Der klagende Schmerz hält an. Ich spüre, das sie mich vernichten wird. Ich bin ohne meine Herrin. Ein herrenloser Hund ist verdammt, er beißt und verletzt alle in seiner Umgebung, wie ein verwundetes Tier. Ich vermisse meine Herrin unendlich. Stark brennt die Sehnsucht nach ihr. Doch mein Bitten hört sie nicht und meiner Aufrichtigkeit glaubt sie nicht. Und meine Tränen sieht sie nicht. Und das ist auch gut so. Ich will nicht als Schwächling dastehen.

Ich muss heute meinen Großvater besuchen, im Altenheim. Dad verlangt es.
Ich kann kaum laufen, mich kaum beherrschen. Unter einer dünnen Fassade eiserner Disziplin brodelt es. Disziplin, das Einzige, das mein Vater mir beibringen konnte.
Mein Großvater wohnt in Zimmer 113. Auf dem Weg dahin, verlaufe ich mich zweimal in den kahlen Fluren. Ich versteh, warum er hier nicht gerne wohnt. Die Einrichtung ist kalt und steril, überall. Aber so richtig kümmert ihn das möglicherweise gar nicht mehr. Er ist ein stumpfsinniger alter Greis geworden. Wir tauschen ein paar höfliche Floskeln aus. Wie geht es dir? Gut. Wie läuft es so? Gut. Wie ist das Wetter so? Gut. Wie geht es deinem Vater? Gut.
Ich schauspielere ziemlich schlecht. Er merkt es nicht einmal. Leiden konnte er mich noch nie, also ist es ihm womöglich auch einfach egal. Ich sehe nicht aus wie der Typ Mensch, den man mag. Ich habe keine Blumen mitgebracht. Nach einem recht kurzen Besuch bei ihm, gehe ich wieder.
Ich suche die Kantine, um einen Kaffee zu holen oder so. Wenn ich zu früh zurückkomme, stellt mein Vater womöglich noch Fragen. Meine Schritte beschleunigen sich. Die Beschilderung ergibt für mich keinen Sinn, ob das an mir liegt? Ich laufe weiter.
Das Gebäude ist ziemlich groß. Auf einmal habe ich keine Ahnung mehr, wo genau ich mich befinde. Es ergibt keinen Sinn was da steht: Büro, Stauraum, Messzimmer, Aktenlager. Hä? Befinde ich mich überhaupt noch im richtigen Gebäudetrakt?! Ich laufe weiter.
Doch ich halte es kaum noch aus. Das ich jetzt ausgerechnet hier bin, ist fatal, Karma, schlechtes Timing. Ich habe mich an einem öffentlichen Ort verlaufen. Erbärmlicher geht es nicht mehr.
Während ich durch die Gänge irre, wird der Schmerz übermächtig. Die Trauer sie verloren zu haben, zerreißt mich.
Ich bin allein. Vielleicht kann ich deswegen die Fassade nicht länger aufrecht erhalten. Die paar Leute, die mir begegnen, sehen mich bereits merkwürdig an. Mein Gesicht zuckt. Ich habe keine Wahl.
Schnell. Wie ein rettender Ort, verstecke mich in der nächsten Besenkammer und rolle mich ein, wie ein Hund. Meine Augen brennen. Ich sehe starr auf den Boden. Ich schlinge die Arme eng um meine Beine und vergrabe den Kopf darin. Niemand soll meine Gefühle sehen.

Es hilft nicht. Es fühlt sich an, als würde ich an meinem inneren Schmerz zerbrechen. Mein Körper bebt unkontrolliert.
Unglücklicherweise werde ich kurz darauf doch gestört. Eine junge Putzfrau (Kackbratze) mit roten Haaren und rosa Schleifchen darin, platzt rein.
Sie hört mich schluchzen. Scheinheilig fragt sie, was los sei. Ich tauche auf und blaffe sie an, das sie mich in Ruhe lassen soll, sie weicht zurück, will aber noch das Putzzeug von hinter mir holen.
Gehetzt springe ich hoch, schubse sie weg, das sie der Länge nach hinfliegt und laufe den Gang hinunter. Kopflos renne ich mehrere Leute über den Haufen und bekomme zunehmend wüstere Beschimpfungen nachgerufen. Es ist mir egal. Ich wünschte, sie würden den Sicherheitsdienst rufen. Die würden sich mit etwas Provokation vielleicht überreden lassen, mich zusammenzuschlagen. Hab mich lang nicht mehr richtig geprügelt.

Irgendwie lande ich dann in den WC-Räumen. Ich lasse das Licht aus. Zitternd gehe ich zum Waschbecken, spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht.
Ich sehe in den Spiegel. Mein Gesicht sieht blass aus und übernächtigt, käsig. Mein Blick fällt auf meine Halskette und meine Gedanken sind wieder bei ihr.
Ich stelle mir vor, wieder auf dem Friedhof zu liegen, ihr ergeben, mit dem Gesicht in der Erde und ihrem Heel in meinem Nacken.
Meine Fantasie springt aufs Altenheim über und ich sehe sie vor mir, wie sie einfach ins WC marschiert, ein paar überraschte Männer um den Verstand bringt.
Dann wendet sie sich mir zu, packt mich am Genick, wie einen unartigen Hund und schleift mich zu einer Kabine, wo sie meinen Kopf in die Kloschüssel tunkt. Erst drückt sie mich mit der Hand runter, dann stellt sie ihren Fuß auf meinen Rücken. Sie zwingt mich, das Gesicht ins Wasser zu tauchen.
Als ich wieder hochkommen darf, flehe ich sie an, ihre Stiefel ablecken zu dürfen. Während ich da stehe und so in meine Fantasie vertieft bin, hohle ich mir einen runter. Ich stöhne, stelle mir vor, wie sie mich demütigt und schlägt. Das schlechte Gewissen kommt später.

Auf einmal betritt jemand das WC und erwischt mich. Irgendein freundlich wirkender Mann, der ausgesprochen harmlos aussieht. Jetzt guckt er allerdings nicht mehr freundlich.
Er ist entsetzt. Erst macht er einen auf besorgt. Er scheint meine geistige Gesundheit anzuzweifeln. Ich könnte im Boden versinken.
Als das nichts bringt, geht er in die andere Richtung und ist vollkommen entrüstet, wie ich so etwas machen könnte und das auf einer öffentlichen Toilette! Mein Widerspruchsgeist flackert auf und ich schieße zurück, das es ihn einen Scheiß angeht, was ich mache und wo. Danach stürze ich hinaus, nicht ohne ihn im Vorbeigehen meine Schulter in die schwächliche Brust zu rammen.
Und wieder stehe ich in einem kahlen, weiß beleuchteten Gang, ratlos. Mir ist schwindelig. Ich stütze mich an der Wand ab.

Der Gang verschwimmt vor meinen Augen. Ziellos renne ich irgendwo hin, torkele wie ein Betrunkener.
Das Gefühl der Einsamkeit überwältigt mich nun doch. Die Sehnsucht nach meiner Herrin verzehrt mich. Ich falle in die Tiefe, stürze in einen bodenlosen Schacht. Es ist so dunkel. Die Schwärze verschluckt mich und ich falle auf die Knie, dort wo ich stehe.
„Na na, junger Mann, so schlimm kann es doch nicht sein.“, höre ich eine vergnügte Stimme sagen.
Ich schaue auf und finde mich in einem luftigen hellen Zweibettzimmer wieder. Weiße lange Gardinen hängen am Fenster. Eine Trockenpflanze steht in der Ecke. Zimmer Nr. 87. Das vordere Bett ist leer. Auf dem Hinteren sitzt eine elegante alte Dame mit schlohweißen Haaren auf der Tagesdecke und ließt ein Buch, die Beine überschlagen.
Sie sieht mich an, als wäre mein Anblick für sie keineswegs überraschend, ja fast gewohnt. Ihr Blick ist… seltsam, als würde sie mich verstehen.
Ihre Ausstrahlung, ihre ganze Art erinnert mich an was. Sie hat etwas Erhabenes an sich, eine natürliche Autorität. Ja seltsam, sie -
„Was zum Teufel machen Sie hier!?“, ruft eine ärgerliche Stimme hinter mir. Ein Pfleger ist hereingekommen. Er sieht entnervt aus.
Bevor ich was sagen kann, unterbricht sie sein – „Und warum, um Himmels Willen, knien Sie auf dem Fußboden?! Haben Sie den Verstand… - “ „Verschwinden Sie, kleiner Junge!“, herrscht sie ihn an, „Sie haben es gerade nötig, sich zu beschweren! Los machen Sie sich mal nützlich und holen Sie mir Kaffee und Kekse, aber dalli!“
Der Pfleger wird rot, stottert was und rennt eilfertig hinaus.

Wie nett von ihr, das sie ihn zusammenstaucht. Aber sie scheint es nicht seltsam zu finden, das ich auf dem Boden knie?! In dem Moment dämmert mir was.
Ich hebe den Kopf, sehe die Frau an und frage leise: „Sind Sie etwa eine Herrin?“
„Jawohl, kleiner Hund.“ Es klingt sehr bestimmt. Aber ihr Tonfall hat auch etwas ... Mütterliches? Hä? Das passt nicht zusammen.
Ich hebe erstaunt die Augenbrauen. „Ich bin mit dem Alter ein wenig gemütlicher geworden.“, erklärt sie. Als ob... ich das glauben kann.
„Aber woher wussten Sie…“, frage ich fassungslos, durcheinander.
Ich bin derart verblüfft, das ich mich nicht mal darüber aufregen kann, das sie mich klein genannt hat.
„Was du bist? Na das kann man doch gut sehen.“
„Wie jetzt? - “ Kann man das wirklich so einfach sehen?
„Aber ich kann dich nicht schonen.“, fügt sie dann scharf hinzu.
Ich zucke zusammen.
„Du musst mit deinem Schmerz selber zurechtkommen. Wenn dich deine Herrin verlassen hat, hast du es nicht anders verdient.“
Ich werde fallen.

„Und ansonsten, … was sitzt du noch hier rum?!“, ermahnt sie mit Nachdruck und holt mich damit aus dem tiefen Loch, in das ich gefallen bin, in die Realität zurück.
„Sei ein braver Hund, und geh zu ihr!“ Ihre Stimme duldet keinen Widerspruch.
Ich bin sprachlos, wie energisch sie geredet hat. Ihre Augen funkeln. Sie sieht mich streng an.
„Ja, nicht dumm gucken! Marsch jetzt!“
Und ich laufe hinaus, verlasse das Altenheim und renne die Straße hinunter.


© D.M.


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