Eine durchgehende Wolkendecke lässt taggraues Licht durch. Vorhin fielen ein paar Tropfen. Aber es ist nicht genug, als das man es Regen nennen kann. In diesem Stadtteil war ich noch nie bisher. Es sieht nicht groß anders aus, dennoch liegen mir viele Details im Blick. Unregelmäßigkeiten in der Straße, vorbeilaufende Augenringe, Schriftzüge aller Art und Farben auf Kleidung und an Häusern, benutzte Kaffeebecher am Rand des Gehwegs. Der Nichtregen lässt nach. In meiner üblichen schwarzen Kluft und noch schwärzerer Kapuze bin ich unterwegs, um einen Arzttermin in irgendeiner dieser weißen fremden Praxen wahrzunehmen. Dort ist man fehl am Platz.
Die Reifen der Autos pflügen durch große Pfützen auf der Straßenkreuzung. Der Teer ist noch ziemlich frisch und blauschwarz. Es macht den Eindruck, als wären die Baustellenabsperrungen noch nicht lange entfernt. Es sind neue Ampeln und Markierungen auf dem Boden. Durchnässtes Herbstlaub hat sich partiell darüber verteilt. Um die Ecke biege ich in eine Ladenstraße mit Buchhandlungen, ein paar mittlere Bekleidungsgeschäfte, Bäckereien, Apotheken, sowie diesen Geschäften, die so überbeleuchtet und modern leer scheinen. Viele Leute sind unterwegs. Es kommen mir auch einige direkt entgegen. Ich tue so, als bemerke ich sie nicht und gehe ungebremst weiter. Mich rempelt ein Kind an, das zu sehr an seinem Smartphone beschäftigt ist. Es bekommt meine linke Schulter mit Wucht ab. Ein Hotel findet sich vor der Fußgängerzone. Ich überquere eine breiten Platz davor und halte mich rechts. Nebenbei kreischt die Sirene eines Krankenwagens betäubend durch meinen Gehörgang. Nur eine Straße entfernt. Es werden immer mehr Menschen, die sich shoppingfreudig in den Straßen tummeln. Die Gehgeschwindigkeit unterscheidet in der Regel Einheimische von Touristen und Freizeitpassanten. Motoren, Hupen, Stimmen, Schritte, Kindergeschrei, Fahrradklingeln, Ampelpochen, das alles brodelt durcheinander. Mein Blick schwirrt unkonzentriert umher. Ich versuche mich zu fokussieren, eisern, und gehe weiter.
Der Weg führt mich baulich gesehen geradeaus auf ein Cafe zu. Ich gucke oben auf das Ladenschild, dann fällt mein Blick zu den Stühlen davor, die akkurat in Vierergruppen beisammen stehen. Zwei große Sonnenschirme sind mittig platziert. Und dort sitzt sie.
Plötzlich. So direkt, als ist sie schon immer Teil der selben Realität. Die Eine, zur rätselhaften Gestalt gewordene Frau und sie ist meine Herrin.
Ich mache direkt auf mich aufmerksam, indem ich erstarrt stehen bleibe. Mitten im Weg. Dezent schlau. Es ist wie ein Schock. Und ich habe alles andere erwartet als zufällig sie zu treffen.
Sie ist noch schöner und noch femininer. Ihr Blick ist berechnend. Vielleicht erkennt sie mich nicht, und sieht nur ein Trottel, der da wie angewachsen steht. Aber ich merke schnell das es das nicht ist. Und ihr Anblick macht mich hilflos. Ist es ein mikroskopisches Lächeln in ihrem Gesicht? Ich kann nicht erkennen, was lustig ist. Aber das meint sie wohl nicht. Wobei ich auch nicht weiß, was es sonst bedeuten kann. Was erwartet sie nun? Wie soll ich reagieren? Dafür gab es keinen Plan. Es hat mich eiskalt erwischt. Oder feuerheiß.
Ihre Kleidung liegt eng an ihrer Haut und betont ihren Körper. Es fällt mir schwer da nicht hinzusehen. Das schwarz geht ineinander über.
Ihre Präsenz kommt mir zeitgleich vertraut und nicht bekannt vor. Es ist unbeschreiblich greifbar. So sehr, das kann man sich nicht vorher vorstellen.
Das einzig Sinnvolle scheint auf sie zuzugehen und mich hinzuknien. Da wo ich hingehöre. Einfach vor allen Leuten, mittendrin deren Normalität sprengen. Das fände sie unter anderen Umständen auf jeden Fall amüsant. Aber, darf ich denn auf sie zugehen - will sie das überhaupt? Es ist definitiv zu viel der Überlegungen für zu wenig Zeit. Ein Sattelschlepper könnte auf mich zu schlingern und ich würde es nicht bemerken, derart gefangen bin ich von dieser Situation. Weitergehen kann ich nicht, unmöglich, als endet hier mein Faden.
Ein paar andere Cafebesucher haben das womöglich mitbekommen jetzt. Aber ihre Anziehungskraft hält mich fest. Ihr Blick erwartet deutlich etwas. Und ich stehe da, unfähig mich zu rühren. Erwägungen über Mut bringen nicht weiter. Es ist wie springen.
Ich mache dreieinhalb Schritte und knie mich vor sie auf den Boden.


© D.M.


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