Ebbe

Mann kann nicht weit genug gehen
um zu finden, was in einem liegt.

Mann kann nicht abwartend stehen
um zu spüren, was vor einem liegt.

Doch hier stehe ich, vor einem Meer aus Schlamm und Schlick, auf Steinen, die noch nie etwas anderes gehört zu haben scheinen als Monotonie. Eine Akustik aus dahin flatterndem Wind, der immer wieder die Stimmen der Wattvögel herbei trägt, und dem stetig knisternden Prickeln, welches verrät, dass es ein Meer geben muss. Aber eines verrät der Moment nicht. Ob es wieder kommt und wann.

Zwischen den Steinen liegt ein Tropfen. Er kennt seine Spalte, in der er liegt, sehr gut. Denn schließlich hat er sie einst selbst in den Boden gesprengt als er noch Eis war. Daher passte er genau in die Lücke zwischen dem vor Wind und Sonne schützenden Material. Er mochte diesen Platz besonders, weil direkt neben ihm eine weitere kleine Lücke war, in der ein andere Tropfen lag. Dieser war ein unterhaltsamer Nachbar und von ganz ähnlicher Größe wie der kleine vereiste Tropfen selbst. Allerdings schien in die benachbarte Lücke hin und wieder die Sonne hinein. Die Veränderung, die der Tropfen darin dann machte, besorgte den vereisten manchmal, während sie den anschmilzenden nicht zu stören schien. Spätestens im Mondschein vereiste der zweite dann ebenfalls wieder und glitzerte so sehr, dass sogar der Nachbar etwas von dem Licht erfuhr.

Dann kam das Meer und eine unerwartet große Welle schnappte sich den vereisten Tropfen. Es war nicht allzu schwer ihn aus seinem Platz, in dem er vorher wie eingefasst gesessen hatte, heraus zu lösen. Denn der Tropfen war zuvor schon eine ganze Weile vor Aufregung über das neuartig stürmische Wetter hin und her gerückt, weil er so neugierig war auf das, was da draußen vor sich ging. Aber von seinem Platz aus hatte er kaum etwas erkennen können; und das obwohl er schon so viel herum gerückt hatte, dass seine Ecken zu schmilzen begonnen hatten und er nicht mehr allzu fest in seiner Lücke saß. Nur wenn er hinter sich sah, konnte er ein wenig von dem Festland erblicken, auf dem die übliche Ordnung schon durch die ersten Windböen des Sturms durcheinander gebracht worden war. Der Tropfen konnte sich noch nicht ganz entscheiden, ob ihn dieser Anblick eher an ein Bild verspielt liebevoller Kreativität oder unbedachter Verwüstung erinnerte.

Der Tropfen hatte davon gehört, dass der Sturm auf dem Meer besonders stark sei. Solch eine Welle aber, die ihn jetzt ergriff, hatte er nicht erwartet. Die große Welle sah, dass der Tropfen sich fürchtet. Deshalb zeigte sie ihm, wie sie es gelernt hatte, sich im weiten Meer zurecht zu finden. Zuerst einmal sollte man recht beweglich sein. Das fiel dem gefrorenen Tropfen besonders schwer. Daher versuchte er zunächst, so starr wie er es gewohnt war in dem bewegten Wasser herum zu schwimmen (schließlich hatte er es bisher nie gelernt sich zu bewegen). Aber er konnte sich nicht lange halten, weil er ständig von einer Menge andere Wassertropfen in immer neue Richtungen gestoßen wurde. Sowie ihn das nun auch nicht allzu sehr vergnügte, erschien ihm die Welle, die ihn noch immer mit sich riss, erfahren genug, sodass er ihrem Rat folgen wollte. Immerhin war der Tropfen ja ohnehin schon angetaut und je mehr er sich bewegte desto größer wurde die Freude daran. Er hatte sich bald vollständig verflüssigt und genoss die Wärme, die er in diesem Zustand erstmals erfuhr. Er quietschte vor Entzücken, wenn er durch das tanzende Wasser sauste und rief der großen Welle zu: „ sieh nur, große Welle, sieh nur, jetzt bin auch ich beweglich!“. Der Tropfen sah, wie die große Welle vergnügt darüber schmunzelte. Und dann erinnerte er sich daran, was sie einmal zu ihm gesagt hatte:
„Wenn man sich in den freien Tanz des Meeres begibt, sollte man darauf gefasst sein, von allen Seiten angestoßen werden zu können; von denjenigen, die in einem anderen Rhythmus tanzen als man selbst oder solchen, die vertieft sind in das Erlernen des Grundschritts. Der freie Tanz des Meeres wäre nicht frei, wenn nicht jede Tanzart erlaubt wäre. Umso wichtiger ist es, zu lernen, wie man sich in dem Tanz, für den man sich entschieden hat, am sichersten bewegt. Denn sonst findet man nur schwer wieder in seinen eigenen Tanz, nachdem man von anderen angerempelt wurde.
Hin und wieder, wenn man eine Tanzart gelernt hat, übt man neuartige Bewegungen ein und manchmal findet man einen Tropfen, mit dem man sie besonders gut einüben kann. Dann fällt die Bewegung oft so leicht, dass man die Kompliziertheit ihrer Abfolge vergisst und ein rasant fließendes Spiel daraus entsteht. Wenn dann die Tänzer unerwartet auf Land treffen, passiert es, dass sie gegen einen Felsen prallen und in die Höhe schnellen. Dort oben haben sie für einen kurzen Augenblick eine fantastische Aussicht auf das Land, an das sie stießen. Doch im gleichen Moment trennen sich die Tänzer häufig wieder, weil ihre Verbindung der ruckartigen Bewegung noch nicht stand hält.“

Darüber dachte der kleine Tropfen nach und merkte, dass er zu verstehen begann, was die Welle damals mit dem 'freien Tanz des Meeres' gemeint hatte. Er selbst war erleichtert darüber, dass er mit der Bewegungsart, die ihm die Welle gelehrt hatte, immer besser zurecht kam. Allerdings war er auch froh, dass die Welle immer nah genug war, so dass sie ihn erinnern konnte, welche Bewegung hier am besten geeignet war. Denn manchmal vergaß er bei all der Tanzerei einfach, sich selbst mit zu bewegen, weil er es als Eis so lange nicht gewohnt gewesen war.

Der Tropfen merkte plötzlich, wie nah er sich an der Oberfläche bewegte, wo ihm Treibholz und anderen festen Materialien, die vom Land ins Meer gespült worden waren, ihm etwas zu schaffen machten. Grade wollte er wieder etwas weiter ins innere der Welle gelangen, wo er sich mittlerweile am wohlsten fühlte, als er plötzlich nicht mehr wusste wie ihm geschah. Ein Vogel hatte ihn gepackt als dieser seine Beute verfehlt hatte und jetzt flog das Tier mit dem Tropfen davon. Vielleicht war es eine Möwe, in deren Krallen sich der Tropfen verfangen hatte. Er flog so schnell, dass der Tropfen kaum einen Wimpernschlag Zeit fand um sich von der freundlichen Welle zu verabschieden. So wusste er auch nicht, ob sie sein Verschwinden überhaupt bemerkt hatte. Er hörte die Musik des Meeres verklingen, zu der er sich so gern bewegt hatte, sah all die einzelnen Wellen immer mehr zu einer sanften doch lebendigen und tiefblauen Bewegung verschwimmen.
Jetzt erkannte er, dass er das Muster von dem Gefieder des Tieres über ihm mit all seinen Farbschattierungen auswendig kannte. Es war ausgerechnet die Möwe, die ihren Lieblingsplatz an der Küstenstelle hatte, an der der Tropfen sich einst als Eis einen Platz geformt hatte. Auch dieses mal endete ihr Flug an diesem Ort und brachte so den kleinen Tropfen dorthin zurück, wo er sich so lange vor allem geschützt gefühlt hatte.

Doch je länger er in dieser Spalte saß desto deutlicher spürte er, wie unpassend die Form der Spalte, jetzt da er flüssig war, für ihn war. Er konnte sich nicht entsinnen jemals solche Schwierigkeiten damit gehabt zu haben eine Position zu finden, an der er nichts auszusetzen hatte. Wie sehr er seine Form auch anzupassen versuchte, jedes mal kratze das harte Material, das ihn umgab, oder stach ihn unangenehm. Außerdem erschien es nicht besonders erfreut darüber, dass der Tropfen in seiner flüssige Form nicht mehr als ebenfalls festes Material in die Spalte passte, wie er es als Eis getan hatte. So schaffte er es nicht mehr, seine alte Lücke so eben und fest zu schließen wie zuvor, egal wie sehr er sich auch bemühte. Er vermisste die Bewegung die ihn draußen in dem Meer umgeben hatte und von der er selbst ein Teil gewesen war. Immerzu dachte er daran, aber er konnte sie hier nicht ausführen und auch die Welle war jetzt irgendwo in der Ferne, wo er sie nicht mehr jeder Zeit um Rat bitten konnte. Und so merkte er, dass er mehr und mehr vergaß, wie es war zu Tanzen. Denn seine Bewegungen folgten jetzt den Erwartungen des Gesteins, das ihn umgab.
Der Tropfen beschloss sich in seiner Lücke so weit oben wie möglich aufzuhalten. So dachte er wäre er dem Wind näher und hatte dadurch gleich mehrere Vorteile. Ersteinmal könnte der Wind dazu dienen, ihn wieder zu vereisen. In diesem Zustand hatte er seiner Aufgabe nun mal am besten nachkommen können. Die nämlich war es all die Füße, die über seine Stelle schritten, nicht über die Lücke fallen zu lassen indem er sie als feste Füllung schloss. Doch die Schritte, die ihn trafen, zerbrachen immerzu die feste Schicht, die einfach nicht stark genug wurde um deren Gewicht stand zu halten.

Da entdeckte er, dass sein Nachbar auch nach dem Sturm noch der gleiche geblieben war. Der kleine Tropfen berichtete ihm, warum er hier oben immer noch die Nähe des Windes suchte. Er liebte es zu sehr der Melodie zu lauschen, die der Wind mit sich trug. Sie war das einzige, was ihn noch mit dem großen Meer und all seinen Bewegungen zu verbinden schien. Denn nicht zu selten mischten sich Töne unter den Wind, die ebenso klangen, als stammten sie aus den Melodien, zu denen er im Meer getanzt hatte. Manchmal meinte der Tropfen sogar die Stimme der großen Welle in ihnen wieder erkennen zu können. In diesen Momenten erinnerte er sich wieder an all das, was er im Meer erlebt hatte. Seine Erinnerung war dann sehr lebendig; so sehr sogar, dass er fast vergaß, wo er sich befand. Das wurde ihm dann wieder bewusst, wenn er in seinen Gedankengängen die Welle um Rat fragen wollte, den seine Erinnerung nicht wusste, oder wenn ein Schritt ihn traf, der den Wind verstummen und seine zarte Eisschicht zerbrechen ließ.

Der Nachbartropfen lauschte sehr gespannt, wenn der Zurückgekehrte von seinen Erlebnissen berichtete. Und er merkte wie sehr dieser sich wünschte wieder am Tanz des Meeres teilzunehmen. Auch war der Nachbar neugierig, ob es ihm ebenso viel Spaß bereiten würde sich da draußen zu bewegen. Deshalb schlug er dem kleinen Tropfen vor, noch einmal mit ihm zusammen ins mehr zurück zu kehren. „aber wie sollen wir dort hin kommen?“ fragte der kleine Tropfen, der jetzt voller Überraschung, Begeisterung und Zweifeln über diesen Vorschlag steckte. „ Vielleicht ergreift uns der Wind, wenn wir uns ihm nur weit genug entgegen strecken!“ antwortete sein für die Reise erwünschter Begleiter, „und dann müssen wir nur noch hoffen, dass er uns ins Meer trägt und uns so gut gegenseitig festhalten, dass wir uns in der Höhe oder beim Eintauchen nicht verlieren.“

Der kleine Tropfen wusste nicht, ob er die Bewegungen noch beherrschen würde, wenn er sich wieder im Meer befand und auch wusste er nicht, wie sehr er umgestoßen würde, wenn er nicht mehr gleich von der großen Welle unterstützt werden würde. Überhaupt wusste er nicht, ob er hoffen durfte, sie wieder zu treffen und, ob sie in diesem Fall noch in dem gleiche Rhythmus tanzen würde, wie er es von ihr gelernt hatte. Aber er wusste, dass er zu oft verlangte, allein die grundlegende Bewegung zu tanzen, als dass er sie vergessen haben könnte. So plötzlich wie sich der kleine Tropfen dieses Wissen durch die jetzt neu entfachte Abenteuerlust vor Augen führte, so plötzlich und unverhofft viel ihm auch ein, was die große Welle ab und zu ermutigend gesungen hatte. Er erinnerte sich, dass ihr Gesang besonders gutmütig geklungen hatte, wenn der Tropfen im Begriff gewesen war, in die ruhigen doch dunklen und kalten Tiefen des Meeres zu sinken; eben dann, wenn er sich in den rasant wiegenden Wassermassen nahe der Oberfläche zunächst so fürchterlich klein und ungeübt vorgekommen war. Mittlerweile hatte der kleine Tropfen nur noch die letzten Zeilen des Gesangs im Gedächtnis behalten. Allerdings hatte er mit der Zeit in die Lücken seiner Erinnerung eine ganz eigene kleine Strophe gesetzt. Auch diese kam ihm jetzt wieder in den Sinn bevor ihm die gesungenen Worte der Welle mit unsagbarer Klarheit im Ohr erklangen:

“My memories of you can't stop
demanding so I hear them knock
for they want you - like a mage
to make them fly out of this cage

Brake out has always been a risk
who knows if the welcome 's one' s fist?
But they'll dare it just to find out:
does it exist what they're made out?”

to make them fly out of this cage

Brake out has always been a risk
who knows if the welcome 's one' s fist?
But they'll dare it just to find out:
does it exist what they're made out?”


© Caroline


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Beschreibung des Autors zu "EBBE"

Hallo zusammen,
auch bei diesem Eintrag freue ich mich über Rückmeldung jeder Art. Falls z.B jemand ein ausgeprägteres "Shakespeare-Gen" besitzt als ich und im letzten englischen Teil einen sprachlichen Fehler findet, lasse ich mich gerne darüber in Kenntnis setzen. Ansonsten wünsche ich viel Vergnügen beim Lesen ;)!

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