Wochen nach dieser unvergleichlichen Begegnung mit der Einen Herrin, in jener dunklen Bar, stehe ich eines späten Nachmittags im Bahnhof vor einem Fahrplan.
Das sterile kalte Licht der Leuchtstoffröhren erhellt die, bis zur Decke mit dunklen Kacheln verkleidete Halle, recht spärlich. Der Bahnhof ist unterirdisch. Die Luft ist kühl. Es riecht nach Zigarettenrauch und Abgasen.
Ich stehe auf Bahnsteig drei und studiere den Plan. Ich verkneife mir ein verärgertes Schnauben. Der nächste Zug nach Bonn fährt erst in zwei Stunden. Das Geratter vorbeifahrender Züge erfüllt die Bahnhofshalle. Menschen laufen hastig hin und her. Unwohl trete ich von einem Bein aufs andere.
In dem Moment, als eine alte Diesellokomotive des Fernverkehrs startet, vibriert die Luft, so sehr hallt es von den Wänden wieder. Ich kann mich nicht konzentrieren. Ständig muss ich an die Szene in der Bar denken. Es kribbelt mir bei der Erinnerung am ganzen Körper. Dieser beunruhigende Blick der Herrin verfolgt mich. Wohin ich auch gehe, was immer ich auch tue, ich spüre ihn in meinem Rücken. Es ist wie eine unsichtbare Leine, an die ich gekettet bin und die mich immer wieder darauf hinweist, was ich bin: Ihr Hund. Die kleingedruckte Schrift auf der Informationstafel tanzt vor meinen Augen. So werde ich garantiert keine andere Zugverbindung finden.
Das Geräusch der Lok wird leiser und verebbt langsam. Alle Züge, die auf den Gleisen standen, sind abgefahren. Die Reisenden zerstreuen sich.
Das hektische Getreibe pausiert. Es kehrt Ruhe ein. Nur ein paar wenige Wartende stehen noch am Bahnsteig, jeder in seine Gedanken versunken.
Keine fünfzehn Minuten später füllen sich die Bahnsteige wieder. Das Fußgetrappel von Hunderten, welche die breiten Treppen hinunterlaufen, durchbricht brutal die Stille: Schnatternde Touristen mit überfüllten Einkaufstaschen, die aus der nahen Innenstadt kommen, Reisende mit großen Koffern, die sie mühselig die Treppen runterschleppen und Geschäftsleute mit Aktentaschen rennen eilig zu den Gleisen.
Neue Züge fahren ein; Fahrgäste steigen aus; Züge fahren wieder ab.

Es herrscht gerade ein mittelmäßiger Lärmpegel und ein aufmerksames Ohr könnte das Geräusch von Heels auf dem schwarz-weiss gefliesten Boden hören. Nur höre ich es dummerweise nicht.
Sie, die Herrin, geht durch die Menschentrauben hindurch, die beieinander am Gleis stehen, als wären sie Luft. Hastig machen diese ihr Platz.
Plötzlich spüre ich, wie eine unsichtbare Hand mich ergreift und mich heftig schüttelt. Eine dunkle Vorahnung überkommt mich. Langsam drehe ich mich um, sehe sie durch die Menge schreiten, wie eine Pharaonin, die sich himmelweit über ihrem Gesindel befindet, meine Gebieterin.
Sie ist teuflisch schön.
Verdattert spüre ich die Verglasung der Infotafel in meinem Rücken. Ich hatte nicht gewusst, das sie heute hier sein würde. Im Vorbeigehen trifft ihr Blick auf meinen, ein berechnender Blick aus schmalen Augen. Meine Kehle wird trocken. Meine Hände fangen an zu brennen. Sie verschlägt mir die Sprache. Wenn ich mich jetzt jemand angesprochen hätte, hätte ich es nicht mitbekommen, geschweige denn eine Antwort geben können.
Sie beachtet mich nicht weiter. Als sie vorübergegangen ist, geben mir die Knie nach, zitternd sinke ich zu Boden. Es fühlt sich an, als wäre ich soeben meiner Schöpferin begegnet oder hätte in das gnadenlose Licht der Sonne geschaut.


© D.M.


0 Lesern gefällt dieser Text.

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Zweite Begegnung: Der Bahnhof"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben zu "Zweite Begegnung: Der Bahnhof"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.