In Seattle regnet es in Strömen. Blitze zucken vom Himmel. Ich schaue nach draußen, durch die großen Fenster des modernen Apartments. Es stehen keine Möbel darin. Die Skyline ist dunkel. Sie verschwimmt.

Ich sitze da, die Beine angewinkelt am Körper und denke nach. Ich fühle mich einsam und leer. Ich will jetzt keine Ablenkung, keine Zerstreuung. Die Gothics sind bestimmt wieder am feiern. Ich gehöre dazu und zugleich auch nicht. Ich lehne ihre wiederholten Einladungen in den Sundown, in die Musikhalle oder sonstwohin ab. Ich möchte nicht in die Öffentlichkeit, nicht mit dem Gesicht. Klingt schwachsinnig, denn es ist immer gleich. Ein Avatar hat keine Gefühle. Was stimmt mit mir nicht? Der Donner kracht, als wäre er echt.

Das kleine Mädchen tritt bei. Little friend.

Y: Alles ok?
R: Ja
Ich lüge sie an. Jetzt mein Herz auszuschütten hat wenig Sinn.
Y: Hm okay ..
Möglicherweise kauft sie es mir nicht ab.
R: geh ruhig wieder zu den anderen

Sie geht.

Ich möchte nicht zusehen, wie sie gut gelaunt sind, wie sie tanzen und schwatzen. Das ist nicht meine Welt. War es nie.
BnC Glitch und TarshaGott haben sich verlobt, letztens. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Es ist lächerlich zu glauben, man könnte jemand wirklich lieben, den man nur online kennt. Und doch wirken sie glücklich, die beiden. Jedenfalls für den Moment.
Ich bin gegangen an dem Tag. Ich konnte da nicht länger zusehen. Es erinnert mich daran, das mir etwas fehlt, im echten Leben, der starren Realität: Das Gefühl von Nähe, Zuneigung, Akzeptanz und Verständnis, für all diesen Scheiss in meinem Leben. Ich bin verloren. Und mein reales Leben vermischt sich mit dem virtuellen.
Ich kann meine Herrin nicht zufriedenstellen. Wie soll jemand wie ich sie glücklich machen können?

Ein Bildschirm kann keine Wärme und keine Geborgenheit vermitteln. Und sie sagt es nicht. Muss sie ja nicht. Ihre Nähe würde reichen. So wie damals auf der Insel, jenem Abend, an dem ich mich ihr so fern gefühlt habe und doch so nahe. Es scheint leichter zu sein, sich zu streiten.

Die Leidenschaft entspringt unserer Fantasie und vereint sich, wenn wir uns treffen. Doch es ist mehr. Es fühlt sich so echt an, als wäre da eine geistige Verbindung. Ich kann sie spüren. Ich spüre, wie sie mich niederstarrt, wie sie mich würgt. Und ich sehe sie, wenn sie schläft.
Ich fühle mich so sehr zu ihr hingezogen, das es körperlich schmerzt, wenn sie geht oder wenn sie nicht antwortet. Ich bezweifle, das jemand in einer solchen Beziehung tiefer fühlen kann.
Ich verliere eindeutig den Verstand, sowas zu sagen. Ich bin nicht normal. Ist das krank?
Alles was ich mir wünsche, ist vor ihr auf dem Boden zu liegen, ihren Heel auf meinem Hinterkopf, ihre Macht. Doch ich wünschte, das es echt wäre, nicht bloß ein Game. Keine Chance, wenn ich mich selber blocke. Ich atme aus.
Sie sagte nichts in der Richtung, als hätte sie Gefühle. Jedenfalls kam es mir nie so vor. Ich mag, das sie hart ist. Und ich bin geradezu berauscht von ihrer Präsenz. Sie sagte, sie sei nicht gefühllos, kein Eisblock. Und doch habe ich nie erlebt, das sie eine sanfte Seite hätte. Das wage ich kaum zu glauben. Kennst du keine Fürsorge? Ist es nötig so streng zu sein, um einen Hund zu erziehen?
Ich will es, will wie ein unartiger Hund behandelt werden. Es erregt mich so sehr und ich möchte es gar nicht mehr anders. Es gehört so. Aber wenn ich traurig bin, auch mal aus völlig anderen Gründen, mischt sich Bitterkeit in die Schönheit des Schmerzes.

Das ist der Punkt, an dem ich mich frage, ob ich ihr überhaupt was wert bin. Das wenige, das die anderen mitbekommen, veranlasst sie zu Sätzen, wie: Jeso: „Man sieht, das du sie vergötterst.“ - Schöne Sache. Xi: „Hoffentlich bist du ihr was wert. Sonst hätte sie ja nicht nach dir gesucht oder?“ - Sie wollte wohl nur ihren Hund zurückpfeifen. Es gibt schließlich noch andere. Ein dreckiger Hund kann nicht wichtiger sein, als der Rest und erst recht nicht mit der Realität konkurrieren. Letztendlich hab ich habe ihnen keine Antwort gegeben.
Ich schäme mich Selbstgespräche dieser Art zu führen. Es ist alles so hoffnungslos, und ich dumm. Ich bin von meiner Herrin besessen.
April fragte mich dieses letzte mal, das ich sie sah: Liebt deine Herrin dich? Ich erwiderte, was das denn für eine Frage sei, aber meinte damit - Nein natürlich nicht. Ich sie ja auch nicht. Ich will mich nicht verlieben. Darum geht es nicht.
Sich virtuell zu verlieben ergibt keinen Sinn.
Dennoch hat sie mit keiner anderen Frage es je geschafft, mich derart zu verletzten, die dumme Gans.

Eine einseitige Liebe ist erbärmlich. Ich demütige mich. Es ist wie eine Sucht.
Kann es denn jemals Realität werden? Denn wenn nicht, wird es nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung darauf hinauslaufen, das es irgendwann vom Winde verweht wird... wortwörtlich.
Ein herrenloser Hund ist erbärmlich, er bringt sich um oder er mutiert zum Wolf. Da kann ich besser ins Altenheim gehen. Ich habe ohnehin keine Zukunft.

Ich sehe auf mein Handy. Ups, Young ist wieder beigetreten. Nicht bemerkt.

Y: Schönes Wetter da draußen
R: ja
Ich mag schlechtes Wetter. Melancholie ist was Feines.

(Y: Lust zu reden?)
R: was soll ich denn sagen
Was soll ich ihr sagen?!? Nichts, das man in den knappen Sätzen eines Chats zusammenfassen kann. Und nichts, was sie verstehen würde.
R: du musst hier nicht sitzen
Y: Will aber
Toll.
R: ich beabsichtige nicht jemanden herunterzuziehen
(Y: Was meinst du mit runter ziehen)
Das ich depressiv bin, sollte sie wissen.
Sie weiß gar nichts. Ich möchte vor den anderen nicht schon wieder wie son Trauerkloß wirken.
R: red bitte öffentlich
Y: Wieso
(Y: Wegen deiner herrin wollte ich hier reden)
Um Himmels Willen, das hat es doch erst kompliziert gemacht.
R: es ist einfacher
Y: Wie du meinst
Y: Was meinst du mit runter ziehen
R: Du musst hier nicht sitzen
Ich rede wie ein Automat.
Y: Ich will aber
Man ist sie hartnäckig. Muss ich sie erst beleidigen oder verletzen, um sie loszuwerden?
R: ich möchte dich nicht negativ beeinflussen
R: wenn du nicht gehst passiert das vielleicht
Y: Na und?
R: echt. lass dir deine Laune nicht vermiesen

Uff. Irgendwas muss ich wohl rausrücken.

R: sie sieht es nicht gern wenn wir so viel reden, meine herrin
R: sie denkt… ja keine Ahnung
Wer weiß das schon
Y: Pf dann halt nicht!
Doch ein Kind.
R: du bist ohnehin noch ein kind
R: jetzt Laune vermiest?
Y: ich bin kein kind
R: aber du verstehst es auch nicht
Y: Was micjt
Y: Nicht
R: und ich sage besser gar nichts mehr

Eine Weile sagt niemand was. Ich bin so leicht zu knacken. Auch wenn die dumme Göre mir einmal das genaue Gegenteil gesagt hat. Na ja, womöglich gibt es diesbezüglich zwei Ebenen. Wer wird da recht behalten?

R: dieses ewige hin und her, dieses Drama zwischen Leid und Freude, Schweigen und reden. Bestrafung und Leidenschaft… es zehrt
R: an mir
Y: Ich weiss
Sie weiß das?!? Ich runzele die Stirn.
R: ich halt das aus
Und ich bin doch ein Kämpfer. Irgendwo tief in mir drin, kann ich nicht aufgeben.
R: ich will es ja
R: aber es macht mich ein stückweit wahnsinnig
Y: Dann geh ich halt
R: besser so
Y: Wir sind Freunde

Sie geht.

Ja sind wir. Da ist Verständnis. Aber die oberflächliche Art, oder? Ich dachte nicht, das ich überhaupt oberflächliche Freundschaften haben kann. Sie ist nett. Aber mein Schmerz ist ihr so fern. Sie ist so kindlich und das ist es ja auch, was die Leute an ihr mögen. Ihre Sis und so.

Meine Beine sind taub und meine Hände kalt. Ich stehe auf und laufe im Apartment auf und ab. Das Feuer in den Kaminen knistert. Die Jalousien rechts von der Küche sind halb hochgezogen.
Durch die Glasfronten kann man hinaus in die verregnete Stadt sehen. Ein paar Lichter glimmen in den Fenstern der Hochhäuser und Stahlriesen. Der Donner grollt, Blitze leuchten für den Bruchteil einer Sekunde auf.

Ich stehe in der Ecke des Kochbereichs. Noch einen Moment stehe ich da und starre hinaus. Ich werde warten. So lange wie es sein muss. Mein Avatar sieht blöd aus wenn er steht.
Meine Hände zittern.
Ich rolle mich auf dem Boden zusammen wie ein Hund.


© D.M.


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Beschreibung des Autors zu "Das Apartment im Regen"

Buchstabe, Doppelpunkt: Öffentlicher Chat
In Klammern: Privater Chat
Ohne Zeichen: Kommentare und Geschichte

Die Geschichte gehört zu dem Text, "Dear, Dad"
also Teil 2 bzw. Gegenstück dazu

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