lachen, während sie zusammen auf der Veranda saßen. Sie sahen, wie er mit Jane als Kind spielte, wie er träumte, Pläne schmiedete und das Leben mit offenen Armen begrüßte.

„Das ist Papa“, flüsterte Annabel.

„Er sieht so… glücklich aus“, sagte Georgie.

„Er war es auch“, sagte Mary Poppins. „Aber manchmal verliert man sich in der Gegenwart und vergisst, wer man einmal war.“

Die Bilder verschwanden, und die Sonnenuhr kehrte zur Ruhe zurück. Die Kinder sahen Mary Poppins fragend an.

„Wie können wir ihm helfen, sich daran zu erinnern?“ fragte Annabel. Mary Poppins nahm den alten Wecker aus ihrer Tasche – den gleichen, den Michael am Morgen betrachtet hatte. Sie hielt ihn vorsichtig in den Händen, bevor sie ihn den Kindern übergab.

„Dieser Wecker hat viele Jahre neben eurem Vater getickt“, sagte sie. „Er hat ihm die Zeit angezeigt, aber er hat auch seine Geschichten gehört. Vielleicht erinnert er sich daran, wie es war, als die Zeit weniger schwer war.“

Zu Hause stellten die Kinder den Wecker vorsichtig auf den Tisch vor ihrem Vater.

„Was macht ihr da?“ fragte Michael mit müder Stimme.

„Wir wollten dir etwas zeigen“, sagte Annabel. Georgie drehte den Schlüssel des Weckers, und ein leises Ticken erfüllte den Raum. Es war kein gewöhnliches Ticken – es klang warm, beruhigend, wie ein vertrauter Herzschlag. Michael blickte auf, und etwas in seinem Gesicht veränderte sich.

„Das ist der alte Wecker“, sagte er leise.

„Er erinnert sich an dich“, sagte Annabel. Michael berührte den Wecker vorsichtig, und für einen Moment schien er weit weg zu sein, als würde er in Gedanken in die Vergangenheit reisen.

„Ich habe so viel Zeit verloren“, sagte er schließlich, seine Stimme voller Bedauern.

„Man verliert sie nur, wenn man aufhört, sie zu sehen“, sagte Mary Poppins, die leise im Türrahmen stand. „Aber Zeit ist geduldig. Sie wartet darauf, dass du sie wiederfindest.“

Von diesem Tag an begann sich etwas zu ändern. Michael lachte öfter, nahm sich Zeit, um mit Annabel und Georgie im Garten zu spielen, und sprach über Erinnerungen, die er lange verdrängt hatte. Und der alte Wecker tickte weiter – nicht als Mahnung, sondern als sanfte Erinnerung daran, dass es nie zu spät ist, die verlorene Zeit zurückzugewinnen.

21. Das Haus aus Zucker

Es war ein Morgen, der so ruhig begann, dass Annabel und Georgie es fast nicht bemerkten, als Mary Poppins ihnen plötzlich ihre Mäntel reichte.

„Heute machen wir einen Ausflug“, verkündete sie.

„Wohin?“ fragte Georgie, der gerade dabei war, seine Schuhe anzuziehen.
Mary Poppins warf ihm einen scharfen Blick. „Ihr werdet es sehen, wenn wir dort sind.“

„Aber was, wenn wir nicht wissen, was wir mitbringen sollen?“ fragte Annabel.

„Alles, was ihr braucht, ist eure Neugier“, antwortete Mary Poppins und öffnete die Haustür. Der Weg führte sie durch die vertrauten Straßen der Cherry Tree Lane, dann weiter in den Park und schließlich zu einem Pfad, den die Kinder noch nie zuvor bemerkt hatten. Er war von hohen, dichten Hecken umgeben, und die Luft roch süß, fast wie frisches Gebäck.

„Riecht ihr das?“ fragte Georgie, seine Nase in die Luft streckend.

„Es riecht wie… Zucker“, sagte Annabel überrascht.

„Ihr werdet gleich sehen, warum“, sagte Mary Poppins, ohne sich umzudrehen.
Als sie eine Lichtung erreichten, blieb Georgie mit offenem Mund stehen. Vor ihnen stand ein Haus – aber nicht irgendein Haus. Es war ein prächtiges, märchenhaftes Gebäude, das vollständig aus Zucker zu bestehen schien. Die Wände waren aus Zuckerkristallen, die im Sonnenlicht glitzerten, das Dach war mit bunten Bonbons gedeckt, und die Fensterrahmen bestanden aus süßen Zuckerstangen.

„Das ist unglaublich!“ rief Georgie.

„Ein echtes Haus aus Zucker“, flüsterte Annabel ehrfürchtig.

„Echt genug“, sagte Mary Poppins. „Aber erinnert euch daran: Nicht alles, was süß ist, ist harmlos.“

Die Kinder näherten sich vorsichtig dem Haus, als plötzlich die Tür aufsprang. Ein kleiner Mann mit einem kugelrunden Bauch und einem Gesicht, das aussah wie aus Lebkuchen geschnitzt, trat heraus. Sein Lächeln war so breit wie eine Zuckerglasur, und seine Stimme klang wie das Knistern von Karamell.

„Willkommen, willkommen!“ rief er. „Ich bin Herr Kandis. Treten Sie ein und kosten Sie die Freuden meines Hauses!“

„Dürfen wir wirklich?“ fragte Georgie, der sich kaum zurückhalten konnte. Mary Poppins sah den Mann scharf an. „Nur, wenn du sicher bist, dass du verstehst, was du dir wünschst.“

„Natürlich verstehe ich das“, sagte Georgie ungeduldig und rannte hinein, dicht gefolgt von Annabel. Das Innere des Hauses war noch beeindruckender. Die Möbel bestanden aus feinster Schokolade, die Vorhänge waren aus hauchdünnen Zuckerschnüren, und der Boden knirschte leicht unter ihren Füßen, als wäre er aus zerstoßenem Kandiszucker. Überall gab es Leckereien: Kekse, Bonbons, Kuchen – alles, was sich ein Kind nur wünschen konnte.

„Das ist das Beste überhaupt!“ rief Georgie und griff nach einer riesigen Praline, die auf einem Tisch lag.

„Probiert, probiert!“ rief Herr Kandis, während er sie zu einem Buffet aus Süßigkeiten führte. Annabel nahm vorsichtig ein kleines Stück Schokoladentorte und probierte es. Es war köstlich, besser als alles, was sie je gegessen hatte. Doch als sie sich umblickte, bemerkte sie etwas Seltsames.
Die Wände des Hauses schienen sich leicht zu bewegen, als würden sie atmen. Und die Süßigkeiten auf dem Tisch wirkten plötzlich… weniger einladend, fast als würden sie sie beobachten.

„Mary?“ fragte Annabel nervös. „Ist hier alles in Ordnung?“bMary Poppins, die still in einer Ecke stand, sah sich aufmerksam um. „Das hängt davon ab, was ihr für ‚in Ordnung‘ haltet.“

Georgie, der inzwischen seine Taschen mit Bonbons gefüllt hatte, bemerkte Annabels Unbehagen. „Was ist los?“ fragte er.

„Irgendetwas fühlt sich komisch an“, sagte Annabel. In diesem Moment begann das Haus zu zittern. Die bunten Bonbons auf dem Dach klirrten leise, und die Wände aus Zucker warfen kleine, glitzernde Splitter ab. Herr Kandis trat zurück, und sein breites Lächeln wurde plötzlich unheimlich.

„Ihr habt genug genascht“, sagte Mary Poppins streng. „Es ist Zeit zu gehen.“

„Aber wir haben doch gerade erst angefangen!“ protestierte Georgie.

„Manchmal liegt die wahre Gefahr darin, zu viel von dem zu nehmen, was gut erscheint“, sagte Mary. Die Kinder begriffen, dass etwas nicht stimmte. Das Haus begann stärker zu beben, und die Wände wirkten, als würden sie schmelzen. Herr Kandis lachte leise, sein Gesicht begann zu verschwimmen, und er sah plötzlich weniger freundlich aus.

„Lasst uns gehen!“ rief Annabel, die Georgie am Arm zog. Mit Mary Poppins voran rannten sie aus dem Haus. Kaum hatten sie die Schwelle überschritten, brach das Gebäude mit einem lauten Knacken in sich zusammen. Die glitzernden Wände zerfielen zu Staub, und der süße Duft, der den Ort erfüllt hatte, wich einer kühlen, klaren Brise.
Die Kinder drehten sich um und sahen nur noch einen Haufen zerbrochener Zuckerstücke, die wie Scherben eines zerbrochenen Traums auf dem Boden lagen.

„Was war das?“ fragte Georgie, immer noch schwer atmend.

„Eine Lektion“, sagte Mary Poppins ruhig. „Nicht alles, was verlockend aussieht, ist gut für dich.“

Annabel nickte nachdenklich. „Und manchmal kann zu viel des Guten gefährlich sein.“ Mary Poppins lächelte leicht. „Das habt ihr richtig erkannt. Jetzt, kommt. Es gibt noch viele Orte zu entdecken – und manche davon sind süßer, wenn man sie mit Maß genießt.“
Die Kinder folgten ihr zurück zur Cherry Tree Lane, ihre Taschen immer noch voller Süßigkeiten, doch ihre Herzen ein wenig weiser als zuvor.

22. Die unsichtbare Brücke

Es war ein ungewöhnlich nebliger Morgen in der Cherry Tree Lane. Der dichte Dunst hüllte die Häuser, Bäume und Straßen in ein weiches, silbernes Licht. Annabel und Georgie standen am Fenster und starrten hinaus, während Mary Poppins wie gewohnt in der Küche Tee zubereitete.

„Der Nebel ist so dicht, dass man kaum etwas sehen kann“, sagte Annabel.

„Vielleicht können wir heute draußen spielen und uns verstecken“, schlug Georgie vor. Doch bevor sie Pläne schmieden konnten, erschien Mary Poppins plötzlich in der Tür und musterte sie mit einem geheimnisvollen Blick. „Heute machen wir einen Spaziergang. Es gibt etwas, das ihr sehen müsst.“

„Aber man kann doch gar nichts sehen“, sagte Georgie.

„Genau deshalb gehen wir“, erwiderte Mary Poppins, während sie ihren Schirm aufhob. Der Weg führte sie durch den Park, wo der Nebel so dicht war, dass selbst die vertrauten Bäume und Wege wie fremde Gestalten wirkten. Es war still, nur das Rascheln der Blätter unter ihren Füßen war zu hören.

„Wohin gehen wir?“ fragte Annabel, die Mary dicht auf den Fersen folgte.

„Geduld, meine Liebe“, sagte Mary Poppins. „Manche Dinge werden erst sichtbar, wenn du bereit bist, sie zu sehen.“

Georgie zog die Stirn kraus. „Das ergibt keinen Sinn.“ Mary Poppins warf ihm einen scharfen Blick über die Schulter. „Das tut es immer, wenn du aufhörst, zu viel nachzudenken.“ Schließlich kamen sie an einen kleinen, von Nebel umgebenen Fluss. Die Ufer waren feucht, und das Wasser gluckerte leise, als würde es etwas erzählen. Doch es gab keine Brücke, die auf die andere Seite führte.

„Warum sind wir hier?“ fragte Georgie. „Es gibt keinen Weg hinüber.“

„Sicher gibt es einen“, sagte Mary Poppins. „Ihr könnt ihn nur nicht sehen.“

Annabel und Georgie sahen sich skeptisch an. „Wie sollen wir über einen Fluss gehen, wenn es keine Brücke gibt?“ fragte Annabel. Mary Poppins lächelte geheimnisvoll und hob ihren Schirm. „Eine Brücke muss nicht sichtbar sein, um dich zu tragen.“

Die Kinder sahen verwirrt zu, wie Mary Poppins auf den Rand des Flusses zuging. Mit einer selbstsicheren Bewegung setzte sie einen Fuß aufs Wasser – und blieb stehen, als wäre da fester Boden unter ihr.

„Wie machen Sie das?“ rief Georgie.

„Die Brücke ist da“, sagte Mary Poppins. „Aber sie zeigt sich nur, wenn du Vertrauen hast.“

„Vertrauen? Aber was, wenn wir hineinfallen?“ fragte Annabel. Mary drehte sich zu ihnen um, ihre Augen voller Geduld. „Manchmal musst du glauben, bevor du siehst. Die Brücke ist wie das Leben, meine Lieben – sie wird nur sichtbar, wenn du ihr vertraust.“

Georgie zögerte, doch Annabel fasste ihren Mut zusammen. Sie schloss die Augen, atmete tief durch und setzte vorsichtig einen Fuß aufs Wasser. Zu ihrer Überraschung spürte sie festen, unsichtbaren Boden unter sich.

„Es… es funktioniert!“ rief sie und öffnete die Augen.

„Natürlich tut es das“, sagte Mary Poppins. Ermutigt von seiner Schwester, folgte Georgie. Seine Beine zitterten ein wenig, aber auch er spürte, wie die unsichtbare Brücke ihn trug. Langsam gingen sie über den Fluss, jeder Schritt ein kleines Wunder. Der Nebel um sie herum begann sich zu lichten, und sie sahen, wie die Welt jenseits des Flusses zum Vorschein kam – eine wunderschöne Landschaft aus grünen Hügeln, glitzernden Bächen und blühenden Wiesen.

„Das ist unglaublich“, sagte Annabel, als sie die andere Seite erreichten.

„Das war wie… Magie“, fügte Georgie hinzu.

„Es war kein Zauber“, sagte Mary Poppins. „Es war euer Glaube. Manchmal sehen wir Hindernisse, wo keine sind, nur weil wir zu sehr an das Sichtbare glauben. Aber die größten Brücken in unserem Leben sind oft unsichtbar.“

Die Kinder verbrachten eine Weile auf der anderen Seite des Flusses, spielten auf den Wiesen und lauschten dem Gesang der Vögel. Doch schließlich sagte Mary Poppins, dass es Zeit war, zurückzukehren. Als sie den Fluss erneut überquerten sahen Annabel und Georgie ein schwaches Schimmern unter ihren Füßen – die unsichtbare Brücke, die sie getragen hatte, war kurz sichtbar, bevor sie wieder verschwand. Zurück in der Cherry Tree Lane fühlten sich die Kinder anders – mutiger, neugieriger.

„Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinten“, sagte Annabel. „Manchmal muss man einfach glauben, dass etwas da ist.“

Mary Poppins nickte und stellte ihren Schirm zurück an die Garderobe. „Und wenn du das einmal gelernt hast, meine Liebe, kannst du viele unsichtbare Brücken in deinem Leben finden.“

Georgie grinste. „Das war der beste Spaziergang überhaupt!“

„Ich bin mir sicher, dass noch viele folgen werden“, sagte Mary Poppins und warf ihnen ein schiefes Lächeln zu. Während sie sich wieder ihrer Arbeit widmete, wussten Annabel und Georgie eines sicher: Mit Mary Poppins lernten sie immer, die Welt mit neuen Augen zu sehen – und manchmal mit geschlossenen.

23. Der singende Baum

Es war ein später Nachmittag, als Mary Poppins mit Annabel und Georgie zu einem Spaziergang aufbrach. Der Himmel war klar, und die Luft roch nach Frühling. Doch es war etwas anderes, das die Kinder aufhorchen ließ – ein leises, melodisches Summen, das sich durch den Wind zog, wie ein Lied, das von irgendwoher kam.

„Was ist das?“ fragte Georgie, während er stehen blieb und lauschte.

„Es klingt wie Musik“, sagte Annabel, ihre Augen suchten den Park vor ihnen ab.

„Es ist Musik“, sagte Mary Poppins und hielt kurz inne, um den Kindern einen wissenden Blick zuzuwerfen. „Und sie kommt von einem ganz besonderen Ort.“

Der Weg führte sie durch eine schmale, gewundene Allee, die von alten Bäumen gesäumt war. Die Melodie wurde lauter, je tiefer sie in den Park gingen, und schien von einem Punkt in der Ferne zu kommen. Schließlich erreichten sie eine Lichtung, in deren Mitte ein riesiger Baum stand. Er war anders als alle Bäume, die die Kinder je gesehen hatten. Seine Äste waren weit ausladend und schienen in alle Richtungen zu tanzen. Die Blätter schimmerten in verschiedenen Farben – grün, silbern und golden –, als ob sie im Licht der untergehenden Sonne selbst leuchteten. Und von diesem Baum kam die Musik, die sich wie ein sanftes Lied durch die Luft bewegte.

„Das ist unglaublich“, flüsterte Annabel ehrfürchtig.

„Es ist wunderschön“, fügte Georgie hinzu.

„Das, meine Lieben, ist der singende Baum“, erklärte Mary Poppins. „Er singt nicht für jeden – nur für diejenigen, die bereit sind, zuzuhören.“

Die Kinder näherten sich vorsichtig dem Baum. Das Lied war nun deutlicher zu hören, und es klang wie eine Mischung aus einer Melodie und einem Flüstern.

„Was singt er?“ fragte Georgie. Mary Poppins setzte sich auf einen der großen, verwurzelten Wurzeln des Baumes und sah ihn an. „Der Baum singt Geschichten“, sagte sie. „Er erinnert sich an alles, was er je gesehen hat. Die Vögel, die auf seinen Ästen gesessen haben. Die Kinder, die unter ihm gespielt haben. Die Stürme, die ihn gebeugt, aber nicht gebrochen haben.“

Annabel legte ihre Hand vorsichtig an den Stamm. „Fühlt er… uns?“

Mary nickte. „Natürlich tut er das. Er weiß, dass ihr hier seid. Und vielleicht fügt er eure Geschichte zu seinem Lied hinzu.“

Die Kinder setzten sich unter den Baum und lauschten, während der Wind durch die Äste strich. Jede Note der Melodie schien eine andere Emotion hervorzurufen – Freude, Trauer, Hoffnung. Georgie schloss die Augen. „Ich glaube, ich höre mehr als nur Musik.“

„Was hörst du?“ fragte Annabel.

„Es ist, als würde er etwas erzählen“, sagte Georgie. „Ich sehe Bilder… Kinder, die hier spielen. Einen Mann, der einen Drachen steigen lässt. Einen Sturm, der versucht, den Baum zu fällen, aber er bleibt stark.“

„Das ist das Lied der Erinnerungen“, sagte Mary Poppins. „Es ist die Geschichte des Baumes und aller, die ihm begegnet sind.“

Annabel lächelte. „Das ist so schön. Er erzählt Geschichten, die nie vergessen werden.“

Doch plötzlich veränderte sich das Lied. Es wurde langsamer, trauriger, fast wie ein Klagelied. Die Kinder sahen sich besorgt an.

„Warum klingt es jetzt so traurig?“ fragte Annabel. Mary Poppins stand auf und legte ihre Hand sanft auf den Stamm des Baumes. „Er erinnert sich an die Zeiten, in denen er allein war. Zeiten, in denen niemand mehr auf ihn geachtet hat. Bäume wie dieser brauchen Aufmerksamkeit, genauso wie Menschen.“

Georgie sprang auf. „Wir sind doch jetzt hier! Vielleicht macht ihn das wieder fröhlich.“

Annabel nickte. „Lass uns etwas für ihn tun.“

Die Kinder begannen, unter dem Baum herumzulaufen, zu lachen und zu singen, ihre Stimmen vermischten sich mit dem Lied des Baumes. Sie pflückten ein paar wilde Blumen von der Lichtung und legten sie an seinen Fuß, als Geschenk.
Nach und nach veränderte sich die Melodie wieder. Sie wurde heller, fröhlicher, und der Baum schien in einer neuen Energie zu schwingen. Seine Blätter raschelten wie Beifall, und die Kinder konnten spüren, dass er dankbar war.

„Er singt wieder glücklich“, sagte Georgie stolz.

„Natürlich tut er das“, sagte Mary Poppins. „Freude ist ansteckend, meine Lieben. Und manchmal braucht es nur ein wenig Zuwendung, um sie zurückzubringen.“

Als die Sonne hinter dem Horizont verschwand, war die Melodie des Baumes immer noch zu hören, leise und beruhigend. Die Kinder standen auf und blickten zu ihm auf, als wollten sie sich verabschieden.

„Wird er weiter singen, wenn wir weg sind?“ fragte Annabel.

„Oh, ja“, sagte Mary Poppins. „Er wird immer singen. Aber vielleicht hört ihr ihn eines Tages wieder, wenn ihr bereit seid, zurückzukommen.“

Auf dem Heimweg durch den Park hörten die Kinder noch immer die sanften Klänge des singenden Baumes in ihren Köpfen.

„Ich glaube, das war das Schönste, was ich je gehört habe“, sagte Annabel.

„Und ich glaube, ich werde es nie vergessen“, fügte Georgie hinzu. Mary Poppins lächelte und hielt ihren Schirm fest. „Das solltet ihr auch nicht. Denn der singende Baum ist nicht nur ein Baum – er ist eine Erinnerung. Und Erinnerungen, meine Lieben, sind die Musik des Lebens.“

24. Die Geister des Kirchturms

Es war ein trüber, windiger Abend, als Mary Poppins mit Annabel und Georgie durch die Kopfsteinpflasterstraßen der Cherry Tree Lane ging. Die Laternen warfen flackernde Lichter auf den Boden, und der Wind ließ die Äste der Bäume wie knorrige Finger tanzen. Ihr Ziel war die alte Kirche am Ende der Straße, deren Turm in der Dunkelheit emporragte wie ein stiller Wächter.

„Warum gehen wir zur Kirche?“ fragte Annabel, während sie sich enger in ihren Mantel kuschelte.

„Weil dort etwas ist, das ihr sehen solltet“, sagte Mary Poppins mit ihrer typischen Rätselhaftigkeit.

„Was denn?“ fragte Georgie neugierig.
Mary Poppins blieb stehen, drehte sich zu den Kindern um und sagte leise: „Die Geister des Kirchturms.“

Die Kinder starrten sie mit großen Augen an. „Geister?“ wiederholte Annabel, ihre Stimme klang nervös.

„Oh, keine Angst“, sagte Mary Poppins und ging weiter. „Nicht alle Geister sind beängstigend. Manche haben Geschichten zu erzählen.“

Die alte Kirche war ein beeindruckendes Bauwerk, mit hohen Fenstern, die von kunstvollen Buntglasbildern geschmückt waren. Der Kirchturm ragte so hoch, dass er fast den Himmel zu berühren schien. Als sie die schweren Holztüren öffneten, empfing sie ein kühler Luftzug, der nach Staub und alten Steinen roch. Drinnen war es still, bis auf das entfernte Rascheln des Windes, der durch die Ritzen wehte. Mary Poppins führte die Kinder durch das Kirchenschiff, vorbei an den hölzernen Bänken und dem Altar, bis sie vor einer schmalen Wendeltreppe stehenblieb, die hinauf zum Kirchturm führte.

„Hier beginnt es“, sagte sie.

„Was beginnt?“ fragte Georgie zögernd.

„Die Begegnung mit der Vergangenheit“, antwortete Mary Poppins. Die Wendeltreppe knarrte unter ihren Füßen, und das Echo ihrer Schritte hallte durch die engen Steinwände. Je höher sie stiegen, desto kälter wurde die Luft, und ein leises Flüstern war zu hören – ein Flüstern, das weder von Mary noch von den Kindern kam.

„Was war das?“ fragte Annabel und hielt inne.

„Die Geister, die uns begrüßen“, sagte Mary Poppins gelassen. Als sie den Glockenraum erreichten, umfing sie eine seltsame, fast ehrfürchtige Stille. Der Raum war groß, mit offenen Fenstern, durch die der Wind hindurchpfiff, und den alten, majestätischen Glocken, die wie Wächter der Zeit wirkten.

„Hier sind wir“, sagte Mary und sah sich um.

„Aber ich sehe keine Geister“, sagte Georgie, während er sich vorsichtig umsah.

„Manchmal sieht man Geister nicht mit den Augen“, sagte Mary. „Man fühlt sie.“

Kaum hatte sie das gesagt, begann die Luft im Raum sich zu verändern. Ein sanftes, silbriges Leuchten erfüllte den Raum, und aus den Schatten traten schemenhafte Gestalten hervor – durchsichtig, aber dennoch klar genug, um ihre Gesichtszüge zu erkennen. Es waren Männer, Frauen und Kinder, die Kleidung trugen, die aus einer anderen Zeit stammte.

„Wer sind sie?“ flüsterte Annabel, fasziniert und ein wenig ängstlich.

„Die Menschen, die diesen Turm über die Jahre geprägt haben“, erklärte Mary Poppins. „Jeder von ihnen hat eine Geschichte, die hier weiterlebt.“

Eine der Gestalten, ein älterer Mann mit einer Glockenläuter-Robe, trat vor. Sein Gesicht war freundlich, aber ernst, und seine Stimme klang wie ein ferner Glockenschlag, als er sprach.

„Willkommen“, sagte er. „Es ist lange her, dass jemand den Weg zu uns gefunden hat.“

„Warum seid ihr hier?“ fragte Georgie mutig.

„Wir wachen über den Kirchturm“, sagte der Mann. „Unsere Geschichten sind in den Glocken, in den Steinen und im Wind, der durch die Fenster weht. Wir sind die Hüter der Erinnerungen.“

Die Geister begannen, ihre Geschichten zu erzählen. Eine Frau sprach von der Zeit, als die Glocken des Turms das Ende eines Krieges verkündet hatten. Ein junges Mädchen erzählte, wie sie einst Blumen für die Kirche gepflückt hatte, bevor sie krank wurde und nie zurückkehrte. Ein alter Mann berichtete, wie er den Turm restauriert hatte, damit er nicht verfiel. Die Kinder lauschten gebannt, während sich die Geister nacheinander zu Wort meldeten. Ihre Geschichten waren keine Gruselgeschichten, sondern Erinnerungen an Mut, Hoffnung und den Wunsch, etwas zu hinterlassen, das die Zeit überdauert.

„Warum zeigen sie uns das?“ fragte Annabel schließlich.

„Weil Geschichten niemals vergessen werden sollten“, sagte Mary Poppins. „Und dieser Turm, so still er auch wirkt, ist voller Leben – auch wenn es nicht mehr sichtbar ist.“

Der alte Mann trat wieder vor und sah die Kinder an. „Tragt unsere Geschichten weiter“, sagte er. „Erzählt anderen, was ihr hier gesehen und gehört habt. Denn so bleiben wir lebendig.“

Annabel und Georgie nickten, spürten die Bedeutung seiner Worte. Die Geister zogen sich langsam zurück, das silberne Leuchten verblasste, und der Raum wurde wieder still. Mary Poppins führte die Kinder zurück die Treppe hinunter, hinaus in die kühle Nacht.

„Das war… unglaublich“, sagte Georgie, als sie den Kirchturm hinter sich ließen.

„Ich werde ihre Geschichten nicht vergessen“, sagte Annabel. Mary Poppins sah sie mit einem zufriedenen Lächeln an. „Das solltet ihr auch nicht. Denn Geschichten sind das, was uns verbindet – über Zeit und Raum hinaus.“

Und während der Wind leise durch die Straßen der Cherry Tree Lane wehte, wussten die Kinder, dass die Geister des Kirchturms noch immer dort waren, leise wachehaltend, ihre Geschichten mit jedem Glockenschlag weitersendend.

25. Die fliegenden Bücher

Es war ein regnerischer Nachmittag in der Cherry Tree Lane, und die Kinder waren im Haus eingesperrt, während der Regen gegen die Fenster prasselte. Georgie saß auf dem Boden und stapelte Bauklötze, während Annabel in einem alten Buch blätterte, das sie in einer verstaubten Ecke des Regals gefunden hatte.

„Ich wünschte, wir könnten etwas Spannendes machen“, seufzte Georgie.

„Lesen ist doch spannend“, sagte Annabel und hielt das Buch hoch. „Hast du gesehen, wie viele Geschichten hier drin sind?“

Georgie verdrehte die Augen. „Aber es passiert nichts richtiges.“

In diesem Moment betrat Mary Poppins den Raum, ihren Schirm in der einen und ein Buch in der anderen Hand. „Nichts passiert von selbst, meine Lieben“, sagte sie. „Manchmal muss man den Geschichten die Möglichkeit geben, zu fliegen.“

„Fliegen?“ fragte Annabel neugierig.

„Ganz genau“, sagte Mary Poppins und schlug das Buch in ihrer Hand auf. Es war ein großes, altes Buch mit einem ledernen Einband und vergilbten Seiten. Die Kinder beugten sich vor, um die Schrift besser zu sehen, doch bevor sie lesen konnten, begann sich etwas Seltsames zu ereignen. Die Seiten des Buches flimmerten, als würde ein unsichtbarer Wind hindurchwehen, und plötzlich erhob es sich in die Luft.

„Es… es fliegt!“ rief Georgie erstaunt.

„Natürlich tut es das“, sagte Mary Poppins, als wäre es das Normalste der Welt. „Ein Buch ist nicht dazu da, stillzustehen. Es möchte erkundet werden – und manchmal tut es das auf eigene Faust.“

Die Kinder beobachteten fasziniert, wie das Buch langsam um den Raum schwebte. Dann öffneten sich plötzlich die anderen Bücher im Regal. Eines nach dem anderen erhoben sie sich in die Luft, ihre Seiten flatterten wie Flügel. Bald war der Raum erfüllt von einer Schar fliegender Bücher, die sich wie Vögel um die Kinder bewegten.

„Das ist unglaublich!“ rief Annabel und streckte die Hand aus, um eines der Bücher zu berühren.

„Seid vorsichtig“, warnte Mary Poppins. „Bücher haben ihre eigene Persönlichkeit. Manche sind freundlich, andere ein wenig launisch.“

Ein besonders großes Buch, das mit kunstvollen Goldbuchstaben verziert war, schwebte zu Annabel und blieb direkt vor ihr in der Luft stehen. Sie öffnete es vorsichtig und fand sich plötzlich von Bildern und Worten umgeben, die sich zu bewegen schienen.

„Es ist wie ein Film“, flüsterte sie.

„Das ist die Magie der Geschichten“, sagte Mary Poppins. „Sie können dich an Orte bringen, die du dir nicht einmal vorstellen kannst.“

Georgie griff nach einem kleineren Buch, das sich wie ein Schmetterling in seinen Händen niederließ. Als er es öffnete, sah er Bilder von Piratenschiffen auf stürmischen Meeren. Plötzlich fühlte er sich, als würde er selbst an Bord eines dieser Schiffe stehen, den Wind in den Haaren und das Rauschen der Wellen unter sich.

„Ich bin ein Pirat!“ rief er begeistert.

„Nur in deiner Fantasie“, sagte Mary Poppins mit einem schmalen Lächeln. „Aber das ist manchmal genauso echt.“

Die Bücher flogen weiter durch den Raum, und mit jedem, das geöffnet wurde, schien eine neue Welt zum Leben zu erwachen. Eine alte Märchenanthologie zeigte glitzernde Schlösser und mutige Ritter. Ein Gedichtband zauberte eine Sternennacht an die Decke des Zimmers.

„Wie passiert das?“ fragte Annabel.

„Bücher haben eine Seele“, erklärte Mary Poppins. „Die Geschichten darin sind lebendig – und wenn du ihnen die Chance gibst, zeigen sie dir, wie lebendig sie wirklich sind.“

Doch plötzlich begannen die Bücher, schneller zu fliegen. Sie wirbelten durch den Raum, und ihre Seiten flatterten wild, als würden sie einen Sturm entfesseln.

„Was ist los?“ rief Georgie und duckte sich, als ein Buch knapp über seinem Kopf hinwegschoss. Mary Poppins hob ihren Schirm und rief mit klarer Stimme: „Beruhigt euch! Ihr seid hier sicher.“

Langsam begannen die Bücher, sich wieder zu ordnen. Sie schwebten in sanften Kreisen, bis sie sich einer nach dem anderen zurück in ihre Regale legten.

„Was war das?“ fragte Annabel atemlos.

„Bücher mögen es nicht, wenn man sie unterschätzt“, sagte Mary Poppins. „Sie wollten euch zeigen, dass Geschichten nicht still bleiben, wenn sie einmal zum Leben erweckt wurden.“

Als die letzten Bücher wieder an ihrem Platz waren, war der Raum wieder ruhig. Doch etwas hatte sich verändert. Die Kinder sahen die Regale nicht mehr als bloße Aufbewahrungsorte – sie waren voller Wunder, voller Abenteuer, die nur darauf warteten, entdeckt zu werden.

„Ich werde ab jetzt mehr lesen“, sagte Georgie entschlossen.

„Ich auch“, fügte Annabel hinzu. „Wenn Bücher fliegen können, dann können sie auch alles andere.“

Mary Poppins nickte zufrieden. „Das, meine Lieben, ist die wahre Magie der Geschichten. Sie nehmen dich mit, wohin du auch willst – und manchmal bringen sie dich sogar zurück, wenn du das am meisten brauchst.“ Und während draußen der Regen leise an die Fenster prasselte, öffneten Annabel und Georgie ein neues Buch – diesmal mit der festen Überzeugung, dass jede Seite ein kleines Stück Magie enthielt.

26. Das verzauberte Theater

Es war ein Abend wie jeder andere in der Cherry Tree Lane – oder zumindest schien es so. Annabel und Georgie hatten gerade den Abwasch beendet, als Mary Poppins plötzlich in der Tür erschien, elegant wie immer, mit ihrem Schirm in der einen und einem geheimnisvollen Funkeln in den Augen.

„Schnappt euch eure Mäntel, meine Lieben“, sagte sie. „Wir gehen heute Abend ins Theater.“

„Ins Theater?“ fragte Annabel überrascht.

„Aber wir haben keine Karten“, fügte Georgie hinzu. Mary Poppins warf ihnen einen strengen Blick zu. „Karten sind für gewöhnliche Theater. Dieses hier ist… anders.“

Die Straße führte sie zu einem kleinen, unscheinbaren Gebäude am Rande des Parks, das Annabel und Georgie noch nie zuvor bemerkt hatten. Über der Tür hing ein kunstvolles Schild, auf dem in verschnörkelter Schrift stand: „Das verzauberte Theater – Geschichten, die leben“.

„Das sieht alt aus“, murmelte Georgie.

„Das sieht magisch aus“, sagte Annabel mit glänzenden Augen. Mary Poppins klopfte an die Tür, die sich mit einem leisen Knarren öffnete. Dahinter lag ein Theater, das größer und prachtvoller war, als es von außen je hätte sein können. Die Wände waren mit goldenen Mustern verziert, und die Decke war ein Sternenhimmel, dessen Sterne tatsächlich funkelten. Der Saal war leer, abgesehen von einer kleinen Bühne mit einem schweren roten Vorhang.

„Setzt euch“, sagte Mary Poppins und führte die Kinder zu den besten Plätzen in der ersten Reihe. Kaum hatten sie Platz genommen, begann sich der Vorhang zu bewegen, und eine sanfte Musik erfüllte den Raum. Der Vorhang glitt zur Seite, und die Bühne wurde in goldenes Licht getaucht. Doch statt Schauspielern oder Kulissen erschien eine große, offene Leinwand, auf der sich Bilder zu bewegen begannen.

„Das ist wie ein Film“, flüsterte Georgie.
Doch bevor Annabel antworten konnte, veränderte sich etwas. Die Bilder auf der Leinwand schienen nicht nur zu leben – sie zogen die Kinder förmlich in sich hinein. Plötzlich fühlten sie, wie ihre Sitze verschwanden, und sie standen mitten auf der Bühne. Die Welt um sie herum hatte sich verändert, und sie waren jetzt Teil der Geschichte. Die Kinder fanden sich in einem Märchenwald wieder, mit hohen Bäumen, deren Blätter in allen Farben schimmerten. Kleine Lichter, die wie Glühwürmchen aussahen, schwebten um sie herum, und in der Ferne war das leise Plätschern eines Flusses zu hören.

„Wo sind wir?“ fragte Annabel.

„In der Geschichte“, sagte Mary Poppins, die neben ihnen stand, als wäre nichts Ungewöhnliches geschehen.

„Welche Geschichte?“ fragte Georgie.

„Das werdet ihr bald herausfinden.“

Kaum hatte sie das gesagt, tauchte eine Gestalt aus den Schatten auf – ein freundlicher, älterer Mann mit einem langen Umhang und einem Stock, der wie ein geschnitzter Ast aussah.

„Willkommen, willkommen! Ich bin der Erzähler“, sagte er und verbeugte sich leicht. „Ihr seid heute die Hauptfiguren.“

„Wir?“ riefen Annabel und Georgie gleichzeitig.

„Natürlich“, sagte der Erzähler. „Dieses Theater ist kein Ort, um Geschichten zu sehen – es ist ein Ort, um sie zu erleben.“

Die Kinder wurden in ein Abenteuer hineingezogen, das spannender war, als sie es sich je hätten ausdenken können. Sie mussten einem schelmischen Kobold folgen, der ihnen Rätsel stellte, um den Weg durch den Wald zu finden. Sie mussten über einen Fluss voller magischer, singender Steine springen und schließlich einen funkelnden Schlüssel aus einem alten, verzauberten Brunnen holen.

„Das ist wie ein Traum“, sagte Annabel, während sie die Welt um sich herum betrachtete.

„Das ist besser als ein Traum“, sagte Georgie lachend. Doch das Abenteuer war nicht ohne Herausforderungen. Als sie dachten, sie hätten die Geschichte gemeistert, erschien ein riesiger Schatten über ihnen – ein Drache mit glühenden Augen, der die Bühne erzittern ließ.

„Was machen wir jetzt?“ rief Georgie, der sich hinter Annabel versteckte. Mary Poppins trat gelassen nach vorne, hielt ihren Schirm wie ein Schwert und sah den Drachen mit einem festen Blick an. „Es gibt immer eine Lösung, meine Lieben. Ihr müsst sie nur finden.“

Annabel erinnerte sich an den Schlüssel, den sie gefunden hatten, und hielt ihn dem Drachen entgegen. „Vielleicht gehört das dir?“ Der Drache brüllte einmal laut, doch dann schien er zu lächeln – wenn Drachen überhaupt lächeln konnten. Er nahm den Schlüssel vorsichtig und verschwand, als wäre er nie da gewesen. Als die Geschichte zu Ende war, fanden sich die Kinder plötzlich wieder in ihren Theatersitzen. Der Vorhang fiel, und der Saal war wieder still.

„Das war unglaublich!“ rief Georgie.

„Es war wie… wirklich da zu sein“, fügte Annabel hinzu. Mary Poppins stand auf und zog die Kinder sanft an die Hand. „Geschichten sind dazu da, erlebt zu werden – ob in einem Buch, in euren Gedanken oder auf einer Bühne wie dieser. Und jetzt ist es Zeit, nach Hause zu gehen.“

Als sie das Theater verließen, war die Cherry Tree Lane wieder still und friedlich. Doch in den Herzen der Kinder lebte die Magie weiter.

„Meinst du, wir können noch mal dorthin gehen?“ fragte Georgie.

„Vielleicht“, sagte Mary Poppins. „Aber Geschichten sind wie Magie – sie finden dich, wenn die Zeit reif ist.“

Und mit diesen Worten führte sie sie zurück nach Hause, während der Sternenhimmel über ihnen so lebendig funkelte wie das Theater, das sie gerade verlassen hatten.

27. Der Tanz auf den Wolken

Es war ein strahlender, klarer Tag, und die Wolken hingen wie flauschige Kissen am Himmel. Annabel und Georgie spielten im Garten, als Mary Poppins mit ihrem unvermeidlichen Sonnenschirm aus dem Haus trat.

„Heute“, sagte sie, „ist der perfekte Tag für etwas Besonderes.“

Georgie sah sie neugierig an. „Was denn?“

„Wir tanzen auf den Wolken“, sagte Mary Poppins schlicht, als wäre das die selbstverständlichste Sache der Welt.
Annabel lachte. „Das ist unmöglich. Man kann doch nicht auf Wolken tanzen!“

Mary Poppins hob eine Augenbraue. „Nur für diejenigen, die nicht bereit sind, es zu versuchen.“

Die Kinder folgten ihr auf eine nahegelegene Wiese, wo der Himmel noch weiter und die Wolken noch größer wirkten. Mary Poppins öffnete ihren Schirm, der wie von selbst zu schimmern begann. Ein sanfter Wind erhob sich, wirbelte um sie herum und zog sie langsam nach oben.

„Haltet euch fest“, sagte Mary Poppins.
Annabel und Georgie griffen nach ihrer Hand, und plötzlich schwebten sie – erst zögerlich, dann immer schneller. Der Boden unter ihnen wurde kleiner, die Baumwipfel verschwanden, und bald fanden sie sich mitten in den Wolken wieder. Die Wolken waren weich und federnd, wie riesige, flauschige Matratzen. Sie funkelten leicht, als ob sie aus Zuckerwatte und Sternenstaub bestanden.

„Das ist unglaublich!“ rief Georgie, während er über eine Wolke sprang.

„Es fühlt sich so echt an“, sagte Annabel und ließ sich auf eine der Wolken fallen, die sie wie ein Schaukelstuhl trug. Mary Poppins stand auf einer der Wolken und klopfte mit ihrem Schirm auf den Boden. „Das ist keine Zeit, faul zu sein, meine Lieben. Die Wolken haben ihren eigenen Tanz, und wir werden daran teilnehmen.“

Kaum hatte sie gesprochen, begann die Luft um sie herum zu summen. Ein leises, himmlisches Lied erfüllte den Himmel, und die Wolken begannen sich sanft zu bewegen. Sie formten Kreise, schwebten auf und ab und schienen eine Choreografie zu tanzen, die nur sie kannten.

„Wir sollen auf den Wolken tanzen?“ fragte Georgie skeptisch.

„Natürlich“, sagte Mary Poppins, als sie anmutig über eine Wolke schritt. „Tanzen ist nicht nur etwas für den Boden. Es ist eine universelle Sprache.“

Annabel versuchte es zuerst. Sie stellte sich aufrecht auf die Wolke, und sobald sie ihre Schritte setzte, schien die Wolke ihre Bewegungen zu unterstützen. Sie drehte sich, sprang leicht und wurde dabei immer sicherer.

„Das macht Spaß!“ rief sie und lachte.
Georgie folgte ihr, und bald tanzten die beiden Kinder zwischen den Wolken, sprangen von einer zur anderen und bewegten sich im Rhythmus der Melodie.

„Achtet auf die Musik“, sagte Mary Poppins, die in einer eleganten Drehung über die Wolken glitt. „Die Wolken folgen ihr, und wenn ihr es auch tut, wird der Tanz mühelos.“

Die Kinder spürten, wie die Melodie sie leitete. Es war, als würde die Musik nicht nur in der Luft, sondern auch in ihrem Inneren erklingen.

„Es fühlt sich an, als würden die Wolken uns tragen“, sagte Annabel.

„Das tun sie“, sagte Mary Poppins. „Denn sie wissen, dass der Tanz nicht nur ein Tanz ist – er ist eine Verbindung zwischen euch und der Welt über euch.“

Plötzlich wurde die Musik intensiver, und die Wolken bewegten sich schneller. Sie formten Bögen und Spiralen, durch die die Kinder hindurchtanzten, als wären sie Teil eines gigantischen himmlischen Balletts. Georgie lachte laut. „Ich wusste nicht, dass Tanzen so magisch sein kann!“

„Alles kann magisch sein“, sagte Mary Poppins, die mit einem eleganten Sprung eine Wolke wechselte. „Man muss nur wissen, wie man die Magie erkennt.“

Nach einer Weile wurde die Musik wieder ruhiger, und die Wolken begannen, sich zu senken. Die Kinder fühlten sich erfüllt, fast schwebend, als sie langsam wieder den Boden erreichten.
Als sie auf der Wiese landeten, war der Himmel wieder still, und die Wolken schwebten friedlich über ihnen.

„War das wirklich echt?“ fragte Georgie, während er nach oben schaute.

„Was denkst du?“ fragte Mary Poppins zurück und strich ihren Rock glatt.
Annabel lächelte. „Es war echt. Ich kann es noch fühlen.“

Mary Poppins nickte zufrieden. „Gut so. Denn das Wichtigste am Tanzen ist, dass du es in deinem Herzen trägst – ob auf Wolken oder auf der Erde.“ Die Kinder schauten noch eine Weile in den Himmel, wo die Wolken wie alte Freunde vorbeizogen. Und tief in ihrem Inneren wussten sie, dass sie immer wieder tanzen könnten – wenn sie nur daran glaubten.

28. Ein Schritt ins Unbekannte

Der Morgen war grau, und ein kalter Wind wehte durch die Cherry Tree Lane. Im Haus Nummer Siebzehn saßen Annabel und Georgie am Esstisch, den Kopf auf die Hände gestützt, während Mary Poppins ihren Tee mit der gewohnten Eleganz trank.

„Heute ist ein langweiliger Tag“, sagte Georgie und seufzte.

„Ja, nichts passiert“, fügte Annabel hinzu. Mary Poppins sah sie über ihre Tasse hinweg an. „Es passiert immer etwas, meine Lieben. Ihr müsst nur den Mut haben, es zu finden.“

„Wie denn?“ fragte Georgie skeptisch.
Mary Poppins stellte ihre Tasse ab, erhob sich und griff nach ihrem Schirm. „Ich zeige es euch. Aber ihr müsst bereit sein, einen Schritt ins Unbekannte zu machen.“

Die Kinder folgten ihr nach draußen. Der Wind hatte aufgefrischt, und die Wolken am Himmel zogen schnell vorbei. Mary Poppins führte sie durch den Park, bis sie zu einem Weg kamen, den die Kinder noch nie zuvor bemerkt hatten.

„Wohin führt dieser Weg?“ fragte Annabel.

„Ins Unbekannte“, sagte Mary Poppins.

„Aber… was, wenn es gefährlich ist?“ fragte Georgie zögernd. Mary Poppins sah ihn streng an. „Manchmal sind die größten Abenteuer genau die, bei denen du nicht weißt, was dich erwartet.“

Der Weg führte sie tiefer in den Park, bis sie an eine alte, steinerne Brücke kamen, die über einen schmalen Fluss führte. Auf der anderen Seite war der Nebel so dicht, dass sie nicht sehen konnten, was dahinter lag.

„Was ist da drüben?“ fragte Annabel.

„Das könnt ihr nur herausfinden, wenn ihr die Brücke überquert“, sagte Mary Poppins.

„Aber was, wenn wir nicht zurückkommen können?“ fragte Georgie, der unsicher auf die Brücke blickte. Mary Poppins legte eine Hand auf seine Schulter. „Es gibt immer einen Weg zurück, Georgie. Aber manchmal musst du vorwärtsgehen, um etwas Neues zu entdecken.“

Annabel atmete tief ein und machte den ersten Schritt auf die Brücke. Georgie zögerte kurz, folgte dann aber. Der Nebel war kühl und umhüllte sie wie ein weicher Schleier. Mit jedem Schritt wurde die Welt um sie herum stiller, bis sie schließlich das Ende der Brücke erreichten und der Nebel sich lichtete.
Vor ihnen lag eine atemberaubende Landschaft, die wie aus einem Traum wirkte. Der Himmel war in schimmernde Farben getaucht – Blau, Gold und Rosa –, und die Luft war erfüllt von einem leisen Summen, das wie die Melodie eines entfernten Liedes klang.

„Das ist wunderschön“, flüsterte Annabel.

„Wo sind wir?“ fragte Georgie.

„Ihr seid an einem Ort, den nur wenige betreten“, sagte Mary Poppins. „Das Unbekannte ist nicht immer ein Ort. Manchmal ist es ein Gefühl, eine Idee oder ein Abenteuer, das darauf wartet, von euch entdeckt zu werden.“

Die Kinder wanderten durch die Landschaft, ihre Sinne geschärft für jedes Detail. Die Wiesen waren mit Blumen bedeckt, die im Wind glitzerten, als wären sie mit Sternen bestickt. Ein Bach plätscherte durch die Hügel, und in der Ferne ragte ein Wald auf, dessen Bäume wie lebendig wirkten.

„Ich habe noch nie so etwas gesehen“, sagte Annabel.

„Es ist, als ob alles hier wartet, dass wir es entdecken“, fügte Georgie hinzu.

„Das tut es auch“, sagte Mary Poppins. „Das Unbekannte zeigt sich nur denen, die bereit sind, danach zu suchen.“

Plötzlich hörten die Kinder ein Rascheln in den Büschen. Sie blieben stehen, und ein kleiner Fuchs mit silbernem Fell tauchte auf. Er sah sie mit neugierigen Augen an, bevor er langsam auf sie zuging.

„Wer seid ihr?“ fragte der Fuchs, seine Stimme war sanft und klar.

„Wir sind Annabel und Georgie“, sagte Annabel.

„Und das ist Mary Poppins“, fügte Georgie hinzu. Der Fuchs neigte den Kopf. „Willkommen in der Welt des Unbekannten. Hier sind die Grenzen eurer Vorstellungskraft das Einzige, was euch aufhält.“

„Was sollen wir tun?“ fragte Annabel.

„Erleben“, sagte der Fuchs. „Denn das Unbekannte ist nicht dazu da, gefürchtet zu werden – es ist dazu da, erkundet zu werden.“

Die Kinder folgten dem Fuchs durch die Landschaft und entdeckten verborgene Schätze: einen See, dessen Wasser Geschichten flüsterte, wenn man hineinsah, und einen Baum, dessen Blätter wie kleine Spiegel funkelten. Sie spielten mit den Lichtern des Himmels, die wie fallende Sterne auf sie herabregneten, und sie lachten, als der Wind sie spielerisch in die Lüfte hob.
Es war, als würde die Welt um sie herum mit ihnen tanzen, eine lebendige Erinnerung daran, dass das Unbekannte nicht beängstigend, sondern voller Möglichkeiten war. Schließlich führte Mary Poppins sie zurück zur Brücke. Der Nebel war noch immer da, und die andere Seite war nicht zu sehen.

„Müssen wir wirklich gehen?“ fragte Georgie.

„Das müssen wir“, sagte Mary Poppins. „Aber das Unbekannte wird immer da sein, wenn ihr bereit seid, einen Schritt hinein zu wagen.“

Als sie zurück in die Cherry Tree Lane kamen, fühlte sich die Welt vertraut und doch anders an. Die Kinder sahen die Straßen, die Bäume und sogar ihr Zuhause mit neuen Augen – als könnte überall ein Abenteuer lauern, wenn sie nur mutig genug waren, es zu suchen.

„Ich glaube, ich verstehe jetzt, was Sie meinten“, sagte Annabel.

„Das hoffe ich“, sagte Mary Poppins mit einem kleinen Lächeln. „Denn das Unbekannte ist nicht das Ende. Es ist immer der Anfang.“

Und während der Abend hereinbrach, fühlten sich die Kinder bereit für alles, was die Welt ihnen zu bieten hatte – ob sie es kannten oder nicht.

29. Der Fremde im Park

Es war ein kühler, ruhiger Nachmittag, und der Park war fast leer. Annabel und Georgie rannten über die Wiese, während Mary Poppins mit ihrer üblichen Eleganz auf einer der alten Bänke saß. Der Wind raschelte durch die Bäume, und die wenigen Wolken am Himmel warfen lange Schatten über den Boden.

„Mary, schauen Sie!“ rief Georgie und hielt stolz einen großen Stock hoch, den er gefunden hatte.

„Wunderbar“, sagte Mary Poppins trocken, ohne aufzublicken. „Ein Meisterwerk der Natur.“

Annabel lachte, doch ihre Aufmerksamkeit wurde von etwas anderem gefangen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Parks stand ein Mann – still, in einen langen Mantel gehüllt, mit einem Hut tief ins Gesicht gezogen. Er schien sie zu beobachten, aber seine Augen waren im Schatten verborgen.

„Wer ist das?“ flüsterte Annabel und zog an Georgies Ärmel. Georgie folgte ihrem Blick und runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht. Er sieht… seltsam aus.“

Die Kinder liefen zurück zu Mary Poppins. „Da ist ein Mann“, sagte Annabel. „Er sieht uns an.“

Mary Poppins schaute in die Richtung, doch ihre Reaktion war wie immer gelassen. „Das ist nur ein Fremder. Fremde sind nicht immer das, was sie zu sein scheinen.“

„Aber was, wenn er gefährlich ist?“ fragte Georgie.

„Das Unbekannte ist nicht immer gefährlich, Georgie“, sagte Mary Poppins. „Manchmal ist es einfach nur neugierig.“

Trotz Marys Worte konnten die Kinder ihre Augen nicht von dem Mann abwenden. Schließlich machte er einen Schritt auf sie zu, dann noch einen. Seine Bewegungen waren ruhig und langsam, als würde er darauf warten, dass sie ihn bemerkten.

„Was will er?“ flüsterte Annabel nervös.

„Das werden wir herausfinden“, sagte Mary Poppins und erhob sich von der Bank. Der Mann kam näher und blieb schließlich ein paar Schritte entfernt stehen. Jetzt konnten die Kinder sein Gesicht sehen – ein schmaler, freundlicher Mund und Augen, die von einer seltsamen Mischung aus Weisheit und Melancholie sprachen.

„Guten Tag“, sagte er mit einer warmen, ruhigen Stimme. „Ich hoffe, ich störe nicht.“

„Wer sind Sie?“ fragte Georgie direkt.
Der Mann lächelte leicht. „Nur ein Reisender. Ich habe Geschichten gesammelt, und der Wind hat mich hierher geführt.“

„Geschichten?“ fragte Annabel neugierig.

„Oh ja“, sagte der Fremde. „Jede Stadt, jeder Baum, jede Person hat ihre eigene Geschichte. Und ich habe die Angewohnheit, zuzuhören.“

Mary Poppins betrachtete den Fremden aufmerksam, bevor sie nickte. „Dann haben Sie die richtige Gegend gewählt. Die Cherry Tree Lane hat mehr Geschichten, als man auf den ersten Blick sieht.“

„Das glaube ich“, sagte der Mann. „Und vielleicht könnt ihr mir helfen, ein paar davon zu finden.“

Die Kinder sahen einander an, ihre Neugier war geweckt.

„Wie können wir helfen?“ fragte Annabel. Der Mann setzte sich auf die Bank und zog ein kleines Notizbuch aus seiner Manteltasche. „Indem ihr mir eure Geschichten erzählt. Was habt ihr gesehen, was habt ihr erlebt? Manchmal sind die besten Geschichten die, die direkt vor einem liegen.“

Die Kinder setzten sich neben ihn und begannen, von ihren Abenteuern zu erzählen – vom singenden Baum, den fliegenden Büchern und der unsichtbaren Brücke. Der Fremde hörte aufmerksam zu, seine Augen leuchteten bei jedem neuen Detail.

„Ihr habt wirklich wundervolle Dinge erlebt“, sagte er schließlich. „Wisst ihr, was das bedeutet?“

„Was denn?“ fragte Georgie.

„Dass die Welt um euch herum lebendig ist. Ihr seht Dinge, die viele Menschen übersehen, weil sie zu beschäftigt sind, um hinzusehen.“

Nach einer Weile erhob sich der Fremde, steckte sein Notizbuch weg und zog seinen Hut tiefer ins Gesicht.

„Danke für eure Geschichten“, sagte er. „Ihr habt mir mehr gegeben, als ich je erwartet hätte.“

„Wohin gehen Sie jetzt?“ fragte Annabel.

„Dorthin, wo die nächste Geschichte wartet“, sagte er und deutete auf den Horizont. „Aber vielleicht treffen wir uns eines Tages wieder.“

Als der Mann sich entfernte, sahen die Kinder ihm nach, bis er im Schatten der Bäume verschwand.

„Wer war er wirklich?“ fragte Georgie schließlich.

„Vielleicht ein Geschichtensammler“, sagte Mary Poppins. „Vielleicht einfach jemand, der mehr sehen wollte, als die Welt ihm zeigt. Solche Menschen sind selten, aber sie erinnern uns daran, dass es immer mehr zu entdecken gibt.“

Die Kinder liefen zurück zur Bank, und der Park fühlte sich auf einmal größer an – als würde er Geheimnisse bergen, die nur darauf warteten, gefunden zu werden.

„Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit mit ihm gehabt“, sagte Annabel.

Mary Poppins lächelte. „Geschichten enden nie wirklich, Annabel. Sie warten nur auf die nächste Gelegenheit, erzählt zu werden.“ Und während der Wind durch die Bäume rauschte, schien es fast, als würden die Blätter leise die Geschichten flüstern, die der Fremde zurückgelassen hatte.

30. Die Macht der Familie

Es war ein ruhiger Abend in der Cherry Tree Lane. Der Wind war abgeflaut, und die letzten Strahlen der untergehenden Sonne tauchten das Haus Nummer Siebzehn in ein warmes, goldenes Licht. Doch im Inneren war die Stimmung angespannt. Michael Banks saß am Küchentisch, umgeben von Papieren, die sich in kleinen Haufen türmten. Sein Gesicht war müde, und seine Stirn lag in tiefen Falten. Annabel und Georgie standen in der Tür, unsicher, ob sie ihn stören sollten.

„Papa wirkt immer so gestresst“, flüsterte Georgie.

„Er arbeitet so viel“, sagte Annabel. „Ich glaube, er fühlt sich ganz allein mit allem.“

In diesem Moment erschien Mary Poppins hinter ihnen, leise wie ein Schatten, doch ihre Augen funkelten entschlossen. „Allein? Unsinn. Niemand ist allein, der eine Familie hat.“ Nach dem Abendessen führte Mary Poppins die Kinder ins Wohnzimmer. Sie zog ihren Schirm aus der Ecke und klopfte damit sanft gegen die alte Standuhr in der Ecke des Raumes.

„Was machen Sie?“ fragte Annabel verwirrt.

„Ich zeige euch etwas, das ihr längst wisst, aber vielleicht vergessen habt“, sagte Mary Poppins. Die Standuhr begann zu vibrieren, und plötzlich schienen die Zeiger rückwärts zu laufen. Der Raum um sie herum veränderte sich – die Wände flimmerten, und der Raum wurde von einem weichen, goldenen Licht erfüllt.

„Was passiert hier?“ rief Georgie, während er sich an Annabel klammerte.

„Wir reisen in die Erinnerungen eurer Familie“, erklärte Mary Poppins. Vor den Augen der Kinder erschienen Szenen aus der Vergangenheit. Sie sahen ihren Vater als kleinen Jungen, wie er mit Jane und ihren Großeltern im Garten spielte. Sie sahen ihre Mutter, wie sie mit Michael unter dem Baum im Garten saß und lachte, während sie Pläne für ihre gemeinsame Zukunft schmiedeten.
Die Szenen wechselten. Sie sahen ihre Geburtstage, die Momente, in denen sie gemeinsam lachten, und die stillen Augenblicke, in denen sie einander Trost spendeten.

„Das alles gehört euch“, sagte Mary Poppins leise. „Jede Erinnerung, jeder Moment. Sie sind die Fäden, die eure Familie zusammenhalten.“

„Aber Papa sieht so traurig aus“, sagte Annabel, als sie eine Szene sah, in der Michael allein in seinem Büro saß. Mary Poppins nickte. „Er hat die Last auf sich genommen, stark für euch zu sein. Doch er vergisst, dass er diese Stärke nicht allein tragen muss.“

„Wie können wir ihm helfen?“ fragte Georgie.

„Indem ihr ihn daran erinnert, was wirklich zählt“, sagte Mary. „Familie bedeutet nicht nur, füreinander da zu sein. Es bedeutet, zusammen stärker zu sein.“

Die Kinder sahen sich an, und es war, als hätten sie eine stille Vereinbarung getroffen. Sie kehrten zurück in die Küche, wo Michael noch immer über seinen Papieren saß.

„Papa?“ sagte Annabel und legte eine Hand auf seine Schulter. Michael blickte auf, überrascht. „Was ist los, Liebling?“

„Wir wollten nur sagen, dass wir hier sind“, sagte Georgie. „Du bist nicht allein.“

Michael lächelte müde. „Ich weiß, aber manchmal fühlt es sich an, als ob ich alles allein schaffen muss.“

„Das musst du nicht“, sagte Annabel entschlossen. „Wir sind eine Familie, und wir schaffen das zusammen.“

Mary Poppins stand im Türrahmen und beobachtete die Szene mit einem zufriedenen Ausdruck. „Ein kluger Mann hat einmal gesagt: ‚Familie ist die erste Magie, die wir kennen.‘ Und er hatte recht.“ Michael sah zu ihr und dann wieder zu seinen Kindern. „Ihr habt recht“, sagte er schließlich. „Ich habe so viel Zeit damit verbracht, mich um alles zu sorgen, dass ich vergessen habe, wie stark wir zusammen sind.“
Er zog Annabel und Georgie in eine Umarmung, die so fest war, dass sie fast den Atem anhielten, aber sie lachten dabei. In dieser Nacht schien das Haus in der Cherry Tree Lane wärmer und heller als je zuvor. Michael verbrachte den Abend damit, Geschichten aus der Vergangenheit zu erzählen, und die Kinder hörten aufmerksam zu, während Mary Poppins still ihre Arbeit verrichtete. Und als die Kinder schließlich ins Bett gingen, wussten sie eines: Die wahre Macht der Familie liegt nicht in Perfektion oder Stärke, sondern in der Liebe, die sie füreinander haben – in guten wie in schweren Zeiten. Mary Poppins schloss die Tür zum Kinderzimmer leise und lächelte. „Familie“, flüsterte sie zu sich selbst, „ist die Magie, die immer bleibt.“

31. Die magische Uhr

Es war ein regnerischer Nachmittag, und das Haus in der Cherry Tree Lane war in das sanfte Trommeln des Regens gehüllt. Annabel und Georgie saßen im Wohnzimmer und starrten gelangweilt aus dem Fenster, während Mary Poppins in ihrem Sessel saß und eine Tasse Tee trank.

„Es passiert einfach gar nichts“, seufzte Georgie.

„Manchmal“, sagte Mary Poppins ohne aufzublicken, „passieren die interessantesten Dinge genau dann, wenn du sie am wenigsten erwartest.“

Kaum hatte sie das gesagt, wurde ihre Aufmerksamkeit von einem leisen Ticken erregt. Es kam aus einer Ecke des Raums, wo eine alte, große Standuhr stand. Die Kinder hatten sie schon oft gesehen, aber sie schien ihnen immer nur wie ein gewöhnliches Möbelstück vorgekommen zu sein.

„Warum tickt die Uhr so laut?“ fragte Annabel. Mary Poppins legte ihre Tasse ab und lächelte geheimnisvoll. „Vielleicht möchte sie euch etwas sagen.“

Die Kinder traten näher an die Standuhr heran. Das Gehäuse aus dunklem Holz war mit kunstvollen Schnitzereien verziert, die auf den ersten Blick wie einfache Muster wirkten, doch bei näherem Hinsehen erkannte Georgie, dass sie kleine Szenen darstellten – Sternenhimmel, tanzende Menschen, fliegende Vögel.

„Ich glaube, ich habe so etwas noch nie bemerkt“, sagte er und fuhr mit den Fingern über die Schnitzereien.

„Die meisten Menschen achten nicht darauf“, sagte Mary Poppins. „Aber diese Uhr ist mehr als nur eine Uhr. Sie bewahrt Geheimnisse.“

„Welche Geheimnisse?“ fragte Annabel.

„Das“, sagte Mary Poppins, „müsst ihr selbst herausfinden.“

Plötzlich begann die Uhr zu leuchten. Die Zeiger bewegten sich schneller, und das Ticken wurde lauter, bis es wie ein leiser Herzschlag klang. Die Kinder wichen einen Schritt zurück, doch Mary Poppins blieb ruhig.

„Fasst die Zeiger an“, sagte sie.

„Aber was passiert dann?“ fragte Georgie zögernd.

„Manchmal muss man einfach vertrauen“, sagte Mary Poppins. Annabel atmete tief ein, griff nach Georgies Hand und gemeinsam berührten sie die goldenen Zeiger der Uhr. Sofort wurden sie von einem warmen, goldenen Licht umhüllt. Die Welt um sie herum verschwamm, und sie spürten, wie der Boden unter ihren Füßen verschwand. Als das Licht verblasste, fanden sie sich in einer anderen Umgebung wieder – sie standen inmitten eines riesigen, strahlenden Uhrwerks. Zahnräder so groß wie Häuser drehten sich leise, und die Luft war erfüllt von einem sanften Summen.

„Wo sind wir?“ fragte Annabel.

„Willkommen im Inneren der Zeit“, sagte Mary Poppins, die wie immer unbeeindruckt neben ihnen stand.

„Das ist… die Zeit?“ fragte Georgie staunend.

„Ganz genau“, sagte Mary Poppins. „Jede Uhr, jedes Ticken, jede Sekunde fließt durch diesen Ort. Und hier können die mutigen Herzen mehr über sich selbst und die Zeit erfahren.“

Die Kinder gingen vorsichtig durch das riesige Uhrwerk, und mit jedem Schritt entdeckten sie etwas Neues. In einem der Zahnräder sahen sie ihre eigenen Erinnerungen, wie in kleinen Fenstern, die vorbeiglitten – Annabels erster Schultag, Georgies Abenteuer mit ihrem Hund, gemeinsame Stunden im Garten mit ihrem Vater.

„Die Zeit bewahrt eure Vergangenheit“, sagte Mary Poppins. „Aber sie ist auch eine Brücke zur Zukunft.“

„Können wir die Zukunft sehen?“ fragte Annabel neugierig. Mary Poppins schüttelte den Kopf. „Die Zukunft ist nicht festgelegt. Sie verändert sich mit jedem Schritt, den ihr macht.“

Plötzlich tauchte ein weiteres Licht auf – eine sanfte, blaue Kugel, die um sie herum schwebte. Sie sprach mit einer melodischen, sanften Stimme: „Willkommen, junge Entdecker. Ihr habt die Magie der Zeit gefunden. Was wünscht ihr euch?“ Die Kinder sahen sich an.

„Ich wünsche mir, mehr Zeit mit unserer Familie zu verbringen“, sagte Annabel leise.

„Und ich wünsche mir, dass Papa wieder glücklich wird“, fügte Georgie hinzu. Die blaue Kugel leuchtete auf. „Zeit ist eine mächtige Kraft. Eure Wünsche zeigen, dass ihr versteht, was wirklich wichtig ist. Nutzt die Zeit weise, und sie wird euch belohnen.“

Mit einem sanften Wirbel begann die Kugel, sich aufzulösen, und die Zahnräder um sie herum verlangsamten sich. Das goldene Licht kehrte zurück, und ehe sie sich versahen, standen Annabel und Georgie wieder im Wohnzimmer der Cherry Tree Lane, vor der alten Standuhr. Die Uhr tickte nun in ihrem normalen, sanften Rhythmus, als wäre nichts geschehen.

„War das… echt?“ fragte Georgie.

„Was denkst du?“ fragte Mary Poppins mit einem leichten Lächeln. Annabel sah die Uhr an und dann Mary. „Ich glaube, es war echt. Und ich glaube, ich weiß jetzt, was wichtig ist.“

An diesem Abend verbrachten die Kinder und Michael gemeinsam Zeit am Kamin. Sie lachten, erzählten Geschichten und spielten Spiele, ohne auf die Uhr zu schauen – sie genossen einfach den Moment. Und im Hintergrund tickte die magische Uhr, leise, wie ein Herzschlag, und erinnerte sie daran, dass die Zeit kostbar war. Mary Poppins sah zufrieden zu. „Zeit“, sagte sie leise zu sich selbst, „ist die größte Magie, wenn man weiß, wie man sie nutzt.“

32. Das Lied des Windes

Es war ein unruhiger Tag in der Cherry Tree Lane. Der Wind wehte stark und rüttelte an den Fenstern, als wollte er das Haus zum Sprechen bringen. Annabel und Georgie saßen im Wohnzimmer und sahen zu, wie die Bäume draußen sich in der Böe bogen.

„Es ist so laut“, sagte Georgie und hielt sich die Ohren zu.

„Ich mag den Wind eigentlich“, sagte Annabel. „Aber heute klingt er… seltsam.“

Mary Poppins, die am Kamin saß und ruhig ihr Strickzeug bearbeitete, blickte auf. „Seltsam?“ wiederholte sie. „Der Wind hat viele Stimmen, meine Liebe. Heute erzählt er etwas.“

„Erzählt?“ fragte Georgie skeptisch.

„Natürlich“, sagte Mary Poppins. „Der Wind trägt Geschichten aus fernen Ländern, aus den Wolken und über die Meere. Man muss nur zuhören, um das Lied des Windes zu verstehen.“

Die Kinder waren neugierig geworden. „Wie können wir das Lied hören?“ fragte Annabel. Mary Poppins legte ihr Strickzeug beiseite und stand auf. „Zieht eure Mäntel an. Der Wind singt nicht für diejenigen, die drinnen bleiben.“
Trotz des stürmischen Wetters folgten die Kinder Mary Poppins hinaus in den Park. Der Wind riss an ihren Haaren und wirbelte Blätter um sie herum. Doch Mary Poppins schritt mit ihrem Schirm in der Hand ruhig voran, als ob der Wind sie führte.

„Wohin gehen wir?“ rief Georgie gegen das Heulen des Windes.

„Dorthin, wo der Wind am lautesten singt“, antwortete Mary Poppins. Sie erreichten eine Anhöhe im Park, von der aus man die ganze Cherry Tree Lane überblicken konnte. Der Wind war hier besonders stark, doch er fühlte sich nicht unangenehm an. Es war, als ob er sie einlud, näher zu kommen.

„Jetzt hört zu“, sagte Mary Poppins und hob ihren Schirm in den Wind. Die Kinder schlossen die Augen und lauschten. Zunächst hörten sie nur das Rauschen der Luft, doch dann begann sich der Klang zu verändern. Es war, als ob der Wind selbst eine Melodie spielte – sanft, doch voller Geheimnisse.

„Es klingt wie ein Lied“, flüsterte Annabel.

„Das ist es“, sagte Mary Poppins. „Das Lied des Windes ist kein gewöhnliches Lied. Es erzählt Geschichten, die älter sind, als wir uns vorstellen können.“

Je länger sie lauschten, desto deutlicher wurden die Geschichten, die der Wind erzählte. Sie hörten das Pfeifen von Segelschiffen auf stürmischen Meeren, das Knistern von Lagerfeuern in der Wüste und das Lachen von Kindern, das der Wind aus fernen Ländern mitgebracht hatte.

„Der Wind trägt so viel mit sich“, sagte Georgie staunend.

„Er trägt nicht nur Geräusche“, sagte Mary Poppins. „Er trägt Erinnerungen, Träume und manchmal sogar Antworten.“

„Antworten?“ fragte Annabel.

„Manchmal spricht der Wind zu denen, die Fragen haben“, sagte Mary Poppins. „Wenn ihr genau hinhört, könnte er auch zu euch sprechen.“

Annabel schloss die Augen noch fester und konzentrierte sich auf den Klang. Sie fühlte, wie der Wind sanft um sie herumwirbelte, fast wie eine Umarmung. In diesem Moment hörte sie eine leise, flüsternde Stimme: „Vertraue dir selbst.“

„Ich glaube, der Wind hat mit mir gesprochen“, sagte sie leise. Georgie versuchte es ebenfalls. Er hörte ein tiefes, ruhiges Flüstern: „Du bist stärker, als du denkst.“

„Das hat der Wind gesagt?“ fragte er überrascht. Mary Poppins nickte. „Der Wind kennt euch, meine Lieben. Er sieht Dinge, die ihr manchmal vergesst.“

Der Wind ließ langsam nach, und die Kinder öffneten die Augen. Der Himmel war klarer geworden, und die Sonne warf ein goldenes Licht über den Park.

„Das war wunderschön“, sagte Annabel.

„Ich wusste nicht, dass der Wind so viel sagen kann“, fügte Georgie hinzu. Mary Poppins lächelte. „Die meisten Menschen hören nur das Heulen des Windes und denken, es sei Lärm. Doch wenn ihr genau hinhört, entdeckt ihr, dass er Geschichten und Weisheiten mit sich bringt.“

Auf dem Rückweg zur Cherry Tree Lane war der Wind sanfter geworden, fast wie ein Flüstern, das sie zurückbegleitete.

„Wird der Wind immer singen?“ fragte Georgie.

„Ja“, sagte Mary Poppins. „Aber das Lied des Windes ist nicht für jeden gleich. Es verändert sich, je nachdem, was ihr braucht und was ihr bereit seid, zu hören.“

Als die Kinder zu Hause ankamen, fühlte sich die Welt um sie herum ein wenig anders an – lebendiger, bedeutungsvoller.

„Ich glaube, ich werde nie wieder einfach nur ‚Wind‘ hören“, sagte Annabel.

„Das hoffe ich“, sagte Mary Poppins. „Denn der Wind ist ein Freund, der immer da ist, wenn ihr ihn braucht.“

Und während der Wind sanft an den Fenstern rüttelte, fühlten die Kinder, dass sie Teil von etwas Größerem waren – einer Welt, die ihnen immer ein Lied zu singen hatte, wenn sie bereit waren, zuzuhören

33. Das goldene Licht

Es war ein frostiger Morgen in der Cherry Tree Lane, und die Sonne hing tief am Himmel, ihr Licht war blass und kühl. Annabel und Georgie saßen am Fenster und sahen hinaus, während Mary Poppins mit ihrer gewohnten Eleganz das Frühstück vorbereitete.

„Der Winter ist so grau“, seufzte Annabel. „Es gibt gar keine Farben mehr.“

„Es ist, als hätte die Welt ihr Leuchten verloren“, fügte Georgie hinzu. Mary Poppins drehte sich zu ihnen um und hob eine Augenbraue. „Verloren? Unsinn. Manchmal versteckt sich das Leuchten nur, damit es gefunden werden kann.“

„Wie denn?“ fragte Annabel neugierig.

„Das“, sagte Mary Poppins mit einem geheimnisvollen Lächeln, „werdet ihr gleich sehen.“

Nach dem Frühstück führte Mary Poppins die Kinder in den Park. Die Bäume standen kahl, und der Raureif glitzerte wie winzige Diamanten auf dem Gras. Der Himmel war bedeckt, und die Luft war so klar, dass man jeden Atemzug sehen konnte.

„Es sieht noch grauer aus als vorher“, murmelte Georgie. Mary Poppins blieb vor einer alten Eiche stehen und sah zum Himmel hinauf. „Vielleicht schaut ihr einfach nicht genau genug hin. Manchmal muss man dem Licht helfen, sich zu zeigen.“

„Wie sollen wir das machen?“ fragte Annabel.

„Indem ihr einen Schritt ins Unbekannte wagt“, sagte Mary Poppins und öffnete ihren Schirm. Kaum hatte sie den Schirm aufgespannt, begann die Luft um sie herum zu leuchten. Es war, als hätte jemand eine unsichtbare Kerze entzündet, deren goldenes Licht die Welt um sie herum sanft erhellte. Die Kinder hielten den Atem an, als das Licht sie umhüllte und die graue Welt in eine warme, leuchtende Landschaft verwandelte.

„Was ist das?“ fragte Georgie ehrfürchtig.

„Das ist das goldene Licht“, sagte Mary Poppins. „Es ist immer da, auch wenn ihr es nicht sehen könnt. Es lebt in allem, was euch umgibt – in der Natur, in den Menschen und sogar in euch selbst.“

Die Kinder sahen sich um. Die alten Bäume wirkten jetzt lebendig, ihre Äste funkelten wie mit flüssigem Gold überzogen. Der Raureif auf dem Gras schimmerte, als wäre er aus purem Licht gemacht, und selbst die Wolken am Himmel hatten einen goldenen Rand.

„Es ist wunderschön“, sagte Annabel leise.

„Aber warum sehen wir es erst jetzt?“ fragte Georgie.

„Weil ihr hingesehen habt“, erklärte Mary Poppins. „Das goldene Licht zeigt sich nur denen, die bereit sind, es zu sehen – und die daran glauben, dass es da ist.“

Die Kinder liefen durch den Park, und das Licht folgte ihnen wie ein treuer Begleiter. Es schien ihnen Dinge zu zeigen, die sie vorher nie bemerkt hatten: das Lächeln eines alten Mannes, der mit seinem Hund spazieren ging, das sanfte Rascheln der Blätter, die noch an den Bäumen hingen, und den glitzernden Atem der Vögel, die in den kahlen Zweigen zwitscherten.

„Das Licht ist überall“, sagte Annabel staunend.

„Ja“, sagte Mary Poppins. „Und es erinnert uns daran, dass selbst in den dunkelsten Tagen Schönheit und Hoffnung verborgen sind.“

Nach einer Weile führte Mary Poppins sie zu einer kleinen Lichtung, wo das goldene Licht am hellsten schien. Dort stand ein alter, knorriger Baum, dessen Stamm wie mit goldenen Adern durchzogen war.

„Das ist der Ursprung des Lichts“, sagte Mary Poppins. „Ein Ort, an dem die Welt ihre Magie bewahrt.“

Die Kinder traten näher, und als sie den Baum berührten, spürten sie eine Wärme, die sie bis ins Herz erfüllte. Es war, als würde der Baum ihnen seine Geschichten erzählen – Geschichten von vergangenen Wintern, von Frühlingswundern und von der Kraft, die in jedem Neuanfang lag.

„Warum ist es so wichtig?“ fragte Georgie.

„Weil das goldene Licht uns daran erinnert, dass es immer etwas Gutes gibt“, sagte Mary Poppins. „Manchmal müssen wir nur innehalten, um es zu finden.“

Als die Sonne langsam unterging, begann das Licht zu verblassen, doch die Wärme blieb. Mary Poppins führte die Kinder zurück nach Hause, und obwohl der Himmel wieder grau war, fühlte sich die Welt nicht mehr trist an.

„Wird das Licht zurückkommen?“ fragte Annabel.

„Es ist nie wirklich fort“, sagte Mary Poppins. „Es lebt in euch. Wann immer ihr es braucht, müsst ihr nur danach suchen.“

An diesem Abend saßen Annabel und Georgie am Fenster und betrachteten die dunkle Straße. Doch dieses Mal schien selbst das schwache Licht der Laternen wie ein kleines Stück Magie.

„Ich glaube, ich kann es noch immer sehen“, sagte Annabel leise.

„Ich auch“, flüsterte Georgie. Mary Poppins lächelte, während sie ihre Tasse Tee anhob. „Das goldene Licht, meine Lieben, ist nicht nur etwas, das ihr seht. Es ist etwas, das ihr fühlt. Und es wird immer da sein, solange ihr daran glaubt.“

Und während die Nacht hereinbrach, wussten die Kinder, dass sie etwas gefunden hatten, das nie wirklich verloren gehen würde – das goldene Licht, das in allem leuchtet, was wirklich wichtig ist.

34. Die unsichtbare Hand

Es war ein ruhiger Nachmittag in der Cherry Tree Lane, doch im Haus Nummer Siebzehn lag eine seltsame Spannung in der Luft. Annabel und Georgie saßen am Esstisch und puzzelten, während Mary Poppins, wie immer in vollkommener Ruhe, am Fenster stand und hinausblickte.

„Haben Sie das Gefühl, dass hier etwas anders ist?“ fragte Annabel plötzlich.

„Was meinst du mit ‚anders‘?“ fragte Georgie, ohne den Blick von seinem Puzzle zu heben. Annabel zuckte die Schultern. „Ich weiß nicht. Es fühlt sich an, als würde uns jemand beobachten.“

Mary Poppins drehte sich um, ihre Augen funkelten geheimnisvoll. „Vielleicht tut das ja jemand.“ Die Kinder sahen sie überrascht an.
„Was meinen Sie damit?“ fragte Georgie nervös. Mary Poppins setzte sich an den Tisch und faltete die Hände. „Die Welt ist voller Dinge, die ihr nicht sehen könnt, aber die trotzdem da sind. Manchmal führt euch etwas, ohne dass ihr es bemerkt – eine unsichtbare Hand.“

„Das klingt unheimlich“, sagte Annabel leise. Mary Poppins schüttelte den Kopf. „Es ist nicht unheimlich, meine Liebe. Es ist etwas, das euch leitet, beschützt und manchmal einen kleinen Schubs gibt, wenn ihr ihn braucht.“

Am späten Nachmittag führte Mary Poppins die Kinder in den Park. Der Himmel war bedeckt, und ein sanfter Wind wehte durch die Bäume. Während sie über die Wiese gingen, bemerkte Georgie, dass die Blätter auf dem Boden sich bewegten – nicht mit dem Wind, sondern auf eine seltsame, gezielte Art.

„Sehen Sie das?“ fragte er und zeigte auf die Blätter. Mary Poppins nickte. „Das ist ein kleiner Hinweis.“

„Ein Hinweis worauf?“ fragte Annabel.

„Darauf, dass wir heute jemanden oder etwas treffen, das ihr nicht sehen könnt“, sagte Mary Poppins ruhig. Die Kinder folgten den bewegenden Blättern, die sie tiefer in den Park führten, bis sie zu einer kleinen Lichtung kamen. In der Mitte stand eine alte Bank, und die Luft fühlte sich dort anders an – nicht kälter, aber voller.

„Hier ist es“, sagte Mary Poppins und setzte sich auf die Bank.

„Was ist hier?“ fragte Georgie und schaute sich nervös um.

„Die unsichtbare Hand“, sagte Mary Poppins. Kaum hatte sie das gesagt, spürten die Kinder eine sanfte Berührung, als hätte ein unsichtbarer Wind ihre Hände gestreift. Es war ein warmes, beruhigendes Gefühl, das sie beide innehalten ließ.

„Fühlt ihr das?“ fragte Annabel. Georgie nickte. „Es fühlt sich… freundlich an.“

Mary Poppins lächelte. „Manchmal braucht ihr keine Augen, um zu wissen, dass etwas da ist. Es gibt Kräfte, die uns helfen, ohne dass wir sie je sehen können.“

Plötzlich begannen die Blätter auf der Lichtung sich zu einem Muster zu bewegen. Sie formten einen Kreis, und in der Mitte schien ein schwaches, goldenes Licht zu flackern. Die Kinder traten näher, fasziniert von dem Anblick.

„Was ist das?“ flüsterte Annabel.

„Das ist die unsichtbare Hand“, erklärte Mary Poppins. „Sie kann euch nichts zeigen, aber sie kann euch etwas fühlen lassen.“

Georgie kniete sich hin und legte vorsichtig eine Hand in den Kreis. Sofort fühlte er eine sanfte Wärme, die ihn durchströmte. Es war, als würde eine Stimme in seinem Kopf flüstern: „Du bist niemals allein.“

Annabel tat es ihm nach und spürte dasselbe – eine beruhigende Präsenz, die ihr Sicherheit und Mut schenkte.

„Warum können wir sie nicht sehen?“ fragte Annabel schließlich.

„Manche Dinge müssen nicht gesehen werden, um real zu sein“, sagte Mary Poppins. „Die unsichtbare Hand ist keine Person oder Gestalt. Es ist die Verbindung zwischen euch und der Welt – eine Erinnerung daran, dass ihr Teil von etwas Größerem seid.“

„Aber warum zeigt sie sich uns jetzt?“ fragte Georgie.

„Vielleicht, weil ihr es braucht“, sagte Mary Poppins. „Manchmal sucht die unsichtbare Hand diejenigen auf, die ein wenig Orientierung oder Trost benötigen.“

Die Kinder blieben noch eine Weile auf der Lichtung, spürten die Wärme des Lichts und das beruhigende Gefühl der unsichtbaren Hand. Als der Abend näher rückte, begann das Licht zu verblassen, und die Blätter kehrten zu ihren ursprünglichen Plätzen zurück.

„Ist es weg?“ fragte Georgie.

„Nein“, sagte Mary Poppins. „Es ist immer da, auch wenn ihr es nicht sehen oder fühlen könnt. Ihr müsst nur darauf vertrauen.“

Auf dem Heimweg war die Welt um sie herum irgendwie heller, lebendiger. Die Kinder fühlten sich sicherer, als hätten sie eine wichtige Wahrheit entdeckt.

„Ich glaube, ich verstehe jetzt, was Sie meinen“, sagte Annabel.

„Das hoffe ich“, sagte Mary Poppins mit einem sanften Lächeln. „Denn die unsichtbare Hand ist nichts anderes als das Band, das uns alle miteinander verbindet – die Liebe, die Hoffnung und der Glaube aneinander.“

Und während die Nacht über die Cherry Tree Lane hereinbrach, spürten Annabel und Georgie, dass sie niemals wirklich allein waren – nicht, solange die unsichtbare Hand über sie wachte.

35. Die verlorenen Briefe

Ein kalter Wind fegte durch die Cherry Tree Lane, als Annabel und Georgie vom Frühstück aufsprangen, um nach draußen zu laufen. Doch bevor sie die Tür öffnen konnten, rief Mary Poppins mit ihrer gewohnten Autorität: „Bleibt noch einen Moment. Heute liegt etwas Besonderes in der Luft.“ Die Kinder hielten inne. „Was denn?“ fragte Georgie neugierig.

„Es ist ein Tag, an dem die Vergangenheit spricht“, sagte Mary Poppins und öffnete eine kleine Schachtel auf dem Tisch. Darin lagen vergilbte Umschläge, altmodisch beschriftet.

„Was sind das für Briefe?“ fragte Annabel und trat näher.

„Das“, sagte Mary Poppins und hielt einen der Umschläge hoch, „sind die verlorenen Briefe.“ Die Kinder sahen sich fragend an.

„Was meinen Sie mit ‚verloren‘?“ fragte Georgie.

„Es sind Briefe, die nie ihren Empfänger erreicht haben“, erklärte Mary Poppins. „Nachrichten voller Gefühle, Hoffnungen und Geheimnisse, die irgendwo auf dem Weg verloren gegangen sind. Und heute ist der Tag, an dem sie gefunden werden.“

„Aber wie können wir sie finden?“ fragte Annabel. Mary Poppins lächelte und legte den Umschlag zurück in die Schachtel. „Manchmal finden die Briefe euch.“

Mary Poppins führte die Kinder in den Park, wo der Wind durch die Bäume rauschte und die Blätter tanzen ließ. Es fühlte sich an, als ob die Luft selbst voller Geheimnisse war.

„Hört genau hin“, sagte Mary Poppins, während sie ihren Schirm öffnete. Die Kinder lauschten und hörten zunächst nur das Rascheln der Blätter. Doch dann, ganz leise, vernahm Annabel ein sanftes Flüstern – wie Stimmen, die im Wind getragen wurden.

„Da ist etwas“, flüsterte sie.

„Das sind die Stimmen der Briefe“, sagte Mary Poppins. „Folgt ihnen.“

Die Kinder folgten dem Flüstern und fanden sich an einer alten, verlassenen Poststation wieder. Die Fenster waren staubig, und die Tür knarrte, als Mary Poppins sie öffnete.

„Das sieht aus wie ein Ort aus der Vergangenheit“, sagte Georgie und blickte sich um.

„Das ist es auch“, sagte Mary Poppins. „Hier sind die Briefe, die nie verschickt wurden, zurückgeblieben. Sie warten darauf, dass sie endlich gelesen werden.“

Im Inneren der Poststation lagen Hunderte von Umschlägen, die in Kisten gestapelt waren. Die Kinder sahen sich um, fasziniert von der schieren Menge.
„Wieso wurden sie nie verschickt?“ fragte Annabel.

„Manchmal vergisst die Welt, was wirklich wichtig ist“, sagte Mary Poppins. „Aber Briefe tragen eine Magie in sich. Sie warten, bis sie gefunden werden.“

Die Kinder öffneten vorsichtig die erste Kiste und nahmen einen Brief heraus. Annabel las leise vor:

„Liebste Schwester, ich vermisse dich so sehr. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.“

Georgie griff nach einem anderen Brief:

„Lieber Freund, ich wollte mich entschuldigen, aber ich wusste nicht, wie. Vielleicht wird dieser Brief den Weg zu dir finden.“

Jeder Brief, den sie lasen, schien eine Geschichte zu erzählen – von Liebe, von Verlust, von Hoffnung.

„Was sollen wir mit ihnen machen?“ fragte Georgie schließlich.

„Manche Briefe brauchen nur jemanden, der sie hört“, sagte Mary Poppins. „Andere finden vielleicht endlich ihren Weg, wenn ihr bereit seid, sie weiterzugeben.“

Die Kinder beschlossen, einige der Briefe mit nach Hause zu nehmen. Sie sortierten sie, lasen sie und schrieben eigene Nachrichten, um die verlorenen Worte weiterzugeben.

„Vielleicht können wir sie an die richtigen Leute schicken“, sagte Annabel.

„Oder einfach ihre Geschichten erzählen“, fügte Georgie hinzu. Mary Poppins sah ihnen zufrieden zu. „Manchmal genügt es, dass die Worte gelesen werden. Denn ein Brief, selbst wenn er verloren ist, trägt immer die Kraft, Herzen zu berühren.“

In den folgenden Wochen verbrachten Annabel und Georgie ihre Zeit damit, die Briefe zu verteilen – an Nachbarn, Freunde und sogar Fremde, die sie für die richtigen Empfänger hielten. Und eines Tages, als sie selbst Briefe schrieben, spürten sie, dass ihre Worte niemals wirklich verloren gehen würden – nicht, solange sie mit Ehrlichkeit und Liebe geschrieben waren. Mary Poppins lächelte, als sie sah, wie die Kinder mit jedem Brief ein kleines Stück Magie in die Welt brachten. „Die Macht der Briefe“, sagte sie leise, „liegt darin, dass sie immer eine Brücke zwischen Herzen bauen.“

36. Das schwebende Boot

Es war ein ungewöhnlich windstiller Abend in der Cherry Tree Lane. Die Wolken am Himmel leuchteten in zarten Rosatönen, und die Straßen waren von einer seltsamen, friedlichen Stille erfüllt. Annabel und Georgie spielten im Garten, während Mary Poppins am Gartentor stand und die untergehende Sonne beobachtete.

„Ich wünschte, wir könnten ein richtiges Abenteuer erleben“, sagte Georgie und seufzte. „Ja, etwas Außergewöhnliches“, fügte Annabel hinzu. Mary Poppins drehte sich um, ihr Blick war geheimnisvoll. „Manchmal wartet das Abenteuer direkt vor euch – oder über euch.“

Die Kinder sahen sich fragend an, doch bevor sie etwas sagen konnten, deutete Mary Poppins mit ihrem Schirm nach oben.

„Schaut“, sagte sie. Die Kinder hoben den Kopf – und da war es: Ein großes, majestätisches Boot schwebte direkt über den Baumkronen des Gartens. Es sah aus wie ein Segelschiff, aber seine Segel schimmerten wie Sternenlicht, und es bewegte sich sanft, als würde es auf einer unsichtbaren Strömung gleiten.

„Es… es fliegt!“ rief Georgie ungläubig.

„Natürlich tut es das“, sagte Mary Poppins. „Das ist das schwebende Boot, und es sucht nach Passagieren.“

„Können wir mitfahren?“ fragte Annabel aufgeregt. Mary Poppins nickte. „Wenn ihr bereit seid, einen Schritt ins Unbekannte zu machen.“

Das Boot senkte sich langsam, bis es knapp über dem Garten schwebte. Eine schmale Leiter aus goldenem Tau hing herab. Mary Poppins stieg als Erste hinauf, gefolgt von den Kindern, deren Herzen vor Aufregung schneller schlugen. An Bord des Bootes war es, als wären sie in eine andere Welt eingetreten. Das Deck war aus schimmerndem Holz, und überall funkelten kleine Lichter wie Sterne. Ein großer Mast ragte in den Himmel, und die Segel bewegten sich sanft, obwohl kein Wind zu spüren war.

„Wer steuert das Boot?“ fragte Georgie und sah sich um.

„Das tut der Wind selbst“, sagte Mary Poppins. „Oder besser gesagt, der Hauch der Träume.“

Das Boot setzte sich in Bewegung, schwebte über die Dächer der Cherry Tree Lane hinweg und höher in den Himmel. Die Kinder lehnten sich an die Reling und blickten hinunter auf die Welt, die immer kleiner wurde.

„Das ist unglaublich“, flüsterte Annabel.

„Wohin bringt es uns?“ fragte Georgie.

„Dorthin, wo die Träume der Menschen schlummern“, sagte Mary Poppins. Nach einer Weile erreichten sie eine seltsame, glitzernde Nebelwand. Das Boot glitt hindurch, und auf der anderen Seite lag eine Landschaft, die aussah wie eine Mischung aus Fantasie und Wirklichkeit. Inseln aus schimmerndem Licht schwebten in der Luft, und kleine Boote wie ihr eigenes zogen leuchtende Bahnen durch den Himmel.

„Wo sind wir?“ fragte Annabel.

„In der Sphäre der Träume“, erklärte Mary Poppins. „Jeder Mensch hat Träume, die hierher gelangen. Manche sind verborgen, manche vergessen, aber sie alle warten darauf, entdeckt zu werden.“

Das Boot legte an einer kleinen, schimmernden Insel an. Die Kinder stiegen vorsichtig hinab und fanden sich inmitten eines Waldes aus leuchtenden Bäumen wieder. Jeder Baum schien eine andere Farbe zu haben, und wenn sie näher traten, konnten sie Szenen in den Blättern sehen – Träume, die sich wie lebendige Bilder abspielten.

„Das ist Papas Traum!“ rief Georgie und zeigte auf einen Baum, dessen Blätter die Szene eines glücklichen, sonnigen Tages im Garten zeigten.

„Und hier ist meiner“, flüsterte Annabel, als sie einen Baum fand, der sie auf einer Schaukel zeigte, hoch in den Himmel schwingend.

„Warum sehen wir das alles?“ fragte Annabel.

„Weil Träume wichtig sind“, sagte Mary Poppins. „Sie zeigen uns, wer wir sind, und erinnern uns daran, was wir wirklich wollen.“

„Aber was ist, wenn jemand seinen Traum verliert?“ fragte Georgie.

„Dann wartet der Traum hier, bis er wiedergefunden wird“, sagte Mary Poppins. „Und manchmal braucht es ein wenig Hilfe, um ihn zurückzubringen.“

Die Kinder verbrachten eine Weile damit, die Insel zu erkunden, und entdeckten Träume von Menschen, die sie kannten – Nachbarn, Freunde und sogar die ihres Vaters, der von einer Zeit träumte, in der alles leichter war.

„Vielleicht können wir ihm helfen, diesen Traum zu finden“, sagte Annabel.

„Das könnt ihr“, sagte Mary Poppins. „Denn Träume sind nie wirklich verloren. Sie warten nur auf den richtigen Moment, um zurückzukehren.“

Als das Boot sie schließlich zurückbrachte, fühlten sich die Kinder verändert. Der Himmel über der Cherry Tree Lane war wieder klar, und die Sterne funkelten wie kleine Lichter, die sie begleiteten.

„Das war das schönste Abenteuer“, sagte Annabel, als sie die Leiter hinunterstieg.

„Und ich glaube, ich verstehe jetzt, warum Träume so wichtig sind“, fügte Georgie hinzu. Mary Poppins lächelte, während sie die Kinder zurück ins Haus führte. „Denkt daran, meine Lieben: Träume sind wie das schwebende Boot. Sie tragen euch an Orte, die ihr euch nicht vorstellen könnt – wenn ihr nur den Mut habt, an Bord zu gehen.“

Und während die Kinder an diesem Abend einschliefen, schien es, als würde das Boot noch immer über sie wachen, sanft schwebend in der Sphäre der Träume.

37. Ein Herz aus Sternenstaub

Die Nacht über der Cherry Tree Lane war klar und ruhig. Der Himmel war wie mit Diamanten bestickt, und die Sterne funkelten heller als je zuvor. Annabel und Georgie standen am Fenster und sahen hinaus, während Mary Poppins, wie immer ruhig und gelassen, in ihrem Sessel saß und ein Buch las.

„Haben Sie schon mal gedacht, dass die Sterne uns etwas sagen wollen?“ fragte Annabel leise.

„Ja, sie funkeln immer so, als ob sie miteinander reden“, fügte Georgie hinzu. Mary Poppins schlug ihr Buch zu und sah die Kinder mit einem geheimnisvollen Lächeln an. „Vielleicht tun sie das. Die Sterne sind die Wächter der Träume, und manchmal haben sie eine Botschaft für diejenigen, die bereit sind zuzuhören.“

„Können wir ihre Botschaft hören?“ fragte Annabel.

„Das“, sagte Mary Poppins, „hängt davon ab, ob ihr den Sternen vertraut.“

Später in dieser Nacht führte Mary Poppins die Kinder in den Park. Der Himmel war so klar, dass sie fast das Gefühl hatten, die Sterne berühren zu können. Mary blieb auf einer kleinen Lichtung stehen und deutete mit ihrem Schirm nach oben.

„Seht ihr den hellsten Stern dort oben?“ fragte sie. Die Kinder nickten. Der Stern schien heller zu leuchten als alle anderen und strahlte ein warmes, goldenes Licht aus.

„Das ist kein gewöhnlicher Stern“, sagte Mary Poppins. „Es ist ein Herz aus Sternenstaub.“

„Ein Herz?“ fragte Georgie verwundert.
Mary Poppins nickte. „Ein Geschenk des Universums. Es erscheint nur dann, wenn jemand es wirklich braucht.“

Kaum hatte sie das gesagt, begann der Stern heller zu leuchten, und ein sanfter Lichtstrahl fiel auf die Lichtung. In der Mitte des Lichtes schwebte ein kleiner, funkelnder Kristall – geformt wie ein Herz und von tausend winzigen Lichtpunkten umgeben.

„Es ist wunderschön“, flüsterte Annabel ehrfürchtig.

„Aber warum ist es hier?“ fragte Georgie.
Mary Poppins trat näher an das schwebende Herz heran. „Das Herz aus Sternenstaub erscheint, wenn jemand etwas Wichtiges vergessen hat – etwas, das er tief in sich trägt, aber verloren glaubte.“

Das Licht des Sternenherzens begann, die Lichtung zu füllen, und die Kinder spürten eine warme, beruhigende Energie. Bilder erschienen um sie herum, schimmernd wie ein Traum. Sie sahen sich selbst, wie sie früher mit ihrer Mutter lachten, sahen Michael Banks, der ihnen Geschichten erzählte, und spürten die Freude und Liebe, die ihre Familie immer zusammengehalten hatte.

„Es zeigt uns Erinnerungen“, sagte Annabel leise.

„Es erinnert euch daran, was wirklich zählt“, sagte Mary Poppins. „Liebe, Hoffnung und das Band, das eine Familie ausmacht.“

Doch das Herz aus Sternenstaub flackerte kurz, als ob es schwächer wurde.

„Warum leuchtet es nicht mehr so stark?“ fragte Georgie besorgt.

„Es braucht etwas“, sagte Mary Poppins. „Etwas, das nur ihr ihm geben könnt.“

„Was denn?“ fragte Annabel. Mary Poppins sah sie eindringlich an. „Eure Wünsche. Eure Träume. Eure Liebe. Das Herz aus Sternenstaub wird nur dann leuchten, wenn ihr bereit seid, ihm das zu geben, was es am meisten braucht – eure Hoffnung.“

Die Kinder schlossen die Augen und konzentrierten sich. Sie dachten an die glücklichen Zeiten mit ihrer Familie, an die Liebe, die sie füreinander empfanden, und an die Hoffnung, dass alles wieder so werden könnte wie früher. Langsam begann das Herz heller zu leuchten, und die Lichtpunkte um es herum tanzten wie kleine Sterne.

„Es funktioniert“, flüsterte Annabel.

„Natürlich tut es das“, sagte Mary Poppins. „Denn wahre Magie entsteht immer aus dem Herzen.“

Das Herz aus Sternenstaub schwebte näher und legte sich schließlich in die Hände der Kinder. Es fühlte sich warm an, fast wie ein lebendiges Wesen.

„Was sollen wir damit machen?“ fragte Georgie.

„Bewahrt es in euren Herzen auf“, sagte Mary Poppins. „Denn es ist nicht nur ein Stern – es ist ein Teil von euch. Solange ihr daran glaubt, wird es euch immer Licht und Hoffnung schenken.“

Als die Kinder nach Hause gingen, war der Himmel über ihnen noch immer voller Sterne. Doch sie fühlten sich anders – stärker, hoffnungsvoller, als hätten sie etwas gefunden, das sie immer begleiten würde.

„Meinen Sie, dass das Herz immer bei uns bleibt?“ fragte Annabel.

„Das Herz aus Sternenstaub bleibt immer bei denen, die daran glauben“, sagte Mary Poppins. In dieser Nacht schliefen Annabel und Georgie mit einem Gefühl der Wärme ein, als würde das Herz in ihren Träumen weiterleuchten. Und Mary Poppins, die noch eine Weile am Fenster saß, blickte zu den Sternen hinauf und lächelte.

„Die stärksten Herzen“, flüsterte sie, „sind die, die aus Liebe und Hoffnung gemacht sind.“

38. Die Rückkehr des Drachens

Ein unruhiger Wind wehte durch die Cherry Tree Lane, und dunkle Wolken sammelten sich am Horizont. Annabel und Georgie standen im Garten, ihre Blicke auf den Himmel gerichtet.

„Das sieht aus wie ein Sturm“, sagte Georgie.

„Es fühlt sich… anders an“, sagte Annabel leise. Mary Poppins trat aus dem Haus, ihren Schirm in der Hand, und sah ebenfalls in den Himmel. Ihr Blick war schärfer als sonst, fast als ob sie etwas suchte.

„Es ist kein Sturm“, sagte sie. „Es ist etwas Größeres.“

„Was meinen Sie?“ fragte Annabel. Mary Poppins schloss die Augen für einen Moment, bevor sie antwortete: „Der Drache kehrt zurück.“

Die Kinder sahen sie erstaunt an.

„Der Drache? Welcher Drache?“ fragte Georgie. Mary Poppins wandte sich an die Kinder, ihre Stimme ruhig, aber eindringlich. „Vor langer Zeit begegneten wir einem Drachen, der verloren war – voller Wut, weil er nicht wusste, wohin er gehörte. Mit eurer Hilfe fand er damals seinen Weg. Aber manchmal kehren Dinge zurück, wenn sie noch etwas zu lernen haben.“

„Warum ist er zurück?“ fragte Annabel.

„Das“, sagte Mary Poppins, „werden wir herausfinden.“

Der Himmel verdunkelte sich weiter, und ein tiefes Grollen erfüllte die Luft. Plötzlich tauchte über den Baumkronen eine riesige Silhouette auf – ein majestätischer Drache mit schimmernden, dunklen Schuppen und Augen, die wie flüssiges Gold leuchteten.
Er landete mit einem gewaltigen Flügelschlag auf der Lichtung im Park. Seine Größe war einschüchternd, doch seine Haltung war nicht bedrohlich – eher suchend, fast zögerlich.

„Ist das… derselbe Drache?“ fragte Georgie, der sich hinter Annabel versteckte.

„Ja“, sagte Mary Poppins. „Und ich glaube, er ist hier, um Antworten zu finden.“

Die Kinder näherten sich vorsichtig dem Drachen, während Mary Poppins gelassen stehen blieb.

„Warum bist du zurückgekommen?“ fragte Annabel mutig. Der Drache senkte seinen Kopf, seine Stimme tief und resonant, als er sprach: „Ich habe meinen Platz gefunden, aber etwas fehlt. Etwas, das ich nicht verstehe.“

„Was fehlt dir?“ fragte Georgie.

„Ich weiß es nicht“, sagte der Drache und ließ seine goldenen Augen über sie gleiten. „Ich fühle eine Leere in mir, die ich nicht füllen kann. Vielleicht habt ihr die Antwort.“

Mary Poppins trat vor. „Manchmal fehlt uns etwas, das wir nicht benennen können, weil wir nicht wissen, wo wir suchen sollen. Vielleicht ist es Zeit, dass du lernst, nicht nur zu nehmen, sondern zu geben.“

„Geben?“ fragte der Drache und neigte den Kopf.

„Ja“, sagte Mary Poppins. „Manchmal füllen wir die Leere in uns, indem wir anderen helfen. Vielleicht liegt deine Antwort darin.“

Die Kinder sahen sich an und dann zum Drachen.

„Du hast uns damals geholfen, als wir dich getroffen haben“, sagte Annabel. „Vielleicht können wir jetzt anderen helfen – zusammen mit dir.“

„Aber wie?“ fragte Georgie. Mary Poppins lächelte. „Folgt dem, was euer Herz euch sagt.“

Plötzlich begann der Drache, seine mächtigen Flügel auszubreiten. „Kommt mit“, sagte er. „Ich weiß nicht, wohin, aber ich vertraue euch.“ Die Kinder stiegen vorsichtig auf den Rücken des Drachen, während Mary Poppins mit ihrem Schirm in der Luft schwebte, wie immer völlig unbeeindruckt von der außergewöhnlichen Situation. Der Drache erhob sich in die Lüfte, und die Welt unter ihnen wurde kleiner. Er flog über Städte, Wälder und Berge, bis sie ein kleines Dorf erreichten, das von einem dichten Nebel umgeben war. Das Dorf wirkte still und verlassen. Die Fenster der Häuser waren dunkel, und die Straßen waren leer.

„Was ist hier passiert?“ fragte Georgie.

„Etwas hat ihre Hoffnung genommen“, sagte Mary Poppins. Der Drache landete in der Mitte des Dorfes, und seine Präsenz schien den Nebel zu vertreiben. Langsam kamen die Dorfbewohner aus ihren Häusern, ihre Gesichter voller Neugier und Vorsicht.

„Wer seid ihr?“ fragte ein alter Mann, der mutig genug war, näher zu treten.

„Wir sind hier, um zu helfen“, sagte Annabel. Die Kinder, Mary Poppins und der Drache hörten sich die Geschichten der Dorfbewohner an. Es stellte sich heraus, dass sie von Furcht und Traurigkeit überwältigt waren, weil sie ihre Träume aufgegeben hatten.

„Vielleicht kann ich euch helfen“, sagte der Drache und begann, seine Flügel zu bewegen. Ein warmer, goldener Wind breitete sich aus, und plötzlich begann der Drache, kleine Funken aus seinen Schuppen zu streuen. Sie fielen wie Sternenstaub auf die Menschen, und langsam kehrte das Licht in ihre Augen zurück.

„Ich fühle mich… leichter“, sagte eine Frau.

„Ich erinnere mich an meine Träume“, sagte ein junger Mann. Der Drache hatte ihnen Hoffnung gegeben, und mit jeder Funkenladung, die er verteilte, schien er selbst heller zu leuchten.

„Ich verstehe jetzt“, sagte der Drache leise. „Es ist nicht genug, einen Platz zu finden. Man muss ihn mit anderen teilen.“

Als die Kinder und Mary Poppins später zurück zur Cherry Tree Lane flogen, schien der Drache kleiner geworden zu sein, aber in seinen Augen lag ein neues Leuchten – ein Leuchten der Erfüllung.

„Wirst du jetzt bleiben?“ fragte Georgie.

„Nein“, sagte der Drache. „Aber ich werde euch immer in Erinnerung behalten. Denn ihr habt mir gezeigt, wie ich die Leere in mir füllen kann.“

Mit einem letzten mächtigen Flügelschlag verschwand der Drache in den Wolken, und die Kinder standen wieder in ihrem Garten, der Himmel über ihnen klar und ruhig.

„Glauben Sie, er wird uns jemals wieder besuchen?“ fragte Annabel. Mary Poppins lächelte. „Vielleicht. Aber das Wichtigste ist, dass ihr ihn nicht vergesst. Denn die größten Lektionen kommen oft von den unerwartetsten Orten.“

Und während der Wind sanft durch die Cherry Tree Lane strich, spürten die Kinder, dass sie ein Abenteuer erlebt hatten, das sie für immer begleiten würde – die Rückkehr des Drachen, der gelernt hatte, dass wahre Stärke im Geben liegt.

39. Der Wendepunkt

Ein kalter, grauer Morgen brach über die Cherry Tree Lane herein, und eine bedrückende Stille lag in der Luft. Annabel und Georgie saßen im Wohnzimmer, jeder in Gedanken versunken, während Michael Banks in seinem Büro über Stapeln von Papieren brütete. Selbst Mary Poppins, die sonst immer die Ruhe selbst war, schien heute nachdenklicher als sonst.

„Es fühlt sich an, als ob etwas Wichtiges passiert“, sagte Annabel leise.

„Ja“, stimmte Georgie zu. „Aber ich weiß nicht, ob es etwas Gutes oder Schlechtes ist.“

Mary Poppins sah von ihrem Platz am Fenster auf. Ihre Augen waren ernst, doch in ihnen lag ein Funken Entschlossenheit. „Es ist beides“, sagte sie ruhig. „Manchmal bringt ein Wendepunkt Unsicherheit, aber er ist auch eine Chance, alles zu verändern.“

„Ein Wendepunkt?“ fragte Annabel.

„Das ist der Moment, an dem sich alles entscheidet“, erklärte Mary Poppins. „Und genau so ein Moment steht euch heute bevor.“

Nach dem Frühstück führte Mary Poppins die Kinder in den Park. Die Bäume wirkten kahl und verloren, und die Wege waren mit einer dünnen Eisschicht bedeckt. Der Wind war schneidend kalt, und der Himmel hing schwer und wolkenverhangen.

„Warum sind wir hier?“ fragte Georgie und zog seinen Schal enger um den Hals.

„Weil ihr den Wendepunkt nur erkennen könnt, wenn ihr hinschaut“, sagte Mary Poppins. Die Kinder folgten ihr schweigend, bis sie zu einer alten, verlassenen Brücke kamen, die über einen kleinen, zugefrorenen Fluss führte. Die Brücke war rissig und schien fast zusammenzubrechen, doch Mary Poppins blieb direkt vor ihr stehen.

„Dies ist euer Wendepunkt“, sagte sie.

„Aber es ist nur eine alte Brücke“, sagte Annabel verwirrt. Mary Poppins lächelte leicht. „Der Wendepunkt sieht selten aus, wie ihr ihn erwartet. Es ist nicht die Brücke selbst, sondern das, was sie repräsentiert.“

Plötzlich begann sich die Luft um sie herum zu verändern. Die Welt wurde still, und ein goldenes Licht schien durch die Wolken zu brechen, obwohl keine Sonne sichtbar war. Auf der anderen Seite der Brücke erschien eine Szene, die aus einem anderen Leben zu stammen schien. Die Kinder sahen ihre Familie – Michael, der lachte und sie in den Arm nahm, ihre Mutter, die fröhlich mit ihnen spielte, und die Wärme, die ihr Zuhause einst erfüllt hatte.

„Das ist wie früher“, sagte Georgie leise.

„Ja“, flüsterte Annabel. „Bevor alles so kompliziert wurde.“

„Das ist eure Vergangenheit“, sagte Mary Poppins. „Doch ein Wendepunkt bedeutet, nach vorne zu blicken. Wenn ihr über diese Brücke geht, müsst ihr bereit sein, loszulassen, was euch festhält, und anzunehmen, was vor euch liegt.“

„Aber was, wenn wir scheitern?“ fragte Georgie, der die zerbrechliche Brücke misstrauisch ansah.

„Scheitern gehört dazu“, sagte Mary Poppins. „Doch die größte Gefahr ist, stehen zu bleiben.“

Die Kinder sahen sich an. Sie wussten, dass sie diese Entscheidung gemeinsam treffen mussten.

„Ich bin bereit“, sagte Annabel und griff nach Georgies Hand.

„Ich auch“, sagte er zögernd, aber entschlossen. Zusammen setzten sie einen Fuß auf die Brücke. Die alte Konstruktion knarrte unter ihrem Gewicht, doch das goldene Licht um sie herum wurde heller und schien sie zu leiten. Als sie die Mitte der Brücke erreichten, begann sich die Szene vor ihnen zu verändern. Die Vergangenheit verblasste, und eine neue Vision erschien. Sie sahen sich selbst in der Zukunft – stärker, mutiger und glücklicher. Ihr Vater lächelte wieder, und ihre Familie schien vereinter als je zuvor.

„Das können wir sein“, sagte Annabel mit einem Lächeln.

„Wenn wir daran arbeiten“, fügte Georgie hinzu. Mit jedem Schritt, den sie machten, fühlte sich die Brücke stabiler an, und als sie schließlich die andere Seite erreichten, war das goldene Licht verschwunden. Doch etwas in ihnen hatte sich verändert. Zurück in der Cherry Tree Lane fanden sie Michael immer noch an seinem Schreibtisch. Doch dieses Mal traten Annabel und Georgie zu ihm, ohne zu zögern.

„Papa“, sagte Annabel, „wir wollen dir helfen.“

Michael blickte überrascht auf. „Ihr wollt mir helfen? Wobei denn?“

„Bei allem“, sagte Georgie. „Wir sind eine Familie, und wir schaffen das zusammen.“

Michael sah sie lange an, und seine Augen wurden weicher. „Ihr habt recht“, sagte er schließlich. „Vielleicht habe ich vergessen, dass wir das gemeinsam machen können.“

An diesem Abend saß die Familie zusammen, sprach über ihre Sorgen, aber auch über ihre Träume. Es war, als hätte sich ein schwerer Knoten gelöst, und die Wärme, die sie einst verloren geglaubt hatten, kehrte langsam zurück. Mary Poppins sah aus der Ecke des Raumes zu, ein zufriedenes Lächeln auf ihrem Gesicht.

„Ein Wendepunkt“, flüsterte sie zu sich selbst, „ist nichts weiter als der Mut, den nächsten Schritt zu machen.“

Und während die Nacht über die Cherry Tree Lane hereinbrach, spürten Annabel und Georgie, dass sie diesen Schritt gemeinsam gegangen waren – und dass die Zukunft jetzt heller schien als je zuvor.

40. Der letzte Tanz

Es war ein ungewöhnlich stiller Abend in der Cherry Tree Lane. Die Sterne am Himmel funkelten klarer als je zuvor, und der Mond war so hell, dass er die Straßen mit einem silbrigen Licht erfüllte. Im Haus Nummer Siebzehn saßen Annabel und Georgie zusammen mit Michael im Wohnzimmer. Es war einer jener seltenen Momente, in denen alles friedlich und vollständig schien.
Mary Poppins, wie immer elegant und aufmerksam, stand am Fenster und sah nachdenklich hinaus. Ihre Haltung war wie immer aufrecht, doch in ihren Augen lag ein Hauch von Abschied.

„Mary?“, fragte Annabel leise. Mary Poppins wandte sich um, ihr Gesicht trug ein sanftes Lächeln. „Ja, meine Liebe?“

„Alles fühlt sich heute… anders an“, sagte Annabel.

„Ja, wie etwas Besonderes“, fügte Georgie hinzu. Mary Poppins nickte langsam. „Vielleicht, weil es ein besonderer Abend ist. Der letzte Schritt eines Tanzes, den wir gemeinsam getanzt haben.“

Die Kinder sahen sie verwirrt an. „Was meinen Sie mit ‚der letzte Schritt‘?“ fragte Georgie.

„Alles hat seinen Moment, meine Lieben“, sagte Mary Poppins. „Und manchmal bedeutet ein Ende nur, dass etwas Neues beginnen kann.“

„Gehen Sie weg?“ fragte Annabel, ihre Stimme zitterte leicht. Mary Poppins trat näher und legte ihre Hände sanft auf die Schultern der Kinder. „Ich habe nie wirklich gehört, meine Liebe. Ich bin gekommen, um euch zu zeigen, was ihr längst in euch tragt – die Stärke, die Liebe und den Mut, die euch immer begleiten werden.“

Michael trat ebenfalls näher, seine Augen waren weich, und ein stilles Verständnis spiegelte sich in seinem Gesicht. „Ich wusste, dass dieser Moment kommen würde“, sagte er leise. „Aber es fällt trotzdem schwer, loszulassen.“

Mary Poppins lächelte. „Loslassen bedeutet nicht vergessen, Mr. Banks. Es bedeutet, weiterzugehen – mit dem Wissen, dass die Erinnerungen und die Lektionen bei euch bleiben.“

Plötzlich begann sich die Luft im Raum zu verändern. Ein sanfter Wind wehte durch die Fenster, obwohl sie geschlossen waren, und eine leise, melodische Musik erfüllte den Raum. Es war, als ob die Welt selbst eine Einladung zum Tanz aussprach.

„Kommt“, sagte Mary Poppins und reichte Annabel und Georgie die Hände. „Es gibt keinen besseren Weg, sich zu verabschieden, als mit einem Tanz.“

Die Kinder nahmen ihre Hände, und Michael trat ebenfalls dazu. Mary Poppins führte sie in einen Kreis, und die Musik schien sich um sie herum zu bewegen, sie zu leiten. Der Raum begann zu glitzern, als ob er mit Sternenstaub erfüllt wäre, und mit jedem Schritt fühlte sich die Welt leichter, heller, freier an. Es war kein gewöhnlicher Tanz. Es war ein Tanz der Erinnerungen. Mit jeder Drehung und jeder Bewegung sahen sie die Momente vor ihrem inneren Auge: die Abenteuer, die sie mit Mary Poppins erlebt hatten, die magischen Orte, die sie besucht hatten, und die Lektionen, die sie gelernt hatten.

„Das ist wunderschön“, flüsterte Annabel, während sie sich in der Musik verlor.

„Ich will nicht, dass es endet“, sagte Georgie.

„Ein Tanz endet nie wirklich“, sagte Mary Poppins. „Er lebt in euren Herzen weiter, solange ihr ihn spüren könnt.“

Die Musik wurde langsamer, und schließlich kam der Tanz zum Stillstand. Der Raum war wieder still, doch das Glitzern des Sternenstaubs blieb in der Luft hängen, als Erinnerung an das, was sie geteilt hatten. Mary Poppins trat einen Schritt zurück, ihr Gesicht strahlte Ruhe und Zufriedenheit aus. „Nun“, sagte sie, „ist es Zeit.“

„Bleiben Sie doch noch ein bisschen“, bat Annabel.

„Ich bin immer bei euch“, sagte Mary Poppins sanft. „Ihr müsst nur die Augen schließen und an mich denken.“

Mit einem letzten, eleganten Nicken öffnete sie die Tür. Der Wind trug ihren Mantel und Schirm wie eine Welle davon, und sie stieg in den sternenbeleuchteten Himmel auf. Die Kinder und Michael sahen ihr nach, bis sie schließlich nur noch ein kleiner Punkt am Himmel war, der im Licht der Sterne verschwand. Zurück im Haus fühlte sich die Stille anders an – nicht traurig, sondern erfüllt.

„Meinen Sie, wir sehen sie jemals wieder?“ fragte Georgie leise. Michael legte eine Hand auf seine Schulter. „Vielleicht nicht so, wie wir denken. Aber sie wird immer ein Teil von uns bleiben.“ Annabel nickte und sah zum Fenster hinaus. „Ich spüre sie immer noch.“

Und so kehrte die Familie Banks in den Alltag zurück, doch sie waren nicht mehr dieselben. Die Erinnerungen an Mary Poppins – und an den letzten Tanz – blieben in ihrem Herzen, ein leises, beständiges Echo, das sie auf ihrem Weg begleitete. Denn manchmal, so erkannten sie, ist ein Abschied nicht das Ende, sondern der Beginn von etwas Neuem – ein Schritt in einen Tanz, der niemals aufhört.

41. Das Geheimnis der Cherry Tree Lane

Die Cherry Tree Lane war ein Ort wie jeder andere – zumindest schien es so für jene, die nur an der Oberfläche sahen. Doch Annabel und Georgie hatten längst bemerkt, dass ihre Straße mehr war als eine gewöhnliche Nachbarschaft. Seit Mary Poppins in ihr Leben getreten war, hatten sie Abenteuer erlebt, die sie an Orte geführt hatten, die jenseits der Vorstellungskraft lagen. An diesem Nachmittag saßen die Kinder im Garten und beobachteten die Kirschbäume, deren Äste sich sanft im Wind wiegten.

„Hast du jemals das Gefühl, dass die Straße ein Geheimnis verbirgt?“ fragte Annabel plötzlich. Georgie sah sie neugierig an. „Was meinst du?“

„Ich weiß nicht“, sagte Annabel. „Aber manchmal fühlt es sich an, als ob hier etwas wartet, das wir noch nicht entdeckt haben.“

Kaum hatte sie das gesagt, erschien Mary Poppins mit ihrem Schirm in der Hand und einem geheimnisvollen Lächeln im Gesicht.

„Ihr habt recht“, sagte sie, als hätte sie das Gespräch belauscht. „Die Cherry Tree Lane birgt tatsächlich ein Geheimnis. Aber es offenbart sich nur denen, die bereit sind, es zu suchen.“

„Ein Geheimnis?“ rief Georgie aufgeregt. „Können wir es finden?“

Mary Poppins nickte. „Wenn ihr mutig genug seid, den Hinweisen zu folgen.“

Die Kinder folgten Mary Poppins auf die Straße. Der Himmel war hell und klar, doch die Cherry Tree Lane wirkte heute anders. Die Häuser schienen lebendiger, die Bäume schienen zu flüstern, und der Wind trug ein leises, melodisches Summen mit sich.

„Wo beginnen wir?“ fragte Annabel.

„Das Geheimnis der Cherry Tree Lane ist in ihren Wurzeln verborgen“, sagte Mary Poppins. „Hört genau hin, und sie wird euch den Weg weisen.“

Die Kinder blieben stehen und lauschten. Anfangs hörten sie nur den Wind und das Rascheln der Blätter. Doch dann, ganz leise, hörten sie ein leises Flüstern – Worte, die sich wie eine Botschaft anhörten: „Folgt den Blumen.“

„Den Blumen?“ fragte Georgie. Mary Poppins deutete auf die kleinen, weißen Blüten, die an den Bäumen wuchsen. „Die Kirschbäume bewahren die Geschichten der Straße. Folgt ihnen, und sie führen euch zum Herzen des Geheimnisses.“

Die Kinder liefen die Straße entlang und folgten den Blüten, die in einer sanften Brise zu tanzen schienen. Sie führten sie zu einem alten, verwilderten Garten hinter einem der Häuser – ein Ort, den sie noch nie zuvor betreten hatten.

„Was ist das?“ fragte Annabel und betrachtete die dichten Büsche und die verwitterte Steinmauer, die den Garten umgab.

„Ein Ort, der längst vergessen wurde“, sagte Mary Poppins. „Aber hier begann alles.“

Im Zentrum des Gartens stand ein großer, uralter Kirschbaum. Seine Äste waren knorrig, doch voller Blüten, die heller leuchteten als alle anderen. Am Fuß des Baumes war ein kleiner Stein eingelassen, in den Worte eingraviert waren:

„Hier wurzelt die Magie der Cherry Tree Lane. Nur wer mit offenem Herzen sucht, findet ihre Wahrheit.“

„Was bedeutet das?“ fragte Georgie.

„Die Cherry Tree Lane ist kein gewöhnlicher Ort“, erklärte Mary Poppins. „Sie ist ein Ort der Verbindung – zwischen Menschen, Erinnerungen und Träumen. Die Magie hier ist leise, aber sie ist immer da.“

Plötzlich begann der Baum, leise zu glühen. Ein sanftes Licht erfüllte den Garten, und die Kinder sahen Bilder, die sich in der Luft zu formen schienen – Szenen aus der Vergangenheit der Cherry Tree Lane. Sie sahen Nachbarn, die einander halfen, Familien, die zusammen lachten, und Kinder, die im Garten spielten. Sie sahen ihre Eltern in jüngeren Jahren, wie sie unter diesem Baum standen und von ihrer Zukunft träumten.

„Das ist wunderschön“, flüsterte Annabel.

„Das ist die Geschichte der Cherry Tree Lane“, sagte Mary Poppins. „Ein Ort, der immer an die Magie der Verbindung geglaubt hat – zwischen Menschen und ihren Träumen.“

Die Kinder fühlten, wie das Licht des Baumes sie erfüllte, warm und beruhigend.

„Ist das das Geheimnis?“ fragte Georgie.
Mary Poppins nickte. „Das Geheimnis ist, dass die Magie nicht im Baum oder in den Straßen liegt, sondern in den Menschen, die hier leben. In den Erinnerungen, die sie schaffen, und in den Träumen, die sie teilen.“

Als das Licht verblasste, spürten die Kinder, dass sich etwas verändert hatte. Die Cherry Tree Lane war immer noch dieselbe Straße, doch sie wirkte lebendiger, bedeutungsvoller.

„Glauben Sie, jeder kann das Geheimnis finden?“ fragte Annabel.

„Nur diejenigen, die mit offenen Augen und Herzen suchen“, sagte Mary Poppins. „Und jetzt, meine Lieben, wisst ihr, dass ihr Teil dieser Magie seid.“

An diesem Abend, als die Kinder ins Bett gingen, fühlte sich die Welt um sie herum ein wenig größer, ein wenig magischer an. Und während sie einschliefen, sahen sie in ihren Träumen den Kirschbaum leuchten, ein Symbol für die unendlichen Geschichten und Verbindungen, die in der Cherry Tree Lane wurzelten. Mary Poppins, die leise das Fenster schloss, lächelte. „Manchmal“, flüsterte sie, „liegt das größte Geheimnis direkt vor euren Augen.“

42. Der Wind dreht sich

Es war ein ungewöhnlich ruhiger Morgen in der Cherry Tree Lane. Kein Rascheln der Blätter, kein Klingen der Kirschblüten im Wind. Der Himmel war wolkenlos, und die Straßen lagen still unter einem seltsamen, silbrigen Licht.
Annabel und Georgie saßen am Fenster und sahen hinaus.

„Es fühlt sich seltsam an“, sagte Annabel.

„Ja“, stimmte Georgie zu. „Fast, als ob etwas zu Ende geht.“

Mary Poppins stand wie immer aufrecht neben ihnen, ihren Schirm in der Hand. Doch ihr Blick war nachdenklicher als sonst.

„Manchmal“, sagte sie leise, „spürt man es, bevor es passiert – diesen Moment, in dem sich der Wind dreht.“

„Was meinen Sie mit ‚der Wind dreht sich‘?“ fragte Annabel. Mary Poppins sah sie an, ihre Augen funkelten wie das Licht der Sterne. „Es bedeutet, dass Veränderungen bevorstehen, meine Liebe. Und Veränderungen bringen immer Neues – manchmal ein Abenteuer, manchmal einen Abschied.“

Georgie wurde still. „Meinen Sie, Sie gehen wieder weg?“ Mary Poppins legte eine Hand auf seine Schulter. „Jeder Wind bringt mich an einen neuen Ort, Georgie. Aber noch ist es nicht so weit. Es gibt etwas, das wir tun müssen, bevor sich der Wind endgültig dreht.“ Nach dem Frühstück führte Mary Poppins die Kinder in den Park. Der Himmel war klar, doch eine leise Brise begann zu wehen, die immer stärker wurde. Es war kein kalter Wind, sondern einer, der Geschichten erzählte – ein Wind voller Leben.

„Hört ihr das?“ fragte Mary Poppins. Die Kinder lauschten. Anfangs hörten sie nur das Säuseln der Blätter, doch dann wurden die Geräusche klarer – Flüstern, Lachen, und das Summen von Erinnerungen, die in der Luft schwebten.

„Das ist der Wind der Geschichten“, sagte Mary Poppins. „Er sammelt alles, was gewesen ist, und trägt es mit sich, damit es nie vergessen wird.“

Die Brise wurde stärker, und plötzlich schien der Wind Gestalt anzunehmen. Er wirbelte um die Kinder herum, fast wie ein Tanz, und zeigte ihnen Bilder: Sie sahen den singenden Baum, der ihnen seine Lieder geschenkt hatte. Sie sahen die unsichtbare Brücke, die sie überquert hatten, und das schwebende Boot, das sie durch die Sphäre der Träume getragen hatte. Sie sahen den Drachen, der Hoffnung gebracht hatte, und das Herz aus Sternenstaub, das ihnen Mut gemacht hatte.

„Das sind unsere Abenteuer“, flüsterte Annabel.

„Ja“, sagte Georgie. „Aber warum zeigt der Wind uns das alles?“

Mary Poppins lächelte. „Weil der Wind euch daran erinnern möchte, dass jede Reise Spuren hinterlässt – und dass ihr diese Geschichten mit euch tragt, egal, wohin ihr geht.“

Plötzlich änderte der Wind seine Richtung. Er wurde sanfter, wärmer, und die Bilder verblassten. Stattdessen blieb eine stille, goldene Energie zurück, die den Kindern das Gefühl gab, dass sie ein Kapitel abgeschlossen hatten.

„Der Wind hat sich gedreht“, sagte Mary Poppins schließlich.

„Heißt das, es ist vorbei?“ fragte Georgie, seine Stimme war traurig.

„Nicht vorbei“, sagte Mary Poppins. „Nur anders. Jeder Wind bringt Neues, und jedes Neue ist eine Gelegenheit, etwas Wunderbares zu schaffen.“

Die Kinder gingen zurück zur Cherry Tree Lane, doch die Luft fühlte sich anders an. Die Straße wirkte lebendiger, die Bäume schienen sich im sanften Rhythmus des Windes zu wiegen, und die Welt schien voller Möglichkeiten.

„Werden wir Sie vermissen?“ fragte Annabel plötzlich. Mary Poppins blieb stehen, sah sie an und lächelte. „Vielleicht ein wenig. Aber ich werde nie wirklich fort sein. Der Wind trägt mich weiter, doch er bringt auch immer Erinnerungen zurück.“

In dieser Nacht schliefen Annabel und Georgie mit einem seltsamen Gefühl von Frieden ein. Sie wussten, dass sich der Wind gedreht hatte, aber sie fühlten auch, dass sie für alles bereit waren, was kommen würde. Und während der Wind draußen durch die Cherry Tree Lane zog, schien er ihnen ein Lied zu singen – ein Lied von Abenteuern, von Hoffnung und von der Stärke, die in jedem Neuanfang liegt.

43. Die Veränderung

Ein neuer Tag begann in der Cherry Tree Lane, doch etwas fühlte sich anders an. Die Luft war klarer, der Himmel leuchtete in einem kräftigen Blau, und ein sanfter Wind wehte durch die Kirschbäume, deren Blüten wie kleine Sterne funkelten. Annabel und Georgie saßen am Küchentisch und betrachteten ihre leeren Teller. Es war eine ungewöhnlich ruhige Morgenroutine – Mary Poppins hatte sich nicht wie gewohnt an ihre Arbeit gemacht, sondern saß mit verschränkten Händen am Fenster, als würde sie etwas erwarten.

„Irgendetwas stimmt heute nicht“, sagte Georgie.

„Es fühlt sich an, als ob etwas Großes passieren wird“, fügte Annabel hinzu.
Mary Poppins wandte sich um, ihr Gesicht zeigte ein nachdenkliches Lächeln. „Es fühlt sich nicht nur so an. Es ist ein Tag der Veränderung.“

„Veränderung?“ fragte Georgie skeptisch. „Was für eine Veränderung?“

„Die Art von Veränderung, die die Welt ein wenig heller macht – oder euch ein wenig stärker“, sagte Mary Poppins. Annabel runzelte die Stirn. „Aber Veränderungen sind manchmal auch schwer. Was, wenn wir nicht bereit sind?“

Mary Poppins erhob sich und legte ihre Hände sanft auf die Schultern der Kinder. „Niemand ist jemals wirklich bereit für Veränderung, Annabel. Doch das Wunderbare daran ist, dass sie uns oft genau das gibt, was wir brauchen, um zu wachsen.“

Nach dem Frühstück führte Mary Poppins die Kinder hinaus in den Park. Der Wind wehte stärker, und die Kirschbäume schienen wie alte Freunde zu flüstern.

„Warum bringen Veränderungen immer so viele Fragen mit sich?“ fragte Georgie.

„Weil sie euch die Möglichkeit geben, Antworten zu finden“, sagte Mary Poppins. „Ohne Fragen gibt es kein Wachstum, meine Lieben.“

Sie blieben vor einem alten Baum stehen, dessen Blätter in der Sonne glitzerten. Mary Poppins richtete ihren Schirm auf den Stamm. „Das ist der Baum der Veränderung“, erklärte sie. „Er ist schon hier, seit die Cherry Tree Lane entstand, und er bewahrt alle Momente, die das Leben hier geprägt haben.“

„Wie funktioniert er?“ fragte Annabel.

„Berührt ihn“, sagte Mary Poppins, „und er zeigt euch, was die Veränderung für euch bereithält.“

Die Kinder traten zögernd vor und legten ihre Hände auf die raue Rinde des Baumes. Sofort fühlten sie eine warme Energie, die durch sie hindurchströmte. Vor ihren Augen begann sich die Luft zu bewegen, und Bilder erschienen – nicht aus der Vergangenheit, sondern aus einer möglichen Zukunft. Sie sahen sich selbst: älter, mutiger, selbstbewusster. Sie sahen, wie sie neue Abenteuer erlebten, neue Freunde fanden und ihren Vater in glücklichen Momenten begleiteten. Doch sie sahen auch Herausforderungen – Momente, in denen sie sich überwinden mussten, um weiterzumachen.

„Das ist… unsere Zukunft?“ fragte Annabel leise.

„Eine Möglichkeit“, sagte Mary Poppins. „Veränderung zeigt euch, was sein könnte, wenn ihr den Mut habt, sie anzunehmen.“

Die Vision verblasste, und die Kinder zogen ihre Hände zurück.

„Es sah wunderschön aus“, sagte Georgie. „Aber auch ein bisschen beängstigend.“

„Das ist der Kern der Veränderung“, sagte Mary Poppins. „Sie bringt Unsicherheit, aber auch unbegrenzte Möglichkeiten. Und das Wichtigste ist, dass ihr immer entscheiden könnt, wie ihr mit ihr umgeht.“

Auf dem Rückweg zur Cherry Tree Lane fühlte sich die Welt anders an. Die Kinder sahen die Häuser, die Bäume und sogar ihren Vater mit neuen Augen – als wäre alles voller Potenzial.

„Was, wenn wir Fehler machen?“ fragte Georgie.

„Dann lernt ihr daraus“, sagte Mary Poppins. „Veränderung ist kein Ziel, sondern ein Weg. Und auf diesem Weg sind Fehler genauso wichtig wie Erfolge.“

An diesem Abend saßen Annabel und Georgie mit Michael zusammen, während sie über die Veränderungen in ihrem Leben sprachen. Es war ein ehrliches, offenes Gespräch, bei dem sie ihre Sorgen teilten, aber auch ihre Hoffnungen für die Zukunft. Mary Poppins, die in der Ecke saß, beobachtete die Szene mit einem zufriedenen Lächeln. Als die Kinder schließlich ins Bett gingen, fühlten sie sich anders – stärker, mutiger, bereit für das, was vor ihnen lag.

„Denken Sie, dass wir die Veränderung schaffen?“ fragte Annabel, bevor sie einschlief. Mary Poppins legte eine Decke über sie und lächelte. „Ich weiß, dass ihr es schafft. Denn Veränderung, meine Liebe, ist das, was euch wachsen lässt.“

In dieser Nacht wehte der Wind sanft durch die Cherry Tree Lane, trug die alten Geschichten davon und machte Platz für neue. Und Mary Poppins, die noch einmal zum Fenster hinausschaute, flüsterte: „Die Welt verändert sich, meine Lieben. Und ihr seid bereit, ein Teil davon zu sein.“

44. Das verzauberte Tagebuch

Ein regnerischer Nachmittag legte einen grauen Schleier über die Cherry Tree Lane. Annabel und Georgie saßen gelangweilt im Wohnzimmer, während Mary Poppins am Fenster stand und hinaus in den Regen blickte.

„Es gibt nichts zu tun“, seufzte Georgie.

„Nichts? Unsinn“, sagte Mary Poppins, ohne sich umzudrehen. „In einem Haus wie diesem gibt es immer etwas zu entdecken.“

„Wie sollen wir etwas entdecken, wenn wir alles schon kennen?“ fragte Annabel skeptisch. Mary Poppins wandte sich um, ihre Augen funkelten geheimnisvoll. „Manchmal liegt das Unerwartete genau dort, wo ihr es am wenigsten vermutet.“

Sie führte die Kinder in den Dachboden, einen Ort, den sie selten betreten hatten. Der Raum war dunkel, und der Duft von altem Holz und verstaubten Erinnerungen erfüllte die Luft.

„Warum sind wir hier?“ fragte Georgie und schaute sich um.

„Weil der Dachboden ein Ort ist, an dem Geschichten schlafen“, sagte Mary Poppins. „Und heute ist es an der Zeit, eine von ihnen zu wecken.“

Die Kinder suchten zwischen alten Kisten, verstaubten Büchern und längst vergessenen Spielsachen. Schließlich fand Annabel eine kleine Truhe mit einem zarten Schloss, das sich von selbst öffnete, als sie den Deckel berührte. Darin lag ein Buch, dessen Einband aus weichem, schimmerndem Leder bestand. Auf der Vorderseite waren goldene Buchstaben geprägt: „Das Verzauberte Tagebuch“.

„Was ist das?“ fragte Annabel, während sie es vorsichtig herausnahm. Mary Poppins trat näher, ihre Stimme war leise, aber bedeutungsvoll. „Ein Tagebuch, das mehr ist als nur Papier und Tinte. Es bewahrt Erinnerungen, Träume und Geheimnisse – und manchmal zeigt es Dinge, die ihr selbst noch nicht wisst.“

Annabel öffnete das Tagebuch. Die Seiten waren leer, doch kaum hatte sie es aufgeschlagen, begannen Worte wie von selbst zu erscheinen.

„Was passiert da?“ fragte Georgie und trat näher.

„Das Tagebuch schreibt die Geschichten, die in euren Herzen schlummern“, erklärte Mary Poppins. „Es ist ein Spiegel eurer inneren Welt.“

Auf der ersten Seite erschien ein Bild von Annabel, wie sie auf einer Schaukel in den Himmel schwang, begleitet von einem Satz: „Ich wünsche mir, höher zu fliegen, als ich es je gewagt habe.“

Annabel starrte auf die Worte. „Das… das ist mein Traum.“ Georgie schlug die nächste Seite auf. Dort war er selbst zu sehen, wie er mutig über eine unsichtbare Brücke schritt, mit den Worten: „Ich möchte den Mut haben, jeden Schritt zu gehen.“

„Das ist unglaublich“, flüsterte er. Doch plötzlich begannen die Seiten schneller umzublättern, und das Tagebuch zeigte ihnen Szenen aus der Vergangenheit – glückliche Momente, schwierige Entscheidungen und Dinge, die sie fast vergessen hatten. Sie sahen ihre Mutter, wie sie ihnen Geschichten erzählte, und Michael, wie er mit ihnen spielte, bevor die Sorgen ihn schwerer gemacht hatten.

„Warum zeigt es uns das?“ fragte Annabel leise.

„Weil das Tagebuch nicht nur eure Wünsche kennt“, sagte Mary Poppins. „Es erinnert euch daran, was euch geprägt hat – und was euch stärker macht.“

Dann blieb das Tagebuch auf einer leeren Seite stehen.

„Was bedeutet das?“ fragte Georgie. Mary Poppins sah ihn an. „Das ist eure Zukunft. Sie ist noch nicht geschrieben. Aber jedes Wort, das ihr hier eintragt, formt den Weg, den ihr gehen werdet.“

Annabel nahm vorsichtig einen Stift, der plötzlich in der Truhe erschienen war, und schrieb: „Ich möchte mutig genug sein, meine Träume zu verfolgen.“
Georgie folgte und schrieb: „Ich möchte, dass unsere Familie wieder glücklich ist.“ Kaum hatten sie die Worte geschrieben, begannen sie zu leuchten, und eine Wärme erfüllte den Raum.

„Das Tagebuch hat eure Wünsche angenommen“, sagte Mary Poppins. „Es wird euch erinnern, wenn ihr jemals den Mut verliert.“

„Bleibt das Tagebuch bei uns?“ fragte Annabel hoffnungsvoll. Mary Poppins schüttelte den Kopf. „Das Tagebuch gehört nicht euch allein. Es gehört jedem, der bereit ist, seine Geschichte zu entdecken. Aber die Worte, die ihr geschrieben habt, werden immer in euch bleiben.“

Am Abend, zurück im Wohnzimmer, fühlte sich die Welt für Annabel und Georgie ein wenig anders an. Sie hatten nicht nur ein Buch gefunden, sondern auch ein Stück von sich selbst.

„Meinen Sie, dass wir eines Tages neue Seiten füllen können?“ fragte Georgie. Mary Poppins lächelte. „Ihr füllt sie bereits, meine Lieben – mit jedem Schritt, den ihr macht, und jeder Entscheidung, die ihr trefft.“

In der Nacht, als der Regen aufhörte und der Mond über der Cherry Tree Lane schien, stand Mary Poppins am Fenster und blickte zum Dachboden hinauf. Sie wusste, dass das Verzauberte Tagebuch seinen nächsten Besitzer finden würde – aber die Worte, die Annabel und Georgie geschrieben hatten, würden ihnen immer den Weg weisen.

„Manchmal“, flüsterte sie, „liegt die Magie nicht in den Seiten, sondern in den Herzen derer, die sie füllen.“

45. Ein Abschiedslied

Die Cherry Tree Lane lag in goldenes Licht getaucht, als die Sonne hinter den Kirschbäumen unterging. Die Luft war still, und ein leises Rascheln der Blätter war das einzige Geräusch, das zu hören war. Annabel und Georgie saßen auf der Treppe vor dem Haus, während Mary Poppins, wie immer aufrecht und elegant, in der Tür stand.

„Es fühlt sich an, als ob etwas zu Ende geht“, sagte Annabel leise.

„Ja“, fügte Georgie hinzu. „Wie das Ende eines Liedes.“

Mary Poppins trat zu ihnen, ihr Gesicht zeigte das leiseste Lächeln. „Ein Ende ist nie wirklich ein Ende, meine Lieben. Es ist nur der Beginn eines neuen Kapitels.“

Nach dem Abendessen führte Mary Poppins die Kinder in den Garten. Der Himmel war klar, und die Sterne funkelten wie tausend kleine Lichter. Die Kirschbäume wiegten sich sanft im Wind, und es schien, als ob die ganze Welt auf etwas wartete.

„Warum sind wir hier?“ fragte Georgie.

„Weil es einen Moment gibt, der immer kommen muss“, sagte Mary Poppins ruhig. „Und heute ist dieser Moment.“

Annabels Augen füllten sich mit Tränen. „Sie gehen wirklich weg, nicht wahr?“ Mary Poppins nickte. „Der Wind hat sich gedreht, und meine Arbeit hier ist getan.“

Bevor die Kinder etwas sagen konnten, hob Mary Poppins ihren Schirm und deutete in die Nacht. Ein sanftes, melodisches Summen erfüllte die Luft, wie ein Lied, das von den Sternen selbst gesungen wurde.

„Was ist das?“ flüsterte Annabel.

„Das ist euer Abschiedslied“, sagte Mary Poppins. „Ein Lied, das euch immer an das erinnert, was wir zusammen erlebt haben.“

Die Melodie wurde stärker, und die Kinder fühlten, wie sie sie umhüllte. Bilder tauchten in der Luft auf – Szenen ihrer Abenteuer mit Mary Poppins: der singende Baum, das schwebende Boot, das Herz aus Sternenstaub. Sie sahen ihre eigenen mutigen Schritte, ihre Träume und die Erinnerungen, die sie geschaffen hatten.

„Das ist wunderschön“, sagte Georgie, während er die Szenen betrachtete.

„Es ist eure Geschichte“, sagte Mary Poppins. „Und jedes Lied, das endet, trägt seine Melodie in euren Herzen weiter.“

Annabel und Georgie sahen Mary Poppins an. „Wir wollen nicht, dass Sie gehen“, sagte Annabel mit zitternder Stimme. Mary Poppins kniete sich vor sie, ihre Augen warm und voller Zuversicht. „Ihr braucht mich nicht mehr, meine Lieben. Ihr habt alles, was ihr braucht, um eure eigenen Abenteuer zu leben.“

„Aber wir werden Sie vermissen“, sagte Georgie. Mary Poppins lächelte. „Und ich werde euch vermissen. Doch ich werde immer bei euch sein – in jeder Entscheidung, die ihr trefft, und in jedem Lied, das ihr singt.“

Die Melodie wurde leiser, und der Wind trug sie davon. Mary Poppins erhob sich, und ihre Silhouette zeichnete sich gegen den Sternenhimmel ab.

„Seid mutig, seid liebevoll, und erinnert euch daran, dass die wahre Magie in euch liegt“, sagte sie. Mit einem letzten, eleganten Nicken öffnete sie ihren Schirm. Der Wind ergriff sie, und sie stieg sanft in den Himmel, höher und höher, bis sie nur noch ein Punkt zwischen den Sternen war. Die Kinder standen da, den Blick nach oben gerichtet. Der Garten war still, doch in der Stille hörten sie das Echo der Melodie, die noch immer in ihren Herzen spielte.

„Ich glaube, sie hat recht“, sagte Annabel schließlich. „Sie wird immer bei uns sein.“

Georgie nickte. „In unseren Geschichten. Und in unseren Träumen.“

An diesem Abend schliefen Annabel und Georgie ein, während die Melodie des Abschiedsliedes leise in ihrem Inneren widerhallte. Und die Cherry Tree Lane, ruhig und friedlich unter dem Sternenhimmel, schien selbst ein Teil des Liedes zu sein – ein Lied von Veränderung, von Liebe und von der unvergesslichen Magie, die Mary Poppins in ihr hinterlassen hatte.

46. Der Flug über die Dächer

Ein stiller, klarer Abend senkte sich über die Cherry Tree Lane. Die Sterne funkelten am Himmel, und der Mond warf ein silbriges Licht über die Dächer der Häuser. Annabel und Georgie saßen am Fenster ihres Zimmers und sahen hinaus, die Beine über die Fensterbank baumelnd.

„Haben Sie jemals darüber nachgedacht, wie die Welt von oben aussieht?“ fragte Annabel und sah zu Mary Poppins, die hinter ihnen stand und ihren Schirm in der Hand hielt.

„Ja“, fügte Georgie hinzu. „Von dort oben muss alles kleiner und irgendwie… anders wirken.“

Mary Poppins, wie immer ruhig und gelassen, lächelte geheimnisvoll. „Die Dinge sehen tatsächlich anders aus, wenn man sie aus einer neuen Perspektive betrachtet. Vielleicht ist es an der Zeit, dass ihr es selbst erlebt.“

„Erleben?“ fragte Georgie neugierig. Mary Poppins öffnete das Fenster, und eine sanfte, warme Brise wehte herein. „Manchmal“, sagte sie, „muss man den Boden verlassen, um zu sehen, wie groß die Welt wirklich ist.“

Bevor die Kinder etwas sagen konnten, hob sie ihren Schirm und ließ sich von der Brise emporheben.

„Kommt, meine Lieben“, rief sie, während sie elegant durch das offene Fenster schwebte. Annabel und Georgie sahen einander an, ihre Herzen schlugen schneller. Dann griffen sie nach Mary Poppins’ ausgestreckten Händen, und plötzlich spürten sie, wie der Boden unter ihren Füßen verschwand.

„Wir fliegen!“ rief Georgie begeistert.

„Das ist unglaublich!“ sagte Annabel, während der Wind ihr Haar durchwehte.
Sie stiegen höher und höher, bis sie über die Dächer der Cherry Tree Lane hinwegschwebten. Die Häuser, die sie so gut kannten, wirkten von oben wie kleine Spielzeuge, und die Straßen leuchteten im sanften Schein der Laternen.

„Schaut!“ rief Mary Poppins und deutete mit ihrem Schirm auf den Horizont. „Die Welt ist voller Geheimnisse, die nur darauf warten, entdeckt zu werden.“

Die Kinder sahen, wie die Dächer der Stadt sich endlos erstreckten, wie kleine Lichter in den Fenstern funkelten und wie der Fluss wie ein silbernes Band durch die Dunkelheit floss.

„Ich wusste nicht, dass alles so schön aussieht“, sagte Annabel leise.

„Es ist magisch“, stimmte Georgie zu.
Mary Poppins lächelte. „Die Welt ist immer magisch, meine Lieben. Manchmal braucht es nur eine neue Perspektive, um es zu erkennen.“

Plötzlich hörten sie ein leises Summen in der Luft. Die Kinder sahen sich um und entdeckten etwas Unerwartetes – andere Figuren, die ebenfalls über die Dächer schwebten. Es waren Schatten, die leise lachten, tanzten und sangen, ihre Stimmen klangen wie der Wind selbst.

„Wer sind sie?“ fragte Georgie.

„Die Wächter der Nacht“, sagte Mary Poppins. „Sie bewahren die Träume der Menschen und halten die Geheimnisse der Dunkelheit lebendig.“

Die Schatten winkten ihnen zu, bevor sie lautlos in die Nacht verschwanden. Mary Poppins führte die Kinder zu einer großen Dachterrasse, von der aus sie die gesamte Stadt überblicken konnten. Sie setzte sich auf eine der Balustraden, während Annabel und Georgie staunend die Aussicht genossen.

„Warum zeigen Sie uns das alles?“ fragte Annabel.

„Weil ihr verstehen sollt, dass die Welt größer ist, als sie euch manchmal erscheint“, sagte Mary Poppins. „Und dass ihr immer wieder neue Wege finden könnt, sie zu entdecken.“

Nach einer Weile stiegen sie wieder in die Luft. Der Wind trug sie sanft zurück zur Cherry Tree Lane, wo das vertraute Haus unter ihnen wie ein sicherer Hafen lag.

„Ich wünschte, wir könnten ewig fliegen“, sagte Georgie, als sie wieder in ihr Zimmer zurückkehrten.

„Jeder Flug endet irgendwann“, sagte Mary Poppins. „Doch die Freiheit, die ihr dabei spürt, bleibt immer in euch.“

An diesem Abend schliefen Annabel und Georgie mit einem Gefühl von Leichtigkeit ein, als ob sie die Welt erobern könnten, wenn sie nur ihre Flügel ausbreiten würden. Mary Poppins, die leise das Fenster schloss, lächelte zufrieden. „Manchmal“, flüsterte sie, „muss man einfach die Perspektive wechseln, um die Magie des Lebens zu sehen.“

Draußen wehte der Wind sanft durch die Cherry Tree Lane, als ob er noch immer die Melodie ihres Fluges in sich trug.

47. Ein neuer Anfang

Ein sanfter Morgennebel lag über der Cherry Tree Lane, als die Sonne langsam über den Horizont kroch und die Kirschbäume in ein warmes, goldenes Licht tauchte. Die vertrauten Geräusche des Tages – Vogelgezwitscher, das leise Klappern von Fenstern, die geöffnet wurden – füllten die Luft. Doch für Annabel und Georgie fühlte sich dieser Tag anders an. Sie saßen am Küchentisch und blickten auf das große Fenster, durch das die Strahlen der Sonne in das Haus fielen. Ihr Vater, Michael Banks, war schon früh aufgestanden und bereitete das Frühstück vor, summte dabei eine leise Melodie und wirkte entspannter als je zuvor.

„Es fühlt sich so an, als ob heute etwas Neues beginnt“, sagte Annabel.

„Ja“, stimmte Georgie zu. „Fast so, als ob alles wieder möglich ist.“

Während sie aßen, sprachen sie über Pläne für den Tag – Dinge, die sie gemeinsam tun wollten. Es war eine neue Energie im Haus, eine, die sie seit Langem nicht mehr gespürt hatten.

„Wisst ihr“, sagte Michael, während er den Kindern lächelnd Kaffee und Kakao servierte, „ich glaube, wir haben eine Menge vor uns. Aber wir schaffen das – zusammen.“

Annabel und Georgie nickten, und ein Lächeln huschte über ihre Gesichter. Nach dem Frühstück gingen sie in den Garten, wo die Sonne die Tautropfen auf den Blättern glitzern ließ. Dort stand Mary Poppins, ihren Schirm in der Hand, und beobachtete sie mit einem Ausdruck tiefer Zufriedenheit.

„Sie wirken heute glücklicher“, sagte sie und sah Michael an.

„Das sind wir auch“, antwortete er. „Es fühlt sich an, als ob wir endlich einen Schritt nach vorne machen.“

Mary Poppins nickte. „Manchmal braucht es nur einen kleinen Funken, um ein Feuer der Hoffnung zu entfachen.“

Annabel trat zu Mary Poppins. „Geht es jetzt wirklich los? Der neue Anfang?“

„Das tut es“, sagte Mary Poppins. „Doch denkt daran, ein Anfang ist nicht das Ende von allem, was ihr vorher wart. Es ist nur ein weiterer Schritt auf eurem Weg.“

Georgie runzelte die Stirn. „Aber was, wenn wir Fehler machen?“ Mary Poppins sah ihn mit ihren klaren, klugen Augen an. „Fehler sind nichts anderes als Beweise dafür, dass ihr es versucht. Ein neuer Anfang bedeutet nicht, perfekt zu sein – nur mutig.“ Die Kinder und Michael verbrachten den Tag damit, Dinge zu tun, die sie lange aufgeschoben hatten. Sie räumten den Dachboden auf, fanden alte Erinnerungsstücke und lachten über vergessene Geschichten. Sie pflanzten Blumen im Garten und schrieben eine Liste von Dingen, die sie gemeinsam unternehmen wollten. Es fühlte sich an wie ein Aufbruch, ein Versprechen, die Welt mit neuen Augen zu sehen. Am Abend versammelten sie sich erneut im Wohnzimmer. Die Kirschblüten vor dem Fenster wurden vom Mondlicht beleuchtet, und die Luft war erfüllt von einem sanften, friedlichen Summen, das von der Straße herüberzog. Mary Poppins stand wie immer aufrecht und elegant. Doch in ihrem Blick lag etwas Abschließendes, etwas Endgültiges.

„Es ist Zeit“, sagte sie leise. Annabels Augen wurden groß. „Zeit? Zeit für was?“

„Für euren neuen Anfang“, sagte Mary Poppins. „Und für meinen Abschied.“

Georgie schüttelte den Kopf. „Aber… wir brauchen Sie noch!“ Mary Poppins lächelte sanft. „Nein, meine Lieben. Ihr habt immer alles in euch gehabt, was ihr brauchtet. Meine Aufgabe war nur, euch daran zu erinnern.“ Michael trat vor und sah sie dankbar an. „Sie haben mehr getan, als ich jemals sagen könnte. Danke.“

„Es war mir ein Vergnügen“, sagte Mary Poppins. „Doch jetzt liegt es an euch, die nächsten Schritte zu machen.“

Die Kinder umarmten sie ein letztes Mal, ihre Herzen schwer, aber voller Dankbarkeit. Mary Poppins öffnete die Tür, der Wind ergriff ihren Schirm, und sie stieg elegant in den Nachthimmel. Annabel und Georgie standen noch lange draußen, den Blick in den sternenübersäten Himmel gerichtet, während der Wind sanft um sie wehte – ein leises, beruhigendes Flüstern, das sie zu ermutigen schien. Am nächsten Morgen war die Cherry Tree Lane in warmes Licht getaucht, und die Familie Banks war bereit, ihren neuen Anfang zu wagen.

„Ich denke, wir schaffen das“, sagte Annabel leise.

„Das werden wir“, antwortete Georgie.
Und in der Luft, die frisch und voller Möglichkeiten war, schien die Welt selbst zu flüstern: „Ein neuer Anfang ist immer der Beginn von etwas Wunderbarem.“

48. Der leere Platz

Die Tage in der Cherry Tree Lane waren heller geworden, und doch spürten Annabel und Georgie, dass etwas fehlte. Es war nicht die Stille oder der Alltag, der sie störte – es war der leere Platz, der in ihrem Leben geblieben war, seit Mary Poppins gegangen war. Im Wohnzimmer stand der alte Sessel, in dem sie oft gesessen hatte, mit ihrem Strickzeug oder einer Tasse Tee in der Hand. Am Fenster hing noch der Hauch von frischem Wind, den ihr Schirm hinterlassen hatte. Doch der Sessel blieb leer, und der Wind war leise geworden.

„Es fühlt sich komisch an“, sagte Annabel, als sie eines Abends auf der Couch saß.

„Ja“, stimmte Georgie zu. „Als ob etwas Wichtiges fehlt.“

Michael Banks, der den Kindern gegenüber saß, schaute von seiner Zeitung auf. Er war in den letzten Wochen ruhiger und gelassener geworden, doch in seinen Augen lag ein stilles Verständnis.

„Es ist okay, sie zu vermissen“, sagte er. „Aber denkt daran, sie hat uns etwas hinterlassen, das nicht verschwinden kann.“

Annabel sah ihn fragend an. „Was denn?“

„Euch selbst“, sagte Michael. „Alles, was Mary Poppins uns gezeigt hat, steckt in uns. In unseren Entscheidungen, unseren Träumen, und in den Dingen, die wir jetzt zusammen schaffen.“

Am nächsten Tag gingen die Kinder in den Park. Die Luft war frisch, die Kirschbäume wiegten sich sanft im Wind, und der Himmel war ein unendlich weites Blau. Annabel setzte sich auf eine Bank, während Georgie mit einem Stock in der Erde zeichnete.

„Denkst du, sie kommt jemals zurück?“ fragte Georgie schließlich. Annabel zuckte mit den Schultern. „Vielleicht. Aber ich glaube, sie würde wollen, dass wir uns auf das konzentrieren, was hier ist.“

Während sie sprach, wehte eine sanfte Brise über die Lichtung. Ein einzelnes Blatt löste sich von einem Kirschbaum und segelte vor ihren Füßen zu Boden.
Annabel hob es auf und betrachtete es. „Vielleicht ist sie doch noch hier. Irgendwie.“ Georgie nickte. „Vielleicht nicht so, wie wir denken. Aber ich spüre sie manchmal, wenn der Wind weht.“

In den folgenden Tagen begannen die Kinder, den leeren Platz auf ihre eigene Weise zu füllen. Sie malten Bilder von ihren Abenteuern mit Mary Poppins, erzählten ihrem Vater Geschichten, die sie erlebten, und nahmen sich vor, die Welt mit den Augen zu sehen, die Mary ihnen geöffnet hatte. Im Garten pflanzten sie einen kleinen Kirschbaum, den sie „Marys Baum“ nannten.

„Das ist unser Zeichen“, sagte Annabel. „Etwas, das uns daran erinnert, dass sie immer ein Teil von uns ist.“

Georgie fügte hinzu: „Und etwas, das wächst – wie wir.“ Einige Wochen später, als der Frühling kam, entdeckten sie die ersten Blüten an ihrem Baum. Der leere Platz im Garten, den sie mit diesem Baum gefüllt hatten, schien plötzlich nicht mehr leer zu sein. Michael sah die Kinder dabei an, wie sie sich um den Baum kümmerten, und lächelte. „Vielleicht ist der leere Platz nie wirklich leer“, sagte er. „Man muss ihn nur mit Liebe und Erinnerungen füllen.“ An diesem Abend saßen Annabel und Georgie im Wohnzimmer, wo der Sessel immer noch leer war. Doch dieses Mal störte es sie nicht.

„Denkst du, sie sieht uns gerade zu?“ fragte Georgie. Annabel nickte. „Ja, das glaube ich. Und ich denke, sie wäre stolz.“

Draußen wehte ein sanfter Wind durch die Cherry Tree Lane, und die Kinder hörten das leise Flüstern der Blätter – wie eine Melodie, die sie immer begleiten würde. Denn der leere Platz, so erkannten sie, war nie wirklich leer. Er war ein Raum für Erinnerungen, für Wachstum und für alles, was sie von Mary Poppins gelernt hatten. Und in ihrem Herzen wussten sie, dass sie diesen Platz immer mit Liebe füllen würden.

49. Die Winde ziehen weiter

Ein lauer Sommerwind zog durch die Cherry Tree Lane, raschelte in den Kirschbäumen und wehte die zarten Blütenblätter über die Straße. Die Familie Banks hatte sich an den neuen Alltag gewöhnt – ein Alltag voller Lachen, Geschichten und gemeinsamer Pläne. Doch an diesem Morgen schien der Wind eine besondere Botschaft zu tragen, eine Melodie, die Annabel und Georgie vertraut vorkam. Sie saßen im Garten unter dem kleinen Kirschbaum, den sie „Marys Baum“ nannten. Seine Blätter schimmerten im Licht, und eine sanfte Brise strich über ihre Gesichter.

„Der Wind fühlt sich anders an“, sagte Annabel nachdenklich.

„Ja“, stimmte Georgie zu. „Es ist, als ob er uns etwas sagen will.“

Michael trat aus dem Haus und setzte sich zu ihnen. Er war in den letzten Monaten entspannter und gelassener geworden, und die Linien der Sorge auf seinem Gesicht waren einer ruhigen Zuversicht gewichen.

„Ich glaube, der Wind hat immer etwas zu sagen“, sagte er lächelnd. „Manchmal müssen wir nur genau hinhören.“

Annabel und Georgie schlossen die Augen und lauschten. Der Wind schien zu flüstern, leise und beruhigend, fast wie eine Erinnerung.

„Denkst du, sie ist immer noch da draußen?“ fragte Georgie plötzlich. Michael nickte langsam. „Ich glaube, Mary Poppins ist überall dort, wo sie gebraucht wird. Und manchmal, wenn der Wind sich dreht, bringt er uns ihre Magie zurück – in kleinen, unerwarteten Momenten.“

In den kommenden Tagen wehte der Wind weiter durch die Cherry Tree Lane. Er trug den Duft von blühenden Blumen, das Lachen spielender Kinder und das Summen der Stadt. Die Kinder bemerkten, wie der Wind ihnen Geschichten brachte: das Rascheln der Blätter, das Klingen der Fensterläden, und manchmal sogar das Flüstern einer vertrauten Stimme.

„Vielleicht bedeutet der Wind, dass etwas Neues beginnt“, sagte Annabel eines Nachmittags.

„Oder dass etwas weitergeht“, fügte Georgie hinzu. Eines Abends, als der Himmel in sanften Rosatönen leuchtete und der Wind durch das offene Fenster wehte, fand Annabel ein einzelnes Blatt auf ihrem Schreibtisch. Es war eine Kirschblüte, zart und doch voller Leben.

„Glaubst du, das war sie?“ fragte sie, als sie es Georgie zeigte.

„Vielleicht“, sagte er. „Oder vielleicht ist es der Wind, der uns daran erinnert, dass sie immer ein Teil von uns ist.“

Am nächsten Morgen wehte der Wind stärker, lebhafter. Er wirbelte durch die Cherry Tree Lane, zog die Blüten mit sich und schien die Welt aufzuwecken. Annabel und Georgie standen im Garten und sahen, wie die Blätter tanzten, fast so, als ob sie eine eigene Sprache sprachen.

„Es fühlt sich an, als ob der Wind weiterzieht“, sagte Annabel.

„Ja“, stimmte Georgie zu. „Aber er lässt etwas zurück.“

Als sie an diesem Abend zu Bett gingen, wehte eine letzte, sanfte Brise durch das Haus. Es war ein Abschied, leise und voller Frieden.

„Glaubst du, wir sehen sie jemals wieder?“ fragte Georgie.

„Vielleicht nicht so, wie wir es erwarten“, sagte Annabel. „Aber sie wird immer da sein, wenn wir sie brauchen.“

Draußen in der Cherry Tree Lane tanzten die Blüten weiter im Wind, und es war, als ob die Straße selbst die Melodie einer unvergesslichen Zeit sang – ein Lied von Veränderung, Hoffnung und der Magie, die Mary Poppins hinterlassen hatte. Denn die Winde ziehen weiter, doch die Spuren, die sie hinterlassen, bleiben für immer.

Epilog.:

Die Sonne schien warm über die Cherry Tree Lane, und der vertraute Duft von blühenden Kirschbäumen erfüllte die Luft. Die Straße war belebt, voller Leben, doch für die Familie Banks fühlte sich alles anders an – nicht lauter, sondern heller. Annabel und Georgie saßen auf der Bank unter „Marys Baum“, dem kleinen Kirschbaum, den sie gemeinsam gepflanzt hatten. Seine Äste waren inzwischen kräftiger geworden, und neue Blüten hatten sich geöffnet, als ob sie die Reise der letzten Monate feiern wollten.

„Denkst du, sie sieht uns gerade zu?“ fragte Georgie, der die Blüten mit den Fingerspitzen berührte. Annabel lächelte und sah in den blauen Himmel hinauf. „Ich glaube, sie ist immer bei uns, egal wo sie gerade ist.“

Michael trat aus dem Haus, ein Lächeln auf den Lippen und einen Stapel Zeichnungen in der Hand. Es waren Pläne für das Haus und den Garten – kleine, aber bedeutsame Veränderungen, die zeigen sollten, dass die Familie Banks bereit war, weiterzugehen.

„Es gibt so viel, worauf wir uns freuen können“, sagte er, während er sich zu den Kindern setzte. „Und so viel, das wir aus der Zeit mit ihr gelernt haben.“

Der Wind wehte sanft durch die Straße, spielte mit den Blättern und flüsterte wie eine vertraute Melodie. Annabel und Georgie wussten, dass sie diese Melodie für den Rest ihres Lebens hören würden. Es war das Lied der Hoffnung, der Magie und der Veränderung, das Mary Poppins ihnen hinterlassen hatte.

„Weißt du“, sagte Annabel leise, „ich glaube, der Wind trägt immer ein bisschen von ihr mit sich.“

Georgie nickte. „Und vielleicht auch ein bisschen von uns.“ Die Cherry Tree Lane war wieder die Straße, die sie immer gewesen war – ein Ort voller Geschichten, Erinnerungen und Verbindungen. Doch für Annabel, Georgie und Michael hatte sie sich für immer verändert. Und während die Familie aufstand, um in einen neuen Tag zu starten, wusste jeder von ihnen, dass die Magie, die Mary Poppins mitgebracht hatte, niemals wirklich verschwunden war. Sie lebte in ihren Herzen weiter, in jedem neuen Abenteuer, in jedem Moment, in dem sie den Mut fanden, die Welt mit offenen Augen zu sehen. Denn manchmal, so flüsterte der Wind, liegt die wahre Magie nicht in einem Abschied – sondern in jedem neuen Anfang.

Nachwort:

Die Geschichte der Cherry Tree Lane mag an ihr Ende gekommen sein, doch wie jeder gute Wind trägt sie Spuren davon weiter in die Welt hinaus. Mary Poppins, mit ihrem Schirm und ihrem unerschütterlichen Blick, hinterließ keine leeren Räume – sie hinterließ Veränderung. Eine Familie, die wieder zueinandergefunden hat, Kinder, die mutiger und stärker geworden sind, und ein Zuhause, das nun heller und voller Leben ist. Veränderung ist nicht immer leicht. Sie kann still beginnen, wie ein Flüstern im Wind, oder sie kann wie ein Sturm durch unser Leben fegen. Doch sie führt uns stets vorwärts, wenn wir bereit sind, uns ihr zu stellen. So wie Annabel und Georgie, die gelernt haben, dass Magie nicht nur in wundersamen Ereignissen steckt, sondern in den Entscheidungen, die wir jeden Tag treffen. Die Kirschbäume der Cherry Tree Lane stehen nun als stille Zeugen dieser Veränderung. Ihre Wurzeln sind tief, und ihre Äste strecken sich in den Himmel, als wollten sie die unendlichen Möglichkeiten greifen, die vor ihnen liegen. Vielleicht hören wir eines Tages wieder von Mary Poppins, wenn der Wind sich dreht und sie an einen anderen Ort trägt, wo sie gebraucht wird. Doch bis dahin bleibt ihre Melodie bei uns – eine Erinnerung daran, dass die größten Abenteuer oft in den einfachsten Momenten beginnen. Und so endet diese Geschichte, wie jede gute Geschichte: nicht mit einem endgültigen Schluss, sondern mit einem offenen Horizont und dem Versprechen, dass die Reise immer weitergeht.

Das Ende – und der Anfang


© Jennifer Kall


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Beschreibung des Autors zu "Die Rückkehr von Mary Poppins"

Jahrzehnte sind vergangen, seit Mary Poppins zum letzten Mal in der Cherry Tree Lane auftauchte. Doch als der Wind sich erneut dreht und die Familie Banks von Sorgen und Chaos geplagt wird, kehrt sie zurück – diesmal, um die nächste Generation zu retten. Mit ihrem unerschütterlichen Charme, ihrer rätselhaften Magie und ihren unvergesslichen Lektionen zeigt Mary den Banks-Kindern und ihren Eltern, wie man das Außergewöhnliche im Alltäglichen erkennt.

In einer Welt voller Veränderungen und Herausforderungen erinnert uns Mary Poppins daran, dass mit ein wenig Fantasie und Vertrauen selbst die größten Probleme überwunden werden können. Ein herzerwärmendes Abenteuer über Familie, Hoffnung und die Kraft, die in uns allen steckt.

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Kommentare zu "Die Rückkehr von Mary Poppins"

Re: Die Rückkehr von Mary Poppins

Autor: Corey Gould   Datum: 29.01.2025 14:57 Uhr

Kommentar: Ein sehr schöner Text.

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