Tief im Totenwald gab es einen Hain aus tausend Jahre alten, toten Bäumen. Wie einhundert verkohlte Arme griffen sie verzweifelt in den sternenklaren Nachthimmel. Genau in ihrer Mitte befand sich eine kleine Lichtung bedeckt mit grauem Gras. Kein Tier und kein Mensch traute sich dort hin. Der Ort strahlte eine unnatürliche Kälte aus und an Vollmondnächten schien der Mond dort besonders hell und grausam auf die Erde hinunter zu blicken.

Ein Mann kam hinter einem der toten Bäume hervor und betrat mit langsamen Schritten die Lichtung. Das graue Gras knirschte leise unter seinen schweren Stiefeln. Er war ganz in schwarz gekleidet und sein langer Mantel war löchrig und zerfetzt. Wie das Gefieder eines alten Raben hing er an ihm herab. Hier und da schienen ölige Glieder aus den Löchern hervor. Sein Kettenpanzer, den er über einer zähen, wattierten Jacke trug, war das einzige Zeugnis seiner kriegerischen Herkunft. Weitere Panzerung, seinen treuen Helm sowie Schwert und Schild hatte er zurückgelassen. Kein blutbefleckter Stahl sollte diesen heiligen Ort entweihen.

Der Mann war nicht allein auf der Lichtung. In ihrer Mitte stand ein ehrfurchtgebietendes Wesen. Mehr als drei Köpfe größer als der Mann ragte ein strahlend weißer Körper in die Nacht hinaus und blickte zum thronenden Mond empor. Tiefschwarze Schwingen hingen majestätisch am Rücken des Wesen herab. Es hatte wie immer wenn er es traf den Körper einer Frau gewählt. Groß und schlank ragte die Gestalt empor, die Haut wie makelloser Marmor. Wie eine meisterhaft geformte Statue stand die Erscheinung still. Nur ihre Haare waren ständig in Bewegung. Wie schwarze Flamme leckten sie empor. Nein, wie schwarzes Seegras wiegten sie im Nachthimmel. Er konnte es nicht beschreiben. Es war übernatürlich furchtbar und wunderschön zugleich.

Der Mann trat bis auf drei Schritte an das Wesen heran, senkte seinen Blick und lies sich dann auf ein Knie herab.

"Die Anführer sind uns entwischt." sprach er mit tiefer, deutlicher Stimme.

"Seid gegrüßt, mein treuer Argent." sagte das Wesen sanft. "Schon immer habe ich es sehr geschätzt, dass ihr sofort zum Punkt kommt."

"Sie haben uns eine Falle gestellt. Viele tapfere Streiter wurden getötet aber wir konnten das Blatt wenden. Brindon, Sahir und die Wandergast-Zwillinge konnten entkommen. Wir suchen nach ihnen." Eine bittere Entschlossenheit schwang in seinen Worten mit.

"Danke, Argent!" sprach das Wesen. "Viele verdorbene Seelen haben du und deine Streiter befreit. Nur die Schlimmsten fehlen noch. Du musst deine Jagd fortsetzen. Du musst sie finden und du musste sie richten."

"Wir werden nicht versagen. Wir werden eher unsere Leben geben bevor wir aufgeben." knurrte Agent. "Sie werden für ihre Untaten bezahlen."

"Es sind auch Menschen so wie du und deine Streiter." bemerkte das Wesen.

"Mörder, Vergewaltiger, Brandschatzer, elende Menschenquäler sind sie." spie Argent aus mit heißerem Flüstern.

"Sie haben schlimme Dinge getan und noch viele Menschen werden unter ihnen leiden bis du sie erwischst." sagte das Wesen "Aber bedenke immer, dass ihre Seelen von Beginn an rein waren." Dann fügte es hinzu "So wie die deine."

"Ich denke Tag und Nacht daran. Meine Sünden werden mich bis ins Grab verfolgen." sagte Argent zähneknirschend. Sein Blick blieb auf den Boden gerichtet.

"Sieh mich an, Argent." sagte das Wesen und wandte den Kopf in seine Richtung.

Er hob den Kopf und sah in das Gesicht des Wesens. Schwarze Augen, schwarze Lippen, schwarze Schwingen unter grausam weißem Mond. Es sah aus wie eine Puppe oder eine Büste. Das Ideal eines Frauengesichts aber seltsam unnatürlich. Unheimlich und bezaubernd schön blickte es auf ihn herab. Die schwarzen Augen waren wie polierter Onyx. Die Nase war kaum sichtbar in dem strahlenden Weiß der marmorhaften Haut. Der Mund war umrahmt von scharfen schwarzen Lippen. Als er sich zum Sprechen öffnete, sah Argent elfenbeingleiche Zähne hervorblitzen.

"Dies wird das letzte sein, dass ich von dir verlange." sprach das Wesen und die Worte erschallten eher in Argents Kopf als dass er sie hörte. "Nur diese verlorenen Seelen noch und du und deine Streiter seid nicht mehr an mich gebunden."

Argent stutze. Sein Blick verriet Verwirrung und Enttäuschung. Das Wesen bemerkte es und ein feines Lächeln legt sich über die schwarzen Lippen.

"Du bist..." das Wesen suchte nach einem Wort "...gekränkt?"

"Meine Herrin, es gibt noch so viel zu tun. So viele Bestien zu bezwingen. So viel Leid zu beenden." sagte Agent schnell. "Ich... wir können Ihnen noch lange dienen."

"Mein lieber Argent." eine gewisse Sanftheit legte sich auf die Onyx-Augen. "Ihr habt mir schon genug gedient. Wollt ihr nicht frei sein? Wollt ihr nicht Frieden finden?"

"Frieden? Das bedeutet für mich nur Qual. All die Dämonen, die ich selbst beschworen habe, werden mich verzehren. Bis an mein Ende werden mich meine Taten verfolgen." Argent hielt einen Moment inne. Dann fuhr er fort: "Auch meine Seele ist verdorben. Ich gebe sie euch. Jederzeit!"

Schweigen.

"Nehmt mein Leben. Meine Seele. Ich bitte euch." sein Blick verriet nicht nur Verzweiflung sondern auch Sehnsucht.

Auch dies bemerkte das Wesen. Es beugte sich hinab. Kniete vor Argent und war nun fast auf seiner Augenhöhe. Schwarze Augen, schwarze Lippen, schwarze Schwingen unter grausam weißem Mond. Argent schauderte. Er blickte sehnsüchtig in die undurchdringlichen Augen des Wesens.

Die weiße Gestalt erhob die rechte Hand. Schlanke Marmor-Finger glitten auf ihn zu. Das Wesen wischte sanft eine Strähne seines wilden Haares aus Argents Stirn. Dann hielten die schmalen Finger innen bevor sie zärtlich seine Wange entlang streiften.

"Ihr Menschen." sprach das Wesen mit zarter Stimme "hängt eure Herzen immer an Schattenbilder eurer Begierden."

Einen schier unendlichen Moment blickte es Argent gütig in die Augen. Dann sagte es mit freundlicher aber deutlicher Stimme: "Dies soll keine Strafe für dich sein, Argent. Siehe es als Chance. Tue Gutes. Spende Liebe. Werde glücklich. Du hast nur dieses eine Leben. Du hast wahrlich furchtbares getan aber du kannst den guten Menschen auch helfen ohne zu kämpfen, ohne zu töten."

Argent blickte erschöpft zu Boden und seufzte schwer. Das Wesen erhob sich wieder und ragte in den Nachthimmel empor.

Er schloss die Augen und sagte: "Ich werde es versuchen. Ich werde die Entkommenen finden und bezwingen und wenn ich es überlebe, werde ich versuchen die Chance auf ein gutes Leben zu nutzen. Wenn nicht für mich, dann für euch, meine Herrin."

Die Flügel des Wesen erhoben sich raschelnd. Argent blickte erschrocken nach oben. Schwarze Augen, schwarze Lippen, schwarze Schwingen unter grausam weißem Mond. Ehrfurchtgebietend ragte der marmorweiße, schlanke Körper über ihm empor. Klein und unbedeutend fühlte er sich beim dem Anblick aber er wusste, das er dieses Bild bis zu seinem Tode nicht vergessen würde.

"Ich bin der Engel des Todes." sprach das Wesen mit ätherischer Stimme. "Du wirst mich nie wieder sehen, Argent. Verschwende den Rest deines Lebens nicht."

Dann schlugen die Flügel aus und in einem Atemzug war das Wesen in den unendlichen Nachthimmel verschwunden. Stille und unheimliche Kälte legte sich über die graue Lichtung des Totenwaldes.

Argent blickte zum Mond empor und sah dort ihr Gesicht. Schwarze Augen, schwarze Lippen, schwarze Schwingen unter grausam weißem Mond. Er erhob sich und machte sich auf den Rückweg.

Mond und Sterne spendeten ihm Licht aber trotz guter Sicht brauchte Argent einige Stunden, um den Totenwald zu durchqueren. Vorsichtig aber bestimmt setzte er einen Fuß vor den anderen. Seine Gedanken rasten durcheinander wie Pfeile auf einem Schlachtfeld. Ein gutes Leben? Diese gottverdammten Bestien! Brindon der Schlächter, Sahir der Meister der Tränen und die teuflischen Wandergast-Zwillinge. Sie hatten unbeschreibliche Grausamkeiten verübt. Das Leid der einfachen Menschen war ihr Vergnügen. Es war für ihn kaum vorstellbar, dass diese Bestien einmal reine Seelen gehabt hatten. Sie waren nicht wie er. Argent war einst stolz und voller Ideale gewesen. Er wollte ein tugendhafter Ritter sein - ein Held. Doch der Krieg hatte ihn verdorben. Es ging so schnell. Blut klebte an seinen Händen. Das Blut unschuldiger Männer, Frauen und Kinder. Diese Augen! Diese unschuldigen Augen, die ihn ungläubig anschauten. Frust, Wut und Angst hatten ihn zu unsäglichen Greueltaten bewegt. Auch er kannte den Rausch, den das Leid anderer hervorrufen konnte. Doch er war einmal rein. Er hatte sich verderben lassen und verlor sich darin. Das war seine Schuld. Die, die er jagte, waren schon immer so, so glaubte er. Diese Untiere hatten nie etwas reines an sich gehabt.

Ein gutes Leben! Dachte er wieder. Wenn ich das überleben sollte, könnte ich den einfachen Leuten helfen. Ich könnte etwas aufbauen. Ich könnte vielleicht Liebe finden. Aber diese Augen! Sie werden mich dankbar ansehen. Sie werden nicht wissen, was ich getan habe aber ich werde es wissen. Sie werden mir direkt in die Seele schauen mit ihren Kälberaugen und dann werden sie es sehen: Die Bestie, die tief in mir lauert.

Nein! Das wäre eine noch größere Strafe als allein bis zum Ende der Tage mit den eigenen Dämonen zu ringen. Nein! Beides war furchterregend. Es gab noch eine dritte Möglichkeit: Die Bestien in Menschengestalt bezwingen und dabei sterben. Das war sogar garnicht so unwahrscheinlich. Die Wandergast-Zwillinge waren brutal aber dumm. Sahir und Brindon aber waren schlau und absolut skrupellos. Viel Blut würde fließen bis sie zur Strecke gebracht worden waren. Er würde alles geben, um ihrem Treiben ein Ende zu setzen. Alles! Vor allem sein verdorbenes Leben. Vielleicht würde er dann den Engel des Todes wiedersehen.

Als er das Lager erreichte, graute der Morgen schon. Die Sonne war noch nicht aufgegangen aber seine Leute waren schon fleißig dabei, das Lager abzubauen. Gaffon, sein Hauptmann sah ihn zuerst und stapfte forschen Schrittes auf ihn zu.

"Mein Lord, unsere Späher haben eine Spur. Wir können bei Sonnenaufgang aufbrechen." sagte Gaffon in zackigem Ton.

"Danke, Gaffon!" seufzte Argent erschöpft. "Ist mein Wagen schon bereit? Es war ein langer Weg und ich muss ein wenig ruhen."

"Ja, mein Lord. Alles ist bereit für euch. Ruht euch in eurem Wagen aus. Ich lasse euch wissen, wenn wir aufbruchbereit sind. Dann gebe ich euch auch die Details zu der Spur." Gaffon hielt einen Moment inne, dann fragte er: "Hat sie euch etwas gesagt, das wir den Leuten mitteilen sollten?"

Argent blickte über das Lager. Seine Streiter, Männer und Frauen, waren wie er einst reine Seelen gewesen, die der Krieg verdorben hatte. Er sah traurige und müde aber entschlossene Gesichter. Sie alle hatten den Engel in verschiedenen Formen gesehen und sie alle waren auf seinen Auftrag eingeschworen. Sie würden Argent bis in die Hölle folgen. Seine Truppe war klein geworden aber immer noch äußerst schlagkräftig. Ein gutes Leben? Davon wollten sie alle noch nichts wissen.

"Nein, Gaffon." sagte der Heerführer. "Wir haben unseren Auftrag und wir werden die Bestien in den Abgrund treiben - koste es, was es wolle."

"Sehr wohl!" sagte Gaffon mit einem wölfischen Grinsen. "Ruht euch aus, mein Herr! Die Jagd geht bald weiter."

Argent nickte und schlug seinem Hauptmann brüderlich auf die Schulter. Dann ging er mit schmerzenden Beinen zu seinem Wagen und legt sich drinnen auf eine schmale Schlafstätte. Bevor er die Augen schloss, sah er den Mond durch ein Loch im Planendach scheinen. Schwarze Augen, schwarze Lippen, schwarze Schwingen unter grausam weißem Mond.


© Aus_dem_Abgrund


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Kommentare zu "Nachts im Totenwald"

Re: Nachts im Totenwald

Autor: Seelenschreiberin   Datum: 10.08.2021 16:47 Uhr

Kommentar: Beim Lesen bekomme ich eine Gänsehaut

Re: Nachts im Totenwald

Autor: Aus_dem_Abgrund   Datum: 11.08.2021 7:57 Uhr

Kommentar: Vielen Dank! Das ist das größte Lob für mich :)

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