Als Junge kam ich oft mit Leyla an diesen Ort. Hier fühlten wir uns verstanden. Wir fühlten uns lebendig. Unsere Eltern starben, als das Dorf während des Krieges gegen die Menschen überfallen wurde. Zwei Waisenkinder. Alleine gelassen, einsam. Die Einsamkeit brachte uns zueinander. An einem warmen Tag am Jahresanfang nahm ich sie das erste Mal mit hierher. Ich kann mich noch genau an alles erinnern.
Vom Dorf aus kam man zuerst auf die Wiesen am Fuße Riquas. Das Gras war strahlend grün, noch etwas feucht vom Tau. Beim Herumlaufen fühlten wir uns schwerelos. Das Gras war so dicht, dass wir fast nicht den Boden unter ihm berührten. Es schmiegte sich um den Fuß, gab ihm einen kleinen Schwung, wenn man ihn wieder anhob.
Mit Schuhen hätte man ihn wohl nicht wahrnehmen können, doch wenn wir in der Natur waren, waren Leyla und ich immer barfuß. Dies verlieh einem eine größere Verbundenheit mit dem Ort.
Egal ob die Grashalme zwischen den Zehen, die kitzelnden Wassertropfen auf der Fußsohle unten am See oder die Erde, wenn die Sonne sie für uns aufwärmte. Tag für Tag kamen wir her und sammelten neue Eindrücke.
Manchmal saßen wir Stunden lang am See. Ich sehe noch jetzt die kleinen Tierchen über das Wasser huschen. Die Wellen dort, wo wir die Steine springen ließen. Wenn ich die Augen schließe, höre ich fast die Frösche im Schilf, rieche den Duft der Seerosen, wenn sie im Frühling das erste Mal ihre rosafarbenen Knospen öffneten, um den Bienen ein Feld aus Pollen dar zu bieten. Ein Mal sprang ich in den Teich und pflückte eine Seerose. Ich nahm ein Paar Grashalme, band sie zusammen und setzte Leyla ihre neue Krone auf den Kopf. Wenn die Soldaten ihr Lächeln in dem Moment gesehen und in ihre Augen geschaut hätten, dann hätte keiner mehr an einen Krieg gedacht.
Von dem Moment an war sie die Königin unseres Reiches. Riqua war unser Wächter, der Beschützer unseres Landes.
Am Ende eines langen Tages legten wir uns häufig unter einen der Bäume und schauten uns den Sonnenuntergang an. Mein Blick wanderte in solchen Momenten über viele Dinge. Ich sah Hasen über die Wiese hoppeln, Gras und Blätter im Wind tanzen. Manchmal schaute ich Minuten lang auf Riqua und versuchte zu erkennen, welche Tiere wohl gerade in seinem Gipfel herumfliegen würden. Natürlich sah ich mir auch den Sonnenuntergang an. Wie sich sein goldener Schleier auf die Landschaft legte. Wie der sonst blaue Himmel nun scheinbar in Flammen aufzugehen schien.
Nach all der Schönheit, welche ich sah und all dem Leben, an welchem ich Teil haben durfte, ruhte mein Blick stets an der gleichen Stelle. Die letzten Sonnenstrahlen in Leylas leuchtend grünen Augen zu sehen war das schönste, dass ich mir für einen Tag vorstellen konnte. In so einem Moment war der Rest der Welt egal.
Es gab keinen Krieg. Keine verstorbenen Eltern. Keine anderen Dorfbewohner, welche einen bemitleideten. Es gab nur uns, die Natur und Riqua. Zwei Waise am Fuße des einsamen Berges. Es war diese gemeinsame Einsamkeit, welche uns zusammenbrachte. Beste Freunde als Kinder, eine Familie als Erwachsene.
Lange nachdem der Rest des Dorfes weiter zog, bauten Leyla und ich hier unser gemeinsames Leben auf. Dem Haus folgten zwei Kinder und ihnen ein langes Leben.
Seht ihr die Lichtung dort vorne? Sie war einst der Boden unter unserem Heim. Seit Leyla und den Kindern lebte ich viele Leben, hatte viele Familien, doch nach 2000 Jahren auf dieser Erde blieb mir keine Erinnerung so stark im Gedächtnis, wie diese. Leyla und ich, spielend auf den Wiesen. Riqua über uns wachend.
Wenn ich genau hinsehe, kann ich unser vergangenes Leben sehen. Es pulsiert als gleißendes Licht vor meinen Augen. Ein Schatten seines einstigen Glanzes, doch selbst in der tiefsten Dunkelheit wird mich der Anblick dieser Erinnerung immer begleiten.


© Patrick Pausch


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Beschreibung des Autors zu "Leyla Teil 1"

Erinnerung eines Gefährten des Hauptcharakters an sein erstes Leben.

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