Das Spotlight wechselt wieder mit einer unscheinbaren Pause in ein dunkles Violett. Das Klavier, was mir immer mehr als Grundton erscheint, spielt leise auf.
Von überall her erklingt eine rauchige Frauenstimme. Es hört sich wirklich gut an und verbreitet eine angenehme Stimmung.
„Sie ist fantastisch. Nur ansehen darf man sie sich nicht.“, meint Sophie flüsternd.
„Wieso?“ Ich schau sie fragend an, bevor mein Blick auf die Bühne fällt.
Dort steht eine korpulente Frau mit dem Rücken zu uns. Ohne dass ich ihr Erscheinen wahrgenommen habe, steht sie nun da. Ihr Kleid ist sehr elegant. Ein dunkles Nachtblau umspielt die kräftigen Rundungen. Feine, silbern glänzende Fäden bringen ein Nadelstreifenmuster in das fest geschnürte Mieder. Ihre kräftigen Arme sind in silbern-blaue Handschuhe verpackt. Schwarze Locken fallen ihr über die Schultern. Langsam und fast unbemerkt wiegt sie sich im Takt. Ein Lächeln huscht mir übers Gesicht. Trotz ihres kräftigen Körperbaus macht sie eine attraktive Figur.
Ich schaue wieder zu Sophie.
„Wieso?“, frage ich nun mit Nachdruck. Sie ringt mit sich und wedelt hilflos mit ihren Händen.
„Sie sieht halt völlig abnormal aus.“
Verblüfft über ihre Antwort, pendelt mein Blick zwischen der Frau und Sophie. Schon fast böse schaue ich ihr ins Gesicht. Wie kann sie sich einbilden, nur weil die Frau dick ist, sei sie nicht attraktiv. Gerade als ich Luft hole und mein Blick nochmals zur Bühne schwebt, bleibt mein Mund offen stehen. Die Dame auf dem Podium dreht sich langsam um. Fasziniert schaue ich ihr zu. Die Augen hält sie geschlossen. Ihr Dekolleté wird durch die Korsage stark betont. Und in ihrem Gesicht prangt ein schwarzer Vollbart. Mir bleibt alles im Hals stecken.
Wo bin ich denn hier gelandet? Ist das denn die absolute Freakshow? Bin ich irgendwie Ohnmächtig geworden oder träume ich einfach nur? So absurd kann mich mein Schlafmangel gar nicht beeinflussen.
Ungläubig schaue ich nochmals zur Bühne. Eine bärtige Dame mit einer wundervoll melodischen Stimme, singt voller Inbrunst.
„Der ist“, ich schaue Sophie an, die schon mit dem Kopf schüttelt, bevor ich meinen Satz überhaupt beenden kann „nicht echt.“
„Doch ist er.“
Wieder geht mein Blick zur Bühne.
„Ein typischer Fall von Autounfall-Syndrom.“
Ich schau Sophie fragend an.
„Naja, man möchte es sich nicht angucken, weil man weis wie schrecklich es ausschaut. Aber irgendwie kann man nicht anders.“ Verloren schaut sie zur Bühne.
Neben uns taucht eine der Serviererinnen auf.
„Darf ich ihnen noch etwas bringen?“
„Einen Kirschlikör bitte.“ Ich brauche jetzt etwas stärkeres, da ich das Gefühl habe, diese Nacht noch einiges mehr an Kuriositäten zu sehen.
„Sehr wohl der Herr. Die Dame?“
„Noch ein Glas von diesem leckeren Champagner.“ Sophie hält ihr das Glas entgegen. Ich suche das kleine weiße Päckchen auf dem Tisch. Entsetzt sehe ich, wie nur ein leeres Tütchen da liegt. Ich warte ab, bis die Kellnerin mit einem koketten Lächeln verschwindet.
„Spinnst du?“, fahre ich Sophie an. Sie schaut mich lediglich verwirrt an. Ich schiebe ihr das leere Tütchen entgegen, um ihre Erinnerung aufzufrischen.
„Wie kannst du das Zeug nur nehmen? Bist du denn völlig bescheuert?“ Ich versuche meine Stimme so weit gedämmt zu halten, dass ich die bärtige Dame bei ihrem Auftritt nicht störe.
„Aber mir war nicht so gut.“, rechtfertigt sie sich kleinlaut.
„Bitte Wie?“ Ich stemme die Hände auf den Tisch, beuge mich vorn über und bin kurz davor hysterisch auf zu springen.
„Hast du auch nur eine Ahnung, was du da genommen hast?“
„Ja habe ich. Und ich weis, dass es hilft.“, sie schaut mich trotzig an. Ihr Blick verrät mir ihr Unverständnis über meine Reaktion.
„Also reg dich wieder ab.“, giftet sie schließlich. Kopfschüttelnd sehe ich sie an. Ich bin enttäuscht über eine so gute Freundin, die immer die Vernünftige war.
„Das hätte ich nie von dir gedacht.“ Ich sinke wieder zurück auf die Bank. Ändern kann ich es eh nicht. Es ist allein ihre Entscheidung.
„Was?“, sie zieht die Augenbraue hoch. „Das ich Traubenzucker nehme?“
Verblüfft sehe ich sie an.
„Traubenzucker?“
„Ja Traubenzucker. Das ist gut, wenn der Kreislauf mal nicht so will.“
„Aber.“
„Nichts aber. Der Besitzer hat festgestellt, wie Gordo auf die Menschen wirkt. Da hat er einfach versucht Ohnmachtsanfällen vor zu beugen.“
Ich schlage mir mit der flachen Hand an die Stirn. Wie konnte ich nur annehmen, dass in einem solchen Etablissement Drogen verteilt werden.
Ich rücke ein Stück zu Sophie und lege einen Arm um sie.
„Tut mir leid.“ Ich senke meine Stirn auf ihren Kopf.
„Ja nee. Der Schlafmangel scheint ja bei dir wirklich das Hirn lahm zu legen.“ Sie gibt mir einen Kuss auf die Wange.
„Wie lange schläfst du denn nachts?“
Ich schau zu ihr runter.
„Je nach dem, wann ich mich schlafen lege.“
„Okay. Anders gefragt. Bis wann schläfst du denn immer?“
„Bis exakt 00:30Uhr.“
„Da hilft nur eins.“ Sie schaut mir in die Augen. „Du musst eher ins Bett gehen, wenn du weist, dass du so zeitig wach bist.“ Skeptisch sehe ich sie an.
„Du weist schon, dass ich etwa 17 Uhr ins Bett müsste, um die empfohlene Anzahl an Schlafstunden zusammen zu bekommen?“
„Ja na und?“
„Ich arbeite bis 18 Uhr. Bis ich zuhause bin dauert es noch mal eine knappe Stunde.“
Sie brummt zustimmend.
„Das ist wirklich ein Problem.“
Wir schauen zur bärtigen Dame, die noch immer so einzigartig schön singt. Nebenbei meint Sophie: „Dann musst du halt den Grund dafür finden, weshalb du wach wirst.“
„Muss ich wohl.“, sage ich ebenso nebenher.
Schweigend sitzen wir nebeneinander. Sie an mich gelehnt, während ich einen Arm um sie gelegt habe. Seit langem kann ich mich wieder ein wenig entspannen. Die Musik scheint mir dabei zu helfen meine innere Ruhe zu finden. Es wirkt erholsam der rauchigen Stimme zu lauschen. Der Bart wird von Minute zu Minute unwichtiger und verschwindet langsam aus dem Gesichtsfeld.
Unter großem Applause wird die bärtige Dame von der Bühne verabschiedet. Etwas wehleidig sehe ich ihr nach, denn selten hat mich etwas so beruhigt.


© Timere Libertati


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