Es war einmal ein sehr sehr braves Mädchen. Seine Zähne waren alle frisch rasiert, sein Hirn frisch gewaschen und seine Absichten in einer Weise redlich, daß man es kaum noch aushalten konnte. Ihre Seele war so schön wie ein Diamant – sie funkelte aber nicht nur im Sonnenlicht, sondern auch nachts, mit und ohne Mondschein, im Freien, in geschlossenen Räumen und sogar unter der Bettdecke. Am liebsten arbeitete sie sich empor und sie war für Männerhände natürlich meistens zu schade...was jedoch jedem, der sie sah schnell klar wurde.

Niemand durfte sie besitzen! Schüchterne Zeitgenossen hielten sich sogar schützend die Hände vor die Augen um nicht von ihrer Reinheit, Feinheit, Schönheit und Selbstsicherheit geblendet zu werden. Andere Frauen beneideten sie um so manches, nicht aber um ihr Innenleben, denn...das sehr sehr braves Mädchen war mindestens doppelt so intelligent wie Albert Einstein und Otto Normalverbraucher zusammengenommen. Es konnte zwar keine neue Astrophysikalische Theorie begründen, doch dafür wusste es immer ganz genau wo sie stand.

Jeder der es mit diesem ganz erstaunlichen Menschen zu tun bekam wollte nur noch eines: schnellstmöglich aus ihrem Dunstkreis verschwinden! Denn jeder Mensch mit halbwegs intakten Instinkten hatte große Angst davor sich mit überirdischen Wesen auseinanderzusetzen. Niemand kann es ertragen von jemandem dominiert zu werden – außer er ist in dieser Weise ganz besonders „veranlagt“. Was blieb dem sehr sehr braven Mädchen also übrig als sich heimlich mit Leuten zu treffen, an denen sie sich so richtig auslassen konnte?!

Nachts, wenn alle schliefen verabredete sie sich deshalb mit ihren Opfern, um sie der Reihe nach in ihre Fallen zu locken. Dann stand sie vorher stundenlang vor dem Spiegel, schminkte sich auf gewöhnlich, malte sich Hautunreinheiten ins Gesicht und übte den Bösen Blick. Dann perfektionierte sie den allerorts üblichen Gassenjargon ins Grauenhafte. Sie machte sich fit für Gangster, Wirtschaftsbosse und Politiker, die zwar allesamt bereits viel zu verbergen hatten, mit ihrer „Hilfe“ jedoch in die verruchtesten Gedanken-Kreise absteigen sollten.

Mächtige Männer mit schier unerschütterlicher Eigenliebe waren dabei ihre Spezialität. Sie psychisch zu zerstören galt ihr als höchstes aller Ziele – und darauf war sie unendlich stolz! Vorsichtshalber hatte die innerliche und äußerliche Schönheit alle Märchen der Welt gelesen und wusste somit wie man Prinzen am besten aufs Glatteis führt. Im Laufe der Zeit hatte sie sich schließlich ein derartiges Geschick im Aufgabenstellen erworben, daß es einem redlichen Märchenerzähler schlecht werden könnte... Sie übertraf alle Fabulierer bei Weitem.

Ihre Realität war krasser als es ein dahergelaufenes Märchen je sein könnte, denn ihr gelang es, im wahrsten Sinne, mit spielerischer Leichtigkeit die Halb- und Unterwelt mehr und stärker zu verwirren als es sich auch nur irgendwer vorstellen konnte. Nach außen hin verkörperte sie die lustlose Reinheit in Person, aber in ihrem Inneren glühte ein verzehrendes Feuer. Ihr Fetisch war der feste Glaube daran, daß sie am stärksten war wenn sie sich so teuer wie möglich verkaufte. Diese Welt schien es ihr einfach nicht wert zu sein einfach nur als Frau angesehen zu werden.

Und so beschwerte sie sich über unschwule Männer, über traditionelle Familien, über ihre Vorfahren, über Leute allgemein, die kein „neues Menschenbild“ vertraten, in welchem der herkömmliche Mann sich nicht mehr als Schutzfaktor für die Familie verstand. Sie lernte alles zu negieren was sich nicht ihren eigenen Vorstellungen fügte. Dafür lachte sie jeden aus, der glaubte sexuelle Phantasien haben zu müssen, die die ihren in Frage stellten, denn: Schließlich war sie es selbst (und niemand anderer), der sich im Besitz aller fleischlicher Reichtümer befand.

Das müsste doch genügen, hier in Würde alt werden zu können, ohne jemals jemanden wirklich akzeptiert zu haben, dachte sie bei sich...und wahrlich, alles was zunächst geschah schien dem gebührend Rechnung zu tragen. Doch die Zeit ist grausam – sie ändert sich von Epoche zu Epoche und sie fragt sehr genau danach, ob jemand eine praktikable Alternative bereit hat, wenn er ständig dabei ist alte Werte zu zerstören. Folglich gingen der unwerten Welt die unwerten Prinzen aus, so daß die werte Oberprinzessin plötzlich keine Rätsel mehr austeilen konnte.

Auf einmal war niemand mehr da der sie noch in ihre Fetisch-Laube begleiten wollte! Die neuen Männer scherten sich nicht mehr um den Begriff „Frauenquote“. Sie nahmen sich was sie zu brauchen glaubten! Da stand das frisch rasierte Mädchen unerwartet schnell ganz alleine in Raum und Zeit – und schließlich kamen ein paar dunkle Barbaren unsanft auf sie zu, um sie dem „Glück ihres Lebens“ zuzuführen. Die interessierten sich weder für ihre schöne Seele, noch um ihre, demonstrativ zur Schau getragene Redlichkeit, sondern nahmen sie kurzerhand mit...

Ob sie nun schon längst gestorben ist, oder zufrieden irgendwo im Nirgendwo haust kann leider nicht mehr ermittelt werden. Die Erde hat sich konsequent weiter gedreht! Niemand, der nicht extra autorisiert ist, darf das sehr sehr brave Mädchen, aus dem inzwischen wohl ganz sicher eine noch viel brävere Frau geworden ist, sehen. Und wissen, ob sie unter der Bettdecke auch noch funkelt wie ein Diamant, darf ausschließlich ihr Herr und Meister, der beauftragt ist sie vor allem zu beschützen was die Zeit an Ungöttlichem zu bieten hat, am meisten aber vor sich selbst!

Das Märchen vom redlichen Mädchen

© Alf Glocker


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