Wertes Publikum, sei eingeladen, nun einer Geschichte zu lauschen, die so geschah in einer Welt, die nahe parallel zu unserer existiert. Manchmal, wenn der dunkle Schleier zwischen den Dimensionen dünn ist, bemerken einige, dass es noch etwas Anderes gibt, als unsere Ebene der Existenz. Viele ignorieren es, einige haben Spukgeschichten zu er-zählen und wenige erkennen einen Hauch der Wahrheit. So lasst euch nun entführen in das phantastische Reich einer fremden Realität.
Alkastos von Ephetion, der wohlbekannte Nauarch, betrat in Begleitung des königlichen Herolds und der schwerbewaffneten Eskorte lydonischer Kriegsknechte den Audienzsaal, der einen außerweltlichen Besucher vermutlich an den Spiegelsaal in Versailles erinnert hätte.
Erst vor wenigen Tagen hatte der danaeische Seefahrer mit seiner Pentekontere, der Archeron, im geräumigen Hafen von Sarnope, der Hauptstadt Lydoniens, angelegt, um einige Luxusgüter aus Ephetion und erlesene Stücke des letzten Kaperzuges an solvente Kunden zu verscherbeln. Zu jenen Zeiten waren die Grenzen zwischen Freibeutertum und ‚normalem‘ Kaufmannswesen, obwohl es in dieser Welt keine global agierende Konzerne gab, eher fließend. Wie viele seiner Landsleute war Alkastos zunächst ein Handelskapitän, der bei günstiger Gelegenheit jedoch auch Piraterie betrieb. Einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangte unser Mann durch einige gewagte Entdeckungsfahrten, bei denen er überragendes nautisches Geschick bewies und der finan-zierenden Kaufmannschaft eine hübsche Stange Geld, das kurze Zeit vorher übrigens in Lydonien ‚erfunden‘ wurde, einbrachte.
Die Ladung war bereits verkauft und der geschäftstüchtige Nauarch trug sich mit dem Gedanken, einige wohlgestaltete Sklaven zu erwerben, um diese weiter östlich als Fachkräfte im Haremswesen zu verscherbeln, als besagter Herold plötzlich mit einer Hundertschaft Soldaten erschien. Da Alkastos bereits den Zoll an den königlichen Hafenmeister entrichtet hatte, schwante ihm beim Erscheinen der Truppe nichts Gutes, aber nach kurzem Abwägen seiner Chancen, beschloss der Kapitän arglose Miene zum vermutlich bösen Spiel zu machen. Allerdings entpuppte sich der überraschende Besuch als ‚Einladung‘ König Kroiphems zu einem persönlichen Gespräch. Während 90 Kriegsknechte bei seiner Crew blieben, um sie in Mafiamanier zu ‚beschützen‘, eskortierte ihn der Bote nebst einer ‚Ehrengarde‘ von 10 Mann, damit sich der Nauarch nicht etwa auf ein anderes Schiff in Richtung Ephetion verirrte, zum königlichen Palast.
„Ah, da ist ja unser Gast!“
König Kroiphem, umgeben von einem ehrfürchtig knieenden, prächtigen Hofstaat, geruhte von seinem goldenen Thron den Ankommenden lässig zuzuwinken. Die sanken sogleich auf die Knie und vermieden es, den Monarchen direkt anzusehen, um nicht etwa Bekanntschaft mit den überlangen Hiebwaffen der anwesenden Palastwachen zu machen.
„Aber Alkastos, mein Freund, steh auf! Ihr Danaer seid mir doch die liebsten aller Fremden. So kultiviert und eure Lustknaben sind der Knaller in meinem Harem.“
Misstrauisch erhob sich der Kapitän und blickte dem erfreut lächelnden Herrscher ins Gesicht. Das freundliche Gehabe konnte Alkastos nicht täuschen. Kroiphem; Herrscher der Lydonen oder Lydonier, galt nicht nur als reichster König seiner Zeit, sondern auch als grausamster. Zu seinem Vergnügen hatte er sich von einem berühmten, danaeischen Bronzegießer eine Apparatur in Form eines Stieres erschaffen lassen, in deren Innerem sich bequem eine Person verstauen ließ, die man dann mittels Wärmezufuhr gut durchbraten konnte. Zur Premiere der Maschine und zwecks Kostenersparnis durfte dann ihr Erschaffer sein Werk als erster Brätling betreten. Seitdem machte der edle Monarch regen Gebrauch von seinem Lieblingstier, um widerspenstig blickende Zeitgenossen zu disziplinieren oder einfach nur, um seine Stimmung durch die Schreie wahllos herausgegriffener Unglücklicher aufzuhellen.
„Alkastos, mein Lieber. Darf ich Dir den hochberühmten Solohenes von Thekene vorstellen?“
Der mastschweinartige König deutete auf einen unscheinbaren Mann in fortgeschrittenem Alter, der rechts vom Thron stand und dem Nauarchen kurz zunickte.
„Solohenes bezweifelt ernsthaft, mich den glücklichsten Menschen auf Erden nennen zu dürfen. Vielleicht bedarf unser Weiser noch einiger Meditation in meinem Stier?“
In freudiger Erwartung des Entsetzens seines berühmten Gastes und eventueller Betteleien um Gnade erstrahlte das feiste Antlitz des Königs. Der Protagonist der beabsichtigten Grillparty jedoch zeigte sich von der freundlichen Einladung gänzlich unbeeindruckt.
„Großer König, niemand außer den Göttern kennt die Fährnisse des Schicksals, deshalb sollte niemand glücklich genannt werden, bevor er gestorben ist. Manchmal sind es jedoch unsere Taten und nicht das Spiel der Unsterblichen, die uns verdammen oder unseren Ruhm schmälern.“
Enttäuscht betrachtete der leidenschaftliche Koch seinen Gast. Natürlich der sadistisch veranlagte, aber keineswegs verblödete Kroiphem nicht ernsthaft vorgehabt, seinen weltberühmten Ehrengast zu exekutieren, aber zu gerne hätte er das Gewinsel des großen Mannes vernommen.
„Wie nett, Solohenes, verzeiht meinen Scherz. Seid bedankt für Eure Dienste! Ich werde unsere netten Diskussionen über eure philosophischen Luftschlösser sehr vermissen. Das mit den natürlichen Rechten eines jeden Menschen, war gar zu köstlich und hat mich sehr amüsiert. Weil Ihr mich so ausgezeichnet zerstreut habt, sollen euch eine Kiste Gold und drei ausgesuchte Sklavinnen gehören!“
Freundlich überlegen lächelnd, betrachtete der ehemalige Archon von Thekene seinen allzu gönnerhaften Gastgeber.
„Oft zwingt uns das Schicksal dazu, von unseren Vorurteilen und Wunschdenken abzulassen. Allerdings, oh großer König, möchte ich unsere Freundschaft nicht damit entehren, dass ich Geschenke von Dir annehme. Aber da Du ja unsere kurzweiligen Unterhaltungen ja so genossen hast, möchte ich Dir meine kleine Schrift, die selbst die ärgsten Barbaren schon zum Nachdenken anregte, ‚Über die Rechte des Menschen‘ zukommen lassen.“
Unwillig schüttelte der Monarch sein verfettetes Haupt voller Bedauern, dass eine Grillparty mit seinem wenig käuflichen Gast – also Leute, das ist eine Parallelwelt, da gibt es unbestechliche und charakterlich einwandfreie Volksvertreter – doch seinem Ruhm allzu sehr geschadet hätte.
„Vielleicht seid Ihr doch nicht so weise, sondern einfach nur ein Narr! Ihr dürft nun gehen!“
Mit einer knappen Verbeugung verabschiedete sich Solohenes sich vom derweil im eigenen Saft schmorenden König, voller Traurigkeit, dass er dem verachteten Scheusal keine Spur von Menschlichkeit gegenüber seinen Untertanen lehren konnte.
„Wesir!“
Ein edler Greis, der links vom Thron seines Herrschers kniete, neige ehrerbietig sein Haupt.
„Was ist Euer Begehr, mein Herr und Gebieter!“
„Du Hund hast mir nicht abgeraten, den verfluchten Danaer einzuladen. Außerdem ist links die Unglücksseite! Wache, in den Stier mit dem Bastard! Die Grillsaison ist eröffnet, er soll mir das Abendessen versüßen! In den Stunden bis dahin kann der Verräter darüber nachdenken, wie er sich an seinem gnädigen Herrn vergangen hat!“
Unbarmherzig ergriffen zwei kräftige Kriegsknechte den langjährigen, treuen Diener, dessen tränenreiches Flehen um Gnade die Stimmung seines huldvollen Herrschers erheblich besserte.
Alkastos, der der peinlichen Szene sozusagen als Augen- und Ohrenzeuge beiwohnen durfte, fühlte sich keineswegs wohl in seiner Haut, als die noch vor Zorn blitzenden, royalen Augen den Blick auf ihn richteten.
„Na, was sagt denn unsere Seeratte zu den Weisheiten seines Landsmannes?“
Da Chancen dem ungastlichen Ort zu entfliehen für den Angesprochenen sich ausgesprochen ungünstig darstellten, bemühte sich dieser um eine gewisse, lebensverlängernde Diplomatie.
„Oh großer König, Solohenes ist eben ein Philosoph. Die verfügen zwar über großes, theoretisches Wissen, besitzen aber nicht die Weisheit der Könige, die Euch so überaus reichhaltig zuteilgeworden ist. Die Thekener sind sowieso merkwürdige Leute, da sie ihre Bürger frei wählen lassen, wer sie regieren soll und stimmen sogar über die Regierungspolitik in der Volksversammlung ab. Da sind das glückliche Volk der Lykonen unter ihrem ruhmreichen König und die Bürger Ephetions mit dem Oligarchenrat schon besser dran, denn das einfache Volk braucht eine harte Hand, das es führt. Wo kämen wir denn dahin, wenn die Leute selber über ihr Schicksal entscheiden oder gar Gesetze beschließen dürften? Wer bräuchte dann noch eine autokratische Obrigkeit von der Götter Gnaden, die den Pöbel in die gewünschte Richtung prügelt?“
Inständig hoffend, dass der so mächtig mit der ‚Weisheit der Könige‘ gesegnete Herrscher, die eigentliche Aussage nicht begriff, sah der listige Nauarch den Monarchen treuherzig an.
„Alkastos, mein Lieber, das hast Du schön gesagt! Du sollst Dich an der Sonne meiner Gunst erfreuen. Solohenes ist einfach nur ein Idiot, der freiwillig der Macht entsagte. Stattdessen reist er lieber durch die Weltgeschichte und nutzt seinen zweifelhaften Ruhm als Schriftsteller, Wissenschaftler und Staatsmann dazu, seine Gönner mit absonderlichen Vorschlägen zu quälen.“
Der Seefahrer verneigte sich mit einem feinen Lächeln tief, insgeheim den Göttern dankend, dass sie seinen Gastgeber mit derartig viel arroganter Ignoranz gesegnet hatten. Selbstverständlich hielt er Solohenes keineswegs für einen schwätzenden Schwachkopf, sondern bewunderte ihn dafür, dass das Universalgenie die Größe besaß, nachdem er den Thekener eine demokratische Verfassung gestiftet hatte, freiwillig auf dem Zenit seiner Macht und Beliebtheit ins Exil zu gehen.
„Aber zum Geschäft! Alkastos, mein Lieber, Du darfst mir einen großen Dienst erweisen. Ich nehme an, ein niederer Kaufmann wie Du ist der lydonischen Zunge mächtig?“
„Selbstverständlich, weisester aller Herrscher!“
Nachdem der Kapitän mit feinstem Lydonisch antwortete, setzte auch Kroiphem, der bisher die Konversation mit etwas holprigen Danaeisch geführt hatte, das Gespräch in seiner Muttersprache fort.
„Sehr gut! Cretinarces, Castrates, Idiokadnezar und Sykophantissos, ich gewähre euch heute die Gunst, mich und meinen Thron in die Schatzkammer Nr. 20 zu tragen!“
Freudig und außerordentlich geehrt über das Privileg, ihren fetten König in die erwähnte Räumlichkeit schleppen zu dürfen, sprangen sogleich vier wohlgestaltete Höflinge auf, um ehrfürchtig das majestätische Werk zu verrichten. Allerdings wurde die Begeisterung doch durch das Gewicht ihres Monarchen nebst dem prächtigen Sitzmöbel und der Tatsache gedämpft, dass ein vorzeitiges Schlappmachen als Hochverrat angesehen wurde und der Delinquent vermutlich dem Wesir bei abendlichen Herrscherbespaßung Gesellschaft leisten durfte.
„Alkastos, mein Lieber, Du folgst mir. Pharnabessos, nimm Dir zwei Deiner Schergen und begleite mich ebenfalls.“
Der Kommandant der Palastwache, ein schöner und hochgewachsener Mann, nickte zwei seiner Untergebenen herrisch zu.
„Danaer, Du gehst hinter seiner Majestät, wir folgen Dir dann und bedenke, wir beobachten Dich genau!“
Mit einem Schulterzucken folgte der Nauarch der Anweisung Kommandanten und die seltsame Prozession setzte sich in Bewegung.

*

Wohlgefüllt mit den edelsten Preziosen bot die Schatzkammer 20 einen faszinierenden Anblick, der vermutlich Jeff Bezos oder Bill Gates hätte ausflippen lassen. Inmitten des Raumes befanden sich ein zufrieden grinsender Kroiphem auf seinem prächtigen Thron, ein wachsamer Chef der Leibwache, ein den Reichtum mit Kennerblick bewundernder Schiffskapitän und vier völlig erschöpfte Hofschranzen. Derweil hatten sich die zwei Palastwache auf Befehl ihres obersten Kriegsherrn vorm Eingangsportal postiert, um etwaige Störungen schlagfertig zu unterbinden.
„Jetzt alle mit Ausnahme von Alkastos und Pharnabessos raus. Das Portal soll während unserer Plauderei geschlossen bleiben!“
Der monarchistische Wunsch wurde innerhalb von Rekordzeit erfüllt, da niemand die ausgesprochene Neigung empfand, am königlichen Grillen teilzunehmen.
„Da wir nun in intimer Runde sind und keine amputationswürdigen Ohren uns belauschen können, möchte ich Dir zunächst eine Frage stellen, mein guter Alkastos: Ist Dir das Auge des Milikles ein Begriff?“
Verwundert sah der Nauarch den ihm so wohlgesonnen König an.
„In der Tat, großer König. In Niflgrila und offensichtlich auch bei den Barbaren ist die Geschichte wohlbekannt. Die Legende berichtet, dass der große Magier Milikles einst die Seele einer mächtigen Orakelpriesterin in einen riesigen Rubin von der Größe des Kopfes eines Mannes bannte und sie zwang, für ihn die Zukunft zu deuten. Der Sage nach darf jeder andere Sterbliche genau eine Frage sein zukünftiges Schicksal betreffend stellen, die ihm die gefangene Priesterin wahrheitsgemäß beantwortet. Allerdings sei der Edelstein verflucht und Milikles habe ihn versteckt, bevor in einer anderen Dimension verschwand.“
„Und, wenn ich dir sage, dass ich weiß, wo der Stein sich finden lässt?“
Redlich bemüht, totbringende Verachtung aus seiner Stimme herauszuhalten, antwortete Alkastos.
„Dann, oh großer König, muss ich Dir sagen, dass man Dich betrogen hat. Der magische Edelstein ist einfach nur ein nettes Märchen, das man Kindern beim Schlafengehen erzählt. Milikles, wenn es den wirklich gegeben haben sollte, konnte mit Sicherheit nicht zaubern, sondern war vermutlich ein ausgebuffter Scharlatan. Glaube mir, großmächtiger Herrscher, auf meinen Reisen habe ich viele sogenannte Magier und heilige Männer kennen gelernt, aber nicht einer von denen konnte wirklich hexen. Allerdings muss ich zugeben, dass einige ihr Handwerk der Täuschung und Illusion wirklich gut verstanden!“
„Hüte Deine Zunge, Danaer!“
Kroiphem lächelte voll hochmütiger Arroganz und gebot mit einer knappen Handbewegung dem aufgebrachten Pharnabessos zu schweigen.
„Hältst Du mich für so dumm? Ich bin im Besitz einer Karte, die aus der Zeit des Milikles stammt und den Standort der Kostbarkeit genau bezeichnet. Ein, ähm Hobbyarchäologe, entdeckte das Dokument in einem alten Grab und verlangte dafür einen wirklich unverschämten Preis. Normalerweise hätte er seinen gerechten Lohn bei einer meiner Grillpartys erhalten, aber man soll es sich nicht mit seinen Lieferanten verscherzen. Was meinst Du wohl, warum ich Deinen vorlauten Landsmann überhaupt eingeladen habe? Solohenes ist zwar ein Spinner, aber eine Koryphäe in der Altertumsforschung. Er hat mir schließlich die Authentizität der Karte bestätigt. Außerdem, mein Freund, hast Du natürlich recht, dass Menschen nicht zaubern können, aber es gibt andere Wesen, die der Hexerei mächtig sind und Milikles war bekanntlich nur zur Hälfte Mensch und zur anderen Hälfte Dämon. Aber egal, ob der Edelstein nun magisch ist oder nicht, er ist ein erlesenes Stück, wie es ihn kein zweites Mal auf der Welt gibt und Du wirst ihn mir besorgen!“
Wie sagt man einem irren Mörder, dass er den Verstand verloren hatte? Alkastos sah den sich in Begeisterung geredeten Monarchen nachdenklich an.
„Herr, ich verstehe nicht ganz. Abgesehen davon, dass diese Karte vielleicht echt ist, aber durchaus der Phantasie eines kranken Hirns entsprungen sein kann, wozu benötigt Ihr eigentlich meine bescheidenen Dienste?“
„Dann wollen wir Tacheles reden? Das ‚Auge des Milikles‘ befindet sich auf einer Insel mitten im Meer von Skotadi. Ich kann keine Flotte durch die Säulen des Memnon schicken um die Insel zu finden, ohne einen Krieg mit Amphipolis zu riskieren und mein Vorhaben publik zu machen. Also bleibt es mir nur übrig möglichst diskret vorzugehen und nur ein Schiff zu senden, um möglichst wenig Aufsehen zu erregen. Da kommst Du ins Spiel Danaer. Ich brauche einen ungewöhnlich begabten Kapitän, der es unbemerkt durch die Meerenge bei Amphipolis schafft und in der Lage ist, das Eiland auch zu finden. Meine Spione haben mir wahrhaft Wunderdinge über Deine nautischen Fähigkeiten erzählt, deshalb wirst Du mir den Stein bringen!“
Feierlich nickte der hochgelobte Nauarch dem Monarchen zu, innerlich lachend über die Naivität des einfältigen Barbaren. Natürlich würde Alkastos den Teufel tun und Kopf und Kragen für die Spinnereien dieses royalen Geistesgestörten riskieren, sondern sich umgehend nach Ephetion verkrümeln.
„Großer König, es ist mir eine große Ehre! Ich werde sogleich mit meiner Crew aufbrechen und Euch den wundervollen Rubin zum Selbstkostenpreis besorgen!“
„Nein, mein lieber Alkastos, so einfach geht das nicht! Zunächst bleiben Deine Leute als Gäste bei mir. Mein treuer Knecht Pharnabessos wird Dich mit 50 unserer besten Soldaten und Seeleute begleiten. Aber vielleicht kann ich Deine Begeisterung für das Unternehmen noch entfachen. Ich habe Dich nicht umsonst hierhergebracht. Siehst all diese Kostbarkeiten und Kleinodien, die Dich umgeben? Das alles soll Dein sein, wenn du mir das ‚Auge des Milikles‘ bringst!“
Unter diesen Prämissen beschloss der Kapitän, sich vorerst zu fügen.
„Oh weisester aller Herrscher, wer garantiert mir eigentlich, dass sich Eure Majestät nicht einfach hinsichtlich der Belohnung umentscheidet, wenn ich das köstliche Kleinod aushändige?“
„Verfluchter Hund von einem Danaer! Du wagst es, so mit unserem herrlichen Monarchen zu reden? Das wirst Du …“
„Schweige, mein getreuer Pharnabessos! Betrachten wir den Danaer als ein unwissendes Kind, das törichte Fragen stellt. Du hast mein königliches Ehrenwort, dass all diese Schätze demjenigen gehören sollen, der mir das ‚Auge des Milikles‘ bringen wird. Auch schwöre ich, dass ich und keiner meiner Untertanen den Überbringer verletzen oder töten werden. Das sollte Dir genügen! Wisse auch, dass ich Dir im Falle einer Weigerung oder des Versagens die Gnade eines heißen Rendezvous mit meinem Stier bescheren werde. Aber Du wirst mich ja nicht enttäuschen, nicht wahr?“
„Dein Wunsch ist mir Befehl, großer König. Jedoch benö-tige ich einige Mitglieder meiner Mannschaft zur Unterstützung, um meine Mission zu Eurer Zufriedenheit erfüllen zu können!“
„Ich gewähre Dir fünf Männer Deiner Wahl, das sollte keine Gefahr darstellen. Pharnabessos, mein getreuer Skla-ve und herzgeboppeltes Dreckschippche, lass Dir die Namen geben und schicke einen Boten mit einer ausreichenden Ehrengarde, um den Rest unserer danaeischen Gäste in unseren schönsten Verliesen unterzubringen. Alkastos, mein Nauarch des Herzens, Du wirst mir doch das Vergnügen bereiten, mich zu einem kleinen Event zu begleiten und den Rest des Tages mit mir zu verbringen? Bis morgen sollten alle lästigen Formalitäten und die Verproviantierung erledigt sein, sodass Du mit der ersten Flut auslaufen kannst. Aber da Du in meiner besonderen Gunst stehst, darfst Du Dich auch in einer eigens für Dich hergerichteten Folterkammer vergnügen, wenn Du magst!“
„Es ist mir eine Ehre, einen solch großmütigen Herrscher begleiten zu dürfen!“
„So sei es! Pharnabessos hole nun Wachen und Träger hinein. Aber eile Dich, ich möchte pünktlich auf dem Hinrichtungsplatz sein!“

*

Der Archeron war eine Pentekontere, was übersetzt soviel wie ‚Fünfzigruderer‘ heißt. Wie der geneigte Leser schon erahnen mag, kam dieser Schiffstyp durch die 25 Ruder an jeder Seite zu seinem Namen. Die Galeere besaß eine Länge von 35 und eine Breite von 4 Metern, verfügte jedoch auch über einen umlegbaren Mast. Gesteuert wurde das Boot von zwei großblättrigen, seitlichen Rudern am Heck. Im Gegensatz zu reinen Handelsschiffen legte man bei dieser Schiffsart weniger auf Stauraum als auf Geschwindigkeit wert. Für des Nauarchen Zwecke, der ausschließlich mit gewinnbringenden Luxusgütern handelte und nebenbei sein Piraten(un)wesen trieb, eignete sich diese Art von Wasserfahrzeug ausgezeichnet, obwohl man schon arg, bedingt durch den begrenzten Laderaum, mit dem Proviant aufpassen musste.
Alkastos hatte einen sehr unangenehmen Tag, der mit den perversen Vergnügungen des fetten Königs angefüllt war, hinter sich. Nachdem er zur Motivation für seine wichtige Aufgabe am abendlichen Wesir-Grillen und dem Braten anderer ‚Versager‘ –freundlicher Hinweis seines royalen Gönners – teilnehmen durfte, verbrachte er die Nacht in einer liebevoll eingerichteten Kerkerzelle, nachdem sich der geil gewordene Kroiphem in seinen Harem zurückzog.
Am Morgen von einem freundlichen Kerkermeister per Fußtritt geweckt, eilte er in freundlicher Begleitung einer Ehrengarde zur Anlegestelle seines Schiffes. Dort angekommen, fand er den Archeron ablege bereit vor und Pharnabessos damit beschäftigt, seine Soldaten in einem für ihn unverständlichen, obskuren lydonischen Dialekt zu instruieren. Der Kapitän nutzte denn auch die Gelegenheit, die fünf verbliebenen Mitglieder seiner Mannschaft achtern über die aktuellen Entwicklungen zu informieren.
An dieser Stelle sollte der geneigte Leser vielleicht einige Infos über die verbliebenen Gefährten des gebeutelten Nauarchen erfahren. Da war zunächst Ephialtes, Steuermann und an seemännischer Erfahrung dem Kapitän ebenbürtig. Als Steuermann jedoch füllte Ephialtes eher die Funktion eines ersten Offiziers aus, da er nicht selbst das Schiff steuerte, sondern den Männern an den beiden Rudern am Heck Anweisungen gab. Die in diesem Fall Archelaos und Nikias waren, die diesen Job perfekt beherrschten. Dann blieben noch Achillas und Harmodios, die beiden Hopliten der Besatzung. Natürlich eignen sich für Piratenüberfälle auf See Schwerbewaffnete nicht ganz so gut, sondern eher Bogenschützen und leicht Gewappnete, aber für Angriffe an Land konnten ein paar ‚Tanks‘ – andere Rollenspieler werden mich verstehen – nicht schaden. Auch bestand die lydonische Truppe nur aus Bogenschützen – deren Waffen vermochten den Bronzepanzer eines Hopliten nicht zu durchdringen – und Speerträgern, die mit leichten Schilden und nur zum Teil mit dünnen Schuppenpanzern ausgestattet waren, die allenfalls Dolchstöße abhalten konnten, da konnten die beiden eigenen Krieger schon von Vorteil sein, falls es eng wurde. Zudem besaß der kompakt gebaute Achillas medizinische Kenntnisse, während der zierliche Harmodios nicht nur kriegerische Qualitäten aufwies- der war allerdings ein Spezialfall, aber darauf kommen wir später zurück.
„Bei den Göttern, dieser Barbarenkönig hat doch nicht mehr alle Latten auf dem Zaun. ‚Das Auge des Milikles‘, absurd!“
Der vierschrötige Ephialtes spukte verächtlich auf die Planken.
„Zumindest zahlt der einfältige Barbar gut!“
Achillas warf dem in unbrüderlicher Liebe verbundenen Harmodios einen verschwörerischen Blick zu, den dieser mit einem koketten Augenaufschlag in seiner femininen Art erwiderte.
„Dieser gekrönte Zyklop ist nicht schwachsinnig, sondern komplett geistesgestört. Außerdem, Achillas, bezahlt der uns in der Weise, wie Dionlaris seinem Lebensretter Dankbarkeit erwies!“
Alkastos spielte hier auf eine Anekdote aus dem Leben des berüchtigten Tyrannen Dionlaris von Syramos an. Dem wurde durch einer seiner Soldaten während einer Schlacht das Leben gerettet. In einem ersten Anflug von Erleichterung versprach der Alleinherrscher seinen Lebensretter so zu belohnen, wie er es verdiente und niemals sein Blut zu vergießen. Freudig fragte nun der Bewahrer unwürdigen Lebens einen Weisen, was er nun fordern oder machen sollte. Der riet ihm, so weit zu fliehen, wie er vermochte und sich ein gutes Versteck zu suchen. Der Soldat schlug den Rat in den Wind und wurde von dem ebenso für seine Hinterlist wie auch für seine charakterliche Flexibilität bekannten Autokraten, der seinen Untertanen als Inkarnation der eigenen Schwäche nicht leben lassen wollte, durch die Garotte hingerichtet. So bekam der Lebensretter des Tyrannen, das, was er verdiente und sein Blut wurde schließlich im wahrsten Sinne des Wortes nicht vergossen.
„Außerdem ist eine Tour durch die Säulen des Memnon eine harte Nummer. Der Nauarch und ich haben das schon einmal gemacht und sind dabei fast draufgegangen. Damals aber hatten wir eine erfahrene, eingespielte Mannschaft. Die stinkenden Barbaren mögen ja so stark wie Ochsen sein und ausgezeichnete Feldsklaven abgeben, aber sonst traue ich denen nicht viel zu.“
Wieder ließ Ephialtes seine Körperflüssigkeit das Deck benetzen.
„Vielleicht kann man ja mit den Barbaren reden? Denen muss doch auch klar sein, dass man sie auf eine Reise ohne Wiederkehr schickt?“
Nikias Stimme drückte einen gewissen Anflug von Panik aus.
„Die sind ihrem Herrn in hündischer Treue ergeben. Außerdem ist da noch ihr Hauptmann, den man auch nicht unterschätzen sollte. Wir sollten uns zunächst fügen und auf eine günstige Gelegenheit warten, um abzuhauen!“
Mit Ausnahme des Ephialtes nickte die Besatzung zustimmend zu den Worten des Kapitäns.
„Mit dem Barbarenpack kann man sowieso nicht reden. Obwohl ich lydonisch einigermaßen kann, verstehe ich das Kauderwelsch von denen nicht. Wir sollten die ganze Bagage bei der nächsten Gelegenheit erledigen, am besten mit Gift. Zumindest sollten wir der Schlange den Kopf abhacken und uns dieses Typen entledigen!“
Ephialtes hob sein Haupt in Richtung des Reptilienkopfes, der sich hochmütig lächelnd der Gruppe näherte.
„Vorsicht, der kann uns hören!“
Nikias ängstliche Bemerkung löste bei dem Schlangentöter nur ein kurzes, trockenes Lachen aus.
„Der versteht sowieso nur lydonisch! Ich habe das selbst getestet, indem ich ihn freundlich lächelnd einen ‚stinkenden Lydonenarsch‘ nannte. Der hat mich nur blöde angegrinst und mir auf die Schulter geklopft. Stimmts, Du Sohn einer Hurenmutter?“
Pharnabessos grinste noch eine Spur breiter, während er langsam auf die Gruppe zuging.
Mit einem Male überkam Alkastos das Gefühl, dass hier gewaltig etwas nicht stimmte. Obwohl rein rational gesehen, er eigentlich Ephialtes zustimmen musste, da auch die bisherige Kommunikation mit dem Kommandanten der Palastwache ausschließlich in lydonisch stattgefunden hatte, wusste der Nauarch mit einem Male Bescheid. Diese Art von Eingebungen überkamen ihn des Öfteren und halfen ihm in mancherlei Hinsicht, so wenn er beispielsweise nach einem Sturm wieder nach dem richtigen Kurs suchte oder es galt, einen Betrüger zu entlarven; Alkastos selbst schob das auf eine überragende Intuition.
„Der versteht jedes verdammte Wort, das wir sagen!“
„Ooops, Du hast mich erwischt Danaer. Aber das ist jetzt auch egal, ich habe von Deinen Leuten sowieso erfahren, was ich wissen musste. Übrigens befahl ich gerade meinen Kriegsknechten, euch alle in die Unterwelt zu schicken, falls mir irgendetwas geschehen sollte, wie beispielsweise ein bedauerlicher Unfall. Solltet ihr auf die Idee kommen, mir eure ‚Gastfreundschaft‘ aufzwingen zu wollen, so ha-ben meine treuen Sklaven die Order, euch ohne Rücksicht auf mich weiterzubefördern in eine bessere Welt. Die stammen allesamt aus Niederlydonien und sind zwar nicht die Hellsten, aber loyal und tapfer. Übrigens sprechen die Leute dort einen ganz merkwürdigen Dialekt, fast wie eine eigene Sprache und es dürfte für euch ziemlich schwierig sein, sich bei denen verständlich zu machen. Ihr solltet also gut auf mich aufpassen. Meine Männer werden übrigens auch gut auf euch achten, dass keiner versehentlich ab-handenkommt oder das Essen mit den falschen Zutaten versetzt wird.“
Die in feinsten Danaeisch gesagten Worte verursachten bei der Mannschaft eine gewisse Sprachlosigkeit, von der sich natürlich als erster der Kapitän erholte.
„Du hast Dich klar ausgedrückt Lydonier. Wie wäre es, wenn Du mir jetzt die Karte aushändigen würdest, von der Dein König so vollmundig redete. Schließlich sollte ich ja wissen, welchen Kurs ich einschlagen soll!“
Pharnabessos lachte kurz höhnisch auf und schüttelte sein Haupt.
„Das könnte Dir so passen Danaer! Das Einzige, was Du wissen musst, ist, dass wenn wir die Säulen des Memnon passiert haben, an der pontischen Küste Richtung Osten reisen müssen. Alles weitere erfährst Du zum gegebenen Zeitpunkt. Wenn Du mit Deinen Männern alles Notwendige besprochen hast, sollten wir ablegen. Ansonsten lausche ich gerne eurer Konversation, mein Danaeisch ist schon arg verbesserungswürdig.“
„Nein, es gibt wohl nichts mehr für den Moment, wir können in See stechen.“
„Dann ist es ja gut, also los! Zum Ruhme unseres gnadenreichen Königs und der Ehre Lydoniens!“
Schon halb abgewandt, drehte sich der treue Kommandant des royalen Sadisten mit einem Male zu Ephialtes, diesem freundlich ins Gesicht lächelnd.
„Ach, das hätte ich fast vergessen. Wenn Du Sohn einer stinkenden Sau noch einmal wagst, mich auch nur schief anzusehen, schneide ich Dir persönlich die Eier ab und gib sie Dir zu fressen!“

*

Wider Erwarten entpuppten sich die Lydonen als passable Ruderer, die nach einiger Zeit unter Absingen eigener Gesänge einen soliden Rudertakt fanden. Allerdings entstand in den Reihen der neuen Besatzungsmitglieder, die in Toleranz- und Sozialverhalten ihren auf Bäumen lebenden Ahnen deutlich unterlegen waren, durch des Harmodios Transsexualität nicht geringe Verwirrung. Vornehmlich kommandierte Ephialtes und wurde gelegentlich vom Kapitän abgelöst, da dieser sich eher auf die schwierigen Teile ihrer Passage konzentrierte, während Pharnabessos die Danaer stets wachsam im Auge behielt. Erst am Abend des dritten Tages wurde das Schiff an einer günstig gelegenen Stelle an Land gezogen, da vorher die Mannschaft bei geworfenem Anker sitzend auf den Ruderbänken und im begrenzten Schiffsraum nächtigen musste. Dies stellte durchaus eine unübliche Praxis dar, aber der lydonische Kommandant bestand darauf, Landkontakt möglichst zu vermeiden, da die Mission unauffällig durchgeführt werden sollte und man die danaeischen ‚Schutzbefohlenen‘ so besser überwachen konnte.
Nachdem man also den Archeron am Strand befestigt hatte, schlugen die unfreiwilligen Gefährten eine Art Lager auf, das eigentlich nur aus verschiedenen Feuern bestand. Dabei ließ man die Danaer, die jedoch kreisförmig von lydonischen Lagerstätten in einigen Metern Abstand umgeben waren, für sich. Allerdings leistete der lydonische Anführer ihnen Gesellschaft, um, wie er arrogant lächelnd bemerkte, seine bescheidenen Kenntnisse der Danaeischen Sprache zu verbessern. Als Achillas und Harmodios Pharnabessos im Laufe einer etwas zähen Konversation darum baten, sie zum Zwecke eines persönlichen Geschäftes intimer Natur zu entschuldigen, erteilte dieser mit verächtlicher Miene seine Erlaubnis, natürlich nicht ohne die vermeintlichen Turteltäubchen freundlich zu warnen, doch nicht den außerhalb aufgestellten Wachen zur Vermeidung letaler Missverständnisse zu nahe zu kommen. Nach Abgang der beiden zärtlich verbundenen Freunde, hielt dann auch der oberste Palastwächter den verbliebenen Danaern einen ebenso besserwisserischen wie homophoben Vortrag über Dekadenz schwächlicher Kulturvölker, der jedoch allenfalls ein mildes Lächeln über den großsprecherischen Barbaren auslöste. Nach einer guten halben Stunde kehrten die Beiden, begleitet von hämischen Ausrufen der umgebenden, lydonischen Kriegsknechten, zu ihren Gefährten zurück.
„Ach, ihr Sahneschnittchen, ich fühle mich doch jetzt wie Daidalos!“
In Wahrheit hatten die beiden Liebenden auf ein intimes Zusammensein verzichtet und etwaige Fluchtmöglichkeiten ausgespäht. Harmodios meinte mit seinem Kommentar, dass eine Flucht so gut wie ausgeschlossen war, da der berühmte Daidalos sich und seinem Sohn Flügel bauen musste, um der strengen Gefangenschaft des legendären Königs Minos fliegend zu entkommen.
Obwohl Pharnabessos das Statement zunächst in einem sexuellen Kontext verstand und ein sardonisches Lachen ausstieß, beschloss Alkastos den Lydonier, den man beileibe keinen Dummkopf nennen konnte, nach der Heiterkeitsattacke abzulenken.
„Was haben da eigentlich Deine Männer zu kreischen ge-habt, als die Beiden zurückkamen?“
Ein verächtliches Grinsen umspielte noch immer die Mundwinkel des Kommandanten, das sich jedoch jetzt vertiefte.
„Die Männer fragen sich, ob ihr Danaer eigens eure Hure hier mitgebracht habt und wer als nächster über das Mädchen steigt!“
„Ihr Lydonier trieft ja förmlich vor rhetorischer Brillanz, aber man sollte Harmodios nicht zu sehr reizen.“
Mit grenzenloser Verachtung betrachtete der homophobe Barbarenführer den Nauarchen und beschloss den auf-müpfigen Danaern eine Lektion zu erteilen.
„Ach ja?"
Befehlend wandte sich Pharnabessos an einen riesenhaften Lydonier, der nach Neandertalerart dumpf in die Flammen eines benachbarten Lagerfeuers starrte und nur begrenzt die Ähnlichkeit mit einem menschlichen Wesen besaß.
„Enkiddu, Danaean gyzy bilen hezil edip bilersiňiz. Utan, gözümiň öňünde!“
Langsam erhob sich der unförmige Tiermensch und beweg-te sich schwerfällig auf die Danaer zu.
„Verdammt, Pharnabessos, was hast Du diesem Untier gesagt?“
„Das er sich euer Mädchen vornehmen und es vor meinen Augen ordentlich durchbumsen soll. Enkiddu ist zwar nicht schwul, führt aber kadavergehorsam jeden Befehl aus, Nauarch.“
Achillas machte Anstalten sich wutentbrannt zu erheben, wurde aber durch eine zärtlich feminine Handbewegung seines Liebsten gestoppt. Lieblich lächelnd schritt nun Harmodios dem freudig nach Zyklopenart vor einer Menschenfresserei grunzenden Riesen, der sich bereits wohlig das Gemächt rieb, voller knisternder Erotik entgegen, während die kriegsknechtlichen Massen vor Vergnügen johlten und geiferten.
„Sieht so aus, als ob eure Hure zur Abwechslung mal einen richtigen Mann braucht!“
Die höhnische Mimik des offizierlichen Voyeurs verwandelte sich in leichtes Erstaunen als er in die seltsam grinsenden Gesichter der Danaer blickte. Freilich nahm die Verwunderung noch zu, als der tiermenschliche Romeo einige Minuten später nach einer Serie gezielter Tritte und Schläge besinnungslos im Sand lag, während sich die deka-denten Kulturmenschen die Bäuche vor homerischem Gelächter hielten.
„Der war nun wirklich groß, aber ich stehe nicht so sehr auf stinkende Barbaren.“
Des unwilligen Liebhabers feminine Stimme drückte freundliches Bedauern aus. Unbehelligt von den förmlich erstarrten Waffengefährten des Enkiddu kehrte er langsam zu seinen Leuten zurück.
„Harmodios liebt zwar das schöne Geschlecht und nicht die Frauen, aber er ist der beste Kämpfer, der mir jemals begegnet ist.“
Alkastos hatte sich als erster von der heiteren Runde wieder gefangen und gedachte, die Lage ein wenig zu deeskalieren.
„Das will ich sehen!“
Wieder wandte sich Pharnabessos an einen seiner Männer.
„Siz o ýerdemi! Naýzaňy Danae jandaryna zyň!“
Der erhob sich, griff nach seinem in der Nähe liegenden Speer und warf ihn in Richtung des Rückkehrers in den Sand.
Mit kriegslüstern blitzenden Augen erteilte der Kommandant zwei anderen seiner Kriegsknechte Befehle.
„Gyzy öldüriň, aňsatlaşdyryň! Emma jelepiň gitmegine garaşyň!“
Zwei weitere Krieger erhoben sich, ergriffen Schild und Speer, um sich kampfbereit aufzustellen.
„Bevor Du fragst, Nauarch. Ich habe meinen Männern befohlen, eure Amazone zu töten. Er soll den Speer nehmen und gegen die beiden kämpfen.“
Mit einem genervt gelangweilten Seufzer, der an ein kleines Mädchen erinnerte, das man wiederholt zu einer extrem stumpfsinnigen Tätigkeit zwang, setzte sich Harmodios wieder in Bewegung, ohne die vor ihm liegende Waffe überhaupt zu beachten. Die beiden Speerkämpfer hingegen näherten sich professionell mit Bewegungen synchron auf beiden Flanken, um ihren Gegner in die Zange zu nehmen.
„Ja, will der sich denn nicht bewaffnen?“
„Deine Männer, Hauptmann, sind so gut wie tot. Unser Harmodios ist vom Kriegsgott gesegnet.“
„Ach was, Nauarch. Das hier wird eher schnell beendet sein.“
Wie es Pharnabessos nicht ganz richtig vorausgesehen hatte, dauerte der eigentliche Kampf keine Minute. Als die Kombattanten sich schließlich erreichten, stachen beide Lydonier mit ihren Speeren gleichzeitig von den Seiten zu und trafen die Luft. Derweil hatte sich der Danaer blitzschnell mit einer tänzelnden Ausfallbewegung hinter den Mann rechts von ihm gebracht und seinen unbehelmten Kopf mit titanischer Kraft so gedreht, dass er sich das Genick brach. Bevor der Sterbende noch den Boden erreichte, entriss er ihm seinen Speer und schleuderte ihn Achilles gleich in die nicht durch das Schild gedeckte Brust des verbleibenden Gegners, sodass die Spitze aus dem Rücken des Opfers drang. Mit raubtierhafter Grazie und Geschwindigkeit bewegte sich Harmodios sich zu seinem jetzt am Boden befindlichen Gegner, riss ihm den Speer aus der Brust und nagelte ihn mit einem gewaltigen Stich durch den Hals förmlich am Boden fest.
Gemächlich begab sich ‚Ker‘ – so wurde unser Trans-Mensch übrigens aus verständlichen Gründen von der Killerelite der danaeischen Söldner nach der Göttin des Todesschicksals genannt – zu seinen Gefährten zurück, ohne von den dumpfen Massen belästigt zu werden, die erst die jüngsten Ereignisse verdauen mussten. Schließlich aber ging ein Ruck durch die lydonische Soldateska und mit einem wütenden Geheul, das an ein Rudel völlig irrer Wölfe erinnerte, ergriffen die Kriegsknechte ihre Waffen.
„Bolýar, samsyklar! Kim uruş hudaýynyň saçyny çekse, özümi jezalandyraryn!“
Mit Stentorstimme rief Pharnabessos seine Kriegsknechte zur Ordnung, die ihre Waffen niederlegten und sich kleinlaut an ihre Lagerfeuer begaben.
„Es ist gut, Nauarch! Das war einzigartig! Eurer Kriegsgöttin wird kein Haar gekrümmt, sie könnte noch von großem Nutzen für mich sein.“
Mit neuem Missvergnügen registrierte der in seiner Blutlust befriedigte Offizier und Gentleman, dass Achillas und Harmodios sich nach überstandenem Abenteuer einen leidenschaftlichen Kuss gaben.
„Ob nun Kriegsgöttin oder nicht, das ist pervers!“
„Warum könnt ihr dumpfen Barbaren nicht begreifen, dass Liebe unter Männern etwas ganz Natürliches ist?“
Mitleidig sah Alkastos den homophoben Offizier an, der wiederum schüttelte emotional überfordert sein quadratisches Haupt.
„Verschone mich mit Deinem dekadenten Geschwafel, Nauarch. Es wird Zeit sich zur Ruhe zu begeben. Euer Schlaf ist mir heilig, deshalb habe ich meinen Männern befohlen, auch jedes Gespräch von euch, und sei es noch geflüstert, in meiner Abwesenheit zu unterbinden. Also, ruht wohl!“

*

Die nächsten drei Wochen der Reise verliefen ohne besondere Vorkommnisse. Wie bereits in den Tagen davor, wurden Anlandungen möglichst vermieden. Allerdings zwang der begrenzte Laderaum ihres Schiffes die Reisenden dazu, regelmäßig ihre Vorräte aufzufüllen. Das geschah durch den Handel mit kleinen Fischerdörfern, deren misstrauischen Einwohnern – die danaeischen Gewohnheiten der Zeit beinhalteten eher die gründliche Ausplünderung der hilflosen Barbaren – man erfolgreich die Mär von Luxusgüterhandel mit Amphipolis, dessen mächtige Seestreitkräfte gewaltig etwas gegen fremde Piraten hatten, aufband. Natürlich machte der Archeron, um nicht aufzufallen, einen großen Bogen um alle größeren Ansiedlungen. Letztendlich landete man auf Rat des Nauarchen, den Pharnabessos widerwillig akzeptierte, auf einer der kleinen Inseln, die sich unweit des Eingangs zur Wasserstraße, die zu den Säulen des Memnon und zum Eingang des Meeres von Skotadi führte, bereits am Vormittag an. Nachdem das Lager in gewohnter Weise aufgeschlagen wurde, versammelte Alkastos seine Gefährten inklusive des ungeliebten Anführers der knechtischen Bodentruppen, um die Details der Passage durch die Meerenge zu besprechen.
„Um es kurz zu machen beschreibe ich euch, was uns erwartet. Schließlich sollen mich auch alle verstehen!“
Der Nauarch warf dem lydonischen Kriegsherrn einen kurzen, spöttischen Blick zu, den der wiederum säuerlich erwiderte.
„Bei den Säulen des Memnon handelt es sich, wie fast allen hier bekannt sein dürfte, um zwei Felseninseln, die sich am Ende des Daenisponts, also dieser Meerenge, befinden. Danach erreichen wir offene See und können unbehelligt unserer Wege ziehen. Leider haben wir es in der Mitte der Wasserstraße mit einer derartig starken Strömung entgegengesetzt zur Fahrtrichtung zu tun, dass wir es mit dem Archeron nicht schaffen, dagegen anzukommen. Es bleibt also nur eine Passage entlang der West- oder Ostküste und selbst da müssen wir gegen die Strömung tüchtig anrudern. Auf die Winde können wir uns nicht verlassen, da es entweder windstill ist oder wir auf der Leeseite sind. Wie die anwesenden Seeleute wissen, versperrt uns im Westen Amphipolis mit seiner starken Flotte und regelmäßigen Patrouillen den Weg, sodass uns eigentlich nur der Weg die Ostküste entlang zur Verfügung steht. Hier haben wir es allerdings mit tückischen Riffen und Untiefen zu tun. Trotzdem sollten wir heute Nacht den Weg wagen!“
Mit unzufriedener Miene meldete sich nun Pharnabessos wichtigtuerisch zu Wort.
„Und warum nachts? Ich frage mich auch, warum wir nicht die ungefährlichere Westpassage nutzen sollten, wenn wir schon in der Dunkelheit unterwegs sein müssen?“
„Ich vergaß, dass einige triviale Details hier nicht allen bekannt sind. Um mit der letzten Frage anzufangen: Die Amphipoliten sperren die Durchfahrt zwischen ihrer Stadt und der westlichen Felseninsel nachts mit einer Schiffskette. Da es sich bei den Bürgern von Amphipolis auch nicht um dümmlich seeunkundige Barbaren handelt, haben sie auch an der Ostküste einige Schiffe stationiert. Unglücklicherweise ist unser Archeron, wie auch anwesenden Landratten klar sein dürfte, auch kein Kriegsschiff und nicht mit einem Rammsporn ausgestattet. Trotzdem würde ich es ja mit meiner alten Mannschaft versuchen, aber leider ist die gegenwärtige Crew zwar in der Lage einigermaßen den Takt zu halten, aber insgesamt gesehen nicht gut genug, um bei Gegenströmung am Gegner vorbeizukommen. Nachts jedoch, ziehen die Amphipoliten ihre Schiffe an den Strand. Die werden wegen der tückischen Gewässer den Teufel tun und bei Dunkelheit auslaufen, selbst wenn sie uns bemerken. Wenn wir uns aber hart an der Küste der östlichen Felseninsel halten, dürften wir unbemerkt passieren. Wir können dann direkt unsere Fahrt an der pontischen Küste ohne weitere Belästigungen fortsetzen. Den Göttern sei Dank ist das ein öder Landstrich, an dem Amphipolis wenig Interesse hat und mit seiner Marine verschont. Ist das jetzt allen klar oder gibt es weitere Fragen?“
„Also gut, Danaer, so soll es geschehen. Aber hüte Dich vor krummen Touren, wir behalten Dich im Auge!“
Indigniert stieß der lydonische Edelmann die widerwillig zustimmenden Worte hervor.
„Gut, dann sollten wir uns jetzt ausruhen, denn heute Nacht wird es hart genug!“
„Nicht so schnell, Kapitän. Du hast ja selber auf die außerordentlichen Schwierigkeiten unserer Passage hingewiesen. Wir sollten die Gelegenheit nutzen und uns über unseren Beuteanteil unterhalten. Ich finde 10% für mich und die 5% für die Übrigen ist viel zu wenig! Dafür, dass wir unsere Haut hier so extrem riskieren, sollte mindestens die Hälfte für uns drin sein!“
Ephialtes lächelte seinen Vorgesetzten und langjährigen Freund verbindlich an, der jedoch ließ nicht lange mit der Antwort warten.
„Ephialtes, weil Du es bist, gestehe ich Dir 15% und den anderen 10% zu. Ihr solltet bedenken, dass unser Rückweg ein Kinderspiel sein wird. Wenn wir da die Strömung ausnutzen, können uns die Amphipoliten nicht gefährlich werden.“
Nun schaltete sich auch der sonst schweigsame Archelaos ein.
„Herr, 10% sind nicht genug für uns. Schließlich haben wir gute Chancen, uns heute Nacht alle in der Unterwelt wiederzufinden!“
Nikias bekundete seine Zustimmung mit einem nervösen Nicken, während das kriegerische Liebespaar scheinbar teilnahmslos die Konversation beobachtete.
„Also gut, 15% für Ephialtes und 15% für euch, aber das ist mein letztes Wort!“
Wiederum meldete sich der Steuermann zu Wort, dieses Mal allerdings eine Spur unfreundlicher.
„Nein, so geht das nicht! Ich kann noch 20% für mich und 20% für die Mannschaft akzeptieren, aber nur, weil wir Freunde sind. Das sind wir doch, oder?“
„Auch Freundschaft hat ihre Grenzen! Was meinen eigentlich die Anderen dazu?“
„15% für uns sind fair genug!“
Harmodios nickte mädchenhaft zustimmend zu den bedächtigen Worten des Achillas.
„Nein, wir haben nur ein Leben und das werde ich nicht billig verkaufen!“
Sichtlich erregt stieß Archelaos die Worte knurrend hervor.
„Ich weiß nicht, 20% wären nicht schlecht, aber auch das Angebot vom Kapitän ist nicht übel.“
Mit ängstlicher Miene blickte Nikias von einem zum anderen.
„Gut, so finden wir keine Lösung, also stimmen wir ab!“
Pharnabessos, der bisher die Tarifverhandlungen interessiert beobachtet hatte, blickte überrascht den Nauarchen an. Ganz lydonischer Herrenmensch kam ihm der Vorschlag des Alkastos nun völlig verrückt vor.
„Wer akzeptiert mein Angebot?“
Achillas und Harmodios erhoben die Hände.
„Wer ist dagegen? Ephialtes und Archelaos, nun gut. Was ist mit Dir, Nikias?“
„Ich weiß es nicht, sollen die anderen entscheiden.“
„Enthaltung! Gut, bei Gleichstand entscheide ich dann, so wie wir es einst vereinbarten. Es bleibt also bei meinem letzten Angebot.“
„Das ist nicht fair, Nikias soll sich entscheiden!“
Sichtlich aufgebracht funkelte Ephialtes seinen Vorgesetzten förmlich an und auch Archelaos brachte seinen Unwillen durch ein widerwilliges Knurren zum Ausdruck.
„Ephialtes, halte den Mund. Die Entscheidung ist gefallen und wird nicht mehr diskutiert. Ich bin hier der Kapitän und Du wirst tun, was ich Dir befehle. Die Beratung ist beendet und wir sollten uns jetzt alle ausruhen, denn wir haben einen harten Weg vor uns!“
Pharnabessos jedoch, der den Streit über die Beute genüsslich beobachtet hatte, betrachtete Ephialtes mit neuem Interesse und lächelte in sich hinein.

*

Bevor sie bei Sonnenuntergang in See stachen, ruhte sich die Mannschaft in Hinsicht auf die kommenden Strapazen aus. Seltsamerweise erlaubte Pharnabessos den Danaern größere Freiheiten und führte sogar Einzelgespräche mit einigen von ihnen.
Auf See fanden die Lydonen nach kurzer Zeit einen wenig lärmerzeugenden Rudertakt, den Harmodios leise mit der Flöte vorgab, da rhythmisches Singen eher kontraproduktiv gewesen wäre. Alkastos persönlich kommandierte die beiden Rudergänger und führte das Schiff mit traumwand-lerischer Sicherheit. Obwohl Ephialtes seinem Kapitän nach der letzten Auseinandersetzung nicht länger freundschaftlich zugeneigt war, so musste er doch dessen seemännisches Geschick widerwillig bewundern. In mindestens zwei Fällen hätte der Steuermann einen anderen Kurs eingeschlagen und – wie sich dann später herauskristallisierte – einen kapitalen Schiffbruch erlitten. So schlich schließlich der Archeron an der Küste, die mehr oder minder aus einem hohen Kliff bestand, der östlichen ‚Säule den Memnon‘ entlang.
Mit einem Male beschlich den Nauarchen das übermächtige Gefühl, beobachtet zu werden.
„Verdammt, hier ist etwas faul! Harmodios, den Takt auf Maximalgeschwindigkeit erhöhen. Pharnabessos, sage diesen Bastarden, dass sie um ihr Leben rudern sollen!“
Trotz des Überraschungsmoments übersetzte der lydonische Komandeur, der angesichts der seemännischen Leistungen die Anweisungen des Kapitäns nicht mehr länger hinterfragte, augenblicklich.
„Itler, has çalt hatarlaň. Çalt ýa-da deriňizi şahsy çykararyn!“
Die werktätige Bevölkerung kam dieser freundlichen Anweisung ohne größere Verzögerung nach, sodass die Pentekontere fast den berühmten Sprung nach vorn machte, der allerdings keinen Augenblick zu früh kam. Mit einem gewaltigen Getöse schlug sein Felsblock knapp hinter dem Schiff auf die Wasseroberfläche, während fast simultan ein Signalfeuer auf dem Kliff entzündet wurde.
„Die hätten uns mittschiffs erwischt! Pullt, ihr lydonischen Hunde!“
Ephialtes Kommentar entbehrte zwar einer gewissen Sinnhaftigkeit, zumal der rudernde Teil der multikul-turellen Besatzung ihn nicht ganz so gut verstehen konnte, war aber angesichts der speziellen Situation verzeihlich.
„Nauarch, woher habt Ihr eigentlich gewusst, dass die verfluchten Amphipoliten Männer auf dem Scheißfelsen postiert haben? Bei unserer letzten Passage war der doch unbesetzt!“
„Da muss ich Eurem Steuermann rechtgeben, Danaer. Ich frage mich auch, wie es weitergehen soll?“
Während das Schiff mit Höchstgeschwindigkeit das offene Meer erreichte, blickte der Pharnabessos Alkastos interessiert an.
„Weiter Kurs offenes Meer halten! Tja, edelster aller lydonischen Büttel, weiß ich auch nicht, ich hatte mit einem Male so ein ganz mieses Gefühl. Ich glaube nicht, dass unsere Freunde vom anderen Ufer nachts versuchen werden, uns abzufangen. Aber Du kannst sicher sein, dass sie im Morgengrauen zwei oder drei Schiffe aussenden werden, um an der Ostküste Jagd auf uns zu machen. Wir halten jetzt zwei Tage Kurs aufs offene Meer, dann werden mit Hilfe der Sonnenscheibe und Gestirne nach Osten steu-ern. Irgendwann gelangen wir dann an die pontische Küste und bis dahin dürften unsere amphipolitischen Freunde aufgegeben haben. Bete zu Deinen lydonischen Göttern, dass uns nicht vorher das Wasser ausgeht! Übrigens wäre es jetzt an der Zeit, mir die berühmte Karte zu zeigen!“
„Das wird schlecht gehen, Danaer. Die Karte ist nämlich hier!“
Lächelnd deutete Pharnabessos auf seinen Kopf.
„Du glaubst doch nicht, dass unser glorreicher König so dumm ist, das kostbare Papyrus aufs Spiel zu setzen. Außerdem kommt ihr dann nicht auf dumme Gedanken! Aber was Du sagst, ist nicht wirklich erfreulich. Unser Weg wäre die pontische Küste entlang gewesen, bis wir eine starke Strömung ausmachen, die sie aus nördlicher Richtung trifft. Dann sollten wir mehrere Tage gegen den Strom rudern und würden dann unser Ziel erreichen!“
Ungläubig starrte der Kapitän den aufgezwungenen Passagier an.
„Bei den Göttern, das ist ja total bescheuert. Falls wir unterwegs nicht draufgehen, sollen wir also endlos vor der ponti-schen Küste kreuzen und dann einer Meeresströmung folgen? Es wäre weiser, die Sache aufzugeben und uns in Gefilde abzusetzen, die nicht zur Einflußsphäre Deines exzentrischen Königs gehören. Du und Deine Männer können als Söldner eine Menge Geld verdienen!“
Unwillig schüttelte der getreue Offizier des irren Königs sein kompaktes Haupt.
„Ich werde meinen König nicht verraten! Der Befehl des tollen Führers in seiner Wut ist heilig und solltet ihr alle dabei in die Unterwelt fahren. Wir siegen oder ihr sterbt! Haben wir uns verstanden?“
So viel Stupidität die Befehle eines offensichtlich Geisteskranken trotz sich bietender Alternativen so fanatisch auszuführen, hätte Alkastos nicht einmal den dümmsten Barbaren zugetraut, aber der Nauarch vernahm schon Legenden vom Stamme der Teutonen irgendwo im ungastlichen Norden, die in dieser Beziehung die Lydonen wohl noch übertrafen.
„Ihr habt Euch unmissverständlich ausgedrückt, Hauptmann. Ihr könnt Euren Knechten normales Tempo befehlen, wir sind jetzt weit genug draußen.“
„Adaty hatar! Maňa aýdym aýdyň: Kroiphem biziň ýolbeletimizdir!“
Lautstark begann die Mannschaft rhythmisch zum Ruderschlag die Königshymne an zu grölen.
„Die sollen die Schnauze halten und sich an Harmodios Flöte orientieren. Harmodios blase mit normalem Tempo!“
Grinsend übersetzte Pharnabessos die Anweisung.

*

Nach zwei Tagen windstillen Tagen begab sich der Archeron auf Ostkurs, um nach einen Tag von einer mäßi-gen Brise unterstützt zu werden, die das Segeln erlaubte. Es war der Mittag des vierten Tages nach jener denkwürdigen Nacht, als sie die ersten Seevögel erblickten und kurze Zeit später Land ausmachten.
„Das kann unmöglich die pontische Küste sein, das sieht aus wie…“
Der begeisterte Schrei des offizierlichen Jubel-Lydonen unterbrach die Worte des Nauarchen jäh.
„Bei den Götter Danaer, Du hast die Insel gefunden! Siehst Du diese Felsen, die wie zwei, sich einander anblickende Totenköpfe aussehen? Dahinter befindet sich ein Sandstrand auf dem wir bequem landen können. Einige hundert Meter weiter in nördlicher Richtung treffen wir dann auf die ‚Straße der Toten‘, die uns zu dem Tempel führt, in dem sich das Auge befindet. Du bist wahrlich vom Meeresgott gesegnet Nauarch!“
Nicht gänzlich überzeugt ließ Alkastos anlanden und das Schiff auf den Strand ziehen. Dies Vorgang war kaum abgeschlossen, als der oberste Schatzjäger lydonischer Nation schon die Initiative ergriff.
„Diňläň, itler. Naýzaçylar we sekiz okçy meniň bilen gelýär. Deňizçiler gämi bilen Danae deňiz alakalary bilen galýarlar. Kapitan, söweş hudaýy we söýgülisi hem gelýär.“
Arrogant lächelnd wandte Pharnabessos sich den in einer Gruppe zusammenstehenden Danaern zu, während sich 20 seiner Speerträger und 8 Bogenschützen zu einer Kolonne formierten.
„Wir brechen sofort auf! Nauarch, Du und Deine Krieger kommen mit mir. Der Steuermann und die Rudergänger bleiben mit den Seeleuten beim Schiff.“
Leicht herablassend blickte der Kapitän den vor Eifer förmlich brennenden Offizier an.
„Gemach, ich glaube nicht, dass das Auge uns innerhalb weniger Stunden durch die Lappen geht. Ich und meine Leute müssen erst unsere Rüstungen anlegen. Außerdem sollten wir nicht übereilt handeln und zunächst Späher aussenden. Wer weiß, welche Gefahren hier noch auf uns lauern.“
Widerwillig nickte der oberkriegsknechtische Lydone.
„Also gut, dann modelt euch mal, aber beeilt euch. Späher sind unnötig. Glaube mir, Danaer, außer einigen Seevögeln ist die Insel tot. Wie es geschrieben steht, hat Milikles in seiner tödlichen Großmut dafür gesorgt. Du wirst schon bald die ehemaligen Einwohner kennen lernen. Wir haben es einzig im Tempel mit einem nicht näher beschriebenen Wächter zu tun, aber der dürfte für die Macht der lydonischen Waffen kein Problem sein.“
So warfen sich nun die Danaer in Schale, die bei Achillas und Harmodios aus der klassischen Hoplitenrüstung bestand, wobei letzterer auf einen Helm verzichtete. Neben dem Hoplon (Schild) waren beide je mit einer Stoßlanze (Dory) und mit einem beidseitig geschärften Kurzschwert (Xiphos) als Sekundärwaffe. Alkastos verzichtete ebenfalls auf einen Kopfschutz und war zu seinem Schutz mit einem Lamellenpanzer ohne Beinschienen ausgerüstet. Diese Art der Panzerung bot dem Kapitän insoweit den Vorteil, dass er durch das geringere Gewicht der aus Stoff, Metallplättchen und Leder angefertigten Rüstung weitaus beweglicher war, als seine Kameraden in ihren Bronzeharnischen. Ebenfalls mit einem Dory ausgerüstet jedoch ohne Schild, führte er jedoch lediglich einen Dolch als Zweitwaffe mit sich.
„Schick seht ihr Danaer schon aus, dafür dürft ihr auch in der ersten Reihe uns voranschreiten!“
Mit einer elegant einladenden Geste unterstrich der noble Pharnabessos seine Order.
„Danaý itleri, soň naýzaçylar, arkasynda ýaýçy alyp barýarlar! Demirgazyk! Und vorwärts, nach Norden!“
Wie angeordnet setzten sich die Danaer, gefolgt von Speerträgern und Bogenschützen in Bewegung. Der lydonische Kommandant begab sich in eine eher beobachtende Posi-tion in der ersten Reihe seine speerbewehrten Kriegsknechte in der Gewissheit, falls es doch noch unangenehme Überraschungen gab, dass diese die treu entbehrlichen ‚Verbündeten‘ diese zuerst abbekommen würden. Einige Minuten später erreichten sie die ‚Straße der Toten‘, die sich förmlich als ‚Highway to Hell‘ darstellte.
Wie bereits von Pharnabessos dezent angedeutet, bestand diese aus den kunstvoll verarbeiteten Knochen der ehemaligen Bewohner der Insel, die einst eine stattliche, menschliche Bevölkerung beherbergt haben musste. Nach einiger Zeit stießen sie auf die verfallenen Überreste einer größeren Stadt, deren Ruinen den Pfad des Schreckens säumten. Schließlich erblickte die Gruppe einen sich wohl im Zentrum der Stadt befindlichen, säulenumrahmten Tempel, an dessen Fuße der schreckliche Weg endete. Als sie nun das sakrale Gebäude betraten, hielt die Kolonne auf ein Zeichen des Nauarchen an und Pharnabessos brach in spöttisch schallendes Gelächter aus.
„Vermutlich hat sich der gute Milikles gedacht, die Hässlichkeit dieses Gebildes würde jeden Eindringling abschrecken. Was ist mit euch los Danaerlein? Ihr wollt doch nicht etwa schreiend davonlaufen?“
In einem großen Hauptraum befand sich vor der Apsis, die wohl das Objekt der Begierde beherbergen musste, eine seltsame Statue von gewaltigem Ausmaß. Einem runden, gliedlosen Korpus entwuchsen drei Hälse mit Schlangenköpfen, umrahmt von je vier, weniger großen Tentakeln. In seiner kunstvollen Abscheulichkeit strahlte das ganze Ensemble eine gewisse Schönheit aus.
„Wartet Hauptmann, ich habe hier ein ganz seltsames Gefühl! Lasst doch eure Bogenschützen einige Pfeile auf das Teil abschießen!“
Der lydonische Offizier, inzwischen neben Alkastos stehend, nickte angesichts seiner bisherigen Erfahrungen mit den Vorahnungen des Danaers zustimmend.
„Okçular öňe. Şol nejis haýwanyň üstünde woleý.“
Gehorsam traten die Bogenschützen vor und schossen eine Salve, die jedoch abprallte, auf die Statue. Bevor der enttäuschte Kommandeur zu einer höhnischen Bemerkung ansetzen konnte, machten ihn die nun folgenden Ereignisse kurzzeitig vor Entsetzen sprachlos. Mit der so leblos aussehenden Statue ging in Windeseile eine grauenvolle Metamorphose vor sich. Um es kurz zu sagen: Aus Stein wurde geschupptes Fleisch.
„Taňrylaryň hatyrasyna. Haýwany at!“
So schnell wie ihr Kommandeur die Sprache wiedergefunden hatte, fingen auch die Schützen an, ihre Pfeile von den Bögen abzuschießen. Die richteten jedoch wenig Schaden, da sie entweder von den Schuppen abprallten oder beim Eindringen vom Fleisch abgestoßen wurden, wobei sich die Wunde sofort wieder schloss. Nach kurzer Zeit jedoch erfolgte der Gegenangriff in unerwarteter Form. Wieder warnte Alkastos die ‚Intuition‘, sodass er den neben ihm stehenden Pharnabessos zur Seite stieß und sich zu Boden fallen ließ, sodass der von einem Schlangenkopf Säureklumpen einem hinter dem lydonischen Kommandeur stehenden Kriegsknecht den Garaus machte. Die beiden anderen Geschosse fanden ihr Ziel und erledigten eine entsprechende Anzahl Bogenschützen. Drei weitere Schützenleichen weiter, hatte der Gerettete – sein Wohltäter bedauerte es allerdings schon – inzwischen seine Fassung wiedergewonnen.
„Itler, baky ýaşamak isleýärsiňizmi? Naýzalar, hüjüm ediň!“
Weniger durch Tapferkeit als durch sklavischen Gehorsam motiviert stürmten die lydonischen Speerträger gegen das Monstrum an, während ihr heldenhafter Offizier durch muntere Anfeuerungsrufe ihren Angriff aus der Etappe koordinierte.
„Wollt ihr feigen Danaerhunde nicht kämpfen?“
Während Alkastos den heroischen Kriegsknechtetreiber nur kalt ansah, drückte Harmodios Miene grenzenlose Verachtung aus.
„Endlich ein würdiger Gegner! Also Alkastos, wie gehen wir vor?“
„Von den Flanken. Du und Achillas übernehmt den linken Kopf, ich versuche mein Glück mit dem Rechten. Mögen uns die Götter beistehen! Los!“
Schnell, aber nicht überhastet näherte sich das kriegerische Liebespaar und der kämpferische Kapitän ihren Zielen. Derweil hatten die lydonischen Angreifer schon einige Verluste, durch Säure, kräftige Tentakelschläge und Schlangenbisse erlitten sorgten aber noch für Ablenkung. Wie schon ihre Vorgänger bemerkten die Danaer, dass ihre Speerstöße eine ähnliche Wirkung zeitigten wir der vorhergehende Pfeilbeschuss. Während Achillas und Alkastos wie die verzweifelten, lydonischen Kriegsknechte weiter mit ihren Speeren nach einer eventuellen Schwachstelle suchten, entschied sich Harmodios für eine andere Taktik, seinen Speer fallen lassend, griff er zu seinem Schwert und attackierte den Hals seines Schlangenkopfes.
„Achillas, Xiphos!“
Der vernahm die Stimme des Geliebten und begriff sofort. In geschicktem Duett, in seiner Grazie einem kriegerischen Tanz gleich, gelang es den beiden Hopliten den linken Kopf des Untiers vom Halse zu trennen. Aber ihr Triumph blieb nicht von langer Dauer, denn kaum abgetrennt, wuchs in Sekundenschnelle der Bestie ein neues Haupt. Ein Augenblick der Unachtsamkeit reichte, dass Achillas ein Tentakelhieb förmlich durch den Hauptraum schleuderte und dieser erst durch eine Außensäule aufgehalten wurde. Entsetzt schrie Harmodios auf, ließ sein Schwert fallen und verließ den Kampf, um nach dem Geliebten zu sehen.
Inzwischen kam Alkastos an der rechten Flanke nicht so recht voran. Zwar konnte er den Angriffen seines Kopfes nebst Tentakeln recht gut ausweichen, aber er fand zum Verrecken nicht die verwundbare Stelle des Mistviehs. Schließlich ließ auch ihn seine ‚Intuition‘ für einen Augenblick im Stich und er machte ebenfalls Bekanntschaft mit einem Tentakel, dessen Hieb ihn aber weniger kräftig traf wie Achillas und ihn ‚nur‘ in den Raum schleuderte. Noch benommen bemerkte der unfreiwillige Flugschüler, dass er beim Aufprall seine Lanze verloren hatte, aber das Dory direkt neben ihm lag. Leicht schwindelbehaftet griff er nach der Waffe, bekam aber die rasiermesserscharfe Spitze zu fassen und besudelte diese mit seinem Blut.
Achillas lag in den letzten Zügen in den Armen des Geliebten.
„Wir sehen uns im Hades wieder!“
Mit Tränen unendlichen Schmerzes betrachtete Harmodios das Gesicht seines Gefährten.
„Du wirst nicht lange warten müssen, mein Liebling!“
Mit einem zärtlichen Kuss nahm Harmodios den letzten Atem der Liebe seines Lebens in sich auf und schritt danach entschlossen seinem Schicksal entgegen.
Inzwischen hatte die Bestie unter den lydonischen Kriegsknechten schrecklich aufgeräumt und der Kampf neigte sich seinem bitteren Ende zu. Alkastos ging es zwar mittlerweile besser, aber es gelüstete ihn wenig danach, in einem sinnlosen Kampf gegen eine Bestie des Abyss zu sterben, sodass er eigentlich beabsichtigte, sich vom Boden zu erheben und sich eiligst zurückzuziehen, als er den waffenlosen Harmodios eintreten sah und sich seine ‚Intuition‘ wieder meldete.
„Harmodios, mein Dory!“
Der blickte sich um und fing geschickt die Lanze auf, die ihm sein Nauarch zuwarf.
Mit dem wilden Schrei einer verlorenen Seele aus den Tiefen des Tartaros stürzte sich Harmodios mit letaler Grazie auf das Ungeheuer und wich, wie vom Kriegsgott persönlich geführt, mit unglaublicher Geschicklichkeit allen Abwehrversuchen aus. Mit einem gewaltigen Stoß rammte die inkarnierte Tisiphone die Lanze des Alkastos tief in den Leib der Kreatur, die unspektakulär und fast sofort verschied, ihren Mörder mit in das Reich der Schatten nehmend. Die Bestie und Harmodios, der das Dory noch fest umklammert hielt, erstarrten in wenigen Sekunden zu Stein.
Weder der tapfere Lydonenführer, der wie Alkastos kurz vor einer Absetzbewegung stand, noch der Nauarch trauten ihren Augen. Außer ihnen waren je drei Bogenschützen und Speerträger unverletzt oder hatten nur leichte Wunden. Alle anderen befanden sich in der Unterwelt oder klopften an deren Pforte.
„Was immer er auch sonst gewesen sein mag, er war schon ein gewaltiger Krieger!“
Entgegen seiner sonstigen ausgesuchten Geringschätzigkeiten in Stimmlage, Mimik und Konversation, drückte Pharnabessos fast so etwas wie Hochachtung aus.
„Er hat ehrenhaft gelebt und ist eines Gottes würdig gestorben. Seinesgleichen werden wir auf Erden nicht mehr sehen!“
Obwohl dem lydonischen Anführer ein höhnischer Kommentar auf der Zunge lag, verzichtete er darauf, ihn zu äußern, denn tief in seinem jämmerlichen Inneren wusste er, dass der Danaer recht hatte und er es eigentlich nicht verdiente, dem Toten auch nur die Füße zu küssen.
„Biderekleri öldür!“
Entsetzt bemerkte Alkastos wie die noch kampffähigen Kriegsknechte anfingen, die Schwerverletzten zu töten.
„Seid Ihr verrückt oder eine unmenschliche Bestie, Lydone?“
„Hütet Eure Zunge, Alkastos! Ihr habt mir zwar das Leben gerettet, aber meine Großmut kennt Grenzen. Die Männer sind nutzlos und würden uns nur aufhalten! Außerdem sterben sie gerne für ihren geliebten Führer!“
Vielleicht waren die Lydonen ja wirklich so gestört wie jene sagenhaften Teutonen. Der Nauarch beschloss ausdruckslose Miene zum abscheulichen Spiel zu machen.

*

„Ikiňiz, giriň!“
Das dreckige Werk war getan und nun machten sich zwei Mitglieder der knechtischen Mördertruppe daran, auf Geheiß ihres Herrn die Apsis zu betreten. Nach der jüngsten Überraschung hielt es Pharnabessos für opportuner zwei seiner entbehrlich getreuen Kriegsknechte gegebenenfalls zu opfern, als sich selber in weitere Gefahr zu bringen.
Als nach kurzer Zeit laute Begeisterungsrufe aus dem Raum zu vernehmen waren, folgte Alkastos, der bisher mit angeekelter Miene abgewartet hatte, kurzerhand den beiden nach. Als er die Apsis betrat, verschlug es ihm förmlich den Atem. Lautstark bewundert betrachteten die beiden Kriegsknechte einen kopfgroßen Rubin, der sich auf einem stabilen, bronzenen Dreifuß befand. Zumindest der Teil der Legende schien zu stimmen. Intuitiv und fast gegen seinen Willen trat Alkastos an den rot strahlenden Edelstein heran und legte seine Hand auf ihn.
„Sage mir, wie werde ich sterben?“
„Nachfahre des Enki, Du wirst in der Mitte Deines Lebens sterben - auf dem Höhepunkt Deiner Kraft!“
Als die Frauenstimme in seinem Kopf übermächtig erklang, zog Alkastos voller Schrecken seine Hand fort.
„Alkastos, was ist Euch denn in die Glieder gefahren?“
Der lydonische Kriegsherr hatte soeben ebenfalls das Allerheiligste betreten, da offensichtlich keine Gefahr für sein wertvolles Offiziersleben bestand.
„Es funktioniert! Alles ist wahr! Das Orakel hat mir soeben verkündet, dass ich in der Mitte meines Lebens sterben werde!“
Bevor wir unsere Geschichte fortsetzen, bedarf es an dieser Stelle einiger Aufklärung. Unser Orakel bezeichnete – was dieser durchaus nicht beachtete – Alkastos als Abkömmling des Enki. Darin liegt der Schlüssel für einige der vorhergehenden Begebenheiten. Vor Urzeiten, die älter sind als die Legenden, durchwanderten mehrdimensionale Wesen die Welten, die sich gelegentlich mit den sterblichen Einwohnern vermischten und im Gegensatz zu den späten erfundenen Göttern kein Produkt der Imagination waren. In späteren Zeiten bezeichnete man jene Entitäten als Dämonen und erinnerte sich vernehmlich an deren negative Aspekte. Natürlich standen diese Wesenheiten den Sterblichen viel differenzierter gegenüber. So gingen beispielsweise dem Erzeuger von Milikles die Menschen ziemlich am Allerwertesten vorbei und er spielte mit ihnen eine kurze Zeit, wie sich ein gelangweiltes Kind mit Ameisen vergnügt. Enki gehörte zu einer wohlwollenderen Sorte und fand Gefallen daran, das Schicksal einzelner Sterblicher positiv zu beeinflussen und ihre Frauen zu beglücken. So trug Alkastos -freilich ohne das zu ahnen und extrem verdünnt- Dämonenblut in sich. Was er als ‚Intuition‘ bezeichnete, waren in Wahrheit präkognitive Fähigkeiten oder einfacher ausgedrückt: Magie. Auch starb das schlangenköpfige Ungeheuer nicht an der Wut des Harmodios und der Gunst des Kriegsgottes, sondern am Blut des Alkastos mit dem die Lanzenspitze benetzt war, denn nichts tötet ein magisches Wesen effektiver als der Lebenssaft eines Dämons – in diesem Fall auch als Spurenelement.
„Tatsächlich, wie soll das funktionieren?“
Begierig funkelte der lydonische Kriegsherr den mitteilsamen Danaer an.
„Legt einfach die Hand auf den Stein und stellt Eure Frage!“
„Was wird mein Schicksal sein?“
„Du wirst das Geschick des Alkastos stehlen und als reicher Mann sterben!“
Hocherfreut entfernte Pharnabessos die offizierliche Hand, an der so viel Blut klebte, von dem Rubin.
„Na, was hat es gesagt?“
„Das geht Euch nun wirklich nichts an, Alkastos! Gel, ýalta doňuzlar! Gymmat bahaly daşdan tutuň.“
Die beiden Kriegsknechte beeilten sich, den Rubin vom Dreifuß zu nehmen.
„Schade, der ist ja nicht einmal durch eine Falle gesichert!“
Bedauernd schüttelte der noble, lydonische Menschenfreund sein edles Haupt.
„Also zurück zum Schiff! Mart aýyna çykyň, biderek ogullar.“

*

Es war bereits Nachmittag, als die zusammengeschrumpfte Gruppe den Archeron erreichten. Der anfängliche Jubel der Zurückgebliebenen wich schnell bedrücktem Schweigen, als realisiert wurde, dass nicht mehr als die acht Rückkehrer überlebt hatten. Während Pharnabessos eine Rede zum Besten gab, wie er mit großem Heldenmut das ‚Auge des Milikles‘ eroberte, informierte Alkastos die verbliebenen drei Danaer über die jüngsten Ereignisse. Schließlich befahl der lydonische Kommandant zur allgemeinen Überraschung, das Schiff seeklar zu machen.
„Hauptmann, wir können auch morgen in See stechen, auf die paar Stunden kommt es nun auch nicht mehr an. Zumindest sollten wir mit ausreichend vielen Männern zurückgehen und die Toten anständig bestatten!“
„Für solch sentimentalen Unsinn habe ich keine Zeit. Jedoch könnt Ihr, Alkastos, gerne diese Aufgabe übernehmen, denn Ihr werdet wohl längere Zeit auf diesem gastlichen Eiland verbringen!“
„Ihr scherzt, Pharnabessos!“
Den Nauarchen beschlich das angesichts der fünf Lydonier, die ihn und die restlichen Danaer zwischenzeitlich umring-ten, ein sehr ungutes Gefühl.
„Keineswegs! Für die Rückfahrt benötige ich Eure Dienste nicht mehr, da ich mich zwischenzeitlich mit Eurem Steuermann und seinen Leuten einigte. Wie ihr schon selber erwähnt habt, dürfte die Rückfahrt nicht so schwierig sein und da reicht ein tüchtiger Seemann aus. Normalerweise ließe ich Dich töten, aber da Du mein Leben gerettet hast, schenke ich Dir das deinige. Niemand soll Pharnabessos undankbar nennen!“
Zunächst entsetzt und dann mit wachsender Wut sah der Kapitän seine treulosen Gefährten an.
„Du hast nicht hören wollen, Nauarch. Seine Gnaden gibt mir 30% und den Jungs 20% des Schatzes. Wir haben sein Ehrenwort als Offizier und Gentleman! Das hat letztendlich auch Nikias überzeugt. Aber wir haben jetzt alle Hände voll zu tun, kommt Leute!“
Bevor Alkastos Ephialtes antworten konnte, hatte sich dieser bereits mit den anderen Verrätern entfernt.
„Des Glückes Laune! Möge es Euch nicht verlassen, Lydonier, wenn Ihr zu Eurem geisteskranken König zurückkehrt!“
Mit gespieltem Bedauern und einem sardonischen Grinsen in seinem Gesicht schüttelte der gerissene Edelmann sein Haupt.
„Seine Majestät mag in gewissen Dingen launisch sein, aber unser herrlicher Führer hält stets sein Wort. Ihr jedoch, Danaer, werdet auf dieser kargen Insel verschmachten. Es wurde Euch ja auch schließlich prophezeit, dass Ihr in der Mitte Eures Lebens sterbt und das Orakel lügt bekanntlich nicht. So gehabt Euch wohl und genießt die letzten Tage Eures irdischen Daseins.“
Hilflos musste Alkastos mitansehen, wie die restliche Mannschaft das Schiff flott machte und wenig später in See stach. Während der unglückliche Kapitän den am Horizont verschwindenden Archeron hinterher sah, überkam ihn mit einem Male die Gewissheit, dass er hier nicht sterben würde.

*

Wie erwartet verlief die Rückreise des Archeron komplikationslos, zumal auch Ephialtes an rein seemännischem Geschick dem aus Habgier verratenen Gefährten in keiner Weise nachstand. Durch die von der Insel ausgehenden Strömung sicher an die pontische Küste geleitet, fuhr das Schiff Richtung Westen daran entlang. Die Säulen des Memnon und den Daenispont passierte man, trotz der arg gelichteten Rudermannschaft, sicher mittig, von der starken Strömung getragen. Die Amphipoliten unternahmen nicht einmal den Versuch, den Eindringling abzufangen und sahen auch zum Glück der Archeronauten von einer Verfolgung ab.
So näherten sich unsere zweifelhaften Helden der lydonischen Hauptstadt bis auf Sichtweite.
Fröhlich pfeifend, näherte sich der verräterische Steuermann dem lydonischen Kriegsherrn, der hintergründig lächelnd am Bug stand.
„Ein schöner Anblick, da wird mir Eure Gnaden gewiss zustimmen.“
„Wie wahr! Übrigens, gute Arbeit. Itleri öldüriň!“
Die Schreie der beiden danaeischen Rudergänger ließen Ephialtes herumfahren. Entsetzt musste der Steuermann beobachten, wie Archelaos und Nikias von den Lydoniern ermordet wurden. Bevor er sich jedoch wieder dem lydonischen Offizier und Gentleman zuwenden konnte, legte sich dessen Arm um seinen Hals und ein reich verzierter Dolch drang in den Rücken des verratenen Verräters ein.
„Ihr habt es versprochen…“
Famous last words, bevor die Schatten den Steuermann holten.
„Ich habe gelogen! Aber der Hohepriester und Oberpfaffe der Barmherzigkeit wird mich gegen einige Pfund Gold sicherlich von meinen Sünden reinigen.“
Geschickt zog Pharnabessos seinen Dolch heraus und ließ die Leiche des Ephialtes zu Boden gleiten. Mit herrischer Stimme wandte er sich an seine getreuen Knechte.
„Werft die Leichen über Bord, ihr Schweine. Dann zwei Mann an die Seitenruder und geschwind in den Hafen. Reichtum, Ruhm und Ehre erwarten mich!“

*

Kroiphem betrachete den temporär verlorenen Chef der Leibwache und den mitgebrachten Edelstein, den man zwischenzeitlich auf einem goldenen Dreifuß platziert hatte, voller Wohlwollen. Nachdem der Archeron angelegt hatte, war Pharnabessos in Begleitung einiger Männer und des kostbar großen Kleinods directamente in den Palast geeilt und wurde auch prompt zum König vorgelassen.
„Ausgezeichnet, mein getreuer Pharnabessos. Aber sagt mir, hattet ihr eine angenehme Reise?“
Die Aussage des irren Königs hört sich für unbedarfte Ohren wohl ziemlich typisch an, aber beinhaltete einen Geheimcode. In Wahrheit ging es darum, ob der Edelstein wirklich über die legendären, magischen Fähigkeiten verfügte. Der gestörte Monarch und sein in hündischer Treue ergebener Oberwachtmeister waren vor der Reise überein-gekommen, dass letzterer das Orakel ausprobieren möge, damit auf den huldreichen Monarchen nicht etwa eine verborgene Gefahr zukäme.
„Ja, wirklich sehr angenehm! Leider sind jedoch die Danaer dabei alle draufgegangen!“
„Welch ein Jammer! Aber, Pharnabessos, für diesen Dienst stehst Du in meiner besonderen Gunst. Ich habe übrigens schon Deinen Nachfolger einarbeiten lassen, da Du nun für anderes vorgesehen bist. Darf ich Dir Arsaces vorstellen?“
Ein kleiner, aber drahtiger Mann und unbeweglicher Miene verneigte sich tief in Richtung des kranken Führers Günst-ling. Hochmütig lächelnd nickte der seinem Nachfolger leicht zu.
„Nun soll Dir Deine Belohnung zuteilwerden, mein hochgeschätzter Knecht. Ihr Hofschranzen, befördert mich und den Edelstein samt Dreifuß in die Schatzkammer Nr. 20! Pharnabessos, Arsaces und 6 Wachen kommen mit!“
Einige Zeit später befanden sich der Monarch samt Gefolge in dem schon bekannten Hort.
„Alle raus, mit Ausnahme von Pharnabessos und Arsaces. Die Träger mögen für den royalen Rücktransport bereitstehen. Wachen, ich möchte nicht gestört werden!“
Eilig beeilten sich die braven Untertanen den Anordnungen ihres huldvollen Herrschers nachzukommen.
„Also Pharnabessos, mein besonderer Favorit, wie funktioniert das Orakel denn. Na, schau mich nicht so entsetzt an, Arsaces ist mit mir durch Blutsbande verbunden und absolut vertrauenswürdig!“
„Majestät müssen den Edelstein berühren und dann eine Frage stellen. Tatsächlich wird auch nicht mehr als eine beantwortet, ich habe das schon ausprobiert!“
„Ohne meinen Befehl? Du scheinst ja sehr ehrgeizig zu sein, mein Goldstückchen!“
Mit der Hilfe des Arsaces richtete Kroiphem sich von seinem goldenen Thron ächzend auf und berührte den Orakel-stein.
„Was passiert, wenn ich Daros von Pardien angreife?“
„Du wirst ein großes Reich zerstören und als uralter Mann sterben. Man wird sich Deiner noch nach Jahrhunderten erinnern!“
„Das ist großartig! Ich hätte nicht gedacht, dass das wirklich funktioniert. Der Stein und Pharnabessos bleiben zunächst hier. Du darfst schon einmal Deine Schätze bewundern, mein Lieber. Arsaces hole die Träger und Wachen, wir wollen gehen!“
Hocherfreut und voller Dankbarkeit verbeugte sich der getreue Pharnabessos, während Arsaces nur seltsam lächelte und sich beeilte den Befehl seines Herrn auszuführen. Einige Minuten später befanden sich alle außer dem reich belohnten Günstling, der mit Ausrufen der Freude in seinen Schätzen wühlte, an dem ehernen Portal der Schatzkammer.
„Wachen, schließt das Tor und versiegelt es für immer! Dem Narren dort drinnen gegenüber will ich mein Wort halten: Niemand soll ihn verletzen oder töten, sondern er mag mit seinen Schätzen verschmachten. Er kann ja sein Gold essen, wenn es ihm danach gelüstet!“
Natürlich konnte der betrogene Betrüger dem freundlichen Rat seines Herren nicht nachkommen, da, nachdem die Wachen ihr schreckliches Werk vollendeten, er qualvoll erstickte und nicht dem Durst oder Hunger erlag. Allerdings starb Pharnabessos unzweifelhaft als reicher Mann.

*

Unsere Geschichte ist nun fast zu Ende, aber schauen wir, was weiter geschah.
Kroiphem griff Daros tatsächlich an und zerstörte ein großes Reich, nämlich sein eigenes. Nicht unwesentlich trug Arsaces dazu bei, der dem pardischen Herrscher angesichts des Schicksals seines Vorgängers wichtige Informationen zuspielte und dafür mit einem entlegenen Fürstentum belehnt wurde. Ursprünglich plante Daros den irren König für seine Untaten hinrichten zu lassen, schenkte ihm aber, nachdem ihm die Geschichte jenes berühmten Dialoges zwischen Solohenes und Kroiphem zu Ohren kam, das Leben und machte ihn zu seinem Leibsklaven, sozusagen als lebendes Beispiel für die Unwägbarkeiten des Schicksals. Es hieß, sooft Daros auf ein Ross oder auf seinen Thron stieg benutzte er ein königliches Genick oder royalen Bauch als Trittleiter. Kroiphem hielt das einige Jahre aus, starb aber dann durch die Demütigungen und Entbehrungen sozusagen als uralter Mann. Daros ließ den toten Körper ausstopfen und ihn im Tempel der Gerechtigkeit als Mahnmal gegen übermütigen Hochmut ausstellen. Dort konnten Besucher noch Jahrhunderte später den Kadaver des Kroiphem bewundern.
Alkastos wiederum starb tatsächlich nicht auf der Insel, sondern wurde von einem hoffnungslos verirrten Schiff aus Amphipolis gerettet. Da er seine Retter sicher nach Hause brachte, übergaben die ihn nicht ihren Behörden, sondern ließen ihn laufen. Alkastos lebte noch viele Jahre und starb beim Sex mit seiner wunderschönen, jungen Gemahlin während des Orgasmus im Alter von 70 Jahren wie prophezeit in der Mitte seines Lebens auf dem Höhepunkt seiner Kraft.
Was nun das ‚Auge des Milikles‘ angeht, so ließ Daros, der ein kluger und weiser Mann war, es an einer tiefen Stelle im Meer versenken. Dort wartet es nun geduldig auf seine Zeit, denn solange es Menschen gibt, existieren auch machtgierige Narren.


© 2021 H.K.H Jeub


3 Lesern gefällt dieser Text.

Unregistrierter Besucher

Unregistrierter Besucher


Beschreibung des Autors zu "Das Auge des Milikles"

Leseprobe aus ‘Wicked weird world beyond the veil’

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Das Auge des Milikles"

Re: Das Auge des Milikles

Autor: Alf Glocker   Datum: 13.06.2021 8:47 Uhr

Kommentar: erfrischend!!

LG Alf

Kommentar schreiben zu "Das Auge des Milikles"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.