Es hatte einen Riesenknall gegeben, etwa um Mitternacht.
Die Leute wurden aus dem Schlaf gerissen und stellten fest, dass der Strom ausgefallen war.
Wahrscheinlich ein Kurzschluss im Umspannwerk. In der Hoffnung, dass der Strom morgen wieder da wäre, gingen sie wieder ins Bett. Es gab auch keine Sirenen von Feuerwehr-Fahrzeugen. Also kein Grund zur Beunruhigung.

Im Museum tastete sich der Wachmann mit der Taschenlampe durch die dunklen Gänge und Säle. Die Alarmanlage war ausgefallen. Es war totenstill. Einen Einbruch hatte es scheinbr nicht gegeben. Nur einen Stromausfall, ansonsten alles unauffällig. Der Wachmann schrieb in seinem Fahrzeug die Bemerkung ins Protokoll: Stromausfall gegen 23.50 Uhr. Noch anhaltend. Alarmanlage zurückgesetzt.

Gegen 5.00 Uhr gab es wieder Strom. Ein normaler Arbeitstag begann. Um 8.00 Uhr trafen die ersten Mitarbeiter des Museums ein.
Die Kaffeemaschine wurde befüllt und angeschaltet. Die Kollegen schwatzten und jemand erwähnte den nächtlichen Stromausfall.
Um 8.30 Uhr war jeder in seinem Bereich angekommen und bereit, die Aufsicht zu übernehmen. Um 9.00 Uhr sollte das Museum für die Besucher öffnen.

Martin Paulus hatte die Aufsicht bei den Expressionisten.
Es schien alles in Ordnung zu sein, bis sein Blick auf einen leeren Rahmen fiel. Das war doch nicht möglich! Er wusste, welches Bild fehlte: „Der nachdenkliche Pierrot“.

Als sich Martin Paulus wieder gesammelt hatte, informierte er über sein Sprechfunkgerät seinen Vorgesetzten. Der informierte die Museumsleitung. Es wurde veranlasst, das Museum nicht zu öffnen und die Kriminalpolizei zu benachrichtigen.
Die Kripo kam mit der Spurensicherung ins Haus und untersuchte alles, was das Verschwinden des Bildes aus dem Rahmen erklären könnte. Es war ein Rätsel. Keinerlei Einbruchspuren waren erkennbar.

Ein junger Mann schlenderte durch die Straßen. Er trug eine bunte Jacke mit Rhombenmuster über einer ebenso gemusterten Hose. Er hatte seine schwarze Kappe fest auf den Kopf gesetzt und blickte auf das feuchte Straßenpflaster. Ab und zu blieb er stehen und bestaunte die um ihn herrschende Hektik. Die Menschen schienen es alle eilig zu haben und irgendeinem Ziel zuzustreben. Überall ernste Mienen, Geschäftigkeit, kein Lachen. Manche Gesichter wirkten müde, mürrisch und grau. Grau überwog auch in den Farben der Kleidung. Oder braun, schwarz und olivgrün. Er bemerkte Kinder mit bunten Tornistern die Straße entlangrennen. Auch sie lachten nicht. Komisch. Der junge Mann fand das seltsam. Sollten Kinder nicht morgens schon lachen? Viele der Kinder und Erwachsenen starrten auf kleine schmale Kästchen, die sie in der Hand hielten. Die leuchteten und spendeten ein bläuliches Licht.
Warum war er eigentlich hier unterwegs? Er erinnerte sich, nachts durch einen Knall geweckt worden zu sein. Er stand auf und verließ sein gemütliches Plätzchen, um nachzuschauen, was los war. Alle anderen im Haus schienen nichts bemerkt zu haben oder sie taten nur so. Ganz allein wanderte er durch die Räume und plötzlich stand er vor der Haustür. Sie war einen Spalt breit offen, er drückte dagegen und war draußen. Es war dunkel, nasskalt und am liebsten wäre er gleich wieder umgekehrt und zurück ins Haus gegangen. Aber dann dachte er, dass er schon lange nicht mehr nachts unterwegs gewesen war und genau jetzt die Gelegenheit wäre, sich frei und allein zu bewegen. So lief er den Rest der Nacht herum, besah sich die Schaufenster in der Stadt und musste manchmal lachen über die komischen Dinge, die er sah und vor allem über die stocksteifen Puppen mit den seltsamen Kleidungsstücken, die ihn aus toten Augen anglotzten. Komisch waren auch die Kutschen. Die an den Straßenrändern standen. Die ausgespannten Pferde schienen alle in ihren Ställen zu stehen, denn keine der Kutschen war abfahrbereit.
Am frühen Morgen traf er die ersten Menschen und von Stunde zu Stunde wurden es mehr. Viele ähnelten denen, die in sein Haus kamen und ihn anstarrten. Er starrte dann zurück und zog ein Gesicht, aber die Menschen gingen schon weiter und andere blieben vor ihm stehen. Jetzt blieb niemand stehen, wenn er stillstand. Alle gingen schnell vorbei und bemerkten ihn gar nicht. Etwas Merkwürdiges fiel ihm auf: Die Kutschen fuhren an ihm vorbei, aber es waren keine Pferde vorgespannt. Träumte er das alles nur?

Er lief weiter und kam an ein großes erleuchtetes Gebäude. Es sah aus, als hätte es nur Glasfenster. Viele Menschen gingen ein und aus. Manche wurden auch hineingetragen oder auf Stühlen mit Rädern geschoben. Vor seinen Augen schob sich die Glasfront auseinander und er wurde mit einem Pulk von Menschen hindurchgeschoben. Er befand sich in einer großen Halle und sah vor sich eine halbhohe Wand, hinter der Frauen und Männer in weißen Kitteln standen und sprachen. Es war nicht zu erkennen, mit wem.
Eine junge weißgekleidete Frau trat an ihn heran, begrüßte ihn lächelnd und erklärte, dass die Kinderstation in der zweiten Etage wäre. Wenn er ihr bitte folgen würde, brächte sie ihn zum Fahrstuhl. Er ging mit.
Sie standen vor einer Wand mit bunten Knöpfen, auf die sie drückte. Er hörte ein Rauschen, dann schob sich die Wand auseinander, die junge Frau stieg mit ihm in einen Kasten und drückte innen wieder auf einen Knopf. Die Wand schob sich wieder zusammen und er fühlte, wie ihn etwas emporhob, obwohl seine Füße den Boden nicht verließen. Der Kasten blieb stehen und öffnete sich. Die junge Frau stieg mit ihm aus und wies ihm den Weg über einen langen Gang, der mit bunten Kinderzeichnungen geschmückt war. Hier gefiel es ihm.

Über den Gang kam ihm ein Kind entgegen. Er konnte nicht erkennen, ob es ein Junge oder ein Mädchen war. Das Kind hatte keine Haare und schob neben sich ein Gestell auf Rollen, an dem Flaschen hingen. Von den Flaschen hingen Schnüre herab, die beim Kind an den Händen endeten. Das Kind jauchzte auf, als es in sein geschminktes Gesicht sah und lachte. Dann rief es, dass der Clown da sei. Komm, sagte es, ich bringe dich. Es führte ihn in einen Raum, in dem Kinder in Betten lagen oder auf Stühlen saßen und auch solche Flaschen neben sich hatten. Die meisten hatten keine Haare oder trugen Kappen und Kopftücher. Sie lächelten ihn erwartungsfroh an. Da besann er sich auf seine Kunst, auf seine Fähigkeit, Menschen glücklich zu machen und zum Lachen zu bringen. Er zauberte, machte Kopfstand, schnitt Gesichter, stolperte scheinbar und plumpste zu einem Kind auf das Bett, tat so, als wollte er die Flaschen leertrinken und spielte den Beschwipsten. Er zauberte Kindern Pfennige aus der Nase und bunte Tücher aus den Ohren, die er wieder in seinem Ärmel verschwinden ließ, um sie aus dem Hosenbein herausrutschen zu lassen. Stellte sich, als drückten ihn seine riesigen Schuhe, zog sie aus und fand Bonbons darin, die er den Kindern schenkte. Eines der Kinder fasste ihn zutraulich an der Hand und fragte: Wie heißt du? Er nannte seinen Namen und das Kind, das ihn nicht ganz verstanden hatte, sagte zu einem anderen: Er heißt Pierre. Einen ganzen Vormittag hatten sie Spaß. Als sie müde und erschöpft vom Lachen waren, verabschiedete er sich. Eine Frau begleitete ihn wieder hinaus. Sie bedankte sich bei ihm und sagte, wie wichtig diese Besuche für die schwerkranken Kinder wären.

Er war glücklich. Es war wie früher gewesen, als er das Publikum zum Lachen und Weinen gebracht hatte. Und er wunderte sich, dass er ausgerechnet bei diesen kranken Kindern so viel Lebensfreude erlebt hatte.

Den ganzen Nachmittag stromerte er noch durch die Stadt, erlebte aber nichts Vergleichbares mehr wie bei den Kindern im Glashaus in der zweiten Etage. In einem Park ruhte er sich vom Trubel dieser Stadt aus. Als es dunkel war, kam die Sehnsucht nach seinem ruhigen Plätzchen. Er fand den Weg zurück in sein Haus und schlich durch die Gänge. Er traf niemanden.
Pierrot kletterte auf seinen Platz und nahm wieder die nachdenkliche Pose ein. Die Welt da draußen war nicht mehr seine.

Eine Reinigungskraft schob ihren Wagen an seinem Platz vorbei und stutzte, als sie ihn sah. Der soll doch gestohlen worden sein. Seltsam! Sie schüttelte ihren Kopf und zog weiter. Wahrscheinlich haben sie eine Kopie aufgehängt, damit der Platz nicht so leer wirkte.


© Katrin Streeck


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