AZRAEL - Der Schatten des Todes

Ich bin Azrael, der Todesengel. Ich bin der Engel der Finsternis und kehre alles Licht ins Dunkel um. Mein weiter Umhang ist so schwarz wie das Universum, bevor es die Sterne sah. Meine Gedanken wandern von Geist zu Geist, von Seele zu Seele. Ich bin der Sammler der Seelen, ernte sie überall im Universum. Ich bin der Herbst der Schöpfung und das Zwielicht in Raum und Zeit.



Ich bin Azrael, der Engel des Todes und der Rache. Nie sah mich ein Mensch in meiner wahren Gestalt, es sei denn, ich kam, um ihm sein Leben zu nehmen oder seine Seele zu geleiten an den Ort, wo sie ihre Ruhe findet.



Die Menschen fürchten den Tod. Und diese Furcht übertragen sie nun auf mich.



Ich bin Azrael, der Engel des Todes und der Rache...





***





Es regnete in Strömen. Ein heftiger Wind peitschte durch die leeren Straßen der Kleinstadt, die wie ausgestorben da lag.



„Nein..., nein..., nein! Geh’ weg von mir! Lass mich los!“ sagte eine langsam erstickende Stimme, die von einer jungen Frau kam.



Rachel Blair war starr vor Entsetzen. Dicke Regentropfen klatschten ihr ins Gesicht. Sie wollte ihre schreckliche Angst in die von düsteren Regenschleiern verhangene Nacht hinausschreien, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt. Trotzdem versuchte sie es. Doch der Schrei blieb ihr im Hals stecken. Sie konnte nicht einen einzigen Laut von sich geben. Sie hatte das Gefühl, jemand hielt ihr den Mund zu.



Ihre Angst steigerte sich noch, als sie merkte, dass sie offenbar jemand festhielt. Oder war es nur der heftige Wind, der an ihrem völlig durchnässten Mantel zerrte? Sie konnte es im Moment selbst nicht sagen.



Hastig und mit vom Schrecken weit aufgerissenen Augen sah sie nach allen Seiten. Sie konnte aber niemanden sehen. Wer oder was hatte sie da nur ergriffen? Wieder starrte sie in die Dunkelheit, doch da war nichts.



Die junge Frau riss sich jetzt zusammen, unterdrückte ihre wachsende Furcht mit aller Gewalt, versuchte auf dem schmalen Gehsteig langsam weiter zu gehen und überlegte sich verzweifelt, wie sie sich auf andere Art und Weise bemerkbar machen könnte. Doch im Moment schien jeder Gedanke daran sinnlos zu sein, denn ihr Bewusstsein wurde immer stärker von einer schier grenzenlosen Angst überwuchert, die jeden Schrei und fast jeden Bewegungswillen unterdrückte.



Die einsam daliegende Straße war nur schlecht beleuchtet. Sie lag außerdem etwas abseits und noch dazu weit draußen am ruhigen Stadtrand. Hier fuhren nur wenige Autos vorbei und weit und breit war keine weitere Menschenseele zu sehen. Die Leute hielten sich bei diesem äußerst schlechten Wetter sowieso in ihren Wohnungen auf, sahen vielleicht noch Fernsehen oder schliefen bereits in ihren gemütlichen Betten.



Rachel Blair dachte daran, dass alles allein ihre Schuld gewesen war und beschimpfte sich innerlich selbst. Warum musste sie auch ausgerechnet mit ihrem alten Wagen eine Spritztour in die Berge unternehmen und warum hatte sie nicht auf den aktuellen Wetterbericht gehört? Auf dem Rückweg kam sie schließlich in diesen sintflutartigen Dauerregen, der bald jede Straße unter Wasser setzte. Dann gab es irgendwo einen Kurzschluss unter der Blechhaube ihres Oldtimers und der Motor starb von einer Sekunde auf die andere einfach ab. Trotz aller Bemühungen ihrerseits sprang der Vierzylinder nicht mehr an. Durch die unzähligen Startversuche entlud sich die Batterie immer mehr und am Ende fiel auch noch die gesamte Stromversorgung aus.



Schließlich entschloss sie sich dazu, den Rest des Weges bis zur nahgelegenen Kleinstadt, obwohl es immer noch sehr stark regnete, zu Fuß weiterzugehen, um Hilfe zu holen. Schon auf der einsamen Landstraße glaubte sie sich von etwas verfolgt, konnte aber nicht genau sagen, was es war. Als sie den Stadtrand erreicht hatte, wähnte sie sich endlich in Sicherheit. Aber das war ein Trugschluss, wie sich später herausstellte. Rachel hatte bisweilen den seltsamen Eindruck, in eine andere Welt hinein versetzt worden zu sein aus der es für sie offenbar im Augenblick kein Entrinnen gab.



Da! Etwas raschelte verdächtig im Gebüsch gleich neben ihr.



Wieder hatte die junge Frau das komische Gefühl, als würde sie von etwas nicht näher definierbaren heimlich beobachtet, verfolgt und mit jedem weiteren Schritt, den sie tat, schien dieses ominöse Etwas näher zukommen.



Plötzlich spürte sie wieder eine Berührung. Rachel Blair öffnete den Mund zu einem Schrei, aber anscheinend wollte jemand nicht, dass sie ihrer Angst eine Form verlieh. Sie spürte das genau.



Ihr Herz fing an zu rasen. Das Blut rauschte wie wild in ihren Ohren. Ihr Verstand hatte große Mühe, nicht vor der eigenen Angst zu kapitulieren, sonst würde sie im nächsten Augenblick sicherlich durchdrehen und verrückt werden.



Dann sah sie auf einmal nur noch rote Flecken, die vor ihren geschlossenen Augen herumtanzten. Je länger sie allerdings die Augen zu hielt, desto mehr kroch ihr die Angst unter die Haut, eine Angst, gegen die sie nicht ankam. Ja, die kurz davor war, ihr unerbittlich das Leben aus den Adern zu saugen.



***



Der Schatten des Todes fuhr auf das Wesen herunter und hüllte es vollkommen ein. Zu seiner vollsten Zufriedenheit war es warm und lebendig. Es war einfach wunderbar, dass die abgrundtiefe Angst dieser zweibeinigen, aufrecht gehenden Kreatur sofort und in steigendem Maße vorhanden war. Er spürte, dass der Lebenswille dieser Person begann, sich zu regen. Ihr Überlebenswille war enorm stark ausgeprägt.



Azrael konnte für dieses schwächliche Wesen trotzdem nur grimmige Verachtung empfinden. In ihm kam auf einmal eine große Freude auf, dass allein nur seine bloße Anwesenheit Angst und Panik dieser primitiven Kreatur zu steigern schien. Er versuchte daher mit aller Konzentration, das Gefühl des Schreckens in ihr zu steigern. Dadurch entstanden jene Kräfte, die er selbst brauchte, um immer stärker zu werden. Es schien, als würden sie sich jetzt in dem Wesen unter ihm schlagartig potenzieren. Und genau das war seine Absicht, denn nur so bekam er die meiste Nahrung.



Deshalb verstärkte er seine Präsenz noch um eine weitere Stufe, wickelte sich dichter um diese ängstliche junge Frau, die doch so zerbrechlich war. Ganz vorsichtige schlang er sich wie eine unsichtbare Schlange um ihren weiblichen Körper, der vor Angst wie Espenlaub zitterte.



Azrael musste vorsichtig sein. Er hatte nicht vor, dieses Wesen zu zerstören, dann wäre es keine Nahrung mehr für ihn gewesen. Als er kurz darauf bemerkte, dass sich das Opfer in ihm tatsächlich wehrte, stieg seine Zufriedenheit ins Unermessliche.



Ah, tat das gut! Er genoss diese schreckliche Angst, die für ihn pure Nahrung war.



Je stärker er wurde, desto mächtiger und größer wurde die Furcht in diesem Wesen, von dem er wusste, das es sich Mensch nannte.



Wieder trieb er mit allergrößter Sorgfalt und Vorsicht die Spirale des Schreckens voran. Diesmal schien es noch besser zu klappen als mit seinem letzten Opfer.



Der alte Mann war einfach gestorben und hatte Azrael damit tief enttäuscht. Hungrig musste er den toten Körper zurücklassen, aber diesmal musste es einfach anders sein. Er hatte aus seinen zurückliegenden Fehlern gelernt.



Schon bald spürte er, dass er recht behalten sollte. Die Behutsamkeit hatte sich wirklich gelohnt. Die Angst des unschuldigen Opfers reichte jetzt, um ihn wirklich zu stärken. Der Schatten des Todes war begeistert. Zum ersten Mal war es ihm gelungen, ein menschliches Wesen am Leben zu erhalten, obwohl es von einer übermächtigen Furcht heimgesucht wurde.



Azrael musste sich beherrschen. Er durfte der jungen Frau nicht zu viel von der herrlichen Kraft ihrer steigenden Angst abziehen – jedenfalls nicht so viel, dass das Opfer zusammenbrach oder sterben würde. Das wäre nämlich mehr als ärgerlich, denn dann musste er mit der Suche wieder von vorn beginnen, weil er nicht absehen konnte, wie lange er wach bleiben und gegen den herrschenden Geist, den er auch jetzt als leichte Kraft am Rand seines Bewusstseins spürte, würde ankämpfen können. Er musste also sehr, sehr vorsichtig mit diesem Wesen umgehen. Die Zeit, die ihm noch blieb, wollte genutzt werden.



Plötzlich spürte er, dass sich in der bebenden Brust seines Opfers die Angst wie ein Klumpen Blei zusammenballte und zu einem verzweifelten Schrei das Innere des Körpers abermals verlassen wollte. Deshalb versuchte Azrael, schon beinahe zärtlich, der jungen Frau die Luft zum Atmen zu nehmen, zwar für wenige Sekunden nur, aber dennoch sehr konsequent, damit der Schrei, den sie tun wollte, nicht nach außen dringen konnte.



Sanft und leise legte er sich über den offenen Mund des weiblichen Menschen und drückte ihn Stück für Stück zu. Nicht, dass es aufhörte zu atmen, nicht, dass sein Lebenswille besiegt wurde! Nein, das durfte ihm auf gar keinen Fall passieren!



Noch konnten sie beide daraus schöpfen. Doch weder er noch sein Opfer durften Aufmerksamkeit erregen. Seine Nahrungsaufnahme durfte nicht gestört werden. Der Schrei dieser erbärmlichen Kreatur durfte daher den Körper unter gar keinen Umständen verlassen. Er durfte sich nicht Bahn brechen und nach außen dringen, sonst wäre seine Nahrung, die ihn am Leben erhielt, verloren.



Dieses Opfer unter ihm hatte anscheinend mehr Potenzial, als er sich das in seinen kühnsten Visionen vorstellen konnte. Es wehrte sich noch immer, was Azreal grenzenlos entzückte. So was kam wirklich nicht oft vor.



Der Überlebenswille dieser primitiven Lebensform war einfach erstaunlich und sehr animalisch ausgeprägt. Die Kraft aus der vorhandenen Angst seines Opfers war noch lange nicht ausgeschöpft. Vielleicht würde er auch noch in Zukunft von diesem Wesen zehren können, was ein großer Vorteil für ihn wäre. Offenbar konnte die Kreatur mit der Angst gut leben. Wenn er behutsam vorging, würde sie ihm noch lange dienen können – und das nicht nur heute.



***



Rachel Blair wehrte sich mit aller Kraft gegen das kaum greifbare und formlose Dunkel, das sie lückenlos umgab. Rein mechanisch waren ihre Abwehrbewegungen, wenn sie denn überhaupt zustande kamen. Anfangs war sie der Meinung gewesen, von irgendeinem Straßenräuber verfolgt zu werden, der sie gepackt und geschubst hatte. Doch das stellte sich als Irrtum heraus. Einen Straßenräuber kann man sehen, aber dieses unheimliche Etwas war unsichtbar und trotzdem real gegenwärtig.



Dennoch versuchte sie, gegen das besitzergreifende, würgende lichtlose Nichts anzugehen, das ihr die Luft zum Atmen nahm und sie daran hinderte, ganz bestimmte, vom eigenen Willen ausgehende Körperbewegungen zu machen. Wut kam jetzt in ihr hoch. Die junge Frau versuchte sich deshalb zu beruhigen, um nicht außer Kontrolle zu raten.



Plötzlich dachte sie an ihre unbeschwerte Jugendzeit und wie sie als junges Mädchen ihre erste große Liebe kennen lernte. Sie musste bei dem Gedanken lächeln, als sie ihm gesagt hatte, sie ginge allein nach Hause und ihm dabei flüchtig auf den Mund küsste. Sein enttäuschtes Gesicht würde sie nie vergessen. Immerhin war der junge Mann ein paar Jahre älter als sie gewesen. Er war ein richtiger Charmeur und sie wusste damals schon, was er in Wirklichkeit von ihr wollte. Es geschah dennoch, nur ein halbes Jahr später. Wieder huschte ein sanftes Lächeln über ihr angstverzerrtes Gesicht.

Einen Moment lang spürte sie, dass die erstickende Dunkelheit ein wenig nachzulassen schien. Sie nutzte diese Gelegenheit, um tief Luft zu holen und kämpfte gegen den dichten, spürbar präsenten Schatten an. Doch kaum war sie sich ihrer schrecklichen Lage bewusst, erholte sich auch die Finsternis wieder und wurde noch ein wenig dichter als zuvor.



Rachel Blair war wie benommen. Erneut glaubte sie, ersticken zu müssen, und doch, keuchend wenigstens um eine bisschen Atemluft ringend, gab sie nicht auf.



Auf einmal machte sich Panik in ihr breit. Wieder wollte sie schreien. Aber auch diesmal blieb er ihr in der trockenen Kehle stecken. Die sie umgebende Finsternis dagegen kam noch ein Stück näher. Ganz sanft, doch unerbittlich und gnadenlos schnürte sie der jungen Frau die Kehle immer mehr ein, sodass der alles befreiende Schrei in ihr blieb.



In ihrer grenzenlosen Verzweifelung versuchte sie, ihrem unbekannten Peiniger Fragen zu stellen.



„Wer bist du? Was willst du von mir?“ fragte sie mit gepresster Stimme, die heiser und krächzend über ihre bebenden Lippen kam. Sie wusste eigentlich nicht, mit wem sie eigentlich sprach. Sie tat es dennoch.



Das Blut rauschte ihr wegen des Sauerstoffmangels in den Ohren. Sie konnte kaum ihre eigenen Worte hören. Jeder Versuch, das Dunkel um sie herum zu fassen oder sich dagegen zu wehren, lief ins Leere.



Das Sprechen kostete ihr unendlich viel Kraft. Beinahe wäre sie ohnmächtig geworden, als sie erneut mit dem Unbekannte redete.



„Was habe ich dir getan? Willst du mich töten? Ist es das, was du willst? Du wirst meine Seele niemals bekommen! Ich gehöre nicht dir. Und wenn du mich wirklich schon sterben lassen willst, dann warte nicht länger damit, du Scheusal!“



Plötzlich hörte Rachel Blair ein leises Flüstern, das in ihr Ohr drang wie ein schwacher Windhauch.



„Ich will dich nicht töten. Ich will nur deine Angst haben. Wer Angst vor dem Tod hat, will leben. Du hast einen großen Lebenswillen. Er wird mich für meine Aufgabe stärken. Ich kann nicht genug davon bekommen. Ich lebe von der Angst des Menschen. Deshalb habe ich gar nicht vor, dich sterben zu lassen. Jedenfalls nicht im Moment. Du sollst leben und mich nähren. Mehr nicht! Mein Hunger nach Angst ist grenzenlos. Ich bin noch lange nicht satt.“



Das Flüstern in ihrem Ohr verschwand so schnell, wie es gekommen war. Rachel Blair konnte es nicht glauben. Hatte sie mit einem unsichtbaren Schatten gesprochen, gar mit einem Geist geredet oder verfiel sie langsam dem Wahnsinn? Trotzdem stieg Wut in ihr hoch. Wie konnte dieser Jemand oder dieses Etwas es wagen, sie zu benutzen und zu quälen?



Diese aufsteigende Wut verlieh ihr plötzlich Kraft, doch der Schatten des Todes schien diese Kraft zu spüren. Wieder schnürte er ihr die Kehle zu, wodurch er erreichte, dass sie ihre Wut vergaß und sich auf das überlebenswichtige Luftholen konzentrieren musste.



Der jungen Frau taten die Lungen weh, als sie verzweifelt nach Luft rang. Sie bekam einfach zu wenig Sauerstoff und wäre um ein Haar in Ohnmacht gefallen. Sofort ließ der Druck auf ihren Hals wieder nach.



In ihrem Kopf lachte es leise.



„Gut gemacht! So es richtig. Mehr will ich gar nicht von dir. Warte noch ein Weilchen! Du hast mir noch nicht genug von deiner Angst gegeben. Und versuche erst gar nicht, zu entkommen. ICH bin stärker als du!“



Rachel Blair wollte aufstöhnen. Aber sie schaffte es nicht. Ungewollt liefen ihr ein paar Tränen übers Gesicht, als ihr bewusst wurde, dass sie dieser wolkigen, schattenhaften Dunkelheit hilflos ausgeliefert war. Im gleichen Augenblick machte sich Hoffnungslosigkeit in ihr breit. Sie würde bestimmt sterben. Heute, gleich hier am Rande der Kleinstadt und mitten im Regen auf einer menschenleeren Straße. Niemand würde ihren Tod bemerken. Sie war ganz allein auf weiter Flur.



„Nein!“, durchfuhr es sie auf einmal. Woher nahm sie nur diese Kraft? Rachel Blair wollte nicht sterben. Sie hang zu sehr am Leben, auch wenn sie eine Hure mit schmutziger Vergangenheit war.



„Nein, verdammt noch mal! Meine Zeit ist noch nicht gekommen. Mein Leben gehört mir! Verschwinde, wer immer du auch bist!“ kam es leise und mit gepresster Stimme über ihre blutleeren Lippen. Die Sekunden, in denen sich Rachel Blair gegen den Schatten des Todes wehrte, wurden zur Ewigkeit.



Doch dann änderte sich etwas.



Ganz plötzlich hatte sie den komischen Eindruck, dass wieder ein wenig Kraft in ihre schwammig gewordenen Glieder zurückkehrte. Die dichte, beinahe greifbare Finsternis, die sie umgab, schien tatsächlich etwas nachzulassen.



„Ich werde dich jetzt verlassen. Aber ich komme irgendwann wieder. Dein Lebenswille ist stärker als deine Angst. Noch...“, sagte eine sanfte Stimme in ihrem Kopf. „Ich will nicht, dass du stirbst. Aber sei auf der Hut! Noch bin ich mit dir nicht fertig.“



Noch einmal spürte sie, dass die Dunkelheit wieder dichter wurde, und der Druck auf ihre Kehle zunahm, gerade so, als erging eine drohende Warnung an sie. Erneut stieg Angst und Beklemmung in ihr auf. Das unbekannte Wesen wollte offenbar damit zeigen, dass sie ihr Leben ausschließlich seiner Gnade verdankte und dass sie noch einmal davon gekommen war..., jedenfalls vorerst.



Ganz plötzlich verschwand der Schatten des Todes. Es wurde langsam hell draußen und der Regen ließ nach. Über den Dächern der Kleinstadt dämmerte der Morgen.



Rachel Blair torkelte über den schmalen Gehsteig auf die regennasse Straße, wo sie entkräftet auf dem grauen Pflaster zusammenbrach.



Sie hörte noch eine ferne, aufgeregte Stimme, die sie fragte, ob mit ihr alles in Ordnung sei, dann verlor sie vollends das Bewusstsein. Dunkelheit umgab sie.



***



Rachel Blair fuhr mit einem lauten Schrei aus dem Albtraum hoch, der sie noch vor einer Sekunde umfangen hatte.



Für ein paar Sekunden lang rang sie nach Luft wie jemand, der zu lange unter Wasser gewesen war und nicht genügend Sauerstoff bekommen hatte.



Verärgert starrte sie in den Raum, als könnte er etwas für den Albtraum oder die schlechte Laune, dann schlug sie die Decke energisch zurück, verließ das Bett und tappte hinüber zum Fenster. Sie öffnete es und ließ frische Luft hinein. Draußen schien die Sonne am blauen Himmel. Der Tag versprach schön zu werden.



Schließlich suchte sie das Badezimmer auf. Während sie die richtige Temperatur des Duschwassers einstellte, dachte sie an ihren Albtraum zurück, der sie immer noch so plastisch umfing wie eine reale Erinnerung. Die meisten Träume vergisst man schnell nach dem Aufwachen, doch dieser ging ihr echt an die Nieren. Er wollte einfach nicht verschwinden.



Was hatte sie da in ihrem Traum erlebt? War ihr etwa ein Engel des Todes begegnet?



Es heißt ja immer, dass Träume nichts weiter sind als der Spiegel der Seele, und das Träume Schäume sind. Oder hatte sie nur Angst vor etwas, das ihr im wirklichen Leben tagtäglich und überall begegnete?



Hatte sie vielleicht nur Angst vor dem Tod?



Rachel Blair riss sich zusammen. Sie verbannte all diese unangenehmen Gedanken aus ihrem Bewusstsein. Nein, sie war kein abergläubischer Mensch. Sie glaubte nicht an die Macht der Träume, sondern stand mit beiden Beinen im realen Leben und hatte nicht vor, dem Tod die Hand zu reichen.



Nach dem Duschen zog sie sich einen Bademantel über und ging zurück ans Fenster. Von draußen floss angenehm kühle Morgenluft ins Zimmer, die Rachel erfrischte und ihre Gedanken wieder klarer werden ließen. So war es gut. Das gefiel ihr.



Sie bückte sich leicht nach vorne und schaute auf die belebte Straße hinunter, auf der mittlerweile das quirlige Kleinstadtleben pulste. Auf dem Marktplatz gegenüber war eine Menge los. Überall war fröhliches Gelächter und sogar etwas Musik zu hören.



Dann geschah es.



Die junge Frau rutsche beim weiteren Vorbeugen aus den nassen Badelatschen, stürzte im nächsten Moment mit einem lauten Schrei kopfüber aus dem offenen Fenster und schlug mit ihrem Körper unten auf der Straße dumpf und hart auf.



Der Sturz aus dem dritten Stock ihrer Wohnung hatte ihr das Genick gebrochen. Rachel Blair kam noch einmal für wenige Sekunden zu Bewusstsein. Sie bemerkte dabei die schwarz gekleidete Gestalt mit den goldenen Locken und den seltsam bernsteinfarbenen Augen, die in unmittelbarer Nähe neben ihr kniete und ihr die ausgestreckte Hand hinhielt, als wolle sie ihrer Seele beim Hochkommen aus dem sterbenden Körper helfen.



Rachel Blair ergriff instinktiv die helfende Hand des Engels. Alles war auf einmal so friedlich und still. Es fiel ihr nicht schwer mit ihm zusammen durchs Licht zu gehen, das sich vor den beiden aufgetan hatte.




ENDE


(c)Heiwahoe


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