Es ist längst dunkel. Ich bin unterwegs. Es ist eisig kalt und windig. Die Luft riecht nach spätem Abend, nach leeren Straßen mit alten Laternen und hohen unbeleuchteten Häusern. Dezent ruhelos bin ich kreuz und quer durch die Stadt gefahren. In U-Bahnen oder Straßenbahnen muss man mit niemandem reden.
Die Stationen nicht zu kennen, stört nicht, wenn man nur so umherfährt, ohne Sinn. Die Bremsen quietschen, wenn die Bahn wieder anfährt. Die Leere ist überall, wenn man sie mit sich rumträgt.

Ich stehe bewegungslos an einer kaum beleuchteten Bahnhaltestelle, unauffällig schwarz. Es regnet in Strömen. Eine Absperrung aus rundem Metallgeländer trennt den Bahnsteig von der Straße. Einige Autos fahren hinter mir entlang, und gegenüber der Gleise auf der anderen Straßenseite. Wasser spritzt in feinen Gischtwolken von den Reifen hoch. Der Teer ist nass, fast schwimmend. Die Scheinwerfer der Autos, Lichter der Ampeln und Häuser spiegeln sich flattrig darin. Ein permanentes Rauschen und Tropfen legt sich über alles. Die übrigen Geräusche sind gedämpft, wie von Weitem.
In Gedanken vertieft, stehe ich da. Meine Jacke durchnässt nach und nach. Die Kälte kriecht unter die Kleidung. Ich bemerke es kaum. Der gepflasterte Bahnsteig ist voller Pfützen. Überall wo es nicht ganz eben ist. Mein Blick huscht über die geometrischen Ränder der Steine. Man kann tausende Muster und Formen darin sehen.
Plötzlich überkommt mich ein Gefühl, das sie hier ist. Ein derart starker Eindruck das meine Herrin da steht, nur wenige Meter entfernt. Ich nehme es so real wahr, so präsent, auch wenn mein Hirn dem direkt widerspricht. Ich kann spüren, das sie da steht. Womöglich ist sie dort, nur so lange bis ich hinsehe. Es ist dezent mehr, als ein Gedankenspiel.
Langsam hebe ich den Blick. Die Realität zeigt die Wahrheit. Der Bahnsteig ist leer.
Sie steht dort. Ihre Füße in den hohen Schuhen scheinen ein stückweit über dem nassen Pflaster zu schweben. Denn sie bleiben unberührt vom Regen. Das Wasser perlt an den glatten Flächen der Highheels ab. Ein langer Mantel umhüllt sie. Darunter trägt sie eine eng anliegende Hose, in matt glänzendem schwarz.
Ihre Gesichtszüge wirken anmutig wie in einem Traum. Ihr Blick lässt mich an Ort und Stelle erstarren. Ich kann keinen Muskel rühren.
Auch ihre Lippen sind schwarz. Ihre im Kontrast nahezu weißen Haare hat sie in einem strengen Pferdeschwanz frisiert. Der Kragen des schwarzen Mantels steht etwas offen, und zeigt ihre helle Haut bis zum sanft geformten Brustansatz.
Der Regenschirm in ihrer Hand scheint nur partiell anwesend zu sein. Ihre Finger mit schwarzen Krallen winden sich um den Griff. Der schwarze Schirm ist halb durchsichtig. Obwohl ich äußerlich ruhig bin, wie eingefroren, fängt mein Puls an zu rasen. Es kommt nicht durch.
Der Moment hält an. Ich will es genießen. Vermutlich dezent unhöflich, starre ich sie an und kann meine Augen nicht von ihr wenden. Wenn ich wegsehe, wäre sie vielleicht nicht mehr da.
Je mehr Ebenen ich entdecke, desto unklarer wird es, in wieweit die Gedanken nicht real sind. Deutlich und klar erscheint ihre Gestalt. Sie passt an diesen Ort und in diesen Moment, als würde er durch sie erst vollkommen sein.
Ohne sie bleibt es normal, trübe… nur eine Atmosphäre, nichtssagend in einer regnerischen Nacht.

Vom Zug zurück gehe ich durch den Regen, das Rauschen und Tropfen verbleibt.


© D.M.


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