Die Spiegelwelt

Meine Eltern haben schon lange das Zeitliche gesegnet.

Beide kamen bei einem schrecklichen Flugzeugabsturz ums Leben, als ich gerade mal fünf Jahre alt war. Erst als ich älter wurde und langsam zu einem junger Mann heranwuchs, wurde mir nach und nach das ganze Ausmaß des tragischen Unglücks bewusst, welches meinen Eltern auf dem Flug nach New York damals zugestoßen war. Die Maschine war wie ein Stein ins Meer gestürzt und ihre Leichen wurden nie gefunden.

Damals wusste ich noch nicht, was es heißt, ein Waisenkind zu sein.

Weil es sonst keine anderen Verwandten gab, kam ich schließlich zu meiner einzigen Tante, die sehr wohlhabend war, aber keinen Mann hatte. Sie war so etwas wie die ewige Jungfrau geblieben.

Ab der Zeit verbrachte ich meine gesamte Kind- und Jugendzeit bei ihr, bis auch sie altersschwach wurde und schließlich starb. Mittlerweile war ich zu einem Mann geworden, der nicht nur ein schönes Anwesen, sondern auch ein ziemlich großes Vermögen sein eigen nennen konnte. Erben bringt eben Glück. Das Leben hatte es auf jeden Fall gut mit mir gemeint, trotz aller Schicksalsschläge, die ich schon als Kind erleben musste.

Ich verließ das Landhaus meiner Tante und vagabundierte als Junggeselle viele Jahre in der Weltgeschichte herum.

Aus diesem Grunde konnte ich mich nur wenig um das große Grundstück und die zurück gebliebene Immobilie kümmern. Deshalb angagierte ich extra einen Hausmeister, der James hieß, der sich um alles kümmern sollte.

Doch irgendwann wollte ich mal wieder das Landhaus meiner verstorbenen Tante einen Besuch abstatten, wo ich die meiste Zeit meines früheren Lebens verbracht hatte, um dort einige ruhige Tage zu verbringen, die ich auch dringend nötig hatte bei meinen ständigen Weltreisen.

Es kam der Tag, da stand ich endlich erwartungsvoll vor der rustikalen Eichentür des stilvoll gebauten Landhauses, die sich am Ende einer breiten Marmortreppe befand.

Ich wurde von meinem Hausmeister James empfangen. Als er mich sah, begrüße er mich überaus freundlich, führte mich schnurstracks in die weitläufige Empfangshalle und hielt mir plötzlich und unerwartet etwas aufgeregt einen klobigen Eisenschlüssel vors Gesicht. Ich war überrascht und fragte ihn danach, warum er es so eilig damit habe, mir diesen Schlüssel zu übergeben.

„Mr. Rosenberg“, sagte er zu mir mit ernster Mine, „wussten Sie eigentlich, dass ihre verstorbene Tante offenbar einen Freund hatte, der im alten Gesindehaus lebte und als Magier in einem Zirkus arbeitete? Doch ganz plötzlich, von einem Tag auf den anderen, war er verschwunden und ist seit der Zeit nicht mehr aufgetaucht. Keiner weiß, was mit ihm passiert ist. Da ich mich als Hausmeister ja auch ums Gesindehaus kümmern musste, ging ich dort hin. Mit dem Schlüssel hier öffnete ich die Tür und ging ins Haus. Als ich mich darin umsah, stand ich plötzlich vor einem mannshohen Spiegel, der irgendwie unheimlich aussah. Es ist kein normaler Spiegel, wie alle anderen, Mr. Rosenberg, das kann ich Ihnen sagen. Durch Zufall habe ich nämlich heraus gefunden, als ich ihn mal putzen wollte, dass man darin rein- und wieder rausgehen kann. Auf der anderen Seite entstehen Welten, die man sich vorher nur ganz intensiv vorstellen muss, damit sie real werden können. Ich konnte es zuerst nicht fassen und habe es später mehrmals hintereinander selbst ausprobiert. Ich weiß nicht, was das für ein Ding ist, aber es muss von diesem Magier aus dem Zirkus sein. Vielleicht ist er sogar selbst da rein gegangen, weil er damals ganz plötzlich verschwunden ist. Seitdem ist er nie wieder aufgetaucht. Kann sein, dass er jetzt in einer Welt lebt, die ihm besser gefällt, als diese hier.“

Ich grübelte etwas, schaute James dann argwöhnisch an und antwortete ihm mit gedämpfter Stimme:

"Ich kann es einfach nicht glauben, was du mir da erzählt hast, James. Ein Spiegel, der Menschen in eine andere Welt bringen kann? Klingt ziemlich unglaublich für mich. Du hast doch etwa nichts getrunken – oder? Außerdem wusste ich wirklich nicht, dass meine Tante einen Freund im Gesindehaus wohnen ließ. Ich bin da nie hingegangen, weder als Kind noch als junger Mann und habe mich auch nie darum gekümmert, wer da lebte. Was soll der Kerl gewesen sein, ein Magier aus dem Zirkus? Naja, wie auch immer, James. Wir beide werden morgen ins Gesindehaus gehen und nach dem Spiegel schauen, der da stehen soll. Ich hoffe für dich, dass deine Geschichte wahr ist, so fantastisch sie auch für mich im Moment klingen mag. Nun, du solltest jetzt erst mal Feierabend machen. Ich werde noch runter in die Stadt fahren, um einige Bankgeschäfte zu erledigen. Dann kehre ich zurück und werden mich schlafen legen. Die Reise hier hin war anstrengend genug und jetzt auch noch diese verrückte Geschichte mit dem Spiegel, die mir wirklich mehr als seltsam vorkommt. Aber wir werden morgen sehen, was dran ist.“

James verbeugte sich höflich und gab mir noch vorsichtshalber seine Telefonnummer, damit ich ihn anrufen könne, falls ich ihn bräuchte. Dann verabschiedete er sich und ging.


***


Am nächsten Tag war James wie vereinbart pünktlich zur Stelle, und wir beide standen schon bald vor dem Gesindehaus. Es war ein altes Haus, das überall mit dunkelgrünem Efeu an den Wänden rundherum bewachsen war. Die Fenster waren offenbar schon lange nicht mehr geputzt worden und mit einer dünnen Staubschicht überzogen. Ich schaute darüber hinweg und konzentrierte mich auf James, der jetzt den Schlüssel aus seiner Jackentasche nahm und ihn ins Schloß steckte, das sich komischerweise sehr leicht aufsperren ließ, worüber ich mich wunderte, denn es knirschte nicht einmal, obwohl es von einer Schicht dunkelbraunem Rost überzogen war. James ging vorraus und ich hinter ihm her.

Dann standen wir auf einmal vor dem Spiegel, der wirklich sehr groß und imposant aussah. Irgendwie kam er mir tatsächlich unheimlich vor, was ich mir aber nicht anmerken ließ.

„Da ist er, Mr. Rosenberg! Das ist der Spiegel, von dem ich ihnen gestern erzählt habe. Stellen Sie sich einfach vor ihn und gehen Sie langsam durch ihn hindurch. Sie werden auf der anderen Seite schon sehen, wozu er fähig ist. Sie müssen sich vorher nur eine klare Vorstellung von dem machen, was ihnen besonders gut gefällt, z. B. eine schöne, futuristische Welt oder eine versteckte Hütte in einem Märchenwald. Sie werden sehen, dass der Spiegel alles Wirklichkeit werden lässt, wenn Sie nur daran denken. - Aber wenn Sie nicht wollen oder Angst vor dem ersten Versuch haben, werde ich vorausgehen, damit Sie sehen können, dass ich nicht gelogen habe. Es wir Ihnen auch nichts passieren.“


***


James stand jetzt direkt vor dem Spiegel und schaute gebannt auf sein Spiegelbild. Er streckte vorsichtig seine rechte Hand aus und tippte mit dem Zeigefingen auf den Oberfläche des Glases, das plötzlich leichte Wellen schlug, ähnlich wie es ein Stein, der ins Wasser fällt.

„Sehen Sie, was ich gerade sehe, Mr. Rosenberg? Der Zeigefinger ist vorne nicht mehr zu sehen. Ich werde jetzt ganz in den Spiegel treten, durch ihn hindurch gehen und auf der anderen Seite auf Sie warten.“

Und tatsächlich! Ich konnte sehen, wie James im Spiegel verschwand. Mir stockte der Atem. Ein Angstschauer lief mir über den Rücken, weil ich nicht wusste, wie das möglich sein konnte, dass jemand in einem Spiegel verschwinden kann.

Ich riß mich aber gleich wieder zusammen.

„Fantastisch! Das ist eigentlich gegen alle Physik, aber doch real“, rief ich James hinterher, tat im nächsten Moment das Gleiche wie er und stand auf einmal auf der anderen Seite neben ihm.

„Was habe ich Ihnen gesagt, Mr. Rosenberg? Ich konnte es zuerst auch nicht glauben, bis ich es selbst ausprobiert habe. Der Spielgel hier ist offenbar so etwas wie ein Transmitter oder ähnliches, den der Magier wohl bewusst zurück gelassen hat, als er in seine eigene Wunschwelt gegangen ist. Seitdem ist er verschwunden und wird bestimmt nie wieder daraus zurückkehren. Tja, wie dieses Ding genau funktioniert, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass es funktionert. Sie haben es ja selbst am eigenen Körper erlebt. Übrigens steht jeder von uns in seiner eigenen Welt. Sie in Ihrer und ich in meiner. Beide sind voneinander getrennt und keiner kann in die Welt des anderen, es sei denn, wir hatten vorher die gleichen Vorstellungen, Mr. Rosenberg. Wir können uns zwar hören und verstehen, aber das war's dann auch schon. Je weiter wir uns vom Spiegel entfernen, desto weiter gelangen wir in unsere eigene Welt, die so real ist, wie die, aus der wir kommen. Ob man wieder zurück kann? Mmh, das hängt wohl davon ab, ob jeder für sich den genauen Ort des Spiegels wieder findet. Wenn nicht, dann muss er für immer in seiner neuen Welt bleiben, Mr. Rosenberg.“

„Das ist ja richtig interessant. Ich bin begeistert, James. Sie wisssen doch, dass ich mich schon mal eine zeitlang als Science Fiction Autor betätigt habe. Ich werde mir eine füturistische Geschichte mit Bild raussuchen, von der ich weiß, das sie in der Zukunft spielt. Ich werde mir das Bild genau anschauen und den Spiegel noch einmal betreten. Wenn du willst, nehme ich dich mit, James. Ich gebe dir eine Kopie von meiner Geschichte, auf deren Vorderseite sich das Bild von einer wunderschönen Stadt der Zukunft befindet, wo wir dann gemeinsam hingehen können. Was ist, James? Kommst du mit oder nicht?“

„Danke für Ihr Angebot, Mr. Rosenberg. Aber ich bleibe lieber hier in dieser Welt. Sie wissen doch, dass ich eine Frau und drei Kinder habe, die ich nicht einfach so alleine lassen kann. Gehen Sie ruhig in ihre Welt! Ich werde schon auf ihr Anwesen aufpassen und ihr Vermögen ehrlich verwalten. Sollten Sie irgendwann einmal zurück kommen, steht Ihnen alles wieder zur Verfügung, wie früher.“

„Eine gute Idee, James, die ich nur begrüßen kann. Du warst schon immer eine vertrauensvolle Person. Ich werde jetzt den Spiegel wieder verlassen und meine Science Fiction Geschichte holen, mir das Bild anschauen und den Spiegel erneut betreten. Es kann sein, dass wir uns vielleicht nie wiedersehen, falls ich mich in der neuen Welt wohlfühlen sollte, James. Von mir aus kannst du mit deiner ganzen Familie in mein Landhaus ziehen. Und wenn ich nicht wiederkommen sollte, dann behalten es einfach, für dich und deine Familie. Dann bist du für alle Zeit finanziell gut abgesichert und versorgt.“

„Das ist sehr großzügig von Ihnen, Mr. Rosenberg. Ich wünsche Ihnen viel Glück, ein langes und gutes Leben in ihrer neuen Welt. Ich werde Sie nie vergessen“, antwortete mir James noch, als wir beide das alte Gesindehaus in verschiedenen Richtungen verließen. Ich meinte, Tränen in seinen Augen gesehen zu haben.


***

Man schreibt das Jahr 3024.

Es ist ein schöner Dienstagmorgen und die Sonne scheint von einem tiefblauen Himmel herab. Einige weiße Wolken ziehen vorbei, die wie filigrane Wattebäuschen aussehen.

Entspannt und gut ausgeschlafen verlässt Mr. Rosenberg sein hypermodernes Haus und läuft los, immer in Richtung der Station für Leihfahrräder. Es erscheint ihm immer noch ziemlich surreal, dass er in einer futurischen Großstadt lebt, die mitten in einer gewaltigen Grünanlage hineingebaut worden ist und mit großen, rauschenden Wäldern, grünen Parks und künstlich angelegten Wasserfällen ausgestattet ist, die in Seen münden, auf denen zahlreiche kleine Segelschiffchen herum segeln.

Überall rascheln bunte Sträucher und flattern Singvögel durch die Luft. Bienen summen herum und in den weiten Parks plätschern quirlige Bäche. Die Luft ist sauerstoffreich und angenehm warm. Es duftet nach Blumen und im Vorbeigehen flückt sich Mr. Rosenberg einen knallroten Apfel von einem Obstbaum, die hier in großer Zahl direkt neben dem Weg zur Station stehen.

Er sieht, wie eine ältere Frau Tomaten erntet und in einen schwebenden Korb legt. Ein kleiner Junge steht neben ihr und knabbert genüßlich an einer Karotte herum. Als die beiden ihn sehen, winken sie ihm freundlich zu. Mr. Rosenberg winkt lächelnd zurück.

Endlich kommt er an der Station für Leihfahrräder an und sucht dort nach einem geeigneten ein Rad. Leider sind die normalen Räder schon alle weg und Mr. Rosenberg schnappt sich ein e-Bike. Aber egal, denkt er. Diese Stadt gehört zu den Green Citys, die alle komplett über Solar- und Windenergie verfügen, aber auch einen großen Teil ihres Stromes von Wasserkraftwerken beziehen.

Mr. Rosenberg schwingt sich auf den Sattel und biegt schon kurze Zeit später auf die Schnellstraße ein. Ein junger Mann im schnittigen Radleranzug überholt ihn zügig und fährt ihm davon.

Schon nach wenigen Kilomentern kommt Mr. Rosenberg im Stadtzentrum an. Die futuristisch anmutende Innenstadt ist wunderschön und viele kleine Gebäude sind sogar aus Holz gebaut, die aussehen wie Ufos.

Überall wachsen die unterschiedlichsten Pflanzen, auch an den Fassaden der Gebäude. Vögel fliegen herum und bauen ihre Nester manchmal direkt in der Nähe der breiten Straßen auf den eigens dafür angelegten Nistplätzen.

Überall urbane Natur, wohin man schaut. E-Autos in allen nur denkbaren Formen und Größen fahren leise surrend dahin, die von einem zentralen Verkehrscomputer gesteuert werden.

Für Mr. Rosenberg ist das die Welt, von der er schon immer träumte. Es ist eine Welt, wie er sie in seinen Science Fiction Geschichten so detailreich und liebevoll beschrieben hat.

Manchmal steht Mr. Rosenberg in Gedanken einfach so da und kann es immer noch nicht glauben, hier zu sein. In seiner neuen Welt riecht die Luft nach reinem Sauerstoff und jeder Mensch, der ihm auf seinen Weg begegnet, sieht gesund und vital aus. Wenn sie ihn sehen, grüßen sie freundlich und lachen ihn an.

Eine wunderschöne und friedliche Welt, in der es noch viel zu entdecken gibt, denkt sich Mr. Rosenberg, stellt sein Radel ab und geht in ein kleines Kaffee, wo er sich von einem Androiden, der wie ein echter Mensch aussieht, bedienen lässt.

ENDE

(c)Heiwahoe


© Heiwahoe


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