Das Märchen von der gläsernen Kugel…


Vor vielen, vielen Jahren lebte im Dörfchen Dörrenbach der Holzschnitzer Joseph. Seine Frau war vor sieben Jahren gestorben, und er hatte drei Kinder. Es waren zwei Mädchen, Johanna und Sophie, und der Bub hieß Kasper. Joseph war von Beruf aus Korbflechter, und mit seiner Händearbeit verdiente er nicht all zuviel, und deshalb mussten seine Kinder stets mitarbeiten.
Es war schon Spätherbst, und die Bäume hatten sich schon mit ihren bunten Kleidern geschmückt. Die Schwalben hatten schon lange das Dörfchen verlassen, und die gelben Stoppelfelder warteten auf den Frühling. Ab und zu sah man noch in den Gärten abgeblühte Sonnenblumen stehen.
Joseph schickte seine Kinder in den Wald, sie sollten Pilze suchen.
Immer, wenn die Kinder reichlich Pilze fanden, verkaufte er die Pilze an die Dorfbewohner oder an Hochwürden Langrock.
Das erhaltene Geld besserte seinen kargen Lohn.
Die Kinder fanden viele essbare Pilze, und ihre Körbe waren fast gefüllt.
Sophie war so in das „ Pilze suchen vertieft“ dass sie sich von ihren Geschwistern entfernte.
Es wurde schnell dunkel, wie es im Spätherbst typisch ist.
Die Dunkelheit überraschte Sophie, und sie rief nach ihren Geschwistern, doch diese antworteten nicht.
Sie bekam Angst und begann zu weinen. Sophie irrte immer weiter in den dichten, dunklen Wald.
Ihr rechter Arm schmerzte heftig, denn der Korb mit den Pilzen war sehr schwer.
Doch was war denn das? Mitten im Wald war ein Lichtschein zu sehen.
Sophie eilte dem Lichtschein entgegen, und sie kam an eine alte, moosbedeckte Hütte.
Sie klopfte an die Tür und eine alte Frau öffnete ihr.
Die Frau hatte lange, schlohweiße Haare. Ihr Gesicht strahlte Freundlichkeit und Milde aus.
Mit freundlichter Stimme sagte die Frau: „ Tritt doch ein, hier drinnen ist es warm und gemütlich.“
Sophie betrat die Hütte, und da waren überall Tiere. Auf der Diele lagen zwei große, schwarze Hunde. Auf dem Kachelofen saßen drei graue Katzen. In einem goldenen Käfig flatterten zwei Zeisige hin und her.
Ein meckern von Ziegen war auch zu hören. Eine Dohle flog vom Schrank auf die linke Schulter der Frau.
Die Frau war eine Zauberin, welches Sophie natürlich nicht wusste.
Die Zauberin fragte das Mädchen, wo sie denn her käme. Sophie berichtete alles, von ihrem Vater, von ihren Geschwistern und von ihrer Armut, und vom Dörfchen Dörrenbach.
Die Frau gab Sophie zu essen und zu trinken.
Die Tiere setzten sich alle um das Mädchen herum. Die Katzen schnurrten und die Hunde wedelten unablässig mit ihren Schwänzen.
Die Zeisige begannen zu singen und die Dohle krächzte dazu.
Nach dem Essen zeigte die Zauberin dem Kind ein Zimmer. In diesem Zimmer stand ein Himmelbett, welches mit feiner Seide bespannt war.
Der Rahmen und die Füße des Bettes bestanden aus purem Gold.
Nach dem Essen legte sich Sophie in das herrliche Himmelbett, jedoch einschlafen konnte sie nicht. Sie dachte an ihren Vater, an Johanna und an Kasper, und Tränen rannen über ihr hübsches Gesicht. Am darauf folgenden Tag wollte sie der Frau von ihrem großen Heimweh erzählen.
Der neue Tag brach an, doch Sophie traute sich nicht, der Zauberin von ihrem Heimweh zu erzählen.
Sie frühstückten beide, und danach wies die Zauberin Sophie in ihre Aufgaben ein. Sie sollte die Hunde und Katzen füttern, und auf deren Wohlbefinden achten. Den Zeisigen Körner geben, und deren Käfig reinigen. Für die Dohle sollte sie im Garten Regenwürmer suchen.
Die Frau hatte auch Ziegen. Sophie hatte das am ersten Tag gar nicht so recht mitbekommen. Die Ziegen sollte das Mädchen füttern, striegeln und melken.
Das waren bei weitem nicht alle Aufgaben, die Sophie täglich erfüllen sollte.
Die Zauberin hatte auch noch einen Garten, in dem das Mädchen arbeiten sollte.
Alle Tiere waren dankbar, dass sie von Sophie so liebevoll gepflegt und gefüttert wurden.
Die Hunde leckten sie, die Katzen schnurrten aus Dankbarkeit, die Zeisige sangen und sie ließen sich in die Hand nehmen.
Die Ziegen bedankten sich bei Sophie mit lustigen Bocksprüngen.
Die Dohle, die Justus hieß, begleitete das Mädchen überall hin.
Das Unerwartete war, das Justus sprechen konnte. Justus gab oft dem Kind wichtige Hinweise über die Tiere, den Garten und den Wald.
Die Pflanzen im Garten konnten auch sprechen. Diese Eigenschaft hatte die Zauberin den Pflanzen mit einem Elixier angedeihen lassen.
Die Sonnenblumen im Garten sagten zu Sophie: „ Gieße uns bitte
nicht so viel, sonst haben wir nasse Füße!“
Die Kohlköpfe sagten: „ Decke uns bitte mit einem Vlies ab, sonst bekommen wir durch die Sonne Kopfschmerzen.“
Die Pflanzen bedankten sich auch bei dem Mädchen. So sagten zum Beispiel die Rosen: „ Wir schenken dir viel von unserem Duft, da kannst du abends gut einschlafen.“
Der Sommer verging, der Herbst und der Winter waren vorbei, und die Schneeglöckchen und die Krokusse zeigten sich.
Es war ein schöner Frühlingstag und die Zauberin war ganz anders als sonst.
Sie war über freundlich und sie sang Frühlingslieder. Sie fragte Sophie: „Willst du nicht wieder nach Hause?“ Das Mädchen sprang vor lauter Freude mehrmals in die Luft und sie sagte: „ Liebe Zauberin, das wäre sehr, sehr schön!“
Die Frau sagte: „ Sophie ,weil du so fleißig warst sollst du zum Abschied zwei Geschenke erhalten.“
Sie gab dem Kind einen Lederbeutel mit Silbermünzen und eine gläserne Kugel. Die Kugel war Apfelgroß und sie leuchtete in allen Regenbogenfarben.
Die Zauberin sprach: „ Wenn du in Gefahr bist, dann berühre die gläserne Kugel, und du bist unsichtbar. Aber berühre diese Kugel nur, wenn du wirklich in Gefahr bist, sonst entflieht dir die Kugel.“
Die Dohle begleitete Sophie noch ein großes Stück des Weges.
Danach setzte sich die Dohle auf einen Koppelpfahl und sagte zum Mädchen: „ Komme gut nach Hause, und denke immer an die Worte der Zauberin!“
Es war schon spätabends als Sophie in ihrem Heimatdorf ankam.
Aus den Fenstern der Katen drang das spärliche Kerzenlicht.
Die Tür zu ihrer Kate war offen und Sophie betrat diese. Ihr Vater und ihre beiden Geschwister lagen schon friedlich schlafend in ihren Betten.
Sophie wurde jedoch freundlich von der Katze Minka begrüßt.
Am nächsten Morgen gab es ein „ großes Hallo.“
Ihre Lieben umarmten sie und küssten sie, es war ein freudiges Wiedersehen!
Sophie erzählte ihre Erlebnisse und ihre Eindrücke, die ihr bei der Zauberin zuteil wurden.
Als Sophie den Lederbeutel zeigte und in die Höhe hob, flossen sogar bei ihrem Vater Freudentränen.
Joseph sagte: „ Endlich ausgesorgt, endlich ausgesorgt!“
Die Zauberkugel hatte Sophie in den Küchenschrank gelegt.
Sie erinnerte sich nicht mehr an die Kugel. So konnten ihre Lieben auch nicht das Geheimnis der Kugel erfahren.
Sophies Wiederkehr wurde drei Tage lang gefeiert, und viele
Dorfbewohner nahmen daran teil.
Die Tage vergingen wie im Fluge, und der Herbst hatte Einzug gehalten.
Der Korbmacher und sein Sohn Kasper ernteten die kargen, gepachteten Felder ab. Sie ernteten Kartoffeln, Kohlrüben und Erbsen, dass Korn hatten sie schon im Spätsommer eingebracht.
Johanna und Sophie hatten zu Hause viel zu tun. Sie schnitten Äpfel in Scheiben, die sie dann zum Trocknen aufhängten. Aus Hagebutten kochten die Mädchen leckere Marmelade, und die Körner wurden als Tee verwendet.
Jedoch die schwerste Arbeit war für sie das „ Einmieten.“
Alle Dorfbewohner hatten keinen Keller, in ihren Katen. Deshalb mussten die geernteten Früchte bzw. Nahrungsmittel eingemietet werden.
Überall sah man dann den Winter über, die braunen Erdmieten.
Es war ein Sonntag, die Sonne schien, und viele kleine Schneeflocken tanzten vom Himmel auf die Erde hernieder.
Joseph und seine Kinder waren beim sonntägigen Gottesdienst. Hochwürden Langrock hatte in seiner Predigt den Fleiß und die Genügsamkeit seiner Gemeinde mehrmals gelobt.
Johanna hatte einen Tag vorher Kohlrübensuppe gekocht.
Sie waren gerade beim Essen, als auf ihrem Hof ein großer Krach, ja ein Tumult, zu hören war.
Die Vier eilten auf ihren Hof, da waren Landsknechte zu sehen.
Ihr Anführer trug eine Ritterrüstung, und seinen Kopf zierte ein Florentinerhut, an dem drei Fasanenfedern zu sehen waren.
Der Anführer sagte zu Joseph: „ Wir wollen von dir für den Grafen seinen jährlich, zustehenden Landeszins abholen!“
Er stieß danach mehrmals mit seinem Degen auf den Boden und er schrie: „ Oder sollen dir meine Knechte Beine machen?“
Der Korbmacher überreichte dem Anführer einen Lederbeutel, in dem sich die vom Munde abgesparten Silbergroschen befanden.
Der Anführer steckte den Lederbeutel in die Satteltasche seines Pferdes, Einige Landsknechte führten auch Pferde mit sich.
Der größte und kräftigste Landsknechte sagte zu Joseph: „ Lade auf deinen Ackerwagen, von dem was du geerntet hast, reichlich auf.“
Der Landknecht ging einige Schritte auf den Korbmacher zu, und er meinte: „ Einige Fässer Wein sollten es auch sein ." Josef sagte: " Ich habe keinen Wein.“
Zwei Landsknechte gingen in den Holzspeicher und zerstörten Bottiche, sowie Kisten, in denen sich verschiedene Nahrungsmittel befanden. Die Mehlsäcke schlitzten sie mit ihren Degen auf. Ein Landsknecht schlug mit einer Reitgerte auf den armen Korbmacher ein.
Da erinnerte sich Sophie an die Zauberkugel! Sie eilte in die Küche und nahm diese aus dem Schrank. Das Mädchen streichelte die Kugel, und sie war plötzlich unsichtbar!
Die unsichtbare Sophie riss dem Landknecht die Reitgerte aus der Hand, und schlug auf ihn ein. Der Landknecht rannte schreiend davon. Das Mädchen nahm den Geldbeutel aus der Satteltasche, und versetzte dem Pferd einen Hieb.
Das Pferd galoppierte los, und die anderen Pferde folgten. Sophie nahm sich einen Reisigbesen und sie schlug auf einen Landsknecht ein.
Joseph ergriff einen Dreschflegel, Kasper und Johanna eine Forke und sie unterstützten die „ unsichtbare Sophie.“
Alle Landknechte rannten um ihr Leben, und ihr Anführer rief: „ Hier spukt es, hier spukt es!“
Von Stund an ließen sich die Landsknechte nicht mehr im Dörfchen Dörrenbach sehen!
Alle Dorfbewohner bedankten sich bei Sophie, denn es kamen ja keine Landsknechte mehr, um Geld oder Naturalien einzutreiben.
Sophie lebte nun mit ihrem Vater und ihren Geschwistern im Glück.
Einige Leute sagen, ihre Nachfahren würden noch heute unter uns leben!


© Jürgen


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