Der fahle weiße Schein des Mondes lässt die Stämme eines hohen Tannenwaldes bleich erscheinen, wie Skelette in der Düsternis. Die Welt liegt in tiefem Schlummer. Wenige Lichter der fernen Stadt glimmen noch durch die Dunkelheit. Weit über ausgedehnte Wiesen und Felder, Hügel und Wälder hinweg, zieht ein lauer Nachtwind. Gähnende Leere ist zwischen den kahlen hochragenden Bäumen, nur der Nebel liegt dicht und wabernd über dem Boden.
Ein Wolf streift einsam durch die Nacht, die Äste knacken hin und wieder leise unter seinen schweren Pfoten. Das zottige schwarze Fell sträubt sich. Es ist kalt. Er ist ein Einzelgänger, der kein Rudel hat. Er wurde verstoßen. Der Ruf eines Käuzchens unterbricht die Stille. Eines der großen Ohren dreht sich Richtung Westen. Die gelben Augen des Wolfes starren in die Ferne. Ein weiter Weg liegt vor ihm.

Sterne funkeln am Himmel. Der Geruch von Tannennadeln und Harz liegt schwer über dem Waldboden. Bedächtig setzt der Wolf seinen Weg fort. Er hat es nicht eilig.
Der Wind braust durch die Baumwipfel und Fledermäuse huschen schemenhaft über die Spitzen.

Auf einmal raschelt es im Laub. Seine pelzigen Ohren zucken. Schnuppernd hebt er den gewaltigen Kopf. Eine Marder flitzt durchs Unterholz. Keine lohnende Beute. Ein Knurren grollt tief in seiner Brust. Er ist hungrig und macht sich auf die Jagd.
Seine Pfoten graben sich in den weichen Waldboden. Er nimmt Witterung auf. Immer schneller fliegen die Bäume an ihm vorbei. Der süßliche Geruch von Wapitiblut liegt in der Luft. Sein muskulöser Körper schlängelt sich zwischen Wacholderbüschen hindurch. Das hohle feuchte Klopfen eines großen Herzens lässt ihn oberhalb einer Lichtung inne halten.
Auf der Lichtung grast eine junge Hirschkuh im Mondenschein. Mit ihrem weichen Maul rupft sie bedächtig saftige Grasbüschel und würzige Kräuter aus. Lautlos schleicht er sich, entgegen der Windrichtung an sie heran. Die Augen starr auf die Beute gerichtet, die Lefzen hochgezogen, Speichel tropft aus seinem Maul.
Jetzt befindet er sich in unmittelbarer Nähe. Die Hirschkuh bemerkt ihn nicht. Da springt er plötzlich mit seinem einzigen Satz aus seiner Deckung hervor und gräbt seine scharfen Reißzähne in ihre Flanke. Sie schreit erschreckt und wehrt sich heftig. Mit seinen überdimensionalen Pfoten kratzt er tiefe Wunden in ihr Fell. Die Gegenwehr der Hirschkuh lässt nach. Noch zweimal beißt er zu, nahe an ihrer Kehle. Sie sinkt zu Boden. Dickes Blut tropft auf das Moos. Verletzt liegt das junge Tier im Gras. Schmerzenslaute dringen leise aus ihrem Maul.
Da packt eine eiserne Hand sein Herz und drückt zu. Er weicht zurück. Schmerz zuckt durch seinen Körper.
Dem Wolf ist die Jagdlust vergangen. Er wendet sich ab und verlässt die Lichtung. Der klagende Schrei der Hirschkuh hallt durch den Wald hinter ihm. Seine Ohren sträuben sich, aber er blickt nicht zurück. Sie verblutet.

Nachdem er lange und voller Unruhe durch den unendlichen Wald gewandert ist, erreicht er auf einmal einen Bach, der sich von Westen nach Osten zieht. Gänzlich unerwartet schlängelt sich, das leise vor sich hinplätschernde Gewässer zwischen den Bäumen hindurch, von dunkelgrünen Büschen und zarten Veilchen umgeben. Langsam tritt der Wolf an den Bach heran, senkt seinen großen Kopf und trinkt von dem klaren Wasser. Die Reste der Hirschkuh hängen ihm noch in den Zähnen. Doch nun erfüllt friedliche Ruhe die Luft. Ein leises Zirpen dringt an seine pelzigen Ohren. Er hebt die Schnauze und sieht in der Ferne kleine Glühwürmchen über dem Wasser schweben. Tiefe Ruhe erfüllt ihn.

Er folgt dem leise gurgelnden Bächlein noch eine Weile, dann wendet er sich nach Süden. Die Gegend wird steiniger und schroffer. Seine bedächtigen Schritte beschleunigen sich. Ein unstillbares Sehnen zieht sich durch seine Seele. Er gräbt die Pfoten in die Erde, wird immer schneller. Er fliegt geradezu durch den Wald. Sein Körper streckt sich großen Sprüngen. Sein Herzschlag beschleunigt sich rasant. Der eintönige Rhythmus, seiner dumpf auf die Erde trommelnden Pfoten, bricht nicht ab. Es ist auch ein wenig eine Flucht an, aber die Erregung pulsiert durch seine Adern. Er legt immer mehr Strecke zurück, weit fort, fort aus dem Land.

Der Boden hebt sich an und geht in einen Hang über. Der Wolf verlangsamt sein Tempo nicht. Sein feuchter Atem dampft in der Kälte.
Doch bald ist er erschöpft. Oberhalb eines felsigen Steilhangs lichten sich die Bäume. Er wird langsamer.
Auf einmal kippt der Berg ab. Ein paar Steine trudeln in die Tiefe. Der Wolf verharrt vor dem Abgrund. Hier ist der Weg zu ende.

Er steht vor einer gähnenden Leere. Sein Verstand erstarrt. Die Einsamkeit lähmt ihn. Er sucht verzweifelt nach etwas. Sein Herz beginnt zu flehen.
Der Steilhang bietet keinen Halt, der Abgrund keine Brücke. Sein Ziel, der heiße Süden, eine traumhafte Oase in der Wüste, erscheint unerreichbar.
Seine Seele weint.
Er legt den Kopf in den Nacken und heult in die Nacht. Er heult vor unermesslichem Schmerz. Er heult den Mond an. Das Monster hält niemand mehr zurück. Es bleibt sich dessen einzugestehen. Der Mond blickt ausdruckslos über die Weiten.


© D.M.


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