Nachtgard
Ein mystisches Märchen









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INTRO


„Ich weiß, dass es diese Kraft gibt. Sie ist der Schlüssel, um die Macht der Adelsfamilien und ihrer speichelleckenden Konzernleiter bei Weitem zu übertreffen. Sie ist mir vorausgesagt, ja versprochen worden und ich habe ihr einen Ort errichtet, wo sie sich einen Wirt aussuchen kann. Dieser Wirt wird seine Mitgefangenen auffressen und nach seinem Vorbild werde ich alles verzehren – nur Geduld, mir wird gedient werden und ich nehme mir das, wessen auch immer ich begierig bin. Ich werde dieses unwürdige Dasein als Fleischklumpen beenden und als Einziger die Fähigkeiten erben, die ich mit List und Tücke aus der Ratte saugen werde, die lediglich der Bote ist, mir den Schlüssel zu überreichen- ihn mir zu Füßen zu legen und ihn mir dann, demütig zu Boden blickend, zu überreichen. Ich, ich werde ihn meinen Sohn nennen und er ist nach dem Dienst für meine heilige Sache das Futter des Hunderudels, das ich aufzüchte, damit es die Ratten alle zerfetzen wird, und dieses Blutbad wird das Letzte sein, was ich in Menschenform genießen werde. Ich werde lachen, spotten, ja voller Hohn werde ich meine Kreaturen unter der Erde begraben. Sie werden erlöschen wie Funken im eiskalten Nebel, den ich geschaffen habe, ja, ich durfte den Göttern bereits zur Hand gehen, als sie ihren Odem über die Welt legten und ihn als Gitter und Zement überall verteilten. Dann, … dann starb ich.

Als ich tot war, verging keine Zeit, und so füllte sich innerhalb eines Augenblicks die Welt mit diesen meinen Kreaturen: Ratten, Hunden, jawohl, Untertanen, Schäfchen meiner Kirche, die ich zur Aufzucht emporsteigen ließ. Sie hat Feinde? Ja, das ist schön. Diese Feinde mögen wohl am Gitter rütteln, doch mit der Maschine will ich sie in Ketten halten. Die Prophezeiung, die unter ihnen kursiert, mag eine nette Belustigung sein, die ich dann am Tag meines Aufstieges in die Reihen der Unsterblichen zertreten werde. Ich werde sie dabei anlächeln … Sie wollen einen der Ratten gegen mein Imperium aufhetzen … ha, ha! Tut es, tut es! Ich will mich dieser Kreatur ganz besonders zuwenden, denn sie ist es, die mir den Schlüssel aushändigen wird – SIE WIRD ALLE VERRATEN…, ha, ha, dann im letzten Moment vor lauter Angst und wegen der Abhängigkeit von einer anderen Kreatur, die letztlich nicht weniger sein wird als das Verderben aller. Ihr Liebreiz mag jene blenden, die dumm sind. Der Abgrund ist ein Garten voller Blumen, Unkraut, was auch immer, eine Falle die alle ihre Mühen zerstören wird, ha, ha, ist das köstlich. Ich? Ich werde mich dann unter den Göttern durchsetzen und meinen Aufstieg vorantreiben. Macht kennt kein Ende, ich kenn kein Ende, ich bin die Ewigkeit, EWIGE HERRLICHKEIT MEINES WILLENS! ICH, ICH, ICH!!“

Ein mystisches Märchen innerhalb von gespenstischen Nebelschleiern und eines Kreises an eigenwilligen Charakteren beginnt …
Nachtgard 1

Traum der Wirklichkeit

Willkommen in Nachtgard. Hier war der Ort, an dem Riev, ein etwa siebzehn Jahre alter Jugendlicher, melancholisch wie er war, auch krank und zur Sucht geneigt und von übertrieben geistiger Flexibilität in Versuchung geführt, lebte. Er schleifte seine Realität durch den Schatten, doch er hatte Gründe, gute Gründe, sein meist trostloses Leben weiterzuführen.

Es ward nun Herbst. Blätter trieben auf den ewigen Wogen der Brise, die auch den trägen Nebel nach einem undurchschaubaren Prinzip immerzu weiterbewegte. Dieser Nebel spielte DIE Rolle, denn darin waren Tausende Geheimnisse verborgen, und es gab Fragen, deren Antwort der Tod war. Der Nebel leuchtete bleich in der Nacht, und am Tag hielt er Nachtgard in einem weißen Zwielicht. Selten nur wagte es eine kleine Öffnung in ihm die Sonne durchblinzeln zu lassen. Die meisten Menschen glaubten gar nicht ernsthaft an die Sonne. Das hiesige Weltbild war eine Sache für sich, man konnte es nicht sofort verstehen. Vielleicht war es dafür gar nicht geschaffen.
Und so rückte Nachtgards Seele gemächlich ins Zentrum dieser Geschichte.

Der Nebel schwebte sowohl nahe am Boden wie er aber auch hoch zu den Hügeln, majestätisch anmutend, ragte. Ja, er hatte Autorität und eine frostige Würde, die Menschen waren von ihm doch irgendwie eingeschüchtert.

Die Hügel waren Hünen, die diese kühle Großstadt im Spiegel unserer Gegenwart umgaben. Auf ihnen lebten die Vermögenden, und ja, es gab auch Adelige, die untrennbar mit Konzernen und gewissen politischen Fraktionen in Beziehung standen.
Es gab hier alles, was eine Gesellschaft in sich hatte, ob es nun gut oder schlecht war. Korruption war nicht ortsgebunden, sondern eine menschliche Eigenschaft, oder aber auch eine Position innerhalb eines Systems.

Ruhig: Ja, Nachtgard war von seiner Fläche her groß, doch man konnte es mit einer Stadt im europäischen Industriezeitalter vergleichen, wenn man die Mentalität von damals auf die moderne Technologie und Infrastruktur übertrug.

Riev war ein „Straßenkind“ und er kannte weite Teile, doch noch immer nicht die ganze Stadt.
Er war ein Underdog und selbst unter Gleichgestellten eher einer der Ruhigen. Sein Blick hatte etwas Unwirkliches, schien so rein und ehrlich, auch wenn der Junge, wie sehr oft, benebelt war. Wenn er intensiv fühlte, so leuchteten seine Augen türkis.
In Nachtgard herrschte subtil, gerade merkbar, ein Klassensystem. Man richtete sich nicht mehr offiziell danach, doch in den bleichen Schrecken des Nebels gab es Blaublütige, die ihre oder den Bezug zu anderen Blutlinien nutzten. Dadurch kamen leider auch hässliche Geschichten aus dem Weiß des einfach nicht wegzudenkenden Nebels hervorgequollen. Niemand kümmerte sich darum, alles wurde genommen, wie man es ihnen hinwarf. Die Wahrheit flüsterte.

Es gab Armut, Verzweiflung, organisiertes Verbrechen.
Das alles wuchs in Nachtgard. Obdachlose erfroren in harten Wintern, auch wenn es Einrichtungen gab, die sie nutzen konnten – manchmal fanden sie dort nicht hin; wenn der Rausch zum einzigen Inhalt ihres Lebens wurde, sank der Antrieb sich zu bergen. Vielleicht suchte man dann ja gar nicht erst nach einer Unterkunft. Und Fusel wärmt nicht.
Es gab wenige, aber doch einige, soziale Anlaufstellen, die durch gute Männer und Frauen aufrechterhalten wurden, so wie sie das offensichtlich Gute und eine edel gesonnene Ordnung verfochten. In Wahrheit mussten sie kämpfen und hatten sich von übertrieben weltlichen Wertvorstellungen lösen müssen, damit sie diese Stadt vor der moralischen Verwitterung zu bewahren vermochten. Es war ein harter Kampf!
Leute wie Riev waren von den Streitern für mehr soziale Güte abhängig und nicht nur davon. Der Dank war unausgesprochen, nicht in Worten gesprochen, aber vorhanden.

Riev kannte weder Vater noch Mutter. Mit vierzehn Jahren war er auf einmal in den äußeren Wäldern auf einem der nördlichen Hügel aufgetaucht und war herumgeirrt, hatte sich aber dann auf sich besonnen und die völlig veränderte Umgebung als Realität akzeptiert. Doch wusste er nicht, wie man „Realität“ definierte, und das hatte seine Gründe. Er war offenbar aus einem langen Albtraum aufgewacht. Es war nur gut, dass er seine Situation akzeptierte, ehe er sich ganz verlor.
Denn dort, wo er aufgetaucht war, war das Grenzgebiet zu den Anwesen und Grundstücken reicher Männer und Frauen gewesen, die an diesen Wald stießen.
Prinzipiell verstand man wenig Spaß, wenn es um die Sicherheit ihres Landes, ihrer Goldtempel und ihrer Kinder ging. Doch keiner hätte jemals Gefahr aus dem Wald erwartet. Diese Tatsache war für Riev zu seinen Gunsten gewesen. Denn hätte man ihn aufgegriffen, so hätte er keine Papiere bei sich gehabt, und er war ungewöhnlich gewandet gewesen. Er hatte erst nach einiger Zeit begriffen, woraus sein neues Umfeld bestand. Was zuvor gewesen war, war zerbröckelt und sein Bewusstsein hatte es irgendwie hinabgestoßen und begraben.

Doch auch die verschwiegensten Gräber sprechen irgendwann einmal.

Als er in die Stadt gewandert war, hatten ihn Leute von der Straße angesprochen und einfach geholfen, das Nötige, vor allem passende Kleidung und Nahrung, zu besorgen. Irgendwie hatte ihn etwas über Wasser gehalten, etwas aus dem Nebel. Er war in dieser nebeligen, kalten Stadt untergetaucht, um verändert wiederaufzutauchen. Nur dass er für gewisse Leute der seltsame Fremde blieb, dessen unterschiedliche Pfade sich in den folgenden drei Jahren im Nebel aufzulösen begannen, um seinem Schicksal zu folgen.
Rievs Möglichkeiten waren von Beginn an nicht großartig gewesen, doch nach wenigen Wochen war er in eine Bahn eingerastet und hatte begonnen, sich seiner Identität bewusst zu werden, einer sehr ungewöhnlichen Identität, die ihn auf nicht alltägliche Wege geführt hatte. Was bevorstand, hätte so gut wie niemand jemals erwartet. Nicht in dieser Spur der Realität.

Er hatte auf seine eigene Art gelernt, was es hieß, frei zu sein. Aber auch aus den Augen eines streunenden Schnorrers hatte er blicken müssen. Gnade und Unglück offenbarten sich ihm. Er erfuhr auch, was es hieß, nur mit Hilfe der sozialen Einrichtungen, wie den stark vertretenen Streetworkern und verwandten Einrichtungen, den Winter zu überleben.
Doch obgleich er nie viele Freunde um sich gehabt hatte, war es hier trotz seiner chronischen Depressionen besser als dort, von wo er hergekommen war – eine Stimme aus dem Grab wisperte ihm dies zu. Welch Höllenloch es gewesen sein musste, lag im Abgrund verdrängter Wirklichkeit, doch sein Geruch ging nicht aus Riev. Im Nebel lauerten viele unausgesprochene Dinge, und schon die Dinge, über die man flüsternd sprach, waren oft sehr beklemmend.

Nun war er schon seit ziemlich genau drei Jahren auf den Straßen Nachtgards. Es war das Leben, das er kannte. Er war etwa siebzehn Jahre alt und nicht gut darin, sich Freunde zu machen.
Seit er aufgetaucht war, war ja nun doch einige Zeit vergangen und dennoch gab es etwas Geheimnisvolles, das er womöglich nie gekannt oder es vergessen hatte. Er war ein ungeschliffener Diamant, wenn es um wahre Freundschaften ging. Diese Stadt war nicht bereit für Riev. Doch manchmal mussten Dinge sich ändern.

Die Straßenszene musste zusammenhalten. Doch auf der anderen Seite sah der Junge, dass sich letztlich jeder nur um sich selbst kümmern konnte, so, als sollte es eine zwischenmenschliche Strafe, ja ein Stigma sein, wenn man kein eigenes Haus hatte und nicht arbeitete. Sie konnten es aber nicht anders…

Es gab auch Leute, die absichtlich Unfrieden stifteten. Doch wer sie entlarvte, war wie jemand, der von den Gespenstern aus dem Nebel redete, einer, den man mied. Ein solcher wäre Riev fast geworden, wissend, worauf er sich einließ, wenn er in einer Runde das Wort ergriff. Doch es war wichtig, Ideale zu haben, wenn man stark sein wollte. Das, und was Opferbereitschaft war, hatte er begriffen.
Es gab Ausnahmen, die sich ebenso in vielerlei Hinsicht abhoben. Nicht viele, aber sie fanden sich. Riev reichte solchen Personen manchmal seine Hand, wenn man zusammen am notdürftig entfachten Lagerfeuer saß, dort irgendwo in den hinteren Gassen der Stadt, und Geheimnisse aus dem Nebel teilte, Erfahrungen austauschte und von Phänomenen berichtete, die es wohl vermochten, die Leute der ganzen großen Stadt Nachtgard auf irgendeine Art zu erschrecken.

Die wahren Rebellen waren wortkarg und sprachen nur, wenn es Sinn machte.

Riev war eine Person in Schwarz gewandet und hatte eine blasse Haut. Er war beinahe wie der Schatten des Nebels, war ruhig, beinahe immerzu unterwegs, übernachtete oft im Freien, und manche fanden ihn geradezu gespenstisch. Für sie war der Nebel keine Heimat, und sie wussten oft nicht, ob es zurzeit gefährlich oder harmlos war, die Schwaden zu durchstreifen.
Dafür gab es die „Einsamen“. Im Grunde waren sie das, weil sie etwas zu tun hatten. Jeder das seine – noch nicht geeint - auch wenn sie dasselbe Zentrum, gezogen von einem stillen Instinkt, anstrebten.
Manchmal verschwand jemand aus den weiten Kreisen dieser Leute, war am Vortag aber noch gesund und vielleicht sogar recht stark herumgezogen. Man kannte sie.
Riev war einer von den „Einsamen“ und hütete selbst Geheimnisse.
Es gab Ausnahmen. Doch mit Ausnahmen waren lediglich Momente des freundschaftlichen Umgangs gemeint.

Die Straße war aus Eis… und immer wieder schwebte der Nebel darüber und lachte manchmal gerade hörbar in der trüben Stille schattiger Winkel.

Riev war gleich einer Schneeflocke, die aus den Sternen gekommen war.

Er kämpfte hart ums Überleben in Anbetracht dessen, dass er gewisse Rauschmittel einfach benötigte und natürlich auch Nahrung brauchte. Er sehnte sich nach Wärme, aber musste sich selbst immer wieder aufs Neue akzeptieren, um nicht völlig zu vereinsamen.

Auf seinem Pfad führten seine Schritte nur als eine Spur aus Abdrücken durch den Schnee im Winter oder auf der schmutzigen Erde der Parks und im Schotter der Seitengassen. Auf sich allein gestellt, trank er auch oft allein in der Kälte.

Liebe kannten die Menschen aus Nachtgard kaum. Sie war ein selten gesätes Korn und man konnte es abzählen, wie oft ein Pflänzchen aufging. Umso schöner war es, wenn Zuneigung fruchtete und sich Menschen fanden, die zusammenhielten.

Das Gegenstück jedoch thronte auf Gold.
Die Adeligen spannen bloß „Fäden“ und verbanden sie miteinander. Man nutzte diese „Fäden“ auch gern als Hundeleinen, die aus der Hand eines Fürsten zu den Hälsen von neureichen Firmenbossen führten, die derartige Beziehungen für ihre Zwecke nutzen mussten, während die Würde mit dem Fluss namens „Schwarzperle“ hinabtrieb, der wohl das Tal Nachtgards als Erster betreten hatte, noch ehe Menschen gekommen waren.

Unter den sehr oft charakterlosen Zweigstellenleitern und Abteilungsleitern arbeiteten die braven, durchaus ebenso im Wohlstand erzogenen Bürger. Sie hielten den wirklich mächtigen Herrschaften die Tür auf und leiteten Befehle weiter, schauten dabei stolz, und zerflossen, wenn man ihnen herablassend auf die Schulter klopfte oder ihre Gehälter etwas erhöhte oder ein Bündel zusteckte, falls sie etwas sahen, was so offen am Gesetz jeder Menschlichkeit vorbeiging, dass etwas Kleingeld ihre Augen und ihre Münder schloss.
So lernte man es schon in den Schulen.

Die weiterführenden Schulen, so wie zum Beispiel das „Völkermann-Gymnasium“, das sehr zentral lag, und die vielseitige und traditionsreiche Universität „Vinlungen“, waren voll von den Söhnen und Töchtern all dieser oberen akzeptierten Klassen.
Die Adeligen hatten zwar oft Privatschulen, doch ihre Kinder waren auch gern die Stars der durchaus sauberen städtischen Schulen, die ein hohes Niveau hielten, auch wenn es hier um weniger Geld ging. Lehrer und Professoren nahmen ihren Beruf ernst und wollten ihn gut ausführen.

Es gab unter all den Menschen Nachtgards auch aufrechte und ehrliche Gemüter. Sie wurden ermuntert, ihr lauteres Herz beizubehalten.
Es gab da einen Bund, der sich für die Menschen und ihre Belange stark machte, ja die positiven Werte verteidigte – auch manchmal gegen den Druck der Korrupten.

An den Schulen mochten die Kinder der Reichen sich abheben und hatten eigene Cliquen und Freundeskreise. Wie auch immer…

Die Arbeiter und Konsumenten der Stangenware hielten das darauf gestützte System schwitzend am Laufen. Darunter waren alle, die durch Arbeit eine Wohnung hatten, zwar oft in zerrütteten Familienverhältnissen lebten und doch noch das natürlichste, also das bodennächste, Verhalten pflogen.

Dann kamen Leute wie Riev – die „Straßenköter“, die erwähnten Herumtreiber – der Kreis war geschlossen.
Die einen kamen einfach nicht ins System rein, die anderen purzelten von heute auf morgen heraus. Sie waren oft auch Gefallene, Opfer ihrer psychischen Probleme!
An einem Wochentag…

Eben schlich er, Riev Risenbach – allein an diesen Namen erinnerte er sich, da er auf seiner Kleidung gestanden war, als er in Nachtgard aufgetaucht war, in der Nähe des „Völkermann – Gymnasiums“ herum. Es war früher Nachmittag, er roch nach Fusel, Adrenalin ließ sein Herz wild pochen und in einem Begehren, welches die Grenze zwischen Gesund und Wahnsinn durchstieß, war er hergekommen.
Doch im Voraus: Er hatte edle Intentionen, soweit seine Betrachtungsweise sein Verhalten begründete. Niemand von den wenigen, die ihn zu dieser Zeit kannten und dies über ihn wussten, war sich im Klaren, ob er irre oder ein Held war.

Riev liebte ein gleichaltriges Mädchen namens Glory Diesman, wahrlich schon der Besessenheit nahe. Sie war Schülerin der Oberstufe. Das Traurige daran war, dass sie nichts von ihrem stillen Verehrer wusste, ihn vermutlich noch nie bewusst erblickt hatte. Zumindest war sie sich nichts dergleichen bewusst.
Aber starke Gefühle hinterließen überall Spuren!

Und Riev Risenbach tat etwas für sie, dessen er sich sicher war.

Sie kam aus gutem Hause, ja, so sagte man, und einer wie Riev passte da gar nicht als möglicher Freund, nein, nicht einmal als Verehrer, ins Bild.
Normalerweise standen diese Mädels auf die Prinzen und Söhne der Reichen, aus denen Eloquenz, Geld und meist gekonnt vorgetäuschter Charme sprachen, sie fuhren teure Wägen und trugen schicke Kleidung. Das war die Art von Eleganz, die man in Nachtgard verstand, aber nicht alle gingen darauf ein.

Wahre Menschlichkeit bedurfte durchaus den Schutz des Verborgenen. Auch daraus ließ es sich recht gut wirken. Ein Esprit brauchte originelle, mutige und edle Wurzeln. Vielleicht war etwas Wahnsinn der unsichtbare Sexappeal, wenn man darauf surfen konnte.
Doch nun blickte Riev mit Grimm auf diese falschen Schlangen, wie sie aus der Schule schritten, teilweise herumtollten und immer lachten. Er selbst war keiner dieser perfekten Menschen, daher mochte er die ganze Menge nicht, doch SIE war anders. SIE war wohl etwas wie ein Engel. So dachte der Junge…

Die Angst, dass Glory sich in einen von denen verlieben könnte, machte ihn zu dem, was der sensible und völlig fehleingeschätzte Junge auch war – ein missverstandener Freak, der sich sein Weltbild zusammenspann. Sein Blick war meist auf den unsichtbaren Horizont gerichtet, doch wenn er sich jeden Tag zur rechten Zeit dem Gymnasium von Glory näherte, verstimmten sich seine Saiten und etwas abermals Zwiespältiges ergriff sein Gemüt. War es der Schrei aus dem Elend oder war es tatsächlich Liebe, die hier an die Schwelle dieser Geschichte trat? Ja was?
Nun ja: Riev stakte Glory. Er stellte ihr nach. Dazu hatte er eine flexible und mit Varianten versehene Route, die ihren Weg von der Schule zur innerstädtischen WG nicht aus der Sichtweite ließ und auch weitere Wege in der Innenstadt betraf. Dort war der Strösselpark und bildete das gestriegelte Naturgebiet der Innenstadt.

Riev wusste, was er riskierte. Doch in unterschiedlich gearteten Visionen tat man ihm Gefahren kund, die er vertreiben musste. Sie waren womöglich eine Lüge kichernder Illusionen. Er hatte schon eine vielseitige Wahrnehmung und nicht alles davon musste auch realistisch sein. Denn in ihnen traf er jemanden, den er aus Visionen kannte, die in den letzten drei Jahren irgendwann begonnen hatten. Er kannte diese Person lediglich aus seinen unregelmäßig verteilten „Besuchen“ bei ihr.

Glory war wahrscheinlich nicht ganz zufällig der erste Mensch, an den Riev sich erinnern konnte. Sie hatte ihn damals nicht gesehen, als er von innen an den Rand des Waldes in die Nähe des Zaunes des Anwesens ihrer Eltern getreten war … und sie dort sah, als vierzehn Jahre altes Gegenteil von dem Grauen davor, das spätestens beim Ereignis ihres Anblicks verschwunden war. Ein Tor hatte sich geöffnet, nachdem hinter ihm ein anderes zugefallen war.

Seine Vergangenheit war durch mehrere Fäden verworren und eingeschnürt. Sein Ziel war es, diese Fäden zu zerschneiden und dann ... nun ja, er hoffte innigst, Glorys Herz zu erreichen. Er wusste, dass Bedingungen daran geknüpft waren. Er musste dabei sein Leben, ja seine ganze Existenz im Kampf riskieren, um ihr und sein Heil zu sichern.
Der Junge mit dem nachtschwarzen Haar, das links und rechts neben dem Gesicht zwei Stränge als eine Art Rahmen für sein mildes und bestrickendes Antlitz hatte, war mager und bleich, und irgendetwas an ihm war schicksalhaft und sein ganzes Dasein konnte rätselhafter nicht sein. Das sah man ihm einfach an. Doch niemand hätte die ganze Geschichte geglaubt, wenn man sie nicht richtig erzählte.

Jeden Wochentag war er in Glorys Nähe und achtete auf unstimmige Gefühle. Schließlich war er so empathisch, etwas zu empfinden, wäre seine Liebe wahrlich in Gefahr gewesen. Und das war sie in einer unsichtbaren Welt, in die der Junge Einblick gewann – mehr und mehr, weiter und weiter.

So manche Jugendliche aus seiner Szene trieben sich nahe der Gebiete herum, wo Schüler und Studenten ihre Cafes und Pubs hatten. Nur wenige Gassen weiter waren Lokale und Treffpunkte, die da keine Unterschiede kannten. Und da Glory sich manchmal dort sehen ließ, lugten Rievs verträumte und fürsorgliche Augen aus dem Schatten, den er stets um sich fühlte und nicht einordnen konnte, auch dort hervor.
Er war ihr Wächter. Man konnte alles romantisch sehen, wenn man die Fantasie dazu hatte und es für einen selbst eine klare Sache war. Die Frage war nur, wie Glory das akzeptiert hätte, was sie aber nicht bemerkte und noch nicht ahnte. Ein obdachloser Einzelgänger sah sich als ihr Beschützer – als jemand, der sie vor den Intrigen der Geister bewahrte.
Die Realität war mit keiner für alle geltenden offiziellen Norm festgelegt worden. Doch es gab eine statistisch zustande gekommene Vereinbarung unter allen Menschen Nachtgards, was sicher, was möglich oder unmöglich war. Eine Grauzone gab es in genannten Fällen, unter den Okkultisten und in Bereichen des Aberglaubens verschiedenster als Spinner abgetaner Individuen.
Aber genau in diesem Grau schlitterte Riev auf und ab, erlebte Dinge und verjagte Geister, die meist in Träumen sich an Glory heranschlichen.

Gewisse Autoritäten in Nachtgard, Stadt im Nebel, veranlassten das Festlegen von Weltbildern. Da sprachen wenige Mächtige mit.
Die Kirche Nachtgards musste doch die Einwohner vor Ängsten und deren Ursachen bewahren und sie zusammenhalten, wenn es darum ging, Menschen aufzuhalten, die diese Ängste nährten.
Jeder andere Glaube wurde im harmlosesten Fall belächelt. Doch wer finanzierte diejenigen, die dort forschten, wo diese besagte Grauzone Personen zum Handeln brachte und Fragen aufkamen, die diese weltverbundene Religion zum Wanken brachten?
In Schulen und Universitäten durfte man festgelegte Fakten lehren. Es war synchron mit dem, was durch die Medien verbreitet wurde. Dadurch schuf man eine gewisse Art der „Sicherheit“ und eine Realität, die für jene bequem war, die von der Perspektivlosigkeit der propagierten Wirklichkeit profitierten. Nicht zum Zufall wurde es, wenn es dieselben waren, die das Sagen hatten und die daraus Gewinn zogen.

Daher gab es in Nachtgard einen offiziellen Glauben. Alles, was man sinnlich nicht wahrnahm oder sich dabei unsicher war, galt als krank und aufrührerisch. Zum Teil war es das auch, aber es war mehr als notwendig, darin nach einer genaueren Ordnung zu suchen. Denn ehrlich: Konnten unter einer Ewigkeit voller Möglichkeiten jene unvollkommenen Ansätze über das, was man zwischen den Nebelschwaden sah, alles sein, was es geschafft hatte, ins Licht der Realität zu treten? Die Kirche Nachtgards bot gerne ihre Hilfe an….

Glory hatte er, Riev, inzwischen bis zur WG „begleitet“, sie hatte ihn vielleicht für wenige Teile eines Moments wahrgenommen. Doch selbst Splitter waren manchmal Samen. Die wuchsen oder vergingen…
Riev war anders. Und genau deswegen passte er nirgendwo dazu. Sein Herz pochte unter dem Druck dieser Tatsache, wenn Glory in ihrer Wohnung, in der sie mit Mira Sabrin Ziem lebte, verschwand, und Rievs Dasein sich einer furchtbaren Leere entgegensah.
Dies schrieb er eines Abends in etwas, das aus dem Nebel gekommen war. Es war das mysteriöse Buch „Omega“, ein verborgener Sammler von Geschichten. Riev war betrunken und hinterfragte es nicht…

Es ist kalt, verdammt kalt. Ich darf nicht weinen, selbst wenn meine Einsamkeit mit Geißeln auf mich einpeitscht, würden meine Tränen dieselben Kerben in mein Gesicht frieren, wie diese Riemen in mein Herz. SIE ...und ihre Mitbewohnerin haben einen Gast. Es ist einer dieser Snobs. Doch irgendwas ist anders in seiner Aura. Er stammt, glaube ich, aus einer Familie, die zu einer Gemeinschaft Kontakt hat, in der es sich schickt, mit Okkultismus zu spielen – als Freizeitvergnügen. Das ist die Schattenseite des Nebels … Aber ich kenne ihn ansonsten nicht. Was mich irritiert.
Glory hat keinen Freund im romantischen Sinne. Oh, wenn sich jemand zwischen sie und mich werfen würde ...was dann? Ich würde es nicht ertragen.
Ich kann ihre Silhouette genau sehen. Sie bewegt sich, als hätte sie Schwingen wie ein Engel. Lediglich einen Vorhang haben sie vorgezogen. Dieser Anblick ist so nahe- und doch so fern. Der Wall zwischen ihrem Herzen und dem meinen ist wie eine Burgmauer, breiter und höher als die Überreste hier in der Altstadt. Und eine Legion richtet ihr Schwert gegen mich – was ich durchaus wahrnehme. Was soll ich tun, wenn sie angreift?
Dieses Langen! Wie könnte ich meinen Weg ebnen, das Schicksal bewegen, meiner Empfindung für sie Beachtung und Glauben zu schenken?
Der Nebel weiß es. Er sieht alles. Er flüstert unaufhörlich und nur jene Personen hören es, die es etwas angeht. Dennoch verstehe ich es kaum. Es ist wie eine Strafe. Wie eine vorenthaltene Antwort. Eine Antwort auf die alles umfassende Frage. Wenn ich sie nur kennen würde! Nur eine Frage und ihre Antwort. Vielleicht ist es vielmehr ein Flehen, das erhört werden muss, ... ich weiß, wenn ich ihr so nahe wie möglich bin, werde ich auch diese Nacht nicht erfrieren. Da muss noch mehr sein ...
Ich habe, glaube ich, eine Vision.

Der Eintrag ins Buch „Omega“ endete, und das Buch zog sich in den Nebel zurück, aus dem es gekommen war. Keiner wusste das.

Das war Anfang November. Doch bereits um diese Zeit lag eine Schicht aus Eis über Nachtgard und den Hügeln ringsum.
Riev schlief, mit einer Flasche in den Armen, in eine Decke gehüllt ein, tat seine Augen zugleich anderorts auf….
Da hörte er die Stimme des wundersamen Jungen. Er verriet nie, ob oder woher sie sich kannten, auch wenn sie sich in Visionen vertraut gegenübersaßen. Ein Luftschiff, dessen Wege ein Rätsel waren wie der Junge selbst, der darinsaß, eine Pfeife rauchte und mit Riev Tee trank. Ihre Art zu reden zeigte, dass der Grad an Feinfühligkeit hier sehr hoch war. Dafür schuf eine vornehme Stille den nötigen Raum …. Nicklas.
Nachtgard 2

Niklas fliegendes Domizil

Riev befand sich plötzlich in einem Luftschiff über einem Abgrund aus Nebel und einer „aggressiven Leere“, wie man es bezeichnen konnte. Er wandte sich eilig davon ab und glitt in eine warme Umgebung, auch wenn er zugleich auf Verwüstung traf. Das gehörte zum Charme dieses Luftschiffes. Er kannte es, wusste aber nicht, wo es sich tatsächlich befand.

Die Innenausstattung des relativ kleinen Aufenthaltsbereiches war im altmodischen, feinen und verschnörkelten Stil gehalten.
Riev fühlte sich hier vertraut, obgleich lediglich durch eingeschlagene Fenster Lichtstrahlen einfielen. Im größeren Teil des Innenraums wurde das Licht vom Schmutz der noch nicht zerbrochenen Scheiben sehr gedämmt. Die Atmosphäre war auf ihre bizarre Weise gemütlich. Sie hatte einen Hauch von dem Gefühl, das man „zuhause“ nennen konnte, das Riev ansonsten völlig fremd war.
Dies alles, obwohl es in diesen Räumlichkeiten des Luftschiffes, das über Wolken hinausschwebte, aussah, als hätte man sie für lange Zeit dem Verfall überlassen.
Die Pracht, die hier einmal geherrscht haben musste, war nun verwittert, doch durch sie schienen die Erinnerungen dieses Ortes noch lebendig. Beinahe vernahm man die Konversation vergangener Tage. Wenn schicke Leute eine Reise mit dem Luftschiff gemacht hatten, vielleicht ein Pianist oder eine Streichergruppe gespielt und die Fahrgäste aufgeregt geplaudert hatten und Lebendigkeit in der Luft gelegen sein musste, war das nun etwas anderem gewichen.
Die beschädigte, in Splittern und Scherben zerschlagene Innenausstattung füllte ihren eigenen Odem hier herein.
Ja, dies war ein besonderer Ort!

Riev wusste nicht, ob das Luftschiff gelenkt wurde, und wenn, dann fragte er sich, von wem; soweit es Riev beurteilen konnte, war es dem Zufall überlassen, welche Richtung sich gerade ergab.
Hier oben bewegten andere Kräfte die Pfade!

Da war nur der Junge im Rollstuhl und nie die Rede davon gewesen, noch jemanden an Bord zu haben.

Doch ein Grammophon spielte eine wunderbare, schöne Musik. Eine Frauenstimme von kosmischer Schönheit schwebte über einer sentimentalen Instrumentierung; die zeitlos schönen Klangbögen mit uralten, feinstimmig zusammenfügten Melodien gaben unmöglich einen Aufschluss über die Art oder
die Zeit aus der die Platte stammte, die sich immerzu drehte, aber auf der die Musik sich ewig einem Wandel zu unterziehen schien.
Ein Lichtstrahl zeigte gerade eben auf das Grammophon.

Wenn er bei Nicklas als Gast hier war, gestaltete es sich jedes Mal als etwas Besonderes.

Die Sprache des Gesanges verstand Riev übrigens nicht. Dabei gab es in Nachtgard nur die eine Sprache, die er auch verwendete. Es gab nur eine Sprache!

Es war hier eine seltsame Oase. Riev befand sich hier außerhalb des Soges seiner schmerzhaften Probleme, zumindest zog sich der schlimmste Schmerz zurück.
Seine ansonsten tragische Seelenpein war ein Teil von Rievs Persönlichkeit, und so wurde er hier zu jemand anderem. Hier konnte Riev durchatmen, und er war nicht allein.

An einem kleinen Tisch stand ein schöner Sessel und ein in feiner, altmodisch verzierter Kleidung gewandeter Junge saß gegenüber in seinem Rollstuhl und rauchte eine Pfeife. Sie wirkte wertvoll, wie alles an dem, was zu dem Jungen im Rollstuhl gehörte. Auf dem Tisch stand eine schmucke Kanne Tee, und der Junge und Riev hatten jeweils eine Tasse vor sich, aus der etwas Dampf aufstieg. Der verband sich zögerlich mit den Schwaden aus der Pfeife in den Lichtstrahlen, tanzte und spielte damit.
Die Luft bewegte sich trotz der Höhe und der teils kaputten Fenster sachte. Sie passte zur fragilen Umgebung.
Womöglich waren die Spuren der Zerstörung das Ergebnis unangebrachten Betragens von jemandem, der über lange Zeit Nicklas´ Güte missbraucht hatte. Wer mochte noch hierhergekommen und so rücksichtslos gewesen sein?

Es war ein Ort der Unterredung und eine Zone jenseits der Welt, die Riev im Alltag kannte. Er hatte schon immer gewusst, dass es zumindest Spalten und Fenster hinein in etwas anderes gab. Etwas, das man nicht zu verstehen brauchte. Nachtgard war ein Ort vieler Gesichter, doch ebenso wurden Dinge verschleiert.
Rievs Pfad war facettenreich und darin war es schwer auszumachen, was davon auf welche Art wirklich war.
War Nachtgard eine Kreuzung seiner unterschiedlichen Wege?

„Du bist nun wieder in ihrer Nähe, richtig?", begann der Junge mit einer rhetorischen Frage das Gespräch und blickte dabei mit erhabener Güte auf den Jugendlichen, der etwa fünf Jahre älter sein musste als er selbst. Doch der Blick verriet auch die Aufforderung zu kämpfen, als der kleine „Sir", der dieser Junge zweifellos war. Das war ein Grund, warum er wie ein weiser Mann, ein weises Wesen, das sich im Körper eines Zwölfjährigen verbarg, anmutete.

„Ich friere, während sie anscheinend Spaß hat. Sie und ihre Mitbewohnerin Mira Sabrin haben Besuch, wie ich beobachtet habe. Ich spüre keine Gefahr und dennoch befindet sich in meinen Gedanken eine Sorge. Die Familie des Gastes betreibt zur Unterhaltung Spiele mit Okkultismus. Ich „rieche“ es“.

Riev trank vom Tee und sofort wurde ihm warm ums Herz. Der Tee stieß nicht nur die Kälte weg, sondern löste fühlbar den Frost auf, öffnete einem eine ungezwungene Haltung.
„Nicklas?“, erhob Riev das Wort.

„Was denn, mein Freund?", erwiderte der blonde Junge mit den Locken. Seine Stimme klang wie die eines Weisen, so sanft und doch sicher.

„Dein Tee wirkt Wunder!", lächelte Riev, während es kein Geheimnis war, dass er Alkohol und Drogen konsumierte, wenn er in Nachtgard scheinbar ziellos umherwanderte. Er brauchte den Stoff, denn nicht einmal unter den richtigen Umständen hätte er an jenem finsteren Ort den gesuchten Frieden gefunden. Es war ihm verwehrt.
Der Schmerz war das, was ihn schon seit er sich erinnern konnte, an den Boden festnagelte und ihn beinahe ersticken ließ. Er war durch den Nebel wie vergiftet, obwohl nicht nur Schlechtes darin lebte. Er stellte eine Mauer dar und doch nannte sich Riev einen „Einsamen“, er zählte sich zu jenen, deren Abstand zueinander sich ganz allmählich verringerte, sodass eine Aussicht auf das Ende der Einsamkeit bestand.
Der Nebel war der große Geist dieser Welt, deren triste Grundstimmung darin ihre Wurzeln hatte, so wie alles aus dem Nebel kam.

Der Junge lachte nur und schüttelte den Kopf: „Es sind besondere Kräuter. Aber gewöhne dich nicht zu sehr daran. In deiner Welt haben nur gewisse Leute das große Vergnügen, Sam zu kennen.“
Nicklas bewegte mit einem leichten Ausdruck der Belehrung den linken Zeigefinger und fuhr fort: „Es ... hat schon seine Gründe, warum alles so ist, wie es ist. In Nachtgard würden selbst dieser, hier so harmlose Tee, und auch die Kräuter meiner Pfeife, Objekte der Begierde und der Sucht werden. So wie alles, was die Melancholie und eine tiefe Unsicherheit aus den Herzen der Menschen nimmt. Aber es geht hier um etwas anderes."
Nicklas` Blick war leicht grimmig geworden.

„Wir müssen damit beginnen, über einen Wandel zu sprechen, der dir zugedacht ist. Ich denke schon lange darüber nach und nun weiß ich, wie du deine Ziele besser erkennst und erreichst.“
Gerade seine geschliffene Art und seine gewählte Ausdrucksweise verursachten eine mächtige Ausstrahlung.
„Du liegst mir so sehr am Herzen, es ist mir eine Pein, dich zu beobachten, und wenn ich dein Zaudern betrachte, winde ich mich förmlich im Mitgefühl, das ich dir schon seit langer Zeit entgegenbringe.“

Riev zuckte und gab damit zu erkennen, dass er verwirrt war.
„Du bist so feinfühlig … direkt empathisch, dass es an Hellsichtigkeit grenzt. Aber ich glaube, du weißt einfach mehr. Es ist nicht falsch, wenn du mich so gut es geht aufklärst. Versuche mich bitte nicht vor der Wahrheit zu schützen!“

Daraufhin zog der kleine Junge die Augenbrauen zusammen und ließ den Blick fallen. Er kämpfte in sich, und dies tat er oft.
Riev machte sich Vorwürfe.
„Was ist denn, Nicklas?! Sag es mir!" Riev wurde von Sorgen erfüllt.
„Nicklas, du musst mich NICHT beschützen!“

„Was aber, wenn ich die Wahrheit vor dir im selben Maße bewahren muss?!“ Tränen, ein zerbrechlicher Ausdruck, Riev machte sich wieder Vorwürfe. Hatte er nur an sich gedacht?

„Ich kann dir nicht genau sagen, was es ist, doch zu dieser Stunde wächst in Mira Sabrin etwas heran, was dir unter gewissen Umständen zum Problem werden könnte. Es ist ihr nicht bewusst, doch sie kommt mit den Schatten im Nebel in Berührung, Riev. Sei auf der Hut! Du kannst Glory allerdings nicht … es ist nicht so notwendig, sie vor jeder Gefahr zu bewahren. Sei ihr einfach nahe und liebe sie weiterhin mit Hingabe und Treue. Ja, selbst auch, wenn sie sich deiner noch nicht im Klaren ist und dich nach außen hin nicht kennt. Du wirst einen Weg finden. Manches ist unvermeidbar!"

Ein weiteres Rätsel! Vielleicht um abzulenken!
Riev konnte Nicklas nicht durchschauen.

„Warum bist du … ach vergiss es, bitte!“

Nicklas wusste schon, was Riev da sagen wollte.
„Ich bin ein Bote. Einen Boten zu verstehen ist nicht gerade der richtige Weg, die Quelle einer ausführlichen Botschaft mit wenigen Gedanken zu ergründen. Was, wenn ich dir alles sage, was mir mitgeteilt wird? Ich bin dein Freund und kein Lehrmeister. Den musst du womöglich erst finden!“
Nicklas lächelte und zog dann an seiner Pfeife.
„Vertrauen und Glaube sind die Hoffnung auf Dinge, die man nicht weiß, aber man hält daran fest. Das kann ich dir als Freund sagen und brauche dafür erst keine Botschaft. Diese Lektion wurde mir zuteil“.
Er nahm Riev bei seinem Unterarm und blickte ihm appellierend, zugleich aber ermutigend, in die Augen.
„Ich lasse dich nicht mit zu knappen Informationen verhungern. Glaub mir!“

Dann erneut der innere Kampf! Riev erschrak diesmal so richtig, da sich Nicklas Augen überdrehten. Dann schaute Nicklas Riev genau in die Seele.
„Du weißt, dass du damit eine Verantwortung eingehst und einiges in Bewegung versetzt. Doch finde deinen Weg, ihr gegenüberzutreten und es ihr mitzuteilen. Lerne sie erst einmal kennen! Es gibt Pfade, die dir freistehen, sie mit den richtigen Vorsätzen zu nutzen", flüsterte Nicklas, starrte dann dabei intensiv so auf die Tischplatte, dass sich dort ihre Augen trafen, beider Gesichter spiegelten sich dort.

Dann riss er seine Augen weit auf und starrte Riev direkt an: „Der Blick in den Spiegel. Was ist da wohl dahinter? Was?! Siehst du, wie einfach es ist?! Das würde alles enorm einfacher machen, mein Freund!"
Das relativ klare Spiegelbild auf dem glattpolierten Tisch warf ein anderes Bild wider, als es sich darüber zutrug. Dennoch war da Harmonie - der wahre Anblick und seine Reflexion. Ob Riev das verstand? Verstand Nicklas es überhaupt?!

Riev begann zu zittern, alles begann zu rütteln.

„Dann ist der Besucher der Mädchen gar nicht so harmlos wie ich dachte", überlegte Riev voller Ernst, murmelte es vor sich hin.
„Ist es der Besucher, der Unglück sät?!", drängte Riev Nicklas, es zu sagen.

Es war, als käme ein Sturm auf, doch lediglich das Luftschiff bebte.
Rievs Zeit hier oben neigte sich für dieses Mal dem Ende zu.

„Was hast du vor, Riev? Wohin würdest du dich stürzen, wenn ich diese Frage mit einem „Ja" bestätigen würde?!", zischte Nicklas, der junge Edelmann. Er war wie Riev emotional und leicht aufzuwühlen.
Doch er sah eher begeistert aus und grinste wie verrückt.

„... Vergiss es. Ich schaffe es, alles zur rechten Zeit zu tun!", linderte Riev seine eigenen Worte und beruhigte sich so gut als möglich wieder.
Das Schütteln legte sich.

Nicklas fuhr in seinem Rollstuhl, an den er gefesselt war, an ein Fenster.
„Nein, dieser Besucher ist nichts weiter als ein Hinweis. Aber er ist ein Zeichen für ein grundsätzliches Interesse der Schatten innerhalb des Nebels an Mira und ... deiner geliebten Glory“.
Nicklas Gesicht war abgewandt.
Riev blickte geschockt und ratlos. Seine Unsicherheiten kehrten allmählich zurück. Er fror, ignorierte es aber.
„Ich brauche Fähigkeiten: Intuition, die Gabe durch den Nebel zu blicken, ich muss wissen, was zu tun ist und wie man es richtig in Angriff nimmt. Mein elendes Dasein muss ein Ende finden...! Lass mich in Glorys „Welt" eintreten, Nicklas, bitte!“

Es wirkte hektisch, ja gierig und beinahe schon besessen, wie er da Nicklas um etwas bat, wovon er gar nicht wusste, ob der Junge im Rollstuhl darüber verfügte, oder besser gesagt, es lehren konnte. Er bezeichnete sich ja bloß als Boten. War da mehr dahinter?

„Du musst einen KAMPF austragen! Glaube nicht länger, einer von vielen zu sein, denn das tun ja schon so viele, die etwas Besonderes sein könnten, sich aber nie angesprochen fühlen – NIE!“

„Der Krieg gegen das Böse innerhalb des Nebels?! Betraf der bisher nicht nur eine Gruppe von anonymen … Meistern? Dass ich damit konfrontiert bin, halte ich für eine Ausnahme, wenn es so sein sollte, Nicklas. Es würde mich überraschen. Wirst du mir helfen und zu ihnen Zugang verschaffen, Nicklas?!"

Riev klammerte sich am Tisch fest, als die Turbulenzen wieder stark wurden. Riev trank schließlich mit einem Schluck aus, denn er fühlte das Erwachen.

„Halte nach einem Vagabunden Ausschau. Du bist bereits ein Teil jener Gruppe, jener „Bruderschaft“. Ihr müsst nur noch zusammenfinden!"

Nicklas schien sehr in diese Sache miteinbezogen, so als lebte er rein dafür.
Dabei wirkte er manchmal enorm in sich gekehrt und abwesend, in manchen Momenten sogar so, als ob er anderorts parallel zu tun hätte. Aus seinen Augen sprach ein besonderer, ein großer Geist, dessen Grenzen nicht abschätzbar waren. Es erinnerte an dieselbe Art der Sehnsucht, wie man sie auch bei Riev leuchten sah.

Doch es blieb Riev zu dieser Zeit noch verschlossen, wer dieser Junge tatsächlich war. Es fehlte etwas. Riev wusste nicht, woran er genau bei ihm war. Wenn man vierzehn Jahre verloren hatte, konnte viel geschehen sein.

„Nicklas! Warte noch 'nen Moment!“ Riev wollte gar nicht weg von hier. Er fürchtete die Kälte in der Einsamkeit Nachtgards plötzlich panisch.

„Was ist, Riev?" Das Kind, das sich wie ein Edelmann gebärdete, wirkte plötzlich etwas in Eile und klang daher etwas ungeduldig und hektisch, als sich das Tor des Luftschiffs für Riev öffnete.
Riev hielt sich mit einer Hand fest. „Wenn ich nur immer hierbleiben und mit dir Tee trinken könnte. Der Seelenschmerz ist hier fern. Vielleicht führt von hier ein Weg ... zu ihr?!"

Nicklas unterbrach Riev mit einer deutlichen Geste und sprach: „Du wirst dies alles vor ihr einmal rechtfertigen müssen. Deine Liebe ... sie wird womöglich nicht als das erkannt werden, was sie ist. Aber weit mehr noch: Du musst trotzdem auf sie achtgeben. Sie braucht ganz bestimmt jemanden, der sie bewahrt. Der willst doch DU sein! Du selbst ersehnst es doch so sehr, nicht wahr?! Könntest du das jemals vergessen und hinter dir lassen?! Außerdem ist da noch so viel mehr. Nachtgard ruft nach jemandem. Du kannst nicht davonlaufen!"

Dann starrte Nicklas Riev wieder tief in die Augen, noch weiter, erneut bis in dessen Seele.
„Du musst nun gehen, Riev! Ich werde dich wieder rufen!"

Da blitzte alsbald ein weißes Licht auf, dann war da das Nichts. Sekunden des Todes. Dann tauchte Riev wieder auf.

„Wow! War das DIE Schwelle, die ich überquerte?"
Riev war im Nirgendwo. Nur wenige Empfindungen lang war er nirgends und die Zeit hielt inne.
Er turnte im Fall, überschlug sich und hielt plötzlich den Kopf voran. Er wusste, dass nichts geschehen konnte.

Starre...

Da riss es Riev aus der Besinnungslosigkeit. Er blickte sich um. Er war in seine Decke eingehüllt, die ihm schon oft gute Dienste erwiesen hatte. Er war innerhalb eines Buschwerkes mit braunen Blättern. Erst spürte er nichts. Doch dann fröstelte es ihn und er trank einen ordentlichen Schluck Schnaps. Ekel und Verlangen zugleich! Wie so vieles im Leben.
Er zitterte noch mehr und erhob sich mühsam. Er musste sich in Bewegung setzen. Sonst würde er noch erfrieren. Daran glaubte er zwar nicht, doch das Loch in seinem Herzen verzehrte sich nach der ihm verwehrten Zärtlichkeit und Wärme. Er wusste, dass er überleben musste!
Er sah forschend auf die Uhr des Rathauses, doch nur Nebel in der Straßenbeleuchtung war zu sehen. Dann schlug die Glocke aber: Eins, zwei, drei, vier…Eine volle Stunde, dann: Eins zwei drei ... Drei Uhr am Morgen!

„Eine gute Zeit, um bei Kälte und Einsamkeit wach zu sein und sich die Beine zu vertreten", stieß er schwach hervor und warf einen Blick zur Wohnung von Glory. Er lächelte. Es fühlte sich anders an als sonst.
„Licht aus!“
Sie schliefen dort wohl schon. Er sah ihr Gesicht vor sich. Vorstellungen konnten so schön sein. Aber woher kam dieses deutliche Bild? Es hatte sich etwas verändert. Nicklas hatte ihm seine Bitte gewährt, so gut er es so schnell vermochte, so schien es. Riev musste lernen, damit umzugehen. Dann würde Glory vielleicht ihn so vor sich sehen.
Da flackerte noch etwas in dieser Wohnung. Es war die Mitbewohnerin von Glory: Mira Sabrin Ziem. Sie hatte teil an Glorys Leben. Es war wohl weniger am Besucher gelegen, der zwar etwas bei diesem Mädchen hinterlassen hatte, doch bei ihr war da bereits ein Verlangen im Untergrund ihrer Gedanken.
Zumindest bei ihr, Mira. Riev fühlte dort etwas Merkwürdiges!

Zögerlich wandte er sich ab von dort und es wurde ihm übel.
Doch, auch als er kotzte, fühlte er für sich mehr Kraft als jemals zuvor.

Er brauchte eine Bleibe und etwas zur Beruhigung, zum Wärmen und Aufmuntern. Das Geld, das er hatte, sollte reichen, seine grundlegendsten Bedürfnisse zu stillen, worunter sich auch „Stoff“ befand.
Er hatte beschlossen, sich so weit auszuklinken, dass er über alles friedlich nachdenken konnte. Nachdem er seinen „Kumpel" geweckt hatte und der zum Glück kein Morgenmuffel war, konnte er das schon mal abhaken.
Das Gebäude der Streetworker hatte vierundzwanzig Stunden offen, und Leute, die dort die Versorgung und Verpflegung organisierten, waren von jemandem in Schichten aufgeteilt, der wusste, dass die Streuner weder Nacht noch Tag kannten. Außerdem hatten sie dort ihre Ruhe, auch wenn sie es sich dort nicht langfristig heimisch machen konnten. Für Nächtigungen gab es ein Gebäude, das statt eines weiteren Supermarkts zu einer Stätte für Heimatlose umgebaut worden war.

Ein Teil seines Bewusstseins war in Alarmbereitschaft. Er konnte nicht auf Glory aufpassen. Daher entwickelte sich in ihm ein großes Auge, das beinahe alles sah und ihm Bescheid geben würde, falls Gefahr näherkommen sollte, so empfand er es. Da war eine Verbindung.

Durch den Nebel führten Pfade!


War Riev Risenbach innerhalb einer ausgewachsenen Psychose? Denn solche Erlebnisse finden im Gehirn von Psychotikern statt.
Alltag für Verrückte!
Zumindest ist der Abgrund tief. Das wären Abgründe.
Aber wozu?!


Nachtgard 3

Poet- Frederic vin Nord

Die Schwarzperle floss rauschend durch die Stadt. Es war ein relativ heller Tag und irgendwie wirkten die Leute etwas lockerer als es in dieser Zeit die Norm war. Einige von ihnen meinten sogar, blaue Öffnungen durch den verdeckenden Blick des Nebels gesehen zu haben.

Auf dem Simaberg, der südlich von Nachtgard emporragte, standen alte Häuser, und unter ihnen befanden sich auch ein paar stattliche Villen. Eine von ihnen war das Zuhause eines Mannes namens Frederic vin Nord, kurz „Poet“.
Er war edelherzig, doch er lebte allein. Er war ein wohlhabender Künstler, der in der ganzen Stadt für seine Gemälde, Illustrationen, Comics und Romane bekannt war. Er war ein vielseitig tätiger Kunstjünger. Man sah ihn zwar selten, aber wenn, dann in sauberer Kleidung und in eleganter Haltung.
Er hatte langes, gelocktes, dunkelbrünettes Haar, einen gepflegten Bart über seiner Oberlippe und am Kinn. Vom Alter her war er etwas über vierzig und man sah ihm seine geistige Stärke an, wenn man einen Blick für so etwas hatte. Seine Fans sprachen über ihn als einen Mythos der Fantasie und Träume.

Er unterhielt eine ganze Generation mit fantastischen Geschichten in Prosa und Comics mit schönen Tuschezeichnungen und Gemälden. Er gestaltete Kalender, Poster und Ansichtskarten. In der Gallery in Nachtgard hingen vier Gemälde von ihm.
Doch alles, was von ihm geschaffen wurde, war deutlich als Fiktion zu erkennen, wenn man nicht von „gekennzeichnet“ sprechen sollte. Das musste so sein. Auch wenn er sich gerne freier ausgedrückt hätte, gab es etwas, das er gar nicht andeuten durfte: Ein Jenseits von Nachtgard. Daran durfte man nicht denken KÖNNEN.
Er vollführte jetzt schon manchmal einen Drahtseilakt, den er sich aber nicht nehmen ließ, der ihn aber auch nicht entlarvte. Und sein Einfluss in Belange Nachtgards verhalf ihm zum freien Ausüben dessen, was sein Werk war. Da er für die Jugend schrieb und entwarf, wurde er dennoch beobachtet und mit kritischem Auge überwacht. Doch auch wenn man das nicht als möglich erachtet hätte, hatte er diese Angriffe auf sein Privatleben unter Kontrolle. Nicht nur seine Gegner hatten geschickte und aktive Leute. Auch er hatte Freunde, die für seine und die Sicherheit anderer Personen sorgten. „Agenten“, die zum Wohle der Freiheit beitrugen.
Ja, so konnte man es AUCH bezeichnen!

Der Künstler Frederic vin Nord saß in seiner Villa, umgeben von schönen Dingen und der offensichtlichen Bekundung, dass er einfach Geschmack hatte.
Die Vorhänge waren aus schönen Stoffen, Kerzenständer waren im prunkvollen Design, und der Raum, in dem er saß, war durch und durch ein Arbeitszimmer eines Künstlers mit besonderer Persönlichkeit, mit Hang zum Schnörkel und Schwung. Es war gemütlich und er hatte reichlich Platz, seinem Stil Ausdruck zu verleihen.

Poet war gerade am Malen. Seine Motive waren Herbstfantasien. Es ging um einen Kalender für den kommenden Jahreswechsel. Darin zeigte er Fabelwesen mit Tränen in den Augen, Interpretationen der alten Mythologie von Nachtgards Sagenwelt, die nie jemand bannen konnte. Sie enthielten einige sehr ausgefeilte Märchen, in denen Wesen, romantisch und melancholisch und als dunkel geschminkte junge Schönheiten, an wunderbaren Plätzen tanzten und miteinander spielten. Es war eine nostalgische und sogar schmerzhafte Erinnerung an jemanden, der seine Musen angeführt hatte.
Für Poet war wenigstens der hier allgegenwärtige Geist seiner verlorenen Liebe die größte Antriebskraft. Ja, er tat es für sie, wenn er ins Zweifeln kam und seine ganze Arbeit hinterfragte und seinen Sinn wo anders sah oder aus den Augen verlor. Er war eine wichtige Person!

Er selbst war in vielen Träumen auf dem Weg, auf der Suche. Sein Wirken ging über das Künstlerische hinaus. Er besaß einen feinfühlenden Kern, dessen ein Künstler bedurfte, tief in sich als starkes Herz – lebendig und neugierig.
Besonders wenn er seine Arbeit als Lebenswerk sah und darin einer melancholischen Generation die Tore zu Gärten voller Wunder, als Antwort ihrer unerhörten Sehnsüchte, aufzuschließen half.

Trotz seines selbstbewussten und eleganten Auftretens war Frederic vin Nord ein Mensch, der oft wehmütig in seiner Jugend nach einem Weg gesucht hatte, der bis zu seinem jetzigen „Ich“ führte und den er in Visionen bis in eine weite Zukunft spann und auch schon unentschlossen und verträumt lächelnd stundenlang in der Geistigkeit seiner Fantasie spazierte und dahindriftete. Ansonsten war er stets auf mehreren Ebenen sehr beschäftigt.
Wie viele seiner Erinnerungen hatte er dem Nebel anvertraut? Wie viel davon existierte, gut verteilt, in den Zeilen seiner Geschichten, Gedichten und in dem spürbaren narrativen Wert seiner Bilder? Ihre Sprache war aber vor allem erbaulich. Die Nostalgie darin ermunterte, voranzuschreiten und nicht zu verwittern, wie es leblosen Orten und Dingen erging, beziehungsweise Personen, die niemand pflegte, nicht einmal mehr sie selbst.
Er sah die Kinder dieser Stadt, wie sie sich darin verloren hatten, ihre Seelen voranzutragen. Poet tat, was er konnte, um das zu verändern.

„Seid nicht grausam zu euren Herzen! Sie tragen in sich, was euch fehlt.
Nehmt es zu euch statt euch zu schmerzen, dann ist zu End´ die Zeit die quält!“
Poet fügte solche einfachen Verse zu seinen Bildern und natürlich auch in seine
Geschichten und Gedichte ein.
Unter den Personen, die diese Aussagen schätzten, befanden sich dreizehn Jahre alte Mädchen ebenso wie auch erwachsene Männer und Frauen. Niemanden bevorzugte Poet willentlich. Dennoch verband man seine Werke eben eher mit der Jugend und den Menschen, die diese Zeit nie der Vergangenheit überließen, es war eine bestimmte Art von Mensch, die Poet an sich ganz heranließ und durch seine Kunst mit ihnen kommunizierte.

Er verarbeitete die Schwünge seines Lebens in seiner Arbeit. Geschichten veröffentlichte er Episode für Episode in Zeitschriften, oder brachte über Verlage Comics und Kurzromane heraus.
In seinen Werken konnte man sehr überrascht werden, ob ein Schicksal gelang. Und falls nicht: Warum war das Leben kein Roman mit Garantie auf ein frohes Ende?
Er sah sich selbst in den Charakteren seiner Geschichten. Sie durchlebten oft Martyrien, um am Ende neugeboren und befreit aufzustehen. Oder sie starben. Wie auch immer ihre Entscheidungen ausfielen!
Gelebt haben aufrichtige Menschen immer und man konnte sie niemals begraben!

Seine Freundin Lorena Ausach hatte sich selbst getötet. Poet war damals am Beginn seines Weges als Künstler gestanden, was Lorena sehr stolz gemacht hatte. Sie hatte den Namen Poet als Künstlernamen erwählt. Damals war Poet etwas über zwanzig gewesen, als er sich selbst und mit freundschaftlichen Mentoren das ausbaute, was er zuvor nur zum Zeitvertreib spielerisch versucht hatte, während und nachdem er als Jugendlicher aus einer wohlhabenden Familie mehr als Tagedieb und Prasser feiernd seine Tage verbrachte.
Das Seltsame war aber das gewesen: Als sich herausgestellt hatte, dass er als Künstler sein Leben zu beschreiten gedachte, hatte er sein Erbe erhalten und war des Hauses verwiesen worden. Angeblich war da noch etwas anderes zeitgleich vorgefallen.
Wie auch immer..

Er hatte zuvor gar nicht das große Talent gehabt, doch spätestens durch seine geliebte Lorena inspiriert, war er angeregt worden, sich motiviert in Projekte zu wagen, die etwas vorangebracht hatten. Aber wie sie es als Lebende zuwege gebracht hatte, hatte es auch ihr Andenken vermocht: Poet wurde durch diesen Schicksalsschlag zum Workaholic. Die Erinnerungen an Lorena hielten ihn auch zu dieser Zeit noch wach und eben auch tätig.

Dass Lorenas Tod ein Opfer gewesen war, hatte Poet stets abgelehnt. Auch wenn er nie ganz begriffen hatte, warum es dazu wirklich gekommen war.
Auch jetzt hieß er zu keiner Stunde den Freitod etwas Gutes oder Zielführendes. Was für jeden starken Geist etwas Selbstverständliches war – zumindest wollte er es so sehen, obwohl Lorena mehr Kraft gehabt hatte als jeder andere Mensch, den er kennengelernt hatte.
Was andere durch ein Studium nicht zuwege gebracht hatten, das hatte Frederic vin Nord sich mit Hilfe von privaten Freunden und Mentoren mehr oder weniger selbst angeeignet.


Freitagnachmittag

Der November zog sich hässlich lachend durch den Kanal der Zeit. Nun gingen die meisten Leute aus. Das war in Nachtgard üblich, und weil eben Freitag war, drängte man sich um die angesagten Lokalitäten der Gassen und Straßen ringsum.
Unterschiedlichste Personen schlenderten, hasteten, schritten alleine oder in Gruppen zu den für sie einschlägigen Lokalen der vielseitigen und hier und jetzt offen gelebten Subkulturen. In Nachtgard konnte man beobachten, wie sich zwar unterschiedliche Weltanschauungen, Kunststile und prinzipiell Mentalitäten auftaten, sich sogar widersprachen, aber trotzdem war das Publikum recht gemischt, das durch die Gegend zog.
Dennoch war es meistgehend friedlich. Irgendeine Kraft, die verband, war wohl stärker als all die künstlich geschaffenen Unterschiede.

Die arbeitslosen und alternativen Leute im Park kifften und tranken schon am Nachmittag vereinzelt billiges Bier. Später führten sie dieses Verhalten in größeren Gruppen in meist dämmrigen Schuppen, wo der Fusel in großen Gläsern serviert wurde, weiter. Freakige Typen kippten den Fusel runter, als wäre er Wasser. Beinahe überall qualmte es. Rauchverbote kannte man hier nicht.

Die digitale Revolution war in Nachtgard eben erst eingekehrt, doch mit einer sehr breiten und schnellen Entwicklung binnen zehn Jahren auf ein beachtliches Niveau herangewachsen, und zeitgleich vermehrten sich Zugehörige einstiger Randgruppen wie Nerds und Geeks, die ihre eigenen, meist mit Themen verbundenen Treffen, hatten.
Dennoch sah man die Brillenträger später bei angeregten Gesprächen in Lokalen, wie sie sich beim Biertrinken unauffällig umschauten, ob Mädels aufzuspüren waren. Oder es waren welche dabei.

Und dann gab es die dunkle Szene, die wie ein Meer aus schwarzem Wasser Wellen an den Strand der Menschheit schlug. Wer sie aus der Ferne betrachtete, wie es viele taten, übersah die sehr oft verletzten Herzen, die genauso schlugen wie die aller anderen.
Eine gewisse Mode hatte sich auch hier, ihrer Mentalität entsprechend, dazugetan. Manche wollten aus Angst davor, wieder und wieder verletzt zu werden, mit der dunklen Aufmachung abschrecken und mit okkulten Riten ein schöneres, vielleicht auch gerechtes Leben herbeirufen.
Doch die Spielregeln waren anders geartet! Wer das nicht begriff, verlor mehr und mehr den Bezug zur Realität, wie sie für 98% der Menschen genormt war und aus höherer Quelle versiegelt sein mochte, damit die Psychosen nicht überhandnahmen, die der Missbrauch der Wirklichkeit, aber auch der gescheiterte Ausbruch daraus, mit sich brachte.
Menschen mochten facettenreiche Muster durch die Spuren ihres Heranwachsens in Raum und Zeit legen, doch ebenso kamen ihnen vorgeprägte, mächtigere Pfade entgegen.


Es fiel einmal ein ernüchterndes Zitat:

„Schließlich geht es in den Anfängen des Lebens nur um komplexe und mit etwas Fantasie verschnörkelte Formen, ein Leben rund um die Fortpflanzung vorzubereiten, das dann bereits in der Jugend zu üben und damit zu spielen. Sie werden immer „kreativer“ was das betrifft, ha, ha! Dann mit entsprechendem Alter, gliedern sich die meisten in die Mechanik der Berufswelt und des Familienlebens von Nachtgard wie von selbst ein. Sie haben im Normalfall eine sich auf das Zeugen von Nachwuchs reduzierte Libido, müssen die Kinder aufziehen, sie und sich versorgen. Das macht sie zu Bauteilen eines Uhrwerks, von dem man die Zeit ablesen und sie einstellen kann. Also kaufen sie unsere Waren und ermöglichen es uns, es vielseitiger und angenehmer zu haben als sie. Es ist köstlich“.

Das war eine simplifizierte Interpretation, die aber nicht log. Und so gab es bald eine neue Generation.



Die letzte Generation

Die Jüngeren, die sie in Nachtgard die „letzte Generation“ nannten, waren häufig depressiv, Schüler hatten Lernschwächen, und ein Aufmerksamkeits- Defizit- Hyperaktivitäts- Syndrom wurde bei vielen diagnostiziert.
Psychiater und Psychologen wurden von besorgten Eltern bezahlt und dafür aufgesucht, die „Dämonen“ auszutreiben.
Vielleicht war es die letzte Generation vor dem Ende, und vielleicht wollte sie kein Leben hinter Zäunen führen, da sie nicht damit rechnete, noch länger als höchstens zehn Jahre zu leben und dies auch gar nicht wollte.
Ihre destruktiven und oft perversen Ausschweifungen riefen ja gerade nach einem Untergang.
Viele wählten den Freitod, was die traurigste aller Wendungen war und ist.
Man konnte es nicht anders bezeichnen, gewisse Ausdrücke trafen einfach zu. Man musste nur die Selbstmorde der vergangenen Jahre betrachten … - da war eine Tendenz zu verzeichnen, die unerfreulich war – für die einen. Die Väter braver Töchter jubelten innerlich, wenn der ungeliebte Freund der ach so unschuldigen Prinzessin unter ihrer eitlen Art, mit der sie ihn ständig unter Druck setzte, indem sie sich als etwas Besonderes darstellte und ihn seine Ersetzbarkeit vor Augen hielt, litt. Wer diese Maskerade weder durchschaute noch ertrug, und in eine chronischen Depression oder etwas anderes von vielen Ausdrucksformen von Schmerz glitt, der schnürte sich meist zum letzte Mal „die Krawatte“ so fest, dass man sie abschneiden musste.
Reiche junge Männer machten Ähnliches ja auch mit Freundinnen, die sie sich zum Zeitvertreib warmhielten.
Ein anderer Mensch erfror, weil die Geister aus dem Nebel ihn hypnotisiert hatten, was man durchaus wörtlich nehmen konnte.

Der Künstler Poet äußerte sich bei einem Interview unter Tränen dazu:
„Manch einer ist dabei kreativer und macht es zum letzten Kunstwerk. Sie wollen einfach aufhören zu sein, die Existenz beenden … es ist ein Jammer, nein, ein Aufschrei tiefster Pein, um alle diese feinfühligen Leute, die selbst manchmal niemanden etwas Schlechtes wollten. Es zieht etwas in Nachtgard auf und eine Flut reißt Leben mit sich.“

Poet dachte sich: „Und es bleibt ein Geheimnis, wo der Ozean beginnt. Niemand stellte dazu eine Frage“.

„Diese Leute sind sehr oft die Opfer von Schikanen in der Schule - so wie es ja klassischer gar nicht geht. Doch man darf sich da nicht irren. So manch ein „Quälgeist“, ein verirrter und sadistischer Mensch, blickt ein paar Jahre später zurück und bereut vielleicht, solch ein gemeiner und brutaler Kerl gewesen zu sein, kann mit dieser Schuld einfach nicht länger leben. Schuldgefühle, ja ... und dann der Fall in die einstige Kälte, die er nun selbst zu spüren bekam!
So treffen sich die Leichen der ehemals Unterdrückten und jene von denen, die sie zuvor so lange gequält haben, sodass da auch nur noch eine sichtbare „Lösung“ aus der Finsternis trat und angenommen wurde. Ob dort „unten“ Frieden geschlossen wird, oder nur Zombies herumwanken und nach dem alles verzehrenden Feuer suchen, damit auch das untote Dasein sein Ende finden mag, das bestimmt nicht schön ist?
Wir wissen so etwas nicht, ich beziehe mich auf alte und, zugegeben, düstere Mythen, von denen es in Nachtgard viele gibt.
Vermutlich ist im Falle der Selbstmörder, aber auch bei denen, die diese Taten hervorriefen, sofern man ja überhaupt jemanden die Bürde der Schuld auflasten kann, das letzte Wort noch nicht gesprochen – bei niemanden von uns, wenn wir auf unsere Leben blicken, wie sie bisher gediehen sind. Hoffen wir es alle … denkt genau, wie ihr das Leben und Menschen behandelt!“
In diesem Beitrag von Frederic vin Nord in einem Artikel zur Jugend Nachtgards, nahm er zu zentralen Themen Stellung, die er auch in seinen Fortsetzungsgeschichten behandelte. Er gab mit mildem Gesichtsausdruck zu, dass es düstere Themen waren, die jedoch in seinem Leben auf eine gewisse Art eine Rolle gespielt hatten. Er war sich sicher, damit nicht allein zu sein, weshalb er ja dann darüber Geschichten schrieb.


Joschuans Eingreifen

Riev war ohne Erinnerung, was er erlebt hatte, ehe er, mit vierzehn Jahren etwa, in einem Wald weiter außerhalb laufend „aufgewacht“ war. Doch vielmehr war er schließlich innerhalb eines Albtraumes erwacht und wusste nur, dass es dennoch so besser für ihn war. Er musste sich mit diesem Leben begnügen. Ein Dasein vorrangig gefärbt von Lieblosigkeit, soweit es die Mehrzahl der Menschen anging, und wie sie ihn ausgrenzten, und niemand war sich dessen bewusst – es war tragisch, das zu sehen. Es gab aber Personen, die es sahen. Nur Riev sah, dass die meisten Jugendlichen Cliquen hatten und er selbst einem Sturm entgegenhielt, der ihm alles entriss. Schlicht gesagt seine schlanke, ja fast magerere Erscheinung und seine geheimnisvolle Seele wurden hart geprüft.

Er, aus sich heraus ..

Warum hält mich niemand?! Ich schlich dem kommenden Winter entgegen. Meine Suche galt wie immer meiner Liebe … Glory, während ich links und rechts angerempelt wurde und den Kopf dennoch nicht einzog. Licht, warum ist es mir immerzu so kalt? Warum finde ich niemanden, der mir hier in dieser Realität zuhört, oder jemanden, dem ich zuhören könnte?!

Ich schlich freitags durch die Innenstadt, ein riesiges Getümmel schwoll um mich. Es war gerade noch hell. Ich war aber schon betrunken. Es gab ein paar von den Älteren, die mich in ihrer Gegenwart ganz selbstverständlich duldeten. Wir, falls man so sagen konnte, unterstützten uns gegenseitig mit verschiedenen Gegenständen und Gütern. Zudem wurde etwas zum Essen unter uns von zum Großteil einander fremden, aber spürbar reiferen Leuten mit mehr Fairness aufgeteilt. Sie erzählten auch ihre Geschichten. Wenn man ihnen zuhörte, so war der Dank groß.

Ich war mit einigen von ihnen im zentralen Strösselpark, nahe dem Viertel mit den bekanntesten Lokalen.
Ich fühlte einzig unter diesen Leuten hier so etwas wie Freundschaft und Zusammenhalt. Wir waren jene, die bereits verstanden hatten, dass das Leben in der Jugend nicht stehenblieb und uns Menschen mehr verband als das gemeinsame Verrauchen von Joints, der billige Wein oder die Armut an sich, obwohl wir uns genau aus diesen Gründen so zusammenfanden. Wir waren die „Einsamen“.
Da war eine Legende unter uns. Es war eine wahre Geschichte, was ich wusste, da ich ein kleiner Teil davon war. Sie erzählten von einem Buch namens „Omega“. Darin hätten schon viele Hundert Leute Verse oder einfach nur Worte geschrieben und es dann, nachdem sie es gelesen oder darin etwas notiert hatten, wieder in den Nebel zurückgelegt. Sie sagten, dass das Buch sich selbst beschützte und mit Macht die Herzen jener zusammenhielt, die sich darin verewigt hatten.
Ich wurde sofort hellhörig, hatte ich doch schon selbst darin geschrieben, und wollte mehr erfahren, und ehe ich mich versah, saß ein sehr würdevoller Vagabund neben mir. Er hatte langes weißes Haar und sah dennoch nicht wie ein „alter Hund“ aus. Er strahlte enorme Würde, sanftes Verständnis und viel Weisheit aus.

„Wie ist dein Name, Junge? Ich bin Joschuan“, sprach er mich an, während ich mit einem gefalteten Stück Papier den Dreck unter den Fingernägeln rausputzte. Ich brauchte ganz bestimmt wieder einmal eine Dusche.

„Ich bin Riev, Riev Risenbach.“ Dann schwieg ich und überlegte krampfhaft, wie ich das Gespräch weiterführen könnte, ich hatte direkt Angst, dass es wie ein kleines Lagerfeuer die Flamme aufgab.

Der Mann undefinierbaren Alters jedoch kam mir entgegen und strahlte erst einmal erneut das Gefühl aus, bei ihm willkommen zu sein. Ich glaubte nicht, dass er das bewusst machte, dafür mutete es zu natürlich an und man sah bei ihm keine Anstrengung. Nicht in eine Richtung…

„Hör zu, Junge! Ich habe dich schon öfter gesehen, du bist mir nicht unbekannt. Mir sind auch deine alltäglichen Bemühungen klar vor Augen. Du liebst diese junge Frau wirklich, hab´ ich recht?“

Kaum hatte Joschuan diese Worte ausgesprochen, zuckte ich heftig zusammen. Ich fing mich aber recht schnell wieder und mit ruhiger Stimme antwortete ich dann: „Ja, Joschuan.“
Aus irgendeinem Grund vertraute ich ihm und war bereit, alles auszusprechen. Eine Kuppel aus Licht hatte sich über uns gelegt.

„Kennst du sie überhaupt, Junge?“ Volltreffer!

„Nein... Ich kenne sie lediglich aus der Ferne und hab´ keine Ahnung, wie ich das ändern soll.“ Ich wurde traurig, als diese Tatsache meinen Mund verließ, denn ich hatte nun zugegeben, was ich sogar vor mir selbst ungeschickt verborgen gehalten hatte.
„Ihr Name ist Glory und sie geht in das Völkermann-Gymnasium. Doch sie strahlt etwas Besonderes aus. Ich sehe sie in meinem Geist. Meinst du nicht, dass Gefühle eine direkte Verbindung zwischen zwei Menschen aufbauen können?“, wandte ich mich an den Mann namens Joschuan.

Er lachte kurz auf, blickte dabei aber abgeklärt in die Ferne. Seine Augen reflektierten ein Licht jenseits des Nebels und dort schien auch sein Herz frei und gelöst zu wandern.

„Joschuan ...“, stupste ich ihn an und holte ihn damit wohl sachte aus einem Traum, den er eben gefangen haben musste. Ich hatte keine Ahnung, doch irgendetwas veränderte sich damit.

„Riev, du ziehst meist einsam durch die Kälte. Hast du denn keine Angst vor den Geistern im Nebel?“, sprach er frei heraus.

Für mich wandelte sich dadurch etwas Dramatisches. Dennoch wollte ich mir sichergehen und natürlich mehr wissen. Ich fühlte in mir eine mit Angst gemischte Hoffnung.
„Welche Geister meinst du konkret?“, erwiderte ich. Meine Stimme klang dabei schwach und meine Augen flackerten wohl nervös.

Doch ehe ich wegdriften konnte, erklärte mir Joschuan, der jemand Besonderes
war, was er meinte.
„Es sind Einsamkeit, Wahnsinn, Verbitterung, Gewalt, Gier und mehr dieser Art. Ich habe gegen sie gekämpft und ich sage dir: Sie versuchen jeden von … uns. Hier auf der Straße tragen sie andere Masken als in anderen Schichten. Du musst wissen, dass dein Leben erst beginnt, wenn du das auch erkennen kannst. Es werden sich die Dinge wandeln“, sprach der Mann direkt in mein Herz.

Es mochte für so manchen banal klingen, doch ich konnte es reibungslos als Puzzleteil in mich fügen und somit schloss sich die Form eines neuen Schlüssels. Damit konnte ich die Tore vieler Antworten öffnen. Dieser Schlüssel würde mich noch ermutigen, wichtige Entscheidungen zu treffen.

Als ich im Gedanken dankbar dafür war und überlegte, wie ich mich erkenntlich zeigen konnte, war Joschuan plötzlich weg. Ich hatte meinen Blick schweifen lassen, doch ich glaubte, dass er einfach verschwunden war. Und es wunderte mich nicht.


Hier endeten Rievs Worte.

Joschuan bestätigte Riev damit die Existenz dessen, was sein Tun schon lange beeinflusste. Das verlieh dem Straßenjungen einen Hauch an Hoffnung, obwohl es auch seine Ängste bestätigte. Doch endlich waren sie konkrete Gegner, diese Geister. Sie blieben Wesen mit bösen Absichten. Doch diese Absichten waren Riev nun eröffnet und es war nichts Kompliziertes, es war der natürliche Text des Lebens.
Dadurch dass er jemanden gefunden hatte, der sich auf ihn einließ, fühlte der Junge weniger Druck in seiner Seele. Joschuan wusste nämlich auch bereits sehr wohl, wer Riev war und warum sie nun hier so gesessen waren.
Joschuan hatte mit wenigen Worten Riev Freundschaft vermittelt und unterschwellig versprach er ihm, mehr Hilfe auf ihn zukommen zu lassen. Zugleich spürte der Junge aber, dass er sich offiziell einem Feind entgegengestellt hatte. Das war so, weil er sich an etwas angeschlossen hatte, wo es um mehr ging als Trivialität.

Er hatte Position bezogen.

In der Nacht bewegte sich Riev in die Innenstadt, dort, wo die Wahrscheinlichkeit groß war, Glory zu sehen. Er war „unsichtbar“ für sie. Nur ein Hauch seiner Person kam bei ihr an, wenn er aus einer gewissen Distanz verliebt in ihre Richtung starrte und sich dabei möglichst unauffällig benahm, was sehr schwierig war. Er suchte sie, und seine Intuition kannte sie besser als es die Leute taten, die sie genauso falsch einschätzten, wie es Riev schließlich doch tat, wenn er sie für eines jener Mädchen hielt, die in Gefahr schwebten, sich von einem oberflächlich motivierten Frauenhelden einfangen zu lassen.
Er hastete getrieben in Arme, die sich wohl nicht um ihn schließen würden, wenn er nicht seine Strategie veränderte. Aber was vermochte ein einsamer streunender Junge aus der Gosse bei einem Mädchen, das gleich einer Prinzessin war, zu erreichen …?
Und setzte sich sein Irrtum fort, obwohl er so viel schon über sie wusste, ja sehr viel dazu noch einfach ahnte, ein Gefühl in sich hatte, als kenne er sie beinahe schon ganz? Er war dabei etwas zu voreilig.

Er sah ihre Offenheit nicht, die großherziger und fantasievoller war als es die Norm vorgab. Das war, weil er es gewohnt war, auf Ablehnung zu prallen. Daher focht er hier gegen einen Pessimismus, der womöglich nur etwas verkomplizierte, was er noch bei Weitem nicht ahnen konnte. Aber von einer anderen Richtung kam Mira, Glorys beste Freundin.
Riev mochte sie aus irgendeinem Grund nicht.


Glory aber suchte keinen „Prinzen“ auf einem „weißen Ross“. Sie suchte einfach den Richtigen, war flexibler und hatte den Tiefgang, der seiner Zuneigung gerecht wurde.

Nachtgard 4

Entketteter Griff des Kriegers

Riev durchquerte sein verborgenes Bewusstsein, reiste zurück in seine Kindheit, Erinnerungen an .... vor einigen Jahren:

Ich sah mich einen langen Gang hinabgehen. Es war schattig und nur blasses Licht kam durch Fenster, oder waren es Lampen … Flächen aus Licht? Dieser von innen trostlose verschwommene Ort gab in kurzen Momenten, die aufblitzten, auch ein trostloses Gebäude zum Ahnen frei. Ich hatte das Gefühl, mich hier auszukennen. Beinahe wäre mir das Wort „vertraut“ in die inneren Schichten meiner verwirrten Gedanken gesickert. Eine Stimme in mir barg das Sinnen und Trachten von jemandem; wer war da?

Dies war kein Ort von Geborgenheit.
Ich muss dazu sagen, dass ich bei gewissen Ausdrücken selbst sonst noch nie irgendetwas empfunden, sondern sie nur gedanklich verstanden hatte.

Ich fühlte nur zwar etwas wie Liebe – prinzipiell – aber hier war nichts schön, eher regierte die Trostlosigkeit, die wohl ein Gefängnis haben musste, … ja ich war hier eingesperrt. Gefängnis? Nein, es war etwas schlimmer: ein Kerker, oder … der Ort, den man in Mythen als Hölle kannte … Ich nannte ihn „Kerker“ – kam mir passend vor, ganz instinktiv.

Was tat ich hier? War ich tatsächlich hier oder war es eine Vision hier am Ende der letzten Hoffnung, die diese Wände um mich errichtete? Ich war so tief traurig, traurig und verängstigt … es war die Erfahrung, die man nicht machen wollte, selbst wenn man ein Leben in Dunkelheit gewohnt war. Hierin mündete der Fluss, in dem ich trieb, wenn die Depressionen sich in die untersten Etagen erlebter Gefühle begaben.

Um mich herum waren Kinder, Jungs … ich selbst war ein Kind! Ich betrachtete meine Hände und Füße … dieser Nebel, ich konnte mich an meinen kindlichen Körper nicht erinnern, doch ... es war seltsam.
Personen ohne Gesichter, ohne Relevanz, Stimmen, infantile, doch zornige Stimmen, in ihrer Entwicklung befindliche Rüpel, wimmelten um mich. Ein schwacher Strang an Gedankenresten führte von der aktuellen und mir unbewussten Situation- ein Traum vermutlich - in dieses Erlebnis. Ich war verwirrt.

Es war eindeutig das „Davor“, ehe ich in Nachtgard damals einfach erschienen war. Bedeutungsloses Durcheinander störte meine Gedanken, die gar nicht schön waren. Das Wissen, das ich hatte, folgte mir spärlich bis hierher. Ich war naiv, aber offenbar reif genug, um verzweifelt zu sein … Ein Atem hauchte hier durch die Gänge und Stockwerke, ja, ich sah ein dämmriges Stiegenhaus. Die Luft lebte.

Also irgendetwas verriet mir - mein Körper, die Art, wie ich dachte und das Benehmen der Menge, wies mich darauf hin - etwa um die zwölf oder dreizehn Jahre alt zu sein. Das war das erste Mal, dass ich als Kind zurück war … zuhause im „Kerker“ …
Ein Tor in der Zeit stand offen und ich sah, was ich vielleicht vergessen hatte, den Inhalt, den mein Bewusstsein sonst nicht erreichte. Ich wollte hier dennoch RAUS.

Ein Sprung..

Es war, als wäre mein Gehirn an ein mechanisches, doch hoch technologisches Gerät angeschlossen. Mein Geist war innerhalb eines fremdartigen Computersystems, sie wollten ihn löschen. Es stach in meinem Kopf, als ich durch diese böse Maschine bedroht wurde.

„Nein, das ist mein Leben! Egal, wie hässlich es ist, nehmt es mir nicht weg, BITTE … bitte!“ Ich kreischte panisch und verzweifelt, wurde ohnmächtig.
Ein erneutes Fortschreiten innerhalb eines Albtraumes. Ich weinte, sah immer wieder ein Gesicht. Ein älterer Mann, der lachend Hebel betätigte!
Zeran … ZERAN. Er war der Gott dieser Unterwelt und dennoch spürte ich eine Verbindung zu ihm.
Seine Hakennase, die schütteren Haare, diese Augen ohne Farbe, dafür voller Ironie und Wahnsinn, Hass, Berechnung UND Gier zugleich … Es schauderte mich wieder und wieder. War das wirklich wahr?!

Was tat er? Experimentierte er mit meinem Gehirn?!
Technologie und Inhalte, die mein Leben bis ins kleinste Detail mitgeschrieben hatten, zerbarsten, sie gingen verloren … innerhalb einer unmenschlichen Maschinerie. So fühlte es sich zumindest an…..
Ich versank wieder in sehr ungenaue Gedanken. Wie in einem unruhigen, durch Albträume zersetzten Traumschlaf gingen Szenen sprunghaft ineinander über.

Was für eine Maschine war das gewesen?! Die Regeln eines Regimes, ein Kodex, der ohne Liebe innerhalb von Rost, Zahnrädern und Stahl war!!! Für mich unverständlich und auch ohne Bedeutung. Was man mir nahm, hatte Zeran mir weggenommen … absolute Leere.

Ich bewegte mich nun wieder weiter in den Gängen des „Kerkers“, wurde angerempelt und mit Zeug beworfen, und da ich nicht der Einzige war, dem es dort so erging, war es etwas, weshalb ich nicht ausrastete – noch blieb ich ruhig und ertrug diese Stätte, am äußersten Rand dessen, was man fühlte, ehe man in Flammen aufging … was?!

Neben mir ging eine etwas kleinere Gestalt, etwas jünger als ich – es war wirklich sehr schwierig, hier etwas zu erkennen. Diese Person leuchtete, ich nannte sie den „leuchtenden Jungen“, denn ich spürte nun zum ersten Mal Liebe; war er mein Bruder? Ich fühlte zumindest eine enorm brüderliche Zuneigung. Es schien auf Gegenseitigkeit zu basieren.
Er verließ sich auf mich, vertraute mir. NEIN, er verließ sich auf mich! „Mach das nicht, nein, mach das nicht …!“ Mein warnender Ruf war zu leise! Ich spürte, dass es richtig so war, auch wenn ich mich dazu nicht in der Lage fühlte.
Warum war ich IHM so wichtig?

Da sprang ich in einen anderen Moment.

Hebel wurden verstellt. Ich hatte wieder das Gefühl von kalter Mechanik, die auf Leben traf und einwirkte, Speicherarchive, die durch ein „Uhrwerk“ blitzschnell an der Schwelle zwischen Seele und technischen Konstrukten und etwas standen, das wie der Nebel war … Anscheinend reagierte diese „Maschine“ auf meine Fragen, ja, all meine Gedanken und Beweggründe meiner Reise durch die Zeit …
Ich war mir nicht sicher, was geschah. Vielleicht war diese Maschine doch näher am Leben, als ich gedacht hatte. Sie, die Mechanik aller Abartigkeiten, die ich bisher erlebt hatte. Das „Tor“ stand einen Spalt offen …

Ich wollte endlich wissen, warum mich der „ leuchtende Junge“ nahezu verehrte. Ich war mehr, als ich mir bewusst war. Nur war ich gefesselt, geknebelt, mir waren Augen und Ohren verbunden – sinnbildlich.

Und schon war ich erneut ein wenig durch Raum und Zeit gereist.
Ich erfuhr nun, warum ich diese Bewunderung womöglich „verdiente“ oder verursacht hatte. Es ist nicht schön, schaut weg!

Ich war nicht alleine. Es waren vier recht kräftige Jungen, alle etwa in meinem Alter, einer davon war bestimmt ein Jahr älter. Er war größer und hatte was auf den Rippen. Fett, Muskeln.
Es bestand alles aus Licht und Schatten, und unergründlicher Lärm hüllte das Geschehen zusammen mit dicken Wänden ein. Wände, die das Schreien und Rufen, Flehen und Bitten aufgesogen hatten über sehr lange Zeit. Oh, welche Klagen und verzweifelte Ängste von Menschen, die irgendetwas gemeinsam hatten …
Wenn dieser Ort sprechen könnte! Er weinte, wollte sterben …
Die Maschine bewegte sich. Was sollte nun kommen?

Ich spürte Angst, während ich sah, wie diese vier Jungen jemanden verspotteten und grob anfassten. Ich fühlte wieder Furcht und Zorn. Etwas hielt mich zurück. Nun schlugen sie ihn und nahmen ihm etwas weg. Da sah ich erst das Licht um ihn. Es war der „leuchtende Junge“! Auf diese Schikanen hin begann er zu weinen, sie stießen ihn zu Boden, lachten.

ZORN

Da schrie das Leuchten in ihm förmlich vor Verzweiflung.
„Die Vergangenheit war in der Finsternis konserviert. Schatten hielten Gedanken in einer unglücklichen Gruppe zusammen und überwachten die Aufstellung genau. Das waren Erinnerungen, die sich den Tod wünschten.“ Was waren das für Gedanken?!
Ja, es war der „leuchtende Kleine“ – ein menschlicher Junge. Sein Licht flackerte. Wie eine Lampe. Die nicht mehr lange taugen würde.

ES KAM ZU MIR.

Er war mir ein Signalfeuer, mir war sein Wohlergehen wichtig.
Da übernahm etwas in mir die Kontrolle, das ich zwar verwenden durfte, doch es war etwas Eigenständiges. Es suchte nach jemandem.
ES HATTE MICH GEFUNDEN! Ich rastete aus …
Angst bröckelte einfach ab. Vernunft wich. Übrig blieb ein zorniger Riev, ein Monster. Es verlieh mir aber Hoffnung. Kraft durchströmte mich. Der „Griff des Kriegers“ packte mich und verlieh mir Gewalt und Kampfkraft. Ich gab dieser Fähigkeit, da ich sie auch als Fluch empfand, diesen Namen.

ES GING LOS!

Ich näherte mich den vier Raufbolden und zog erst einmal den kleinen Jungen von ihnen weg, blickte ihn an und sagte damit, dass er in Sicherheitsabstand gehen sollte. Er weinte plötzlich, tat aber sofort, was ich ihm befahl. Ich sah Furcht in seinen Augen.
Ich wandte mich um und schlug den größten der vier fest in die Fresse, er taumelte, noch eine, und er fiel zu Boden. Dann entriss ich ihm den Gegenstand, der dem Kleinen gehört hatte, und steckte ihn ein, ohne einen Blick darauf zu werfen.
Dann wütete ich wenige Augenblicke herum. Ich schlug, trat oft und brutal zu. Ich zerstörte die vier Drecksäcke, während ich dabei jedem von ihnen so laut ich konnte, die schlimmsten und abgründigsten Dinge, die mir zuflogen, ins Gesicht brüllte. Ich jagte ihnen Furcht ein, schockierte sie und schlug sie dabei wieder und wieder.
Die Urform von Zorn und Rivalität betäubte mein Schmerzempfinden. Denn auch ich hatte einiges einzustecken – zu Beginn. Keiner hier schien etwas zu verlieren haben. Soweit waren wir auf einem Level. Doch ich beschützte, sie hatten begonnen. Das aber hatten sie niemals kommen gesehen! Was nun?
Ich nahm einen Stuhl, holte damit aus und dann wichen die vier merkbar eingeschüchtert, blutend und mit Schrammen zurück.

STILLE

Sie waren verletzt und ich spürte das erste Mal so etwas wie Befriedigung.
Ich kam annähernd zu mir, warf den Sessel in ihre Richtung, aber knapp daneben – absichtlich. Einen raubte ich mit einem Beinfeger noch das Gleichgewicht, worauf der stürzte, es machte fast Spaß. Es war aber nicht komisch.
Es war wunderschön gewesen, obwohl ich dabei war, dies nicht mehr so zu empfinden.
Noch WAR ES MIR SCHEISSEGAL!!!

Die vier waren starr und ich spürte, wie unsere Geister miteinander noch fochten. Ein Krieg ging los.

BLUT

Wer würde hier schließlich das ALPHATIER sein?

Was sollte ich alleine ohne diese Kraft anfangen? Ich war in Wirklichkeit sehr erschöpft, ich fühlte zweimal mich selbst und dennoch ergaben „wir“ eine Person. Ich verschrieb mich dieser Kraft, die ich den „Griff des Kriegers“ nannte, damit ich rohen und gewaltbereiten Wichten die Knochen brechen konnte.
Im Rausch des Kampfes blendete ich das Elend aus, das sich zugleich in meinem Gewissen sammelte. Ich wollte das in Wahrheit … nicht, oder zumindest wollte ich nicht, dass es notwendig war. Bei diesem Gedanken sah ich ein Gesicht vor mir, das ich kannte. „Vater Zeran“!

Er schloss mich ab da immer wieder an eine unheimliche Maschine an, seine Augen waren voller Erwartung. Er wollte mich züchten und ernten, als seinen Kampfhund. Oder war es etwas anderes?
Vielleicht war es meine Kraft, die er in sich selbst sehen wollte? Die Gier seines Gesichtes, die Geräusche der rostigen Maschine, die meine Gedanken in Scheiben schnitt und analysierte, verursachten Qualen, die mich verkrüppelten – beinahe.

Etwas mir damals Unbegreifliches hielt meine Hand.
Was würde ich letztlich gegen ALLE Arschlöcher hier langfristig ausrichten? Würde mir der kriegerische Riev, der „Griff des Kriegers“ dann entrissen werden?! Dann würden sie mich töten. Als ich das begriff, begann der eigentliche Kampf um meine Existenz.
Dann hätte ich Probleme gehabt. Der „Griff des Kriegers“ jedoch blieb mir treu. Ich ging einen Bund ein. War es ein Fehler?

Ich hörte ihre Stimmen. Ihre Gedanken verrieten, dass sie so verängstigt und geschockt wie nie zuvor waren. Dennoch drohten sie aber und kündigten etwas an. Etwas wie RACHE!

LACHEN

Doch mein Geist hielt sie in dem Moment im Schach und im größten von ihnen war etwas gebrochen. Seine Würde, sein Stolz, seine Gewalt war alles, was ihn ausgemacht hatte. Und nun wuchs in mir etwas Vergleichbares. War es ein Fluch? Meine kindlichen Gedanken drehten durch und ich wurde immer schwerer zu bändigen.
Seine dominante Überheblichkeit war geknackt! Es roch nach gebrochenem Stolz.
Auch er hatte hier nun ANGST, ob er es jetzt wollte, es zugab oder nicht: Er hatte mich als stärkeren Rivalen um das Dasein innerhalb eines Kampfes, in dem es um ALLES ging, erkannt.

Ich selbst zitterte, als sie den Raum verlassen hatten, sich an mir vorbeischlichen, humpelten und sich Blut aus dem Gesicht wischten. Ich starrte wohl so kalt wie nie zuvor geradeaus.

Der schüchterne kleine „ leuchtende Junge“ kam herein.
Er strahlte und dennoch fühlte ich, dass er entsetzt war und traurig, verwirrt, und in sich nach einer Lösung forschte. Es mochte vielleicht meine Fantasie sein, doch ich brauchte die Hoffnung.
Ich hörte in einem zeitlosen Verderben die Geräusche dieser Maschine und sah Zeran, der mich mit seinen Blicken förmlich in einen tieferen Wahn hetzte.

Der Junge wusste, dass ER mir diese ROLLE gegeben hatte.
Dann reichte ich ihm den Gegenstand, während ich versuchte, ihn freundlich anzulächeln.
Ich erkannte den Gegenstand nicht. Ehrlich gesagt, verschwendete ich keinen Blick dafür. Schließlich war der Wert, den der Kleine diesem Ding gab, für vieles verantwortlich – wie ich wohl unbewusst empfand. Aber für den Kleinen hatte es etwas Besonderes. Ich nahm mir vor, ihn immer zu beschützen – wenn es möglich war. Dennoch: Ich war schon zuvor der Einzige gewesen, der freundlich zu ihm gewesen war. Ich hatte es nur nicht erkannt.
Ich musste das, was ich dort erlebte, für jemanden ertragen.

Dann sah ich mich von oben und alle wichen von mir zurück. Dann hörte ich Stimmen von Erwachsenen. Sie waren zornig. Plötzlich zerrten die übergroßen Wärter mich wie ein wildes Tier weg. Sie waren so unsanft, fast so wie ich eben. Der „ Griff des Kriegers“ hatte sich zurückgezogen.

Doch ich lachte, während sie mich prügelten, und meine Augen richteten sich auf den „ leuchtenden kleinen Jungen“. Ich wollte ihm Mut machen, weinte gleichzeitig in mich hinein und spuckte Blut. Ich lächelte weiter in sein trauriges, verschwommen schimmerndes Gesicht. Ich sah seine Angst als wären es Schatten, bis ich zu weit von ihm entfernt war. Diese Schatten machten mir Angst und ich fühlte, wie sie meinen Bruder prüften.

Da riss der „Film“ und ich fand mich noch immer im Park. Es waren nur wenige Minuten vergangen.

Später:

Riev landete etwas aufgelöst und schwach im „Kulthaus“ – so nannte man den Schuppen. Es war noch nicht viel los. Der Junge war etwas unsicher und brauchte mehr zu trinken. Kein Bier, keinen Wein, nein, richtigen Alkohol, und nicht Wasser oder Saft, in dem ein paar Tropfen von dem drinnen waren, was ja eigentlich Sinn der „Übung“ war, nicht?
Riev schmeckten im Grunde keine alkoholischen Getränke, er mochte Pfirsich - Eistee, meistens trank er aber Wasser gegen den Durst.

Doch nun wollte er etwas zweifach Gebranntes. Und da er keinen Ausweis besaß und offiziell gar nicht existierte, musste er sich da an einen bestimmten Kellner, der hinter dem Tresen stand, wenden. Dessen Kosename war Filou oder einfach „Fill“, und so wie sein Namen war, so war er auch geartet. Lebensfroh, ein Schlitzohr, und er vergab keine Möglichkeiten.
Er war freundlich und eloquent, aber bar jedes Tiefgangs. Er verdiente sein Geld damit, Alkohol auszuschenken, und auch wenn es legal war, machte es Schnaps nicht gerade zu einem Schluck aus dem Jungbrunnen, und ihn, der ihn ausschenkte, zu keinem Engel.
Er war sauber rasiert, hatte zurückgebundene, überschulterlange Haare und blickte pfiffig mit seinen grünen Augen um sich. Er war nicht sehr hochgewachsen und ging auch nicht in die Breite. Sein Alter war um die dreißig, vielleicht etwas darüber, und obwohl er kein Beau war, riss er sich immer wieder jüngere Frauen auf. Er war ein Schauspieler, Charmeur und Lügner, aber ansonsten „ehrlich“.
Seine altbewährten Strategien funktionierten immer noch und er saß praktisch an der Quelle von Freude und Unterhaltung, was er im Schlafzimmer wenig lauterer Frauen weiter so handhabte. Die schelmische Wortgewandtheit tat das ihrige. Außerdem war es bei einer Vielzahl an Frauen bekannt, dass er ein virtuoser Liebhaber und dafür gut ausgestattet war.
Lügen, Schnaps, berechenbarer Charme und eine einfache Person mit praktischen Stärken!
Das war alles, was Riev nicht hatte. Bis auf die praktischen Stärken, deren Einsatz er jedoch unterließ. Er hätte auch nie mit Fill getauscht.

„Wenn er es so haben will……… he, he“, dachte Fill, lächelte, gab Riev augenzwinkernd ein großzügig gefülltes Glas und rauchte dann eine Zigarette an.
„Du weißt schon, dass dieses Zeug eher einzuatmen ist, als zu trinken, ja?!“, spottete der Barkeeper, gutgemeint auf die hohe Prozentzahl des Getränkes hinweisend, und hielt Riev eine Schachtel hin, bot ihm eine Kippe an.
Er mochte Riev und kannte es nicht, darauf angewiesen zu sein, eine gewisse Menge Alkohol innerhalb kurzer Zeit runterwürgen zu müssen. Auch wenn er ebenso einiges trank, besaß er ausreichend Selbstbewusstsein, sich rechtzeitig zurückhalten zu können, ehe er ein Problem damit bekam.

Das Kulthaus war einer der größten Schuppen der inneren Altstadt, in dem sich Jugendliche und Erwachsene eines breiten Publikums regelmäßig trafen. Die Musik war abwechslungsreich und zog Leute an. Man staune: Das war, weil der DJ den Überblick hatte, wer gerade hier war und was zur Stimmung passte.

Riev warf den doppelten „Doppelten“ runter, nahm die angebotene Zigarette und grinste zu Fill zurück, während er die erste Rauchwolke herauspaffte.
„Ja, Fill?! Das hast du mir schon mal zugesteckt. Spiel mir nicht den Besorgten vor, du trinkst die harten Sachen ja auch heimlich, wenn es hier unübersichtlich wird! Ist es nicht so?!“
Riev wollte locker wirken, und da er Fill gut kannte, spielte er es auch hervorragend, indem er lässige Posen einnahm, aber dem listigen Kellner und Barkeeper entging das doch nicht. Riev wechselte zu oft die Haltung für jemanden, der selbstbewusst an der Theke als cooler Beobachter locker und frei den Macker ausstrahlte.
Fill aber spürte, ob jemand aus Spaß oder aus Notwendigkeit trank. Riev brauchte seine Drinks. Doch Fill mochte Riev seltsamerweise so, dass er ihm seine Notwendigkeit erfüllte, und, sagen wir, nicht immer und nicht alles verrechnete. Unter Leuten wie Filou war das etwas höchst Freundschaftliches, was Riev auch zu schätzen wusste.
Fill rauchte auch mal gerne etwas Gras, und auch wenn Riev kein Drogenhändler im eigentlichen Sinne war, kam man sich auch hier entgegen.
Wahre Freundschaft war das natürlich nicht!
Doch Riev musste irgendwoher gewisse Floskeln kennengelernt haben, und er hatte doch Charme, wenn man ihn erst einmal kannte. Fill erkannte diese Tatsache und dafür redete er gerne mit ihm, ehe er als Mann hinter der Theke schnell und zuverlässig seinen Job machen musste. Sie rauchten meist ein paar Kippen und Fill blickte hin und wieder in eine bestimmte Richtung, wenn er Riev oder sich selbst noch einen ins Glas einschenkte. Riev hatte noch nie erlebt, dass Fill einmal in Verlegenheit gekommen war oder die Situation nicht zu seinen Gunsten zu lenken vermocht hatte.
Dabei richtete er auch keinen Schaden an und wusste schon, wo, wie, wann und mit wem er was machen, reden, oder auch, wo er ganz offen sein und über seine Probleme sprechen konnte, zudem jemanden vor sich hatte, der wusste, was es hieß, in vielerlei Hinsicht am Abgrund zu hängen.
Er rechnete diese Dinge Riev hoch an und empfand eine für ihn einzigartige Form des Respekts, was er Riev auch zu spüren gab.

Riev hatte in Nachtgard keine wahren Freunde, mit denen man Abenteuer erlebte, zusammen alles besprach, Seite an Seite kämpfte und so weiter, sondern nur Typen wie Fill.
Auf die Innenstadt verteilt, kannte er da ein paar Leute, mit denen er in unregelmäßigen Abständen zusammentraf, und dann ergaben sich Plaudereien. Im Streetworker - Gebäude hatte er einige Gesprächspartner. Doch auch sie waren ihm nicht so nahe, wie er es sich wünschte. Vielleicht verlangte er zu viel. Und so war es auch!

Ein Mensch seiner Persönlichkeit brauchte mehr Tiefe und Nähe, dies platonisch und romantisch, wie es ja im Fall von Glory bezeichnender nicht sein konnte ...

Es war aber durchaus Rievs Plan, irgendwann einmal aktiv zu werden, was Glory betraf. Er wollte und musste es ihr aber auf offene Art und Weise zeigen. Er war ein verborgener Siegertyp.
Freilich hatte jeder seine eigenen Vorstellungen vom perfekten Leben. Riev wähnte jedoch, allein für die auf Ehrlichkeit beruhende Beziehung mit Glory am Leben zu sein. Ob sich das, was in Visionen geschah, auch mit der Wirklichkeit paarte, stand jedoch noch nicht fest.
Seine Schwerpunkte zu entdecken und damit Erfolg zu haben, baute sich wie ein Abenteuer auf, das nur Helden überwinden konnten.


Im Flüstern des Nebels sprach man von jemandem, der den Sturm bringen sollte…



Nachtgard 5

Griff durch die Erinnerung
Glorys Verlockung über Wolken

Das Luftschiff schob sich träge wie ein Eisbrecher durch den Nebel, der alles darunter verbarg, und was auch darüber lag, war außerhalb jeder Sicht. Die Sonne war hier gerade einmal nicht, dann aber wieder doch zu sehen; verborgen war, was weit jenseits dieses Nebels liegen mochte. So war es nicht sicher, wo man sich hier tatsächlich befand. Gab es überhaupt jenseits vom Flussbett Nachtgards irgendetwas?
Zumindest ein dämmriges Abendlicht brachte in die feingeschliffene und verschnörkelte, charmant altmodische, aber durch die Zeit in einen zerfallenen Zustand versetzten Innenausstattung so viel Rätselhaftes hier herein. Alleine die feinen Kontraste hielten den Geist des Betrachters in Bewegung, während er nicht wissend weshalb, sich bloß wunderte.
Und dann saß da schon der Junge, Nicklas, dessen Anblick ihn als zwölfjährigen Jüngling darstellte – aus feiner Gesellschaft - umgeben von Scherben nun formloser Schönheit im Licht der Nostalgie.
Er trank ein dampfendes Getränk und rauchte dabei eine Pfeife, die wohl aus etwas so Wertvollem wie Elfentränen bestand. Jemand musste bei stundenlanger Feinarbeit diese Verzierungen durch einzigartige Handarbeit, vom Wert unschätzbar, angefertigt haben.

Was hier auch zugegen war, es focht mit dem Weltbild Nachtgards, das da sagte, es gebe nur die Stadt mit seiner Umgebung und dann käme das Nichts. Eine Wand, die alles verzehrte und jede Seele zermalmte, die daran stieß.
Die Kirche Nachtgards prägte das Weltbild und hatte die Wissenschaft in einer unsichtbaren Hand, selbst höhere Geistliche wussten nichts Genaues über die Götter, von denen aber die allerhöchsten Persönlichkeiten angeblich Botschaften erfuhren und dann zum Volk sprachen.
Es waren namenlose Gottheiten, doch sie sprachen im „Chor“ gemäß der Erwählten, die sie hören durften. Nachtgards Theologie verbarg sehr viel.
Dennoch betete man zu den Göttern und es gab auch Opferungen.

Im Luftschiff:

Nicklas Haltung war elegant, fast schon etwas zu weich für eine männliche Person. Doch bei genauerem Abtasten dieses Anblicks war er in sich perfekt. So vollkommen, als wäre es eine malerische Komposition. Da ansonsten seine unerwartete Feinfühligkeit überrascht hätte, zeigte sie sich bereits in seiner Haltung, die er dezent betonte, nicht aber aufdringlich, und so wusste man, wer diese Person war – was seinen Charakter betraf. Ja, er spielte, noch ehe er Worte des Grußes aussprach, mit offenen Karten. Dennoch war er, wie schon bemerkt, rätselhaft.
Dieses Paradoxon gefiel Riev, und Nicklas präsentierte sich damit speziell seinem seltenen Gast, der jedoch nie ein belangloser Besuch war, wenn nicht einer von wenigen oder der Einzige.
Die Frage dahinter war daher bei beiden, was denn das Geheimnisvolle an dem jeweils anderen war.
Riev verbarg nichts, fiel aber auch nicht mit der Tür ins Haus.
Riev war klar, dass sein ungewöhnlicher Freund, den er nicht zu oft innerhalb plötzlicher visionsartiger „Raumverschiebungen“ hier angetroffen hatte, über Dingen stand, ja sich gewisser Wahrheiten bewusst war, die den meisten Menschen noch vorenthalten blieben, ja noch fehlten. Und dennoch war es die fühlbare Harmlosigkeit, die trotz dieser Tatsache ihn nicht dem Hochmut übergab.
Er wirkte wie ein junger Lord, mit halberwachsenem Charme, doch selten war er fröhlich oder etwa ausgelassen. Da war ein Dorn in seinem Herzen, der aber das bewirkte, weswegen Riev ihn als Freund verstand, so seltsam die Umstände sich auch zeigten, so besonders es jedes Mal auch war, wenn sich die beiden gegenübersaßen.

„Nimm doch Platz!“, bot Nicklas Riev schlicht wie immer an und goss mit einem großzügigen Schwung Tee ein. Es war Nicklas` besonderer Tee, aus den Kräutern des ominösen Sam. Mehr als ein Name war Riev diesbezüglich noch nicht offenbart worden. Dennoch genoss er dieses Getränk bedenkenlos, ja beinahe mit einer sichtbaren Gier.
Nun gut, er spritzte sich auch in öffentlichen Toiletten „Stoff“ und hinterfragte dabei nur selten die Haltbarkeit seines Körpers und bangte eher um die Kürze der Zeitspanne, die er hatte, im Rausche auszuruhen und dem Alltag zu entfliehen, der ihm eine Plage war und alles abverlangte. Doch hier war diese Wirklichkeit fern, wie wir wissen. Eine Oase in einer feindseligen Wüste mit Skorpionen, Geistern und sengender Hitze.

„Riev, ich fühle, wie du dich einmal vom Wahnsinn wegbewegst, dann aber wieder nach ihm greifst. Du bist überzeugt davon, dass …“, Nicklas ließ den Satz offen.

Riev schaute fragend, öffnete schon den Mund, um mehr zu erfragen, wollte dann aber doch ablassen, seine innere Kraft machte einem Zweifel Platz.

Nicklas schien fast schon unwirklich in seinen Augen zu sehen, zu wissen, was Riev an Erinnerungen eingeholt haben könnte, zog seinen forschenden Blick aber alsbald zurück und gab sich neugierig. War da eine Ahnung? Was konnte der Junge schon wissen, wenn es Riev erst vor sehr kurzer Zeit mit bloßen Händen aus dem Grab freigelegt hatte?
Daher zögerte Riev verwirrt, doch dann musste er förmlich dringend davon berichten und fand darin seine Klarheit wieder.
„Ich habe etwas geträumt.“
Damit leitete er es ein und erzählte sehr genau von dem „Kerker“ und der wilden Schlägerei, die er mit den groben Jungs gehabt hatte; sein brutales Verhalten und die Kraft, die es ermöglicht hatte, erklärte er verträumt, doch leichenblass. Darin lag nämlich das Zentrum der Bedeutsamkeit des Traumes, oder was dies gewesen war. Er erkannte sich selbst nämlich darin am wenigsten wieder, wie unfair die Pöbelei der Raufbolde auch gewesen war. Von wessen Seite auch immer.
Die Vorstellung eines Traumes wich mit jedem Wort der einer Erinnerung. Die Bilder wurden klarer und die Gefühle wirklicher, so als legte er etwas frei, was gegen dessen eigenen Willen zu lange der Verborgenheit überlassen worden war.

„Du warst dann früher wohl ein harter Typ, was?“, bremste Nicklas, doch er war offensichtlich berührter als er es vornehm zurückhielt. Konnte das sein? Mit einem nervösen Schauder zog er an der Pfeife, als er die brutalen Bilder so nah bei Riev verarbeiten musste. Dennoch blieb er aufmerksam.

„Ich habe keine Ahnung. In dieser ERINNERUNG bestand alles aus irgendeiner Form von Gewalt. Da war zwar so viel Schlechtes und Verrücktes …, aber die freundschaftlichen, nein brüderlichen Gefühle zu dieser leuchtenden Person, diesem Jungen, gaben all dem einen Wert … UND ich habe vermutlich erstmals so etwas wie eine Erinnerung meiner verschütteten Vergangenheit gefunden. Das wühlt auf. Glaub mir!
Ich fühlte für diesen kleinen Jungen – er hob sich von all den anderen Leuten dort ab - eine Opferbereitschaft. Sie gibt mir persönlich Zuversicht. Wenn ich für jene, denen ich Liebe entgegenbringe, alles riskieren kann, um sie zu schützen, dann ist das eine Sache, die mich einer Identität näherbringt, die zu ergreifen es WERT wäre, weißt du ... Das kommt selten vor. Wenn, dann geht’s wirklich hart auf hart, in kurzer Zeit, siehst du das?! Es ist nicht so ästhetisch und romantisch wie es klingt. Es ist das Gefühl, ein Schild darzustellen, das alles abfängt, was sich gegen die wirft, die man liebt, … ich kann es nicht oft genug sagen“, entschuldigte sich Riev beinahe, da er dazu stand und kein Bedauern dabei verströmte.

Doch Nicklas war mental bar jedes Vorwurfs. Doch die Vernunft in ihm schrie fast auf. So starrte er bei dieser Warnung:
„Verschwende dich bitte nicht, ja! Wenn du diese Einstellung in dir findest, pflege sie so, dass du nicht sinnlos etwas davonträgst, was du bereuen würdest! Wirf dich nicht für das Falsche in ein frühes Grab, hörst du?!“

Ein Zögern fuhr wie ein gespenstisches Vehikel zwischen den beiden durch.
Dann erst wagte Riev zu antworten:
„Hab keine Furcht, Nicklas! Ich bereite mich im Hintergrund meines Bewusstseins auf die Möglichkeit vor, die richtige Person im rechten Moment zu schützen. Denn dafür bin ich geboren … JEDER braucht ein Ideal für sein Leben, ferner für seine Existenz.“

Nicklas schaute verwundert auf, als Riev dies mit einer solchen Selbstverständlichkeit herausließ, dass es schon bitter klang.

Riev selbst erkannte nun, wie er sich einer gewissen kriegerischen Tendenz bewusst war. Diese war aber ganz selbstständig an ihn herangetreten. Beide bemerkten das stumm. Er kannte seine Art, wenn er Ernst machte und mit blinder Leidenschaft alles tat, was vom Schicksal eben in sein Leben gebracht wurde.

Nicklas beobachte das von einer weniger romantischen Position aus, doch verstand es, wenn man sich etwas hingab. Er gab nur nicht zu erkennen, wie er dies letztlich sah. Stattdessen floss sein Blick durch Rievs Augen innerhalb eines gedehnten Moments in ein Meer, dessen Weiten mehr als Gedanken und Gefühle trugen. Es war ein Ozean, dessen Ausmaße alles übertraf, was Riev bis hierher gedacht hatte - im Lichte der äußersten Vorstellungskraft.
Nicklas hatte Riev da unbewusst mitgenommen, doch er schwieg auch hier schließlich dazu, und er fühlte dabei keinen Schaden, keinen Grund es zu bereuen.
Ganz im Gegenteil: Riev brauchte die Ferne mehr als die Einsamkeit einer Nähe, die verlogen klein anmutete und noch beengender war als sie vorgab zu sein. Riev war kein Kettenhund, der trotz ständiger Anwesenheit einsam und verloren sein durfte.

„Das Leben ist unvollkommen, Menschen sind es, wir haben alle unsere Schwächen. Richte dich selbst nicht selbst wegen der Gewalt! Ich weiß um deine Wankelmütigkeit. Heute fühlst du einen heroischen Persönlichkeitsanteil in dir, der zweifellos vorhanden ist. Daher will ich, dass du an dir findest, dass du keine wahllosen Aggressionen lebst, sondern den ewigen Krieg auf deine Art gefunden hast. Doch sei noch bescheiden, wer auch immer du bist. Sei nicht selbstgerecht, wenn die Geister kommen, indem du dich schuldig fühlst. Was auch immer deine Erinnerungen erzählen.
Überlass dem tiefen Kern der Wahrheit jede Entscheidungsgewalt. Denn von dort, wo die ausführende Macht über alles herrscht, dort liegt auch jene Güte, die niemand, auch wir beide nicht, verstehen kann. Glaub mir, du wirst noch etwas, … jemanden entdecken, wo du loslassen kannst und geborgen sein wirst, es warst, und es dich nicht wieder verlassen wird.
Dennoch bleibe darin wach, diesen Zustand zu suchen und seiner auch dann zu gedenken, wenn dich deine Schmerzen zerreißen, die Kälte dich niederdrückt
und die Einsamkeit eine Wand um dich errichtet!“

Nicklas Worte schritten bereits als eine Antwort für die Zukunft hervor. Auch für eine Zukunft, in der Riev seiner Vergangenheit und seiner Bestimmung gegenübertreten würde. Alles basierte auf einem „Schicksal“, oder wie man die Ordnung auch nennen sollte, die alles, was ist, vor dem Chaos bewahrte.

„Aber eines nach dem anderen! Du willst und musst deine Vergangenheit wiederfinden! Erst dann weißt du, wer du wahrlich bist“, schloss Nicklas und beugte sich dabei vor, wuchs Riev direkt vors Angesicht als würde er etwas schlecht sehen, stieß dabei an seine körperlichen Grenzen, die ihm seine Lähmung aufbürdete.

Riev schwieg, hielt den Augenkontakt und trank dann vom Tee, war aber weniger gelassen, als er sich selbst hier sehen wollte, was Nicklas auch immer bezweckte.

„Was denkst du nun?“ Nicklas war auch seelisch sehr weit bei all dem gegangen, er war geschwächt.

Riev, der ein gutes Einfühlungsvermögen hatte, wollte daher die Spannung lösen:
„Wer ist eigentlich dieser Sam? Was für Zeug hat der, was es in Nachtgard nicht gibt?“ Riev war plötzlich sehr neugierig, was dieses Thema betraf.

„WARUM DENN?! Finde und frag doch die richtigen Leute in Nachtgard!“, ärgerte sich Nicklas, wobei er nicht die Ironie hinter dem Wandel ihres Gesprächs übersah und grinste, wie ihn Riev selten gesehen hatte.
„Er ist ein Vertreter und verschenkt sehr großzügig Kostproben von … „Kräutern“ – vielfältige Mischungen und Arten von teilweise sehr wirksamen Substanzen. Hinter ihm steht eine Geheimgesellschaft, die schon lange besteht. Ihr Ziel ist ein Heilmittel, nein, auch eine perfekte Droge ohne negative Konsequenzen auf Geist, Körper und Seele. Sie soll Schmerzen aller Art bedingungslos ausmerzen. Ha, ha: Diese Narren suchen etwas, das dem Gefüge dieser Welt, ja der Wirklichkeit widerspricht.
Das Wundermittel, das nur glücklich macht und keinen Stachel hat! Ich mag seine Zwischenergebnisse, glaube aber nicht an sein Ziel, halte es für eine Torheit. Man bezeichnete es auch schon als „Soma“ und gab seinem Ziel andere Namen. Deren Geschichte führt in die Zeiten der Mythen zurück. Als wäre das möglich: Ein Lohn ohne Mühen und Verdienst.
Diese Zwischenergebnisse sind von Zeit zu Zeit erfreulich – je nach Sorte – es gibt sehr viele Arten an … Kräutern, Blüten, Harzen, Pilzen, Schuppen von gewissen Tieren, Insekten, Gräsern, Baumrinden ……. und so weiter, die Sam erklärt, sammelt und verarbeitet, und soweit ich weiß, ist Sam ein erfolgreicher Spezialist und charismatisches Aushängeschild der Bruderschaft. Es gibt Kostproben, doch dann muss man zuhören, wie der Stand der Forschungen ist – auch wenn man nicht nachfragt. Er ist ein gesprächiger und frohsinniger Kerl.
Aber genug davon! Das sollte dir nach all dem, was ich zuvor sagte, nicht wichtig sein. Denn es ist und bleibt eine Legende und ewig wird es so bleiben. Bis kein Rausch mehr nötig ist.
Sieh besser zu, dass du deine hässlichen Abhängigkeiten unter Kontrolle bringst, Riev, mein Freund.
Eine Abkürzung! Nicht einmal in den feinen Gefäßen der Welt kann sie Bestand haben!“
Nicklas sackte zusammen.

Riev starrte Nicklas bestürzt an. Noch nie hatte er den Jungen so fassungslos erlebt, beinahe noch nie.

„Ich verstehe dich sehr wohl: Keine Liebe ohne Tränen - das ist die bitterste Erkenntnis meines Lebens!“
Rievs Blick war wie immer rein, ließ einen in ihn blicken, doch am Ende sah man immer diese Verzweiflung. Aber genauso sah Nicklas die Kratzer zahlloser eisiger Tränen, Bitterkeit und Enttäuschungen. Wie oft hatte Riev Glory aus der dunklen Kälte betrachtet, bewacht im vollen Glauben, dass sie ihn brauchte, ja in Gefahr war und er einst ein Unglück verhindern müsse.

Was trieb diesen Menschen an? Wo nahm der diese Kraft noch her? Das fragte sich Nicklas immer wieder, wenn er an Riev dachte, dessen Weg er von seiner Perspektive aus sah, seinen Schmerz mitfühlte.

Nun sah Nicklas deutlich, wie verletzt Riev in der Zwischenzeit schon, zugleich aber in ihm ein Herz aus Stahl war, das sich schließlich immer noch behaupten konnte. So sehr der Jugendliche dahinstolperte, er strauchelte nicht und er kannte im Grunde keine Resignation.

Nicklas vermittelte selbst einen souveränen Eindruck, doch er hatte auch eine Rolle zu erfüllen. Natürlich waren echte Gefühle bei ihm im Vordergrund, doch er musste über gewisse Dinge erhaben sein, damit er der sein konnte, der er war, und Riev wusste nicht genau, wer diese Person wirklich war, auch wenn sie auf jede Frage ehrlich geantwortet hätte. Aber seine Art vermied gewisse Themen prinzipiell.

Nun überraschte ihn das, was Riev darauf folgen ließ, nicht: „Es tut mir leid, mein Freund. Aber ich habe im Leben nicht nur Haken, sondern auch Widerhaken auf und in mir gespürt. Ich habe unter ihnen gelitten und dies innerhalb der drei Jahre, an die ich mich bisher erinnern kann. Ich war gemäß meinen Erinnerungen nie ein Kind gewesen..., das weißt du doch.“
Riev wirkte bedürftig, doch auch gleichgültig, vielleicht etwas kühl sogar, trotz seiner im Grunde sehr aktiven Gefühle. Es war alles noch sehr unübersichtlich für den Jugendlichen.

„Nun habe ich erstmals einen Splitter aus einer verborgenen Zeit ins „Auge bekommen“. Bitte sei nicht zu rational. Emotionen verbiegen die Vernunft oft bis zur Unkenntlichkeit. Das sagt mir, dass Gefühle und ihre kleinen Geschwister, eben diese Emotionen, eine gewisse Macht haben. Die müssen sie doch auch nach einem Gesetz der Gerechtigkeit und Ordnung erhalten haben. Daher bleiben wir doch dabei, unserer Intuition Raum zu geben. Denn sie empfindet erst und denkt dann!“

Nicklas nickte verständnisvoll und schwieg. Auch er erkannte, wie unstet sein Gefühls-Gedanken-Spiel seinen Weg prägte. Doch warum sagte Riev ihm so etwas gerade jetzt?

Es war wohl „Zufall“, aber nicht in jeder Hinsicht. Riev hatte sich damit gerechtfertigt.
Riev war doch noch wie ein Kind. Er musste das auch alles als Gesamtheit sehen, so wie Nicklas.

Dennoch hatte Riev ihm, was die Relation zwischen Gefühlen, Emotionen und den klaren Verstand betraf, etwas wie ein Rätsel gestellt – unbewusst, doch Nicklas liebte Riev dafür, denn sein Zwang, zu rational sein zu müssen, hatte ihn Kraft gekostet. Von irgendwoher musste ja eine Korrektur kommen!

Nicklas hatte Riev drei Jahre lang am Rande des Wahnsinns festgehalten und nicht fallen gelassen. Zudem hatte er ihn in einem beachtlichen Zustand erhalten, ja sogar sehr gefördert. Da war eine Kraft, eine Entwicklung, die der Jugendliche nie so eindeutig erkannt oder hinterfragt hatte.
Doch Nicklas musste sich erklären können, wie es möglich war, jemanden mit dieser Vergangenheit und mit Gedächtnisverlust, bei einem solchen Leben, so sensibel, belehrbar, stark im Ausdruck und in seiner Gefühlswelt der Liebe zugewandt, nicht nur zu stabilisieren, sondern auch entwicklungsfähig zu halten. Waren da nicht mehr Gefühle im Spiel als der Verstand als Logik zuließ? War diese Frage paradox? Oder vermochten die Gespräche der beiden, Gefühle und Verstand beinahe ideal zu verflechten?
Im Grunde war Riev eine „Antwort“ und das „Ergebnis“, dessen Ursprung an einem „Ort“ lag, der Nicklas erklärte, was Riev ihm da mitteilte. Davor war er wirklich in verstörenden Zuständen gehalten worden. Es war wahrlich ein Wunder, dass Riev ein Mensch bei Verstand war, der sich sogar die richtigen Prioritäten, im Anbetracht seiner Verfassung, gesetzt hatte. Und nun hatte ihn dieser Traum aus dem Vergessen „gekickt“. Er fragte sich, ohne sich dessen klar
zu sein, ob er das gut oder schlecht finden sollte.
Nicklas sah das und beruhigte zuerst sich und dann Riev.
„Es wird sich alles fügen. Du..., auch ich, wir müssen unsere Abgründe nur so lange absuchen, bis …, bis das Licht hinter dem Horizont endlich eingreift.“
Sein üblicher Hauch an Arroganz war nicht völlig aus seiner Miene gewichen. Gerade so schaffte er es, Beständigkeit zu vermitteln.

Riev war darüber erfreut. Denn das hieß, dass alles so war, wie er es kannte. Denn er war sehr ins Wanken geraten, was bei ihm eine Katastrophe hätte auslösen können. Doch da Nicklas das sah und enorme Macht hatte, konnte er gegensteuern.

Nicklas war ebenfalls erleichtert und sie blickten sich wie Brüder an. „Du musst nun bald wieder da runter. Ich denke an dich und bin auf deiner Seite. Viel Erfolg bei Glory, Riev! Wenn du es so machst, wie es dir gegeben wurde, bleibt dir nichts verschlossen, was du ersehnst. Du hast schon bemerkt, dass die Wirklichkeit eine dehnbare Gummizelle ist, nicht wahr?!“
Nicklas lehnte sich zurück und schaute sich im Luftschiff um. Seinem Blick nach zu urteilen, war darin alles in Ordnung, überlegte Riev. Doch er war sich nicht sicher, was das betraf.

„Danke Nicklas!“ Riev sprang hinaus.

Rauschen, Luftwirbel und eine Landung.


Bei Glory und Mira…

Es war eine saubere und recht schön eingerichtete Wohnung. Sie hatte eine neue Einbauküche und ein großflächiges Wohnzimmer, in dem Glory und Mira saßen. Sie befanden sich am Glastisch, um den zur Hälfte eine mit grauem Kunstleder überzogene Sitzgarnitur verlief, auf der die Mädels saßen und einige Kleidungsstücke herumlagen. Dazwischen auch zur Garnitur passende Polster.
Die Fenster waren groß, verstärkt mit Insektengitter, und schauten auf einen kleinen Balkon. Es war eine helle, moderne und schöne Wohnung. Glorys und Miras Eltern konnten sich das problemlos leisten. Ihre Töchter machten in der Schule gute Fortschritte und schafften es, ihren etwas undisziplinierten Lebenswandel zu verschleiern. Sie hatten es unter Kontrolle. Nur Mira feierte in letzter Zeit etwas mehr.
Glory erledigte am Laptop etwas für die Schule, es ging um Psychologie, während Mira sich summend pflegte.
Sie hatten auch eine gläserne Flügeltür, die über den Balkon in Richtung des Parks gegenüber gerichtet war. Manchmal war da zwischen den Nebelschleiern eine Aussicht in den Park, wo sich unterschiedlichste Leute herumtrieben. Es war die ideale Innenstadt- Neubauwohnung für Schüler, aber auch für Studenten, die öfter mal zusammensaßen und dann Softdrinks, Sekt, Wein oder Spirituosen vor dem breiten Fernseher tranken, Musik hörten, Videospiele zockten oder einfach nur abhingen.
Glory war eben dabei, ein Referat vorzubereiten. Sie war sehr konzentriert, was ihr in letzter Zeit nicht mehr so leichtfiel. Mira, die mit ihr zusammenwohnte, hatte ihre eigene Art der Beschäftigung.

Es waren beides hübsche Mädchen, die gerne ausgingen. Glory war von beiden etwas tiefsinniger, und vor allem hatte sie eine große, unausgesprochene Fantasie, über die sie noch keinen Gesprächspartner gefunden hatte und sich deswegen manchmal traurig fühlte.
Mira war etwas kleiner als Glory und bemühte sich sehr um ihr Aussehen. Auch wenn sie optisch interessant war und das zu betonen wusste, war sie keine klassische Schönheit. Glory schon eher und hatte was Bezauberndes, gab jedoch nicht so viel darauf, sondern ließ ihre lockigen Haare fallen, wie sie es eben taten. Dennoch strahlte sie wie ein Wesen, eine Elfe, aus Poets Illustrationen.
Mira lackierte sich eben die Fingernägel schwarz. Sanft im Hintergrund lief melodiöse Gitarrenmusik. Die Stimmung war locker, vielleicht unschuldig, vielleicht aber auch mit einer sanft nostalgischen Herbsttönung.
Ein typischer Montag, hatte sich bis in den langsam vergehenden Nachmittag vorgearbeitet.

„Glory?“, stupste Mira ihre Freundin an und forderte deutlich Aufmerksamkeit.

Glory murrte etwas genervt, schrieb einen Satz fertig und wandte sich dann ihrer Freundin zu.
„Was gibt es, Mira?“ Ihr Ton war gespielt entnervt.

„Ich habe neue Leute kennengelernt. Die sind wirklich speziell“, begann die etwas kleinere und frech gestylte Schülerin und arbeitete daran, dass Glory ihr endlich die nötige Aufmerksamkeit schenkte, während die sich aber wieder den schulischen Belangen zugewandt hatte. Musste ja auch fertig werden.
Psychologie war wenigstens etwas interessant, auch wenn sie ihr sehr unvollständig und lückenhaft erschien.

Es vergingen einige Minuten.
„Fuck, Mira! Ich muss das heute fertig bekommen. Ich bin spät dran. Mira, fast schon zu spät“, nörgelte Glory, als Mira ihr ein Kissen hinwarf, nachdem die Fingernägel trocken waren.

„Wie wäre es, wenn wir ein kleines Treffen hier steigen lassen? Freitags oder so?“

Glory überlegte, lächelte so, als wäre sie schon überredet und fragte Mira dann:
„Aber wen willst du denn einladen? Was sind das für Leute, die du kennst?“

Mira erwiderte dieses Lächeln, überraschte Glory dann aber doch: „Ich habe ja letztens Clemsis mitgebracht. Er hat eine kleine Clique. Die sind irgendwie etwas … im Emo - Stil, aber sonst bei den Beliebten dabei, weil sie einfach lässig drauf sind. Clemsis hat etwas angedeutet. Es war zwar etwas verworren, doch gerade das machte mich scharf darauf, es zu erfahren, was dahintersteckt.“

„Du bist bloß schon lange ohne, was?!“ stichelte Glory.

„Das sagt die Richtige. Wer ist denn die Prinzessin von uns beiden, die auf ihren Prinzen wartet?!“
Mira war gemein, aber sie hatte durchaus auch für Glory Pläne. Die Frage war, ob sie es gut meinte.

Glory spielte etwas überheblich die leicht Gekränkte und wandte sich sofort augenscheinlich wieder ihren Hausaufgaben zu. In Wirklichkeit hatte sie den Köder fast schon geschluckt, was sie Mira Sabrin durch einen Blick auch bemerken ließ. So spielte diese weiter ihre Karten aus.
Mira war im Grunde immer die Zweite hinter Glory gewesen. Doch wenn sie dafür sorgte, dass interessante Leute hier aufkreuzten, durfte sie gerne mal das Ruder unausgesprochen in die Hand nehmen. Sie öffnete eine Flasche Sekt und schenkte zwei Gläser ein.

„Prinzessin!“, lockte sie wieder.

„Du bist seltsam, Mira. Hast du überhaupt das letzte Wochenende schon überwunden?!“

Glory wollte damit Mira bloß aufziehen, aber dabei fiel ihrer Freundin etwas ein. Sie sah einen Jungen vor sich, es war zwar etwas verschwommen, doch sie hatte bemerkt, wie ein etwas abgerissener Typ auf ihre Freundin gestarrt hatte. Dann kam sein Gesicht wieder aus der Vergessenheit hervor – wieder hatte er Glory deutlich im Blick gehabt.

Sie wollte das erwähnen, doch da fiel Glory dazwischen: „Machen wir die Party doch morgen oder übermorgen. Dann habe ich das Referat hinter mir und eine Weile weniger Stress!“

Das brachte Mira auf andere Gedanken und Rievs türkise Augen versickerten vorerst in einem Gewimmel an postalkoholischen Unsicherheiten. Außerdem war am Samstag Mira Sabrin eifersüchtig gewesen. Riev war für Frauen interessant, was er einerseits nicht wusste, und andererseits interessierte ihn ja nur Glory.
Nur was tat er plötzlich in Miras Erinnerungen? Eine geistige Dissonanz kündigte sich bei dieser Konstellation an.
Er war ihr aber als unheimlich immer noch in ihren Gedanken. Neben unheimlich war er aber auch gutaussehend, was längst noch nicht verzieh, dass er bloß Glory so unverfroren angegafft hatte. Mira hatte diesen Gedanken griffbereit.
Gut, dass da noch einige Gleichwertige – soweit es sie betraf – auch in ihrem unsteten Geist herumspukten.

Doch diese türkisen Augen! Hatten die nicht geleuchtet? Mira hatte mehr als einen Schwips gehabt, doch Rievs reiner Blick stach irgendwie aus dem Durcheinander hervor.

Beinahe sah er Glory durch Miras Gedanken, die ihn näherzogen.
Der Nebel erhob wieder sein Geflüster, Riev spürte etwas und schon waren seine Gedanken bei Glory. So einfach waren geistige Konstellationen, wenn Gefühle im Spiel waren.

Es war nicht so, dass er Mira selbst nicht als interessant erschienen war, und zisch: Da war er wieder in ihren Gedanken. Sie war etwas unsicher, was das betraf und schaute Glory aus den Augenwinkeln an. Warum immer sie?! Dennoch würde sie es ihr in den nächsten Tagen sagen. Spätestens, wenn Riev sich irgendwo blicken ließ.

Glory sah für wenige Augenblicke Riev vor sich, dann zerbröckelte diese Vorstellung wieder. Jedoch nur vorübergehend, denn die Verbindung war schon längst vorbereitet worden.

In diesem Moment beschloss Mira Sabrin instinktiv, den Jungen mit den türkisen Augen auf Abstand zu halten.
Ein selbstsüchtiger Gedanke, doch er rief sein trauriges, doch starkes Gesicht erneut zu Glory, wobei sich alles unter einer gewissen Abdeckung unscharf darstellte, es war nicht so direkt, wie es klang. Dennoch kam Glorys Fantasie hier zum Vorschein und erwies sich als Kraft, die den Nebel zur anonymen Flüchtigkeit in Bezug auf Rievs Anblick mehr und mehr löste. War das ein Weg?
Glory durfte nicht an ihn heran!
Je mehr Mira das wollte, desto größer wurde aber die Verbindung.
Mira bewirkte das Gegenteil von dem, was sie versuchte – sehr oft, wenn es diese Sache betraf. Die Dinge entwickelten sich zu etwas, von dem noch niemand der Beteiligten wusste.

Dunkle Wolken schoben sich durch das Bewusstsein dieses siebzehn Jahre alten Mädchens Mira. Doch es war nicht sie alleine.

Nachtgard 6

Blutregen

Es war Dienstag. Riev hing mit einer enorm miesen Laune im Strösselpark herum und umklammerte seinen Körper vor lauter Kälte.
Es war hart, doch ein Leben auf der Straße hatte auch den Vorteil einer prinzipiellen Freiheit. Nun war er verkatert, und das konnte dieser Freiheit das Fundament entziehen.

In der vergangenen Nacht hatte sich Riev mit einem Paar im „Proberaum“ die Kante gegeben. Ein großgewachsener Typ Mitte dreißig war zwar auch in der Runde gesessen, doch er war auf irgendeinem starken Halluzinogen, hatte nur ins Leere gestarrt und war offensichtlich in einem angenehmen Trip unterwegs gewesen. Sein andauerndes Lächeln und die erweiterten Pupillen, die aufgeregte, aber dennoch gleichmäßige Atmung und hin und wieder ein weniger dezenter, fast stupider Lacher hatten sogar Riev angesteckt, ab und zu dahinzukichern.
Riev hätte sehr gerne auch am Trip teilgenommen, doch bei ihm kamen dabei erfahrungsgemäß die entsetzlichsten, dunklen Horrorvisionen zutage.
Bei seinen, für ihn wahren, unvermeidbaren Visionen und Träumen, handelte es sich nicht um künstliche psychedelische Spaziergänge. Sie waren unvermeidbar mit seinem Leben auf der Straße verwachsen.
So waren es Alkohol, Opiate und etwas Speed gewesen, die er sich mit dem Paar geteilt hatte.
Das Paar, mit dem Riev ein längeres Gespräch geführt hatte, war recht ungleich gewesen, was das Alter betraf. Die Kleine war gerade mal fünfzehn oder sechzehn, und der Typ mit einem abgetragenen Outfit war einige Jahre älter als Riev gewesen – er hatte es vergessen, obwohl er immer wieder Erinnerungsfetzen vor Augen hatte.
Romana und Jeff waren ihre Namen gewesen, soweit sich Riev nun noch erinnern konnte. Das Mädchen war aus einem reichen Elternhaus abgehauen, hatte ihre Ausbildung in einer Handelsakademie abgebrochen und zog nun mit Jeff, der mit fünfzehn Jahren aus dem Elternhaus gejagt worden war, in der Stadt herum, und sie verschleuderten das bisschen Geld, das sie hatten, so ähnlich wie es Riev tat.
Doch ihre Naivität hatte Riev ein Gefühl des Unbehagens vermittelt. Er war empathisch und kannte Mitgefühl und musste sich so immer wieder vorstellen, in deren Lage zu sein und keinen Schimmer zu haben, wie Nachtgard wirklich funktionierte.
Und da war immer dieser Gedanke gewesen, dass die beiden sterben würden - er sah die schlichten Grabsteine förmlich vor sich - da sie auf Heroin und das zu unvorsichtig waren. Riev hatte auch immer wieder ihre toten Körper vor Augen, wie man sie einfach in zwei Löcher nebeneinander warf; gestorben an ihrer leichtfertigen Träumerei, eines Tages einmal alles besser zu machen.
Sie waren noch gerade so weit gewesen, dass die richtigen Worte vielleicht etwas hätten bewirken können. Doch Riev hatte nichts dazu gesagt, da er wie paralysiert in einem Loch gewesen war, wo lediglich die Rauschmittel geholfen hatten. Er hatte gespürt, wie die Drogen, wie die Erinnerung an den „Griff des Kriegers“, ihm alleine die Kraft gegeben hatten, überhaupt mit ihnen zu sprechen.
Und als er auf Romana und Jeff den Abgrund zukommen gesehen hatte, war er nun davon überzeugt, dass nur noch ein Wunder sein eigenes letztendliches Scheitern verhindern konnte. Alle guten Ansätze und Gedanken, die ihn selbst angingen, so wie er es sich erwünschte, waren so fern wie Nicklas` Luftschiff, sie waren so gut wie unerreichbar.
Er sah auch Glory nur ganz blass vor sich. Auch sie sah so … tot aus. Und der Kerl auf Trip hatte dazu einen ironischen Lacher abgegeben, so als sei er ein dämlicher Scherge des Verkünders der Todesstrafen, der mit strenger, nein, gnadenloser und unbeugsamer Miene, jedermanns Augen fixierte, den er verurteilte – einen nach dem anderen.
Riev hatte das so gesehen und die Erinnerungen daran stachen ihm Löcher in sein Herz. Trotzdem hatte er Probleme, zu unterscheiden, was nun zusammengebastelte Illusionen waren und was man als realistisch einordnen konnte.

Und der Frost fuhr ohne Gnade, wie der Verkünder des Todes, durch ihn.
Das war´s!
Er musste sich mit Schmerzen auf den Boden der Tatsachen zurückrufen.
Konzentration – noch ein kleiner Moment …

Er saß jetzt auf der Parkbank mit Blick zu Glorys Schule und fragte sich, wozu er sich das alles antat.

Seine Depressionen raubten ihm in diesen Stunden die Libido mit all ihren philosophisch ergründeten Facetten. Medizinisch wurde dieser Teil des Bewusstseins ja – so wie es der geistlose Mensch auch wahrnahm - auf den Sexualtrieb reduziert, wie bei Tieren eben. Aber das Bewusstsein war etwas, worin diese Energie ganze Regionen bestimmte, ja das Leben selbst war, und Riev nannte das, was man als Libido bezeichnete, ohne Umwege „Liebe“ und das Erhalten von Leben mit seiner möglichen Schönheit.
Dieser Auffassung nach war es nicht so einfach, mit Gehirnchemie einem die Lust zu verderben und die Sehnsucht nach etwas, was ins Spirituelle ging, mit körperlicher Launenhaftigkeit zu vertreiben.
Liebe war nicht chemisch. Über zahllose Ebenen des Daseins erstreckte sie sich. Das war Riev klar, so bitter er sich auch an die Schwächen seines Körpers gefesselt sah.
Libido - Liebe, die kreative Kraft, Fantasie und der Drang, eine Familie und die Menschheit als Ganzes weiterhin aufrechtzuerhalten - auch wenn er meistens durch eine gläserne Wand zu ihr durchblickte, verstand er sie so.
Riev war wahrlich hart geprüft.
Die Wege seines Geistes, das Timing seines Schicksals und schlicht der geschwächte Leib stachen weiterhin gemein auf seinen lebendigen Kern ein und drohten sich sehr bald bei Riev so richtig breitzumachen.
Er war düster und negativ geladen, spürte immer noch etwas herbeiziehen, was einen Menschen betraf, den er nicht nur mit seinem Gemächt liebte, sondern zu dem, zu IHR, auch tiefe Bande im Unsichtbaren von ihm ausgingen.
Sie? Na, sie kannte ihn nicht so, wie man jemanden aus der Welt kannte. Es war immer noch im Verborgenen, was in Glorys Seele vom selben Plan des Schicksals bewegt wurde, wie Rievs Gefühle es schon lange taten, doch das er nicht so deutlich sah, wie es nun nötig gewesen wäre.
Er, der sie stakte, wusste viel über sie, und er war immer wieder daran, dieses Wissen zu erweitern. Doch nun war da eine schwarze Nebelschicht, die ihn verwirrte und seinen innigsten Wunsch hässlich ernüchterte.

Er musste mit Gewalt etwas verändern …

Er betrachtete eine Zeit lang seinen entblößten linken Unterarm und sah die vielen Schnitte, die er sich bereits zugefügt hatte. Da waren auch einige sichtbare, kleine Einstichlöcher von Spritzen, die er sich ebenfalls selbst gesetzt hatte, als er sich in den eiskalten Tiefen des schwarzen Universums hinter seinen verschlossenen Augen zu verlieren drohte.
Eine Anzahl an Tentakeln aus purem Schwarz langte durch Lichtjahre an Unsicherheit und einem Gefängnis ohne Wände. Es ging in jede Richtung einfach nur weiter. Dies alles in ihm! Um ihn?

Mit grimmigem Blick und mit Hass auf Nachtgard und sich selbst, griff er nach einer Kette, von denen er mehrere um seinen Hals hängen hatte – silberne billige Ketten. Auf dieser waren einige metallene Verzierungen. Da war auch eine Rasierklinge daran befestigt!
Aus einer richtungslosen Ferne rief da eine Stimme: „Nein, Riev, nicht! Verletze dich bitte nicht noch mehr!“
Doch er war gewillt, die Sinnlosigkeit seines momentanen Lebens mit Schmerzen entweder zu blenden oder zu wecken. Doch der Traum war am Ende. Vielleicht wollte er sterben.
Dieser Ruf ging an ihm vorbei. Er ritzte erst einen kleinen Schnitt in die Haut. Etwas Blut kam hervor, nicht viel.
ZU WENIG!!!
Er war immer noch nicht zufrieden. Seine Seele kratzte so.
Dann Tränen, von Schwermut hervorgehetzt! Ihre Gewichte waren in der ganzen Stadt und überall in seinem Herzen … verbreitet ...
Er fügte sich einen weiteren Schnitt zu und beobachtete, wie das Blut hervorquoll. Es war warm und dunkelrot. Er betrachte den Arm noch immer, war dabei, sich zu etwas zu überreden.
Sein Blick wurde noch grimmiger, er drückte die Klinge wieder in seine Haut, dann durch ins Fleisch. Der Druck hatte mehr Blut verursacht, es dampfte.

Plötzlich ein Knarren in der Dunkelheit.

Er dämpfte schließlich seine Zigarette im Blut aus. Ein Schmerz, der ihm egal war, mit verweinten Augen starrte er einen Moment zurück in diese Dunkelheit. Sie war weg!
Er hatte das, was für die meisten Menschen unverständlich war, aus persönlichen Abwegen heraus gebraucht. Es waren seine nächsten Gefühle und niemand wusste es.
Aber was hatte er da wirklich getan? Er stellte sich diese Frage immer wieder, wenn der Kick vorbei war. Der Masochismus war keine tatsächliche Eigenschaft von ihm. Er weinte mehr in sich hinein, doch er schluchzte auch laut auf.

Und es führte ihn irgendein Impuls dazu, zur Schule zu blicken, und da stand eine Schülerin der Oberstufe. Sie hatte ihn beobachtet! Er wusste nicht, wie lange schon, doch sie sah ihn unverwandt an, und da war ihr noch ein Zwiespalt ins Gesicht geschrieben, der unerklärlich an ihm rüttelte. Sie hauchte mit einem erschrocken Stoß warmen Dampf in die Kälte.

Wer war das?
Was dachte dieses Mädchen, diese Schülerin?! Wer war das, verdammt?
War da Mitgefühl? Meinte sie es gut und wusste nur nicht, wie man in einer solchen Situation reagierte?
Riev starrte sie erschrocken an, während noch etwas Blut auf die Stahlkappen seiner hohen Schnürschuhe tropfte
Erneut kam aus den Mündern der beiden Dampf, durch eine unregelmäßige Atmung intensiviert, heraus.
Riev starrte, wie von einem Pfeil getroffen, in ihre Richtung. Er fluchte innerlich, dann erhob er sich und torkelte auf schwachen Beinen fort von der Bank.
Das Mädchen sah ihm noch nach, und erst als er sich erneut kurz umdrehte, setzte auch sie ihren Weg fort.

Es war Mira Sabrin gewesen. Sie war vorgespielt kränklich aus der Schule gekommen. Eigentlich wollte sie durch den Park. Doch nun hatte sie sich anders entschieden.

„Was denkt sie, verdammt?!“ Riev wusste natürlich, wer sie war. Nun hatte sie sein Gesicht so gut wie aus nächster Nähe erblickt.
„Scheiße, verdammte Scheiße! Wie soll das jetzt was werden? So etwas macht nicht gerade einen guten Eindruck! Sie, … sie wird es Glory erzählen, wenn ich mich ihr nähere. Wenn sie mich dann irgendwann einmal beide sehen, wird Mira alles verraten, was sie jetzt gesehen hat. Vermutlich noch etwas dazu erfinden“. So war sie. Riev sah Menschen manchmal deutlicher als es gut war.
Riev hatte dazu noch ausreichend Erfahrung, um so etwas zu wissen.

Er weinte und warf die Rasierklinge in die Schwarzperle, als er an ihr vorbeikam. Am liebsten wäre er selbst gesprungen. Doch ihm war schon kalt genug. Es würde kein gutes Ende nehmen, wenn er sich jetzt zu einer verzweifelten Tat hinreißen ließ. Doch sein Leben, wie er es in seiner Fantasie geplant hatte, war nun vorüber.
Glory war ferner denn je.

„Wie geht es jetzt weiter? Ich muss vorsichtig sein, mir was einfallen lassen!“, zischte er bitter.
„Töte Mira!“, hörte er eine Stimme in seinem Kopf. Er hielt inne und sein Herz raste immer schneller. Er fühlte plötzlich Stärke und Zorn. Er lachte kurz lautlos.
„Was?!“ Er horchte verängstigt in sich. Er wusste, dass da niemand war.
Zumindest kein Mensch.

Flüstern.

Sein Atem wurde immer schneller. Als er weiterging, sah er das Mädchen, Glorys beste Freundin, durch die Bäume und Büsche. Doch sie stand mit dem Rücken zu ihm und wartete an einer Kreuzung nahe des Parks.

Er begann die Kontrolle zu verlieren und tauchte in eine ausgewachsene Irrationalität ein.
„Ich muss mit ihr reden. Vielleicht erzähle ich ihr alles. Nein, verdammt, ich kann doch so nicht vor einer sauberen Schülerin auftauchen und ihr mein Herz ausschütten, ihr klar machen, dass ich auf ihre beste Freundin stehe …, sie liebe, doch noch nie mit ihr gesprochen habe. Das ist doch ……… VERRÜCKT!“

Riev fiel auf die Knie und blickte auf seine Hände, dann hob er flehend sein Gesicht gen Himmel und schaute einige Momente nach oben, sank dann zusammen und verlor den Bezug zum Hier und Jetzt.
„Ist da etwas, jemand, der mich liebt? Ist irgendwo auf dieser Welt jemand, der mich versteht und mir Liebe entgegenbringen kann? GIBT ES JEMANDEN?!“
Er vergaß sich und schrie. Seine Stimme brach und überschlug sich. Es war bloß ein Atemzug, doch der zog sich in die Länge.
Vögel flatterten davon. Da waren Leute, die ihr Gesicht vom Bürgersteig irritiert auf ihn richteten, dann schnell wieder den Boden fixierten.
Der Schrei verlor sich.
Plötzlich erschrak er und kam zu sich, sammelte sich schnell wieder und blickte hastig und keuchend in die Richtung, in der er Mira zuletzt gesehen hatte.
Erleichterung: Sie hatte die Straße schon überquert und sein verzweifelter Ausbruch war im Lärm des Autoverkehrs untergegangen. Da war nirgendwo jemand. Zumindest erblickte er niemanden. Wie immer hatte diese Stadt seinen Hilferuf aufgesogen.
Doch konnte man jemandem den Mund verschließen, wenn er im tiefsten Abgrund gefangen, um Erlösung flehte? Dies alles in einen Schrei steckte, der nur scheinbar ohne jeden Sinn die Ruhe zerborsten hatte?

Die kahlen Bäume starrten ihn an. Vereinzelt fiel ein dürres Blatt von ihnen zum schmutzigen Boden, auf dem Riev immer noch kniete.
Was denken Bäume in einer solchen Situation?

Es war kein Schrei ins Nichts!

Mindestens eine gute Seele hatte den Jungen beobachtet. Mindestens diese eine. Joschuan, der weise Vagabund, hatte ALLES beobachtet und die Gefühle in Rievs Ausbruch vernommen und verstanden.
Er wollte Riev Trost spenden und ihn in Sicherheit bringen. Weit mehr als das: Sein endgültiger Eingriff in Riev Risenbachs Leben begann spätestens jetzt, war etwas Gewisses.
Er steuerte auf ihn zu.
Wie ein Engel war er genau im rechten Augenblick aufgetaucht, als Riev mental in die Enge getrieben worden war. Er konnte Glory nicht mehr nahekommen! Ihre Freundin und Mitbewohnerin hatte ihm bei etwas Scheußlichem zugeschaut, das besser nie geschehen wäre!
Oh, warum nur?!
Er war nun durch den Blick Miras endgültig stigmatisiert. Diese Narbe an seinem Arm konnte er nicht mehr verbergen – niemals. Mira war die Freundin des Mädchens, das er so unheimlich liebte, das Mädchen, das ihn jederzeit erkennen konnte, wenn er Glorys Nähe aufsuchte und sich in einem gewissen Umkreis blicken ließ! Nun war er keine blasse Erinnerung mehr.
Sie kannte nun nicht nur sein sensibles, schmerzverzerrtes Gesicht mit den türkisen, schimmernden Augen, sondern Mira hatte beobachtet, wie er sich selbst verletzte und dies mit voller Absicht.
Er sah noch ihre schockierten Augen vor sich und knickte erneut in sich zusammen. Er hasste Mira, und zugleich sträubte er sich dagegen, so als entglitte ihm sein Verhalten, während er panisch danach griff. Selbst wenn es ein Stacheldraht gewesen wäre, hätte er allein damit aus dieser Lage klettern müssen. Dieses Bild jagte einen Schauder durch ihn.

Die Rathausuhr schlug neun Uhr Vormittag.
„Riev! Komm steh auf, bitte!“

Riev erschrak nicht, doch er war verwundert. Der angenehme ältere Mann, der einem mit dem Klang seiner sanften Stimme Frieden gab, mit dem Schein seines verstehenden Blickes beruhigte, aber auch verständnisvoll empfing, wenn man es zuließ – nur so weit man es brauchte - war plötzlich da und half dem Jungen auf die Beine.
Er blickte voll Anteilnahme, aber nicht sorgenvoll, als er Riev wieder dazu
brachte, sich zu besinnen.
Gut platzierte Worte und Berührungen erfüllten, was der im Ganzen leuchtende Mann ausstrahlte.
Er vermittelte den Eindruck, als wüsste er schon das Nötige, als bräuchte man ihm nichts mehr zu erklären. Riev fühlte, wie er ihm mit jeder Bewegung half, die Last zu tragen, die auf ihn drückte und quälte.

Was Riev betraf, so kniete der Junge, mit der Welt auf den Schultern, in der Kluft zwischen Lebendigkeit und letzter Resignation, in einer schmutzigen Lache.
Der helfende Mann hob mit beiden Händen und Armen an der Last mit an, und ließ sie für Riev spürbar leichter werden, wenn er sie auch nicht völlig wegnehmen konnte.
Joschuan versorgte und reinigte Riev, soweit es hier und nun möglich war, von seinem Schmerz und den leichten Verletzungen, die er sich bestimmt nicht nur alleine zugefügt hatte.
Eine neblige, grausame Stadt hatte ihn dort geschwächt, wo es an Stärke gefehlt hatte, seinen Körper als Geschenk anzuerkennen.
Dem Mann war auch das nicht entgangen, er war weit weg davon, Riev zu verurteilen. Er war bei ihm und half.

Joschuan redete einfühlsam und ließ Riev ausreichend Zeit, seinen aufgewühlten Geist aus dem Sturm treten zu lassen. Ja, Joschuan war wie ein Engel über Riev gekommen!
Als Riev sich wieder gefunden hatte, begrüßte Joschuan ihn und wies mit Vertrauen erweckender Stimme darauf hin, wer er war. Doch der Junge konnte sich noch gut an ihre erste Begegnung erinnern.
Der Mann lud Riev auf ein Bier, oder was auch immer, ein. Dort gleich um die Ecke war eine kleine Kneipe.
Riev kannte sie gar nicht. Sie war gemütlich eingerichtet. Die Tische waren genau so weit voneinander entfernt, wie es für ein ungestörtes Gespräch perfekt war. Man konnte reden, ohne dass einen das Geschwätz vom Nebentisch ablenkte, oder jemand einen belauschte, wenn ihm langweilig war.
Dazu trug auch die gut ausgewählte Musik bei. Kein Geplapper aus dem Radio, sondern ein Sampler mit guten Liedern. Das untermalte das Gespräch, das die beiden führten. Auch die Lichtverhältnisse sorgten dafür, dass Riev sich aufgehoben fühlte.
Alles war so, wie der Jugendliche es mochte. So konnte er verarbeiten, was eben geschehen war, ehe es in sein Unterbewusstsein zu tief eindringen konnte, und er konnte es so mit gemächlicher Fassung ertragen.
Riev und Joschuan kannten sich ja bereits, und soweit es Joschuan betraf, war es schwierig, sich seiner Menschenkenntnis zu entziehen. Auch Riev hatte diese Stärke.

„Du bist dir schon im Klaren, dass das mit dem Nachstellen des Mädchens nun ein Ende haben muss?!“, begann Joschuan, als sie einige Minuten schweigend dagesessen waren. Riev fühlte sich dem Mann verbunden und vertraute ihm. Er schien ohnehin schon einiges zu wissen.
Wenn man zusammenhielt, war man stärker als der Schmerz, und in diesen Umgang wollte Joschuan Riev miteinbeziehen.

„Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht weiter. Ich weiß, dass solch ein Benehmen verboten ist, doch ich habe nur diese Art der Verbindung zu ihr“, sagte Riev.

Da der Mann, Joschuan, selbst ohne beständige Heimat war, weite Kreise zog und fortwährend viel Erfahrung sammelte, sah er Riev als die Person, die als brüderlicher Freund zu jemandem passte, der alleine lebte und ausreichend Platz für einen Mitbewohner haben würde. Zudem war nicht nur dessen Heim als Ort wie geschaffen, sondern der weise Vagabund sah, wie sich Linien kreuzten, deren Aufeinandertreffen auf tiefgreifender Ebene einer höheren Ordnung entsprach.
Denn sein Freund, den er aus einer gut verschleierten Bruderschaft kannte, wusste es vielleicht nicht, doch er brauchte einen Schüler, Freund und Kameraden, der mit ihm mehr gemeinsam hatte, als es im ersten Moment erschien. Dieser Bruder war eine zentrale Figur für die, die etwas Bestimmtes erwarteten. Zudem verbanden sich hier persönliche und ideologische Gemeinsamkeiten.

Dieser Bruder im Geiste, an den Joschuan dachte, hatte ebenso wegen einer Frau eine wunde Stelle im Herzen und wäre erhaben genug, in Riev einen Menschen zu erkennen, der nicht bloß aus Schwächen bestand, sondern dort das Licht in ihm sah, wo es noch gar nicht leuchtete.
Joschuan war zwar ein weiser Mann, aber er war ruhig und ein Berater in der zweiten Reihe, mehr wollte er nicht, hatte aber dennoch großen Einfluss auf ganz Nachtgard.

Dieser Freund Joschuans hatte schließlich im beständigen Nebel Nachtgards einen Bund, eine Bruderschaft, geschaffen. Diese Bruderschaft bildete sich von selbst, und auch hier ging ein Tor auf, dessen lautes Knarren man nicht überhören durfte, so zerstört Riev momentan auch wirkte: Er war einer jener, die auf „unsichtbaren Pfaden“ wandelten …

Es waren nicht viele, die in dieser Bruderschaft vereint waren. Es waren die innersten Personen, die man als die „Einsamen“ kannte. Sie fanden sich schließlich und die Einsamkeit war zu Ende.

Joschuan hatte sein Leben in den Dienst der Freiheit gestellt.
Man erkannte diese verborgenen Brüder und Schwestern womöglich am Vertrauen in das Außergewöhnliche dieser Stadt, und es ging noch weiter.
Auch wenn Joschuan hier jetzt für Rievs Wohl im Einsatz war, hatte er dessen zukünftige Möglichkeiten, für ihre Gemeinschaft zu kämpfen, auch im Sinne und wäre offen dazu gestanden, falls Riev gefragt hätte, worum es nun wirklich ging.
Diese Bruderschaft, die Bruderschaft der „Nebelkinder“, ruhte ohnedies auf einem Zusammenhalt, der sagenhaft war und auf Offenheit in Diskretion aufbaute. Was nötig war, wurde ausgesprochen.

Zum Thema Glory war sich Riev jetzt unsicher, aber er blieb mutig.
„Ich muss bloß vorsichtiger werden, ich kann nicht aufhören, sie zu geleiten, denn …“

Joschuan unterbrach ihn.
„Riev! Gib jetzt besonders acht auf dich! Das Tor, das dir in diesem Moment offensteht, kann dein Leben in Ordnung bringen – für dich UND zu Gunsten aller Menschen in ... Nachtgard. Frag mich jetzt nicht warum, aber übe dich, was Glory betrifft, in Geduld. Was werden soll, wird werden. Und wie man es auch sieht oder ausdrückt, es ist bestimmt nicht im Sinne des Mädchens, das du liebst, wenn du ihr heimlich nachstellst. Vergiss nicht, was vor etwa einer Viertelstunde geschehen ist! Vergiss nicht, was dich schon so lange quält!“

Joschuan wandte sich hier als Freund in innigster Treue an Riev, obwohl sie sich noch nicht so lange kannten.
Er wollte ausschließen, dass der potentielle neue und über alle Maßen wichtige Bruder sich in den unerforschten Wirrnissen verlor, die sich im Nebel verbargen und als problematische Lebensumstände ihre Macht zeigten. Denn wenn man zu viel Schwäche walten ließ, war man alleine. Dies galt aber eher für böses Handeln, wogegen Riev zwar nicht immun war, aber es entsprach nicht seiner Natur, Böses zu tun.
Riev sah es daher ein, womit er seiner geistigen Gesundheit mehr Gutes tat, als er es erahnte.
Joschuan spürte diese nicht erlernte Vernunft, die Riev vermutlich zu dem machte, der er vielleicht wirklich war. Es wäre aber noch zu früh gewesen, es als eine erfüllte mythologische Vorhersehung zu feiern.
Doch er beschloss, alles daran zu setzen, Rievs tragischen Lebensweg zu etwas Erfreulichem zu wandeln. Die Frage war nur, ob die Vermutung mit dem Offensichtlichem in Einklang zu bringen war.

Eher NICHT.
Riev war sichtlich ungepflegt und er verletzte sich gewohnheitsmäßig selbst. Er trank und konsumierte Drogen, mehr als es gut für ihn war.
Doch dies alles tat er wegen seiner seelischen Schmerzen. Er war nicht nur depressiv. Er hatte auch Neurosen und war alles in allem instabil – so lange er schon auf der Straße lebte.
Ganz dahinter stand eine finstere Verunreinigung in seinem Wesenskern, die durch unverarbeitete Tragödien verursacht worden war.

„Was, Joschuan, soll ich deiner Meinung nach tun? Wozu hältst du mich imstande und überhaupt: Wer sind WIR?!“

Der Vagabund bestellte noch zwei Flaschen Bier.
„Du musst weg von der Straße, Junge! Noch hast du deine Jugend. Aber das, was du heute machst, wird dich morgen aufsuchen, und mit Gewissheit sind unvernünftige, rein aus trotziger Emotion heraus bestehende Taten keine Grundlage für eine lebenswerte Zukunft. Tut mir leid, das sagen zu müssen: Aber du musst einen radikalen Wandel in Betracht ziehen und du wirst siegreich über dein Leben hinausschreiten. Wenn du an deinem Unglück festhältst, ist und bleibt es dein freier Wille …“, verkündete Joschuan mit Nachdruck.

Dann schwieg er wieder und lauschte in Rievs Geist. Rievs offensichtliche Gedanken, die voller Ängste und Unsicherheiten waren, stachen deutlich heraus. Und dann merkte Joschuan in der frohen Verwunderung einer erfüllten Hoffnung, dass der Junge Einsicht zeigte.
Riev war Joschuan plötzlich sehr dankbar.

Joschuan hatte für sein Leben so etwas wie ein kleines „Segelschiff“. Darauf fuhr er stets bei günstigem Wind. Doch seine Zugehörigkeit zu den „Nebelkindern“ war, wie er es jetzt für Riev war: Eine gutmütige Stimme, die auf den Weg der Vernunft hinwies und Möglichkeiten aufzeigte. Nicht jeder konnte bei diesem günstigen Wind durchs Leben gleiten. Man musste verstehen, was das Leben war, und dieses Wissen kam beim Handeln.
Die Bruderschaft der „Nebelkinder“ war ein Bund, der aus der Natur des Lichtes in Nachtgard entsprang. Jeder persönliche Schritt war zugleich die Erfüllung der Pflicht.

Nun, da dies alles so gekommen war, kündigte Joschuan etwas an:
„Ich werde dich jemandem vorstellen. Du bist ein weiser Junge, Riev. Du bist einer von uns, da bin ich mir sicher. Du wirst deine Erklärung erhalten. Diese Worte sprach ich noch nicht oft aus: Aber, du kannst die Welt verändern, weil du der bist, der du bist “.

Joschuan offenbarte dies Riev und ließ den Jungen erahnen, wovon er da sprach, doch schob er die genaue Unterweisung noch auf.

Die Person, die er Riev vorstellen wollte, war auch jemand Besonderes.
Doch Riev zweifelte verständlicherweise an sich selbst. Es war auch nicht anders zu erwarten: „Schau mich doch an. Ich bin ganz unten. Wo meinst du, gehöre ich schon dazu?!“

Riev pustete Rauch aus der Lunge und mit großen Schlucken würgte er das Bier runter. Dann sackte er demonstrativ zusammen. Auch wenn er den Geschmack von Bier hasste, brauchte er die Wirkung.
Zumindest in seiner jetzigen mentalen Situation war es ein willkommenes Zeug, mit dem man Stimmungen neutralisierte. Er hatte gar keine Wahl. Soweit verstand Joschuan den Jungen und hatte ihm daher keinen Tee aufgezwungen.

Solche Probleme löste man mit Strategie und Einfühlungsvermögen. Beides musste aber ehrlichen Ursprungs sein. Außerdem standen sie beide auf einer Ebene, falls sich Riev erwartungsgemäß als einer der wenigen erweisen sollte, die eine Eigenschaft teilten. Aber das interessierte Riev vorerst nur so weit, dass er schon immer nach jenen gesucht hatte, die ihn akzeptierten und als Freund annahmen.

„Was ist nun, Riev? Machen wir jetzt gleich einen kleinen Besuch bei einem Freund von mir?“, stellte Joschuan in den Raum.

„Von wem sprechen wir da?“

„Ich lasse ihn sich selbst vorstellen. Also?!“ Joschuan bedankte sich bei der Bedienung für die Getränke, es schien aber selbstverständlich zu sein, dass er nicht bezahlen musste.

Hätte Riev sich umgewandt, nachdem die beiden die Kneipe verlassen hatten, hätte er ein Gebäude erblickt, das dort verwahrlost und in sich zerfallen war, worin zuvor noch die gemütliche Kneipe gewesen war.
Wieso auch immer…

Es würde ein langer Weg werden.


Damit war nicht nur der Fußmarsch auf einen Hügel im Süden gemeint.
Sie wurden dort bereits erwartet.




Nachtgard 7

Das türkise Flammenmeer

Eine weitere Erinnerung?

Ich war im „ Kerker“, der wohl das Geheimnis meiner lieblosen, vergessenen Kindheit war.
Ich wusste nicht, ob es ein Traum war oder eine Vision- einiges weiter entfernt- was da mit Symbolen an das Tor meines Bewusstseins trommelte.
Oder suchte mich tatsächlich erneut eine verschlungene Erinnerung heim? Wozu auch immer diese Horrortrips in mir Terror machten, meine Kindheit war, bis ich eines Tages in Nachtgard auftauchte, völlig verschlossen.
Waren dies Fenster? Sie waren grausam und bedrückend in ihrer Wahl, mich mit dem Dahinter zu konfrontieren. Vielleicht waren es auch sadistische Züge einer gehässigen Scheinrealität!

Da war keine Güte, nichts Gnädiges. Ich war wohl auf engstem Raum mit anderen, scheinbar nur männlichen Kindern, vielleicht waren auch Mädchen im selben …Gebäude, in einem anderen „Trakt“, eingekerkert.

Die brutale Härte des Lebens separierte mich von allem, was ich mir je gewünscht hätte. Dabei wollte ich gar nicht viel. Nur etwas Liebe. War das schon Luxus für mich?
Nein:
Da war ja mein „kleiner Bruder“, zumindest hatte ich ihn dazu gemacht. Das spornte mich noch einmal so stark an, wenn es darum ging, sein Schild zu sein.

Er leuchtete, so konnte ich den kleinen Kerl sogar durch Wände sehen und auch hüten.
Er bildete die einzige Ausnahme, was dieses Leuchten betraf. Wie auch bei allen übrigen Jungs hier erkannte ich zwar sein Gesicht nicht ganz so deutlich und vergaß es immer wieder sehr schnell, aber ich erkannte ihn an vielen anderen Dingen viel verlässlicher. Er hatte einen enormen Respekt vor mir und mochte mich zugleich sehr, was mich mit Kraft erfüllte.
Jemand mochte mich, er schätzte mich als Person und Mensch!
Er rief nach mir und ich versuchte, so oft wie möglich zu antworten, indem ich für ihn da war. Er war sehr bedürftig…, armer kleiner Kerl…, Bruder, den ich nach Möglichkeit nie im Stich gelassen hätte.

Es war hier nur wenig Gutes. Ich konnte nicht viel erkennen, doch sie drohten uns, überredeten, ließen uns Sätze wiederholen, und beinahe täglich musste ich mit dem gerissenen Mann Vater Zeran sprechen.
Zeran, oh wie hasste ich dich?!

Er spritzte mir Zeug. Mal ging es mir danach besser, war benommen und berauscht, manchmal durchwanderte ich darauf einen noch tieferen Abgrund, als diese Welt ohnehin schon war. Ich konnte keinen Sinn sehen. Und damit quälte er mich täglich … und vermutlich auch die Übrigen.
Ich war mir nicht sicher. Ich verstand nicht, was das für Erinnerungen waren. Doch sein Gesicht war wie ein Brandmal auf meiner Seele.

Warum gab es diesen Ort hier? Was war das für ein unerträgliches Schmerzensgeschrei? Es lag oberhalb und unterhalb von dem, was man hören konnte. Man fühlte es. Dies aber deutlich.

Beinahe täglich kam es in den Gängen und Stiegenhäusern zu Rempeleien und Beschimpfungen, die aber aus der Menge so schnell kamen, wie sie wieder gingen. Sie galten hauptsächlich mir und dem Kleinen. So sah ich es, aber vermutlich war ich paranoid, oder was auch immer …
Das war der Sinn der Gedanken, die ich hier mitbekam.

Aus all dem Verschwommenen sah ich auch immer wieder klare Bilder herausstechen. Ich begriff langsam, was los war. Doch dazu musste ich klüger sein als ich war.

Das Einzige, was ich hier tun musste, war es, den „leuchtenden Jungen“ zu schützen. Eine strahlende Erscheinung hatte mir innerhalb eines Traumes im Traum symbolisch Schild, Schwert und Rüstzeug überreicht.
Es war schwer, den Kleinen zu beschützen, bestimmt, aber schlimmer war es, ihn leiden zu sehen oder es nur zu ahnen. Aber ich tat es ohnehin, brauchte keinen Grund.
Mein einziger Freund, den ich je hatte, war dieser kleine „leuchtende Junge“, und ich war sein einziger Freund. Wir redeten über vieles, doch ich hörte meistens nur sanfte Laute. Gedanken tauschten wir unabhängig von Raum und Zeit aus.
Doch in dem Gewirr konnten das genauso Täuschungen sein, die Echoeffekte auf die Chemie waren, die man mir verabreichte.
Womöglich war ein Gespenst dafür verantwortlich, dass alle so gereizt waren! Darauf hatte ich aber gar keinen Einfluss. Es war einfach da. ZERAN!

Diese Finsternis! Sie war hier die Atemluft, die Färbung, der Antrieb hinter fast allen Dingen. Manche riefen von hier nach draußen. Obwohl es gar nicht so sicher war, dass es ein Draußen gab. Ich war mir sicher. Innerhalb von hier konnte kein Licht entstehen. Wie hätten wir da nach Licht rufen können?

Und da waren die Geräusche dieser Maschine. Letztlich waren wir alle Teile dieser Maschine, die herzloser nicht sein konnte. Rost, Zahnräder und ohrenbetäubender Lärm, dennoch lebte sie!

Ein großer und kräftiger Erwachsener war im Geflimmer aufgetaucht. Er war ein „Köter“ wie ich – Zerans Kettenhund.
Er war noch größer und furchterregender als die Monster von Aufseher, die ich schon kannte. Ohne den„Griff des Kriegers“ konnte ich da nichts ausrichten!

Da war kein Kerzenlicht, das für uns beide, den Kleinen und mich, einen Schein gespendet hätte. Nur Dunkelheit!
Das Böse belohnte jene, die bei sich Böses dachten und entsprechend handelten. Ich hörte deren Gedanken in der Nacht. Auch sie flehten um irgendetwas, was ihre Schmerzen hätte lindern können.
Ich hatte keine Ahnung, welche Grausamkeiten hier noch in den dunkleren Ecken geschahen. Jene Ecken, die schon gar nicht mehr existierten, so dunkel waren sie…

Doch die Menge war wie hypnotisiert, und die vermeintlich Starken waren in Wahrheit die Schergen der unmenschlichen Erwachsenen hier und mussten Befehle ausführen. Sie sollten uns brechen, uns, die wir hier zerstreut in der Minderzahl waren und uns weigerten.
Aber was verweigerten wir da?

Durch die Bedürftigkeit der Schwachen bekam ich einen Sinn und wusste, wer ich war. Ich war gewalttätig wider die Rädelsführer, die sich Einzelne heraussuchten und mit Grausamkeit gegen sie vorgingen.

WO WAR ICH HIER?

Karg und chaotisch, dennoch streng und in Reih und Glied, ging es hier ab. Das scheinbare Chaos log. Es war ein System aus Angst und innerer, verzehrender Leere.

Ich sah hier kaum etwas, doch die vier vom ersten Traum, von der ersten Vorführung der Vergangenheit, an die ich mich erinnerte, setzten mit etwa fünf bis sieben Mann Verstärkung zu einem neuen Angriff an.
Sie wollten ihn, den Kleinen, dafür bestrafen, dass er mir zugetan und nicht ihnen hörig war. Außerdem wurden sie dazu angetrieben. Sie meinten, er müsste ihnen gehorchen, seinen Platz wissen. Sie schienen alles Übrige in ihrem Bann zu haben. Zumindest bauten sie eine Herrschaft auf.
Mit ihnen focht ich am härtesten!
Wer ihnen nicht freiwillig folgte, wurde zurechtgestutzt. Und in meinem Fall war da ein Problem.
Sie brauchten etwas von mir!
Vielleicht nicht SIE direkt, aber jemand zog die Fäden und ein hämisches Lachen hallte durch die Gemäuer und staubigen Korridore.
ZERAN!!! Wie ich dich hasse!

Ich sah eine Weile verzweifelt zu, wie meine Versuche, eine Front zu bilden, misslangen, weil die Zerstreuten starr vor Angst waren. Sie unterwarfen sich, hatten augenscheinlich keine Wahl. Feiglinge…
Schwache waren eben schwach. Mich hassten die gleichaltrigen Anführer wie eine Krankheit. Denn ich beugte mich nicht, nicht und nie!
Und dem kleinen „leuchtenden Jungen“ riet ich auch täglich, sich eher die Nase als die Würde brechen zu lassen. Ich gab ihm auch mein Wort, spätestes da zu sein, um das Blut zu stoppen. Aber so sah ich es- allein…

Eines Tages:
Sie hatten ihn hinten in einer Ecke abgefangen.
„Was willst du denn eigentlich mit dem Freak da, Kleiner?“
„Der kann dich nicht mehr lange vor uns schützen.“
„Der ist so gut wie tot!“
„Er ist schwach! Tu, was wir sagen!“
Sogar Zerans „Kettenhund“ hatte ihnen gesagt, dass er es nicht verhindern würde, wenn sie ihn oder mich umbringen würden.
Sie standen um ihn und waren „stark“. Elf größere Jungs, die schon etwas reifer waren als die Milchtüten, denen ich Hilfe zukommen ließ!

Der „ Griff des Kriegers“ war ein besonderer Gast. Nicht immer übernahm er die Führung. Nur in Notfällen sog ich ihn auf und machte Ärger … ich schlug unbarmherzig zu, wenn ich die Notwendigkeit sah und die Möglichkeit hatte.
Zeran fragte mich manchmal nach meinen „Zornausbrüchen“, die mich so „beflügelten“. Sein Blick glühte vor Begierde, sich so in „Flammen“ setzen zu können.

Sie grunzten wie Schweine. Ich hörte es aus einiger Entfernung und sprintete los. Wer im Weg war, spürte das auch. Wir waren im Krieg!

„Zuerst lassen wir den Freak da zusehen, wie wir dich zusammenprügeln und dann verschrotten wir ihn. Der kommt uns nicht wieder davon. Das vor zwei Wochen …, war eine überraschende Sache für uns. Wir haben nicht aufgepasst, du weichliches Stück Scheiße. DA: Jetzt schau selbst, was ihr davon habt!“, brüllte der Kräftigste von ihnen, als ich eben in den Raum sprang.
Sie waren alle auf chemischem Doping. Immer noch keine klaren Gesichter vor Augen, traf ich sie dennoch mit meiner nackten Faust. Ha, ha! Ich wurde verrückt vor Zorn und explodierte. Sie dachten im Rausch, dass sie es schaffen könnten.
Doch ich war ein Tier, wenn der „Griff“ mich erfasste.
Ich spürte die Angst, wie auch die Schuldgefühle des Kleinen, während sie ihn festhielten. Ein erwachsener Mann verbarg sich in der Nähe. Nur ich konnte so etwas anscheinend spüren. Ich begriff damals nicht, was hier wirklich geschah. Einige Momente flackerte es hier nur durch die wilden Emotionen. Ich meinte, die Kraft innerhalb der „Luft“ bewegen zu können.
Es war Gewalt gegen Gewalt!

Da schlugen unsere Feinde plötzlich auf den Kleinen ein, er weinte und versuchte zornig standzuhalten. Aber ohne Erfolg. Ich stoppte mich und starrte auf ihn – voller Mitgefühl.
Da überkam mich alsbald der „Griff des Kriegers.“ Der „Griff des Kriegers“ baute mich auf und führte mich wie eine Waffe.
Ich nahm den Kleinen und brachte ihn raus. Ich wusste nicht wie, aber sie wichen einfach.

Dann drehte ich mich um, blieb innerhalb des Raumes und schlug die Tür hinter mir zu. Ich prügelte mich mit den Schergen des Erwachsenen. Ich tat ihnen wieder sehr weh. Sie mir zwar auch, aber das würde ich erst merken, wenn der „Griff“ nachließ.
Ich begriff das, als ich schließlich die Schreie des Kleinen von draußen hörte. Nur ich hörte sie.
„NEIIIIN!“
Ich stieß sie alle zu Boden, schlug noch einmal zu und eilte zur Tür. VERSCHLOSSEN! Die Marionetten waren mir egal. Blut. Im Mund, durch die Nase, überall am Kopf. Mit Prügeln hatten sie mich davon abgehalten, sie zu verzehren, wie eine Flamme Holz. Dennoch waren sie teils bewusstlos…, fast tot, scheiß drauf!

Der Mann hatte uns hier eingeschlossen, im Glauben, dass die elf Dreckskerle mit mir fertig würden. Aber nein!
Ich fühlte Zerans Blick auf mir und etwas wie Vaterliebe … doch grotesk, pervertiert. Er wollte etwas, was in mir glühte!

Diese Kraft, die ich als „Griff des Kriegers“ bezeichnete, führte mich wie eine scharfe Klinge. Sie stellte mir Bedingungen: Wenn ich sie nutzen wollte, musste ich mit voller Härte durchgreifen und mich einer tiefen Einsamkeit hingeben … Es waren harte, aber vermutlich gerechte Bedingungen. Sie formten mich letzten Endes.

Ich stieß die Tür mit einem Rempler auf…

Da sah ich den Widerschein meiner türkis leuchtenden Augen in einem Fenster, das in den Innenhof führte. Alle Fenster blickten in diesen Hof.
Der Mann ging dem Kleinen draußen an die Wäsche , nachdem er ihn verletzt
hatte. Wollte kranke Gelüste befriedigen und meinen Bruder schänden. Er war dabei, etwas Böses zu tun. Das war ein Kapitalverbrechen.
Ich war der Richter!
Der Kleine schien erleichtert, als er mich herausstürmen sah. Ich fühlte, wie ein Stein von seinem lieben und großen Herzen fiel. Bei all dem hatte er an meine Sicherheit…, nein, mein Überleben gedacht!
Ich verstand nur, was da los war, weil ich in der Gegenwart laut nach mir rief und es mir erklärend vor Augen hielt. Es würgte mich, da ich mich erinnerte und diese Erinnerung deutlich zu mir sprach. Es war so, als griffe ich dadurch zurück in die Vergangenheit und erklärte mir selbst, WAS das war.

EKEL! ABSCHEU!

Ich sprang den Mann, der ein Riese war, an. Mit Faustschlägen brachte ich den Hünen zu Fall. Aber ich wurde erschöpft. Bitte, noch einige Minuten an Kraft!
Der „Griff des Kriegers“ erhörte meine Bitten und so waren Blutspritzer an der Wand und am Boden. Bis ich zitternd zusammenbrach.

„Schafft den weg!“, schrie der verfluchte Lustmolch, Kinderschänder und sah mich an. Sein Fluch war mit mir, und es war noch nicht vorbei. Er hatte sich aufgerappelt. Dieses Schwein …
Da spürte ich plötzlich einen festen Schlag auf dem Hinterkopf. Doch es war nur eine kleine Platzwunde. Eine von vielen Versuchen, mich in Ketten zu legen, oder den Tod über mich zu bringen. Ich war nicht der Einzige, der gekämpft hatte, als gebe es nur diesen Krieg am Ende der Zeiten. Die Wunde war dadurch entstanden, dass diese rückgratlosen Schergen mir eine Flasche über den Kopf gezogen hatten.

Ich fasste an meinen Hinterkopf, sah Blut auf meinen Fingern und begann zu lachen. Ich schmierte mir das Blut ins Gesicht und dann hob mich etwas auf und raubte mir jeden klaren Gedanken. Wieder drehte ich im Kampfesrausch derartig durch, dass niemand mehr sagen konnte, was mit mir war.
Ich stand in Flammen und ein türkises Feuer schlug um sich.
Es ging um alles!
Sie wollten mein Gesicht mit der zerbrochenen Flasche verletzen und den Kleinen dann missbrauchend töten.

Da kam ein Schub an Erinnerungen:
Die Narbe in meinem Gesicht, links neben meiner Nase: Sie stammte von hier und zeugte in der Gegenwart von diesem tragischen Augenblick.

Ich war eine Plage für alle um mich. Ein unnatürliches Tempo fuhr mir durch die Venen, Nerven und schließlich durch mein Herz, so als geschehe alles gleichzeitig.
Ich erledigte sie brüllend und fluchend. Sie rannten…, sie rannten!
„Deine Ratten sind zu feige und zu schwach!“, schnauzte ich den Mann an. Er war inzwischen immer weiter zurückgewichen. Diese Situation war mir vertraut und musste wohl so ähnlich öfter mal geschehen sein.
Ich sprang hoch und mit einem Tritt ins Gesicht knockte ich ihn aus. Dann sah ich zu, dass ich mit dem Kleinen davonkam. Ich lachte und zugleich vergoss ich verzweifelte Tränen.

Ich war nicht menschlich gewesen. Wenn man eine von mir geliebte Person schlecht – und in diesem Fall auch mit noch nie gekannter Abartigkeit- behandelte, wurde ich zur Waffe.

Die elf Raufbolde waren jetzt weit mehr geworden. All meine Feinde waren aus ihren Löchern hervorgekrochen. Sie durchschauten mich allmählich. Aber das machte ihnen nicht gerade Mut. Sie waren gezwungen, gegen mich oder gegen das System hier zu kämpfen.
Sie konnten es wohl nicht fassen, dass ich durch den „Griff des Kriegers“ hier ein tatsächliches Problem geworden war.

Täglich gab es Randale.
Auch jene, die zuvor feig und schwach gewesen waren, muckten auf und wehrten sich endlich. Eine mystische Kraft führte mich, und allein dieser veränderte Bewusstseinszustand machte aus einem sensiblen, unsicheren Riev einen „Bluthund“, dem niemand etwas tun konnte.
Ich wurde zum Idol. Lächerlich, was?

Der leuchtende Junge war tapfer. Aber er verlor an „Leuchtkraft“.
Er stand unter meinem Schutz. Mehr konnte ich nicht: Sein Freund sein, für ihn kämpfen. Es waren zwei Dinge, die mich ausmachten. Doch für ihn war es wohl mehr.

An jenem Abend noch:
Ein zweiter Erwachsener kam dazu und brüllte mich an. Er war noch größer. Ich blickte nach oben und sah: Es war Zerans Kampfhund.
Die anderen mochten angeschlagen sein, doch sie lachten und weinten hässlich im Schlaf mit verletzten Körpern im Traum.
Hatten sie noch Seelen?

Die ganze Nacht ließ man mich einmal mit einem kleinen Schwamm und eiskaltem Wasser das Blut wegputzen, das ich verursacht hatte –Verzweiflung überkam mich, ob dieser Aussichtslosigkeit. Ich verbarg es und starrte bloß geradeaus. Die, die mich zu zweit überwachten, dass ich dies auch ordentlich machte, rauchten Kippen und tranken Bier.
Sie verhöhnten mich.
Wo zur Hölle war ich hier? Und wo war der „Griff des Kriegers“, wenn ich schwach war?
Er war ein Söldner aus dem Schatten. Doch meine Hoffnung!

Die Luft roch nach Gewalttaten. Der Kleine – wo immer er eben war – bemühte sich, tapfer zu sein. Aber er wusste, dass sie sich rächen würden und ich wusste es genauso, wie sie wussten, dass ich wieder ausrasten und „brennen“ würde. Sie alle hassten mich dafür. Was war ihnen angetan worden, dass sie so waren? Der Mann wollte dem Kleinen eindeutig mit teuflischen Sinnen sein Licht auslöschen…

Im Heute wusste ich das. Und ich wusste, dass ich den KRIEG schon verloren hatte. Dennoch: Ich war noch am Leben. Selbst nach all dem.
Aber wo war der Kleine?

Die Erwachsenen hörten mir nicht zu, was da vorging – keiner von ihnen hatte ein Herz. Man zwang mich einfach, hier mit einem Eimer voller eiskaltem Wasser und einem kleinen Putzschwamm sauber zu machen. Sie überwachten das, während ich auf dem Boden kniete und schrubbte.

„Dafür kommst du ins Loch!“, kündigte mir eine verlangsamte und tiefe Stimme an. Alle anderen hatten den Raum und die nähere Umgebung verlassen.
Der kleine „leuchtende Junge“ stand einfach herum und zitterte, wie ich. Er fühlte sich schuldig. Das wollte man ihm einreden.
Daher wischte ich mit Tausenden meiner Tränen den Boden auf und Furcht überkam mich, wann immer einer der Männer hinter mir sich hastig bewegte - da zuckte ich zusammen.

Ich begann ab da sehr schnell zu begreifen. Man erzählte sich hier viel über Dinge, die heranwachsenden Jungs beigebracht werden sollten. Auch wenn sie hier im „Kerker“ waren.

Eine böse Macht war hier zugegen und sollte wohl nicht wieder gehen.

Zeran war tatsächlich mehr als nur ein böser Mensch. Er lächelte, zwinkerte und blickte mich immer so an, als wäre ich sein Freund.

Ja, ich hatte das, was er wollte. Deswegen überlebte und litt ich.

Der folgende Tag verging ohne Vorfälle. Zumindest bekam ich nichts mit. Ich überlegte, wie ich den Krieger in mir ganz entfalten konnte.
Wie, verdammt? Musste ich etwa töten?

Ein Schauder stach mir ins Herz.
Weit abseits

Riev und Joschuan hatten nach zwei Gehstunden den Gipfel des Hügels südlich von Nachtgard erreicht.

Rievs Erinnerungen hatten nur wenige Augenblicke in Anspruch genommen, er verdrängte sie aber bis in seine innerste Tiefe.

Joschuan blickte ihm mit einem Verständnis in die Augen, das wohl die helle Seite dieses Lebens war. Er klopfte Riev auf die Schulter.

Es war hier der Simaberg, er ragte hundertfünfzig Meter über die Stadt hinaus. Von hier oben sah man allerdings nur Nebel, Smog, Wolken und Tränen, wenn man zur Stadt hinunterblicken wollte. Dieser Brei hing tief wie immer.

Schatten.

Hier oben verdunkelte ein Hochnebel den Himmel, doch man sah weit, Riev hatte noch nie eine solche Weitläufigkeit erblickt. Er war jetzt in einer beruhigteren und zugleich angeregteren Stimmung.

Die Landschaft war wunderbar natürlich. Wiesen und ein Wald, Felder und verteiltes Strauchwerk, und auch Baumgruppen waren da oben zu sehen. So hell war es in Nachtgard nie. Für Riev war es beinahe paradiesisch- was die Landschaft betraf.

Tiefe Wunden aber konnten nicht so schnell heilen.


Als er die Villa sah und Joschuan ihm verkündete, dass sie am Ziel seien, konnte Riev es kaum glauben. Er lächelte erleichtert. Doch eine dunkle Stimmung war in ihm stets zur Stelle.


Manche durften wohl niemals glücklich sein.




Nachtgard 8

Eine schicksalhafte Zusammenkunft

Es war um die Mittagszeit.
Der weise Vagabund Joschuan war mit Riev zu jemandem eingeladen, der kein unbeschriebenes Blatt in Nachtgard war.
Joschuan hatte es mit ihm vereinbart und ihm von Riev erzählt. Der Gastgeber hätte ein Taxi bezahlt, doch Joschuan hatte seiner Natur entsprechend verzichtet, er wollte sich mit Riev austauschen und seine Lungen mit der guten Luft füllen lassen, die mit jedem Schritt den Berg hoch reiner wurde und sich vom dichten Nebel allmählich löste.

Die beiden, Joschuan und Riev, wanderten nun also von der Stadt den Simaberg hoch, was einige Zeit in Anspruch nahm. Es war für den Jugendlichen nicht wirklich anstrengend, doch als noch besser zu Fuß erwies sich Joschuan, der zahllose Wege hinter sich gelassen hatte, während er sich der Weisheit und Vernunft zur Bildung seines Wesens hingab, und dabei Meile für Meile zurückgelegt hatte.
Jene, die ihn kannten, wussten, dass er auch alternative Wege beschritten hatte, doch wenn er sich durch Raum, Zeit und den Sinn darin bewegte, machte das nicht gleich die Runde, sondern legten sich seine Erfahrungen in das wandelnde Buch Omega, wenn es etwas zu berichten gab.
Manche meinten, es war der Sinn hinter dem, was er machte, dass seine Wege Rätsel und Lösungen zugleich waren. Er selbst hätte nur vor wenigen Menschen zu solchen Fragen mehr als geschwiegen und bloß milde gelächelt.
Auch wenn er sich einen Pfad der Furchtlosigkeit erarbeitet hatte, führten die Spuren durch Vielschichtigkeit und die Erkenntnis, wann für etwas der richtige Moment war und wem man vertrauen konnte …

Sie waren jetzt direkt vor einer wunderschönen, etwas verwachsenen Villa gelandet. Von denen gab es einige um Nachtgard, auf dessen Hügeln verteilt. Diese Gegend war kein typisches Nobelviertel.
Die nördlichen Hügel, genau gegenüber, hatten weitere Anwesen und waren für ihren Luxus bekannt.
Doch der Gastgeber hier auf dem südlichen Simaberg hatte keinen Bezug mehr zu den wahren Reichen, den Anbetern des Mammons. Es waren die Adeligen, die darin übertrieben und rein gar nichts mit wahrer Geistigkeit anfangen können wollten.
Hier standen sich die Berge wie Schachfiguren gegenüber. Und so ähnlich verhielt es sich im Verborgenen - einer Welt, die Riev nun betreten sollte.
Man spielte um Nachtgards Seele.
Erneut das ewige Lied, wie es die Chöre der Engel schon seit dem Bestehen des
Universums besangen: Licht und Hoffnung; hin zum Leben gegen Dunkelheit, der Endstation allen Seins, doch verfänglich und verlogen bis hin zu den obersten Reihen, die wie eine Klippe waren, die erst zu spät gesehen wurde.
Wenn man sich erst einmal zu weit darauf zu bewegt hatte, war dies sehr wahrscheinlich der Untergang.
Dies bezog sich jedoch nicht auf die „Farbe“ der Spielfiguren, sondern auf das, was sich hinter der oft trügerischen dünnen Schicht befand.
Die wahre Gesinnung der „Figur“ bestand aus einer Fülle an Einsichten, Entscheidungen und gelebten Richtlinien in Bezug auf das Verständnis der Liebe in seiner letztendlichen Bedeutung. Eine Sphäre, in der nur wenige bestanden …

Und so…

Kaum hatte Joschuan an einer einfachen, mechanischen Glocke geläutet, näherten sich Schritte der Tür. Es klackten sichere Schritte und die Haustür tat sich mit einem gemäßigten Schwung auf.
Ein würdevoller Mann trat an die Schwelle. Er hatte einen freundlichen, zugleich aber ernsten, vielleicht sogar gezeichneten Ausdruck im Gesicht.
Er und Joschuan umarmten sich innig genug, um eine tiefe Freundschaft zu bezeugen. Das spürte Riev, der ein paar Meter hinter Joschuan stand, und dem diese Brüderlichkeit eine Träne an die Schwelle zur Außenwelt legte – er war berührt.
Der Herr der Villa trug stilvollen Zwirn, selbst zuhause, übertrieb es aber nicht damit. Er verstand es, zu zeigen, wenn er sich respektvoll auf Besuch vorbereitete.
Der Junge war neugierig, wer das nun war, sein Gesicht kam ihm bekannt vor. Diese Augen, der Bart und die Art, die Haare offen zu tragen, auch wenn sie voll und lang waren, und schließlich ein seidenes Stirntuch mit Spuren von Farbrückständen, die das ursprüngliche Weinrot teilweise kontrastierten …
Anscheinend war dieses Stirntuch sehr innig mit dem Mann verbunden – so wie es ein Kleidungsstück eben sein konnte …

„Hier, das ist Riev, Riev Risenbach, der Junge, von dem ich dir erzählt habe“, eröffnete Joschuan mit sichtbarer Freude, aber auch mit einer gewissen Erwartungshaltung, die wohl nur jemand fühlend von ihm ablesen konnte, der ihn wirklich gut kannte - wie der Gastgeber.
Joschuan wies mit der rechten Hand auf Riev, der etwas zittrig dastand und die Hände in den Hosentaschen verbarg, da er offensichtlich scheuer war als sonst. Er vernahm ebenfalls Joschuans hoffnungsvolle Geisteshaltung mit Empathie und voller Aufmerksamkeit.
Rievs türkise Augen leuchteten kurz auf. Er war überrascht. Es war tatsächlich faszinierend, jemanden nun persönlich zu treffen, der eine Person war, die man in Nachtgard kannte.
„Hallo!“, grüßte Riev und wischte sich eine der beiden Strähnen seines schwarzen Haares aus dem Gesicht.

Der Mann an der Türschwelle begutachtete Riev mit einem Blick und einem Lächeln auf den Lippen. Es war unmöglich, die volle Größe seiner Beweggründe zu durchschauen.
Der höfliche Mann bat die beiden freundlich, in sein Heim einzutreten. Der würdevolle Vagabund mit dem langen weißen Haar ließ Riev vor, behandelte ihn mit Respekt, der nie fehlte.

Als sie eine Treppe hinter sich ließen und in einem lebendigen und ansprechenden, wie auch großen Raum anlangten, wandte sich der Gastgeber nun deutlich weniger flüchtig an den Jungen:
„Also Riev! Ich bin Frederic vin Nord. Ich nehme an, Joschuan hat dir das noch nicht erzählt, ich bat ihn darum. Aber worauf ich hinaus will ist: Ich mag zwar der Gastgeber und etwas älter sein als du, dennoch keine Förmlichkeiten bitte. Behandle mich als Freund und sag einfach Poet zu mir! Das tun alle.“

Riev spürte in sich eine Bewegung, die ihn, zeitgleich zu Poets Worten, genau dazu animierte, dies zu tun.
Poet vermochte Stimmungen mit seinem Charisma zu wandeln, spielte wie ein Musiker mit den Harmonien, die er aussandte.
Als Riev den Mann nun endlich eindeutig erkannte, wurde es für ihn sogar leichter, auch wenn Frederic vin Nord eine Persönlichkeit in Nachtgard war.
Riev war sozusagen cool und bemühte sich schlicht, locker zu sein.
Poet wusste das zu schätzen, da der Junge nicht so wirkte, als würde er sich auf äußere Pracht einlassen, selbst als er einer Legende gegenüberstand. Poet kannte seinen eigenen Ruf und nutzte ihn bloß, die Stadt auf unterschiedliche Art zu verbessern.

„Freut mich sehr, … Poet. Du …, nein, besser gesagt, deine Arbeit ist mir bekannt.“

Während Riev dabei die Blickrichtung zwei- bis dreimal bewusst änderte, verbot sich Poet, Unsicherheiten daraus zu schließen. Er selbst löste sich in Situationen beinahe auf und umgab sie, füllte sie aus und erlebte dadurch mehr. Auch wenn er dazu schlicht seine ehrlichen Gefühle in die Augen legte, damit er Riev Sicherheit vermittelte.

Als sich die Blicke der beiden dabei trafen, geschah etwas. Es war so, als rastete ein Zahnrad in einen Mechanismus ein und öffnete ein verschlossenes Tor.
Beide spürten es. Sie trafen nicht zufällig aufeinander. Eine innere Ruhe in beiden vermittelte dies.
Joschuan sah das sofort an den entspannten Gesichtern und nickte bedeutsam.
Es wäre dann auch nicht Joschuans Art gewesen, Leute miteinander bekannt zu machen, die nichts gemeinsam hatten.
In diesem Fall nahm der Vagabund vielleicht sogar Einfluss auf das Schicksal der Welt.
Jene Welt, bestehend aus einer großen Stadt, die für sich, umgeben von Nebelschwaden und Wolken wartend schlief, und seit jeher als „Nachtgard“ bezeichnet wurde.
Ein gleißendes Nichts beendete das Dasein jeglicher Existenz, abgesehen das der undurchsichtigen Götterwelt.
Das war der offizielle Stand in der Wissenschaft, nach den Lehren der Kirche und sogar die Funktionsweise des Gehirns fast aller Menschen.

Doch es sollte sich noch zeigen, welche Pfade das Schicksal hier wählen wollte. Niemand, auch Joschuan nicht, verstand die Regungen dieser alles weisenden Kraft, die nach oben hin keine Grenzen kannte. Es war in Nachtgard noch nicht mehr als eine Idee, dass außer den nicht perfekten Göttern, etwa doch noch etwas oder jemand weit Größeres darüberstand.
Doch selbst die Kräfte aus dem Abgrund vermochten es noch, die Bewegungen des Schicksals fast gänzlich zu verbergen. Auch wenn es mächtig und überall am Wirken war. Selbst die Gründe, warum das Licht innerhalb des Schicksals manchmal darauf verzichtete sich durchzusetzen, waren ein Rätsel.

Poet war in Gedanken, während er weiterhin ein freigiebiger und entgegenkommender Gastgeber war.
Man mochte meinen, dass jede Bewegung saß, vielleicht sogar geprobt war.
Nein, er war einfach selbstbewusst und bemerkte fröhlich, dass Riev ihn als den Menschen zu verstehen suchte, der er war, nicht das Gesicht des Künstlers und des inoffiziellen Politikers alleine, das zwar tief in seine Persönlichkeit führte, aber dennoch eine Oberfläche bildete, wenn man erst einmal ein wahrer Freund von Frederic vin Nord … Poet war.

Der Junge sagte noch nicht so viel. Wollte er nicht mit der Tür ins Haus fallen?
In solchen Situationen wurde er analytisch und versuchte, die Situation in seinen Gedanken durchzuplanen. Doch hier entwickelte es sich viel leichter und freier. Er hatte ja bereits den Weg über Poets Kunstwerke und äußeres Gesicht gewählt, um zu diesem vielschichtigen Menschen eine Brücke zu bauen. Er benahm sich bestimmt nicht wie ein Fan, der plump über einen Star herfiel und sich seiner bemächtigen wollte.
So war Riev nicht.
Trotz seiner Schüchternheit und seiner tristen Grundstimmung wollte er auf Augenhöhe mit seiner neuen Bekanntschaft, vielleicht auch Freund, beginnen. Dazu war er willkommen, denn Poet mochte richtig dosierten Respekt. Blinde Bewunderung war etwas, was wenig Stil hatte und er von Riev, schon ab dem ersten Augenkontakt, gar nicht erwartet hätte.
Auch wenn er ihn hier und nun das erste Mal bewusst sah, war es, als kannten sich die beiden von irgendwo her und hatten die unausgesprochene Abklärung von Gepflogenheiten, die zwischen ihnen eine Norm bildeten, schon lange hinter sich. Es war aber eine Umgangsform, dennoch in einem gewissen Tempo eine anfängliche Sicherheitsdistanz abzubauen. Die Realität sah so etwas einfach vor.
Joschuan schwieg und beobachtete.

Von Depressionen geplagte Personen waren meist schüchtern und enthielten sich gewisse Dinge vor, die jedoch für sie bereitstanden. Poet sah und wusste das, daher würde er nur etwas anbieten, das der Junge nicht ausschlagen konnte.
Und so glitten sie alsbald in eine für alle angenehme Stimmung.

„Ich habe da ein paar Comics von dir gelesen. Und ich erinnere mich an einige Auszüge aus den Fortsetzungsgeschichten in der Zeitschrift „Fiktion Now!“. Natürlich sind mir auch Bilder, von dir geschaffen, untergekommen. Ich bin gewissermaßen ein Bewunderer deiner Arbeit und mag die Fantasie, die du sehr vielschichtig einsetzt. Doch leider kann ich mich nicht ausführlich mit solchen Dingen befassen. Ich kämpfe täglich … nun ja, um mein Überleben. Ich habe gewisse Ausgaben und führe ein bewegtes Leben, mehr als man es jemals von außen erkennen würde“.

Es war hier tatsächlich nicht schwierig, sich mitzuteilen. Keine große Überwindung, keine Angst, sich zu blamieren. Doch das geschah auch aus unerwarteten Gründen und sollte sich bald als noch persönlicher erweisen.
„… Aber ansonsten reizt mich auch dein Engagement für Leute, die ebenso … wie ich sind …, zumindest auf der Straße herumstreunen, damit uns nicht ein Ast abfriert. Wir, die Einsamen“.
Riev lachte kurz spitzbübisch, da eine Erinnerung den Moment streifte, und überraschte sich damit selbst.
„Die Realität ist schon schwierig genug“, beendete Riev diese Sache.

Poet war einen Moment lang baff. Der Junge war reifer als erwartet. Er war kein jugendlicher Bengel, der sich im Rausch alleine eine Baracke aus Lügen gebaut hatte, sondern tat, was ging. Und daran anknüpfend, sah der Künstler schon Möglichkeiten, wie Riev sich entfalten würde.

Das Arbeitszimmer von Poet hatte eine Bar, ausreichend Platz und es war hell. Riev war beeindruckt und musterte Poets Gerätschaften, die Leinwand, den gut ausgestatteten Computer und den Flügel, der nächst der Bar stand.
Überall waren Spuren kreativer Höhenflüge, Musen schwirrten ausgelassen umher und der gemütliche Raum rief nach Unterhaltung in all ihren Formen, die gut und recht waren. Es roch sogar gemütlich.
Dennoch lag Staub aus getrockneten Tränen vereinzelt umher, was Poet weder verbergen konnte noch wollte.
„Was möchtet ihr trinken, Freunde? Ich habe, was ihr auch wollt! Natürlich habe ich auch was zu essen geordert.“
Der Vagabund wusste, wie Poet war. Er tat nichts aus scheinbarer Höflichkeit, sondern war wirklich höflich und zuvorkommend. Teilen war für ihn etwas völlig Normales, da brauchte er nichts vorzuspielen.
Joschuan nickte Riev langsam zu und schloss lächelnd die Augen. Er gab damit zu verstehen, dass es okay war, wenn Riev Alkohol trinken würde und sich frei fühlen durfte, zu nehmen, was Poet ihm anbot.

Da offenbarte sich für Riev etwas völlig Neues.
Er begann, sich erstmals wirklich angenommen zu fühlen, abgesehen von Joschuan, dem er sich ohnehin verpflichtet sah, es aber nicht war, da Joschuan, wie Poet auch, wirklich so handelte, wie er geartet war.
Freundschaft war unentgeltlich und das erkannte Riev hier erst allmählich. Dealer und Barkeeper waren da etwas ganz anderes. Und sonst kannte er nicht viel mehr Leute.

Joschuan gab Poet das Zeichen: „Einen Kräutertee von Sam mit einem doppelt gebrannten Weingeist von schimmernden Schneepilzen!“
Der Schnaps kam ebenfalls von Sams reichhaltigem Angebot an Stimulantia und entspannenden Substanzen ohne schlimme Folgen – wenn man damit umzugehen verstand … Riev kannte sie ja schon von Nicklas. Dass es eine Wissenschaft war, wusste er auch.
Es war gar nicht so einfach, diesen Tee in so kurzer Zeit zu bereiten. Aber wenn der Weise feierte, tat er das mit Stil und nach individuellen Optionen.

Riev bat um Wein und fügte dann noch eilig hinzu: „Bitte auch etwas von Sams Kostbarkeiten!“
Er hatte sich dazu doch etwas überwinden müssen, aber sein Durst danach überwog. Es war für ihn nichts Alltägliches, als Gast bei jemandem große Wünsche zu äußern, auch wenn Poet klar zeigte, solche Wünsche gerne zu erfüllen.

„Weißt du was? Ich habe da eine Sorte, um die wäre es schade, wenn wir sie nicht teilen würden! Ich hole eine Flasche. Ich weiß, wie öde es sein kann, wenn man Gewohnheiten zügeln muss. Du bist hier ganz willkommen. Nur das beste Zeug, das in Nachtgard nur gewisse Personen auftreiben können, für dich! Der Tag hat noch Potential, also machen wir es uns einfach gemütlich, würde ich vorschlagen, und reden!“
Poet grinste kurz spöttisch und blickte dabei beiden ins Gesicht. Schon zog Laune auf.

Poet und Rievs Blicke kreuzten sich einige Male und hielten eine positive Spannung, in der etwas noch Rätselhaftes lag, aufrecht. Die beiden hatten etwas zu tun, wobei es um Vertrauen und Verlässlichkeit ging. Es war eine Konstellation, die nach dem Beobachten der letzten Wochen in Joschuans Muster passte. Nicht sein Muster, die Ordnung einer Legende …Vieles wurde an jenem Tag bloß gedacht, doch keiner hatte Geheimnisse.

Sie tranken etwas und rauchten „Sams“ wundersame Kräutermischungen. So gelang es ihnen leichter, so locker zu werden, um Riev aus seiner alltäglichen Depression zu lotsen, damit sie über wichtige Themen sprechen konnten.
Wenigstens einige Zeit lang konnte er sein kompliziertes Leben und die beschädigte Psyche, auf der es gründete, relativiert sehen. Doch der Wahrheit entkam man nie. Das wollte hier auch niemand. Ja, Riev vielleicht, doch selbst er verstand, wie wichtig ein Verständnis der Wirklichkeit war.

Poet erzählte über sein Dasein als Künstler. Sie sprachen über Geschichten von Nachtgard, er blickte in seine Jugend als Adelssohn und die sich wandelnden Sitten innerhalb verschiedener Schichten. Er sprach mit Riev über die tieferen Wege der Popkultur, in der er sich auskennen musste, da er für Leute aus ihren Kreisen Kunst anfertigte.
Riev konnte Poets Wissen und Interessen ergänzen, über die aktuelle Jugend etwas erzählen.
Joschuan wusste zu allem etwas, da er seine Sinne immer in Bewegung hielt. Doch nun wollte er einfach, dass Poet und Riev sich als Freunde fanden. Daher lehnte er sich oft träumend zurück. Selbst vernünftige und lautere Personen rauchten zumindest Sams Kräuter in der Pfeife. Es waren ja Sams wundersame Kräuter. Joschuan bildete da keine Ausnahme und reiste in seinen Gedanken, die auf den Worten der beiden anderen balancierten.
So dokumentierte er durch Bahnen seines Bewusstseins etwas ins geheimnisvolle Buch Omega, das hier direkt vor Ort war, aber nur sichtbar wurde, wenn man selbst daran dachte, oder es auf jemanden persönlich zukam.

Aber schließlich fanden sie sich beim eigentlichen Thema, ohne auch nur eine störende Schwelle überwinden zu müssen. Der Nachmittag hatte bis zur aufkommenden Dämmerung eine harmonische Kurve bis zu diesem Augenblick hin gemacht. Dennoch hatte jede kleine Situation für sich einen besonderen Wert gehabt, der dadurch nicht geschmälert wurde, oder etwa nur einen überbrückenden Zweck gehabt hatte.

Riev und Poet waren sich als Freunde so weit nähergekommen, dass es sich nahezu ergab, was der Künstler nun ansprach.
Er stellte ein Glas vom feinsten Kräuterrotwein auf den fein mit Schnitzkunst verschnörkelten Tresen, der eine angenehme dunkelbraune Färbung hatte und sich ins natürlich große Zimmer fügte, das eigentlich Poets ganzes Leben in sich trug und offen zeigte. Die aus wertvollem Hartholz gezimmerte Bar wirkte so urig wie der Geruch des Raumes, der die Aura an der Hand nahm und gemeinsam mit ihr einen Saum an Gemütlichkeit nicht nur über alles legte, was sich hierin befand, sondern auch über alles, was sich ereignete – ob man es nun mitbekam oder nur ein unbewusster Zeuge davon war.

„Du hast es vermutlich schon geahnt und Joschuan hat dich vermutlich so weit darauf vorbereitet, dass dieser Teil unseres Gespräches nicht einen Angriff auf deine Intimsphäre darstellt. Wir wissen, dass dir bekannt ist, was innerhalb des Nebels vorgeht. Denk ruhig mutig und nutze deine Vorstellungskraft, es kommt noch mehr! Wir können dir Fragen beantworten, wenn du bezüglich dieser rätselhaften Stadt welche hast. Und darüber hinaus“, leitete Poet mit langsam ausgesprochenen Worten eine deutlich veränderte Atmosphäre ein, indem er einige langsame Schritte auf - und abmachte.
Er war auf die Sache konzentriert und bewegte mit seiner sensorischen Empathie die feinen Emotionen von Riev, und auch Joschuan folgte seinen Ausführungen, fasziniert durch dessen Präsenz.

Poet bestach durch seine geschliffene Art, so als würde er vor einer feinen Gesellschaft eine Anekdote in ihrer Bedeutung offenlegen, die Pointe einleiten, nachdem er das Publikum schon einige Zeit lang unterhalten hatte. Er suchte mit feinem Mienenspiel die geeigneten Worte, zog dann die Aufmerksamkeit noch einmal auf sich und fuhr fort:
„Was uns einzigartig macht, gibt uns die Kraft, etwas zu bewegen, was nur jeder Einzelne persönlich kann – das Leben könnte ohne ihn nicht dasselbe sein. Über Umwege hätte die Konstellation aller Dinge die Aufgabe, Verläufe abzuändern, wenn jene ihrer Bestimmung nicht mit vollem Herzenseinsatz folgen, die dazu erkoren sind. Und so bitte ich dich, Riev, mein Freund, erzähle uns, was du teilweise schon Joschuan anvertraut hast und sei ruhig in jeder Hinsicht ausführlich, denn ich kenne nur Andeutungen, die mein langjähriger Bruder im Geiste mir mitteilte! Wir beide bitten dich darum, besonders deine persönlichen Gefühle, Erinnerungen und Gedanken detailliert zu schildern. Und sei dir gewahr: Wir werden es niemals gegen deinen Sinn auslegen oder es indiskret behandeln. Wir wollen dich unterstützen, dir eine Hilfe sein, und ferner geht es um ganz Nachtgard. Und du erfüllst deinen Anteil, so weit er dir als gerecht erscheint.“

Poet wies so darauf hin, was ihr freundschaftliches Zusammensein in seinem Kern war. Es war etwas Größeres als das Testen von feinen Getränken und ausgewählten Kräutermischungen von einem virtuosen Mann mit dem Namen Sam, dessen Zunft nur wenige teilten.

Riev blickte Joschuan fragend an. Der nickte bedächtig und ermutigend. Der Junge brauchte ohnehin eine Aussprache über die merkwürdigen Ereignisse innerhalb seines Lebens und darüber, warum er selbst so anders war, als alle Menschen, die er sonst noch kannte.
Hier fühlte er sich nun aber geborgen, und dies war nicht auf den Alkohol oder die Kräuter zurückzuführen. Sie wirkten subtil, verfeinerten die Sensibilität und Fantasie und hüteten einen davor, sinnlose und quälende Gedanken zu überbewerten, indem sie das Bewusstsein abtasteten, ehe sie es betraten. Mit Alkohol guter Qualität vermochte man einfacher umzugehen, da er ein stabileres Wirkungsfeld hatte, schlicht die Laune hob. Riev war zwar nur Fusel gewohnt, doch vielleicht hatte er sich deswegen hier so weit im Griff, seine Interessen nicht aufs Spiel zu setzen.
Nicht mehr, als es zu verantworten war, denn schließlich wollte er ja Fortschritte machen und sein Dasein verbessern.
Diese Chance wurde ihm nun geboten.

„Ich habe Visionen und Träume. Sie sind seltsam, und wie du vielleicht schon weißt, habe ich keine Ahnung, was ich etwa in den ersten vierzehn Jahren meines Lebens getan habe und wer ich bin. Alle Menschen, die ich kenne und in meinem Alter sind, würden mir kein Wort glauben. Alleine die allmählichen Erinnerungen, die in Tagträumen, aber auch im Schlaf auftauchen, sind grotesk und bizarr. Wer denkt sich so etwas aus?!“
Der Junge war ratlos, zugleich aber hoffte er ständig, dass sich eine Möglichkeit ergab, die Dunkelheit seines Lebens zu verlassen.

Poet hatte eine Ahnung, wusste aber nicht, ob er Riev damit konfrontieren konnte, ließ es vorerst bleiben und horchte dabei sichtbar auch in sich, wirkte nachdenklich.
Doch er nahm sich vor, bald die Tore von Rievs Leben zu öffnen. Denn darin bestand ein Teil dieser schnell wachsenden Freundschaft.

Wie Riev es auch wahrnahm, war Poet eine etwas ältere Bezugsperson, der er sich anvertrauen konnte und mit jener er Interessen teilte. Aber was dies noch wertvoller machte war, dass Poet und Joschuan wussten, was los war.
Nur hatte Riev etwas in sich, was für sie von großer Bedeutung war.

„Hast du dir schon mal die Frage gestellt, was außerhalb von Nachtgard ist? Kannst du den Gedanken verstehen, wenn ich dir sage, dass diese Stadt und ihr Nebel nicht alles sind?!“, fuhr Poet fort.

Da stach es in Rievs Brust und er sah Bilder aus unterschiedlichen Blickwinkeln in sich. Er hörte fast die Worte der „Götter“, die hier ihrer Macht einsetzten, damit sein Bewusstsein kleingehalten blieb.
Doch diese Wesen, oder was da im Nebel war und die Wahrheit abschottete, hatten keine Allmacht, sondern brauchten von den Menschen etwas, damit sie bestehen konnten.

Wolken und der bekannte Nebel verbargen etwas.
In jede Richtung sah Riev Wege, und damit erschlossen sich ihm ganze Gedankenwelten, die wiederum auf ihn zusteuerten. Er fürchtete sich etwas, doch da war jemand, der seine Vision aufrechterhielt und ihm Mut gab.
Riev war von einer langen Reise zurück. Die Frage war nur, wann sie begonnen hatte und wie es kam, dass er dieses Gefühl so intensiv wahrnahm.

Riev sah Nicklas, befreit vom Rollstuhl, im Kosmos herumfliegen, bis dieses Bild erlosch. Die wenigen Erinnerungen an sein Vorleben tauchten auf, er roch Glorys Duft und sah ihr wunderschönes Gesicht, ihren ansprechenden Körper, Tränen stiegen in seine Augen.

Waren es lediglich Träume, hatten sie Riev heimgesucht, damit die Wahrheit sich verbarg?! Für ihn war es nicht sicher, was real und was eine Vision, ein Traum oder eine Illusion war. Mit dieser Erkenntnis stieg er aus den wenigen Momenten an Gedankenströmen und Vorstellungen, in denen er den „Kerker“ durchquerte und den „leuchtenden Jungen“ ohne Erfolg zu erblicken suchte.

Dann:
„Wie hast du es überlebt?! Und wie konntest du von dort entkommen?!“, erkundigte sich Poet direkt und sah ihm tief in die Augen, schon als Riev sie aufschlug und sich neu orientierte.

„Wie darf ich das verstehen?!“, zischte Riev.

Schubweise sah er Bilder. Der Ort, der sonst so verschwommen gewesen war, entlüftete so manches Rätsel. Er sah sich in einer Art Gefängnis. Er sah auch, wie sehr er dort gequält worden war.

Er rauchte eine Kippe an und wischte sich mit der anderen Hand über sein Gesicht. Dann gab er sich gefasster. Was er geträumt hatte, ordnete sich nun in seine blassen Erinnerungen ein.
„Manches, manches sollte wirklich im Grab bleiben. Poet, Joschuan, glaubt mir bitte! Sehe ich so aus …, als hätte ich überlebt?! Schaut mich an! Ich konnte es natürlich auch nicht verbergen. Sonst wäre mein Leben echt.“
Riev klang verbittert. Er blickte in den Abgrund seiner Erinnerungen.

Ja, was hatte er überlebt? Die Erinnerungen zogen sich plötzlich wieder zurück.

Poet blickte Joschuan an und der erwiderte den traurigen Blick, der wohl ein tiefes Mitgefühl bezeugte.
„Es ist gut so. Riev, mein Junge, du hast überlebt. Nicht ohne Schrammen oder ohne dann und wann zu Boden gegangen zu sein. Aber nun bist du bei uns gelandet. Das ist dein Schicksal. Da ist jemand oder etwas, woran wir uns immer aufrichten können. Wir wissen nur noch nicht, wer das genau ist.“
Poet rang darum, Rievs Stimmung wieder etwas zu heben, er konzentrierte sich, schloss dabei seine Augen, bis Riev offenkundig zu sich selbst stand: „Ich habe gekämpft. Und nicht nur für mich. Leider weiß ich etwas Bestimmtes nicht mehr“.
Riev wandte sich zu Poet und trank einen Schluck aus seinem Glas - nicht zu viel, aber so viel er als nötig erachtete.

„Wir sagen dir zur rechten Zeit das Richtige“, begann Joschuan und wartete dann einen Moment, beziehungsweise gab Riev etwas Zeit, und lud zugleich mit einem Nicken Poet ein, weiterzumachen.

„Ich habe einen Vorschlag, Riev. Du solltest ihn dir wirklich anhören und weise entscheiden. Vieles könnte sich wandeln.“ Poet nahm sein Glas wieder in die linke Hand.


Ein Bund sollte ein neues Zeitalter einleiten.
Draußen bewegte ein aufkommender Wind den zähen Nebel und verschob die hohen Wolken.


Zwei Augen stachen zornig und eindringlich durch die Dunkelheit des Abends und doch erreichten sie Rievs gestärktes Herz nach wie vor nicht.


Poet hatte ein Angebot und war in Begriff, es Riev zu unterbreiten …



Nachtgard 9

Heranreifendes Wesen Nachtgards
Reflexionen nahe einer Party

Ein paar Wochen später…

Es war eines Abends. Riev, der nun inzwischen schon eine Weile bei Poet wohnte und begonnen hatte, seine Probleme mit der Hilfe des Künstlers Frederic vin Nord zu lösen, dort auch bestens mit allem versorgt war, schritt eilig durch den Park in der Nähe von Glorys Wohnung.
Dort war wieder eine Party, die Mira vorgeschlagen hatte – wieder einmal. Glory war, aus irgendeinem Impuls heraus, in letzter Zeit immer wieder einverstanden gewesen, obwohl die Fete erneut recht kurzfristig festgelegt worden war. Es war ja die Zeit, wo überall private Feierlichkeiten stiegen, da die jungen Leute vorwiegend aus ihren trüben Stimmungen fliehen mussten - die Jahreszeit brachte dies mit sich.

So war diese hier auch die vierte, die sie in diesem Monat bei sich abhielten, ganz zu schweigen von jenen, auf denen sie eingeladen gewesen waren.
Es tat sich nicht gerade als zuträglich hervor, was ihre schulischen Leistungen betraf, doch Glory vermochte es dennoch, einen akzeptablen Level zu halten. Mira hingegen hatte Schwierigkeiten. Das wirkliche Problem jedoch war nicht die Schule – die schafften sie schon irgendwie – ihr Charakter wurde durch das lose Verhalten geschwächt.

Und Riev spürte es.
Er vernahm Glorys Wandel, wie auch immer der zu bewerten war. Nicht alles daran war schlecht, wenn man es im Ganzen betrachtete. Glory überkam ein verträumter Zustand und etwas wies sie an, mehr unter Menschen zu gehen, als es bisher ihre Gewohnheit gewesen war.

Es war so – Mira bemerkte das in den letzten zwei Wochen auch – als ob Glory sich etwas erwartete, immer wieder, mit einem solch verklärten Ausdruck. Mira war clever, ja gerissen, sie durchschaute die gutgläubige beste Freundin immer so weit, wie die es zuließ, und sie war wirklich kein misstrauischer Mensch.

Doch in letzter Zeit suchte Glory direkt nach etwas, oder wartete darauf, was sie kaum verbarg. Sie redete nur nicht darüber.
Es war irgendetwas anders, so als sei sie in sexueller Erregung und schwebte von Höhepunkt zu Höhepunkt, ohne dabei wie eine Nutte zu wirken. Zudem hatte sie spürbar ein immer klarer werdendes Motiv. Auch wenn sie entrückt wirkte, war ihre Flexibilität, was das betraf, unüblich für sie.
Glory hatte ein großes und verzweigtes Herz. Darin wohnten viele Gefühle und auch ein enormer Anteil ihrer Vernunft. Ihre Entschlusskraft kam eher aus der Seele als aus rationalen Überlegungen.
Glory war imstande, sich auf ihre Gefühle zu verlassen, und es war für sie selbstverständlich, sich nun auch den Strömungen anzuvertrauen, die ihr eine - für Mira unfassbare - Intuition zur Verfügung stellten.

Da kam bei Mira der Neid hoch.
Das mit der Modewelt und Popkultur weitaus vertrautere Mädchen brachte Groll und dunkle Gedanken ins Spiel. Es verdarb ihr manchmal einen ganzen Abend, wenn etwas geschah, wobei sich Mira fragte, warum das jetzt schon wieder einfach so auf Glory zukam, ihr selbst aber verschlossen blieb.

Coole Leute, bei denen Glory einfach wie selbstverständlich landete, ins Gespräch kam, Getränke, auf die man Glory einlud, wie auch verbindende Unterhaltungen sich ergaben - während Mira nur zusah und oft gar nicht wissen wollte, worum es im Kern dieser Gespräche ging, während Glory durch ihre natürliche, charmante und ehrliche Art aufblühte und es womöglich gar nicht mehr um ein Gesprächsthema, sondern um einen Akt der tiefen Interaktion ging, in dem man sich untereinander einig war und durch die ganze Aura der Beteiligten dabei etwas floss, was sich vor Mira verschloss, wenn sie trotzig in jede Richtung nach alternativen Wegen zur Unterhaltung spähte.
Mira war außerstande, gewisse Situationen zu begreifen, worauf das verletzte Mädchen Ersatz suchte, dabei Trivialitäten nicht vermeiden konnte oder wollte…

Ja, und zu diesen „Oberflächlichkeiten“ kam es meist auch. Am nächsten Morgen erwachte Mira dann bei einem kurzfristig bekannten Jungen zuhause. Durch trübe Erinnerungen sah sie sich mit ihm windend und hemmungslos verkehrend auf Betten, Bänken oder in Toiletten. Entweder schaute sie, dass sie wieder in ihre Wohnung zurückkam, oder aber machte damit weiter, wenn es ein Lover wert war, erneut etwas betrunken und bekifft. Dabei war sie wirklich ungezähmt, eben das, was man schlicht als „gut im Bett“ bezeichnete.

Sie war unbewusst jedoch im innersten Raum ihres Herzens erniedrigt, was sie ebenso hinter einer Fassade aus Lust und Emotionen Glory als Schuld anrechnete. Sie ging einerseits darin auf, sich selbst wildfremden Typen hinzugeben, dabei wollüstig zur Sache ging, einen Zorn herausließ, wenn sie ihren Körper dafür einsetzte, um sich mit Leidenschaft abzureagieren, und unter Umständen gar nicht wusste, woher die sexuelle Spannung kam.
Es war Geilheit! Doch solche lieblose Wollust war umgewandelter Schmerz, weil Mira, wenn man einmal ehrlich war, ein weniger befriedigendes Leben führte als sie wollte, als sie es bei Glory sah, die noch jungfräulich durchs Leben schwebte.
Auch wenn Mira nach so einem Wochenende in Kneipen nach Partys, dann für ein paar Wochen wieder einen Liebhaber hatte, der aber auch nur das in ihr sah, was sie im Bett oder sonst wo, sehr spontan und auf einen kurzen Anruf oder auch nur auf ein SMS hin, überall tat, wo man Orgasmen haben konnte, war ihre Herzenssuche orientierungslos und schmutzig.

Glory mochte allein in der eigenen Wohnung aufwachen, war aber bei Weitem nicht so einsam, wie es Mira war, sobald die Tür hinter ihr zufiel und sie erst schauen musste, wo sie war, dann nach der ersten Nacht. Mira saß dann, den Tränen nahe im Bus, Glory am Küchentisch und war reinen Gewissens. Mira konnte das nicht von sich behaupten. Sie bereute es meistens, lernte aber nichts daraus, wurde bloß bitterer.
Das war der Grund, warum Glory das ausstrahlte, worin tiefgründigere und reifere Jungs etwas sahen.

Riev berührte es existenziell, wie Glory leuchtete, und er erkannte sie als wahre Liebe – das wie gesagt schon seit langer Zeit.
Mira war seit wenigen Wochen ein Problem für ihn, seit damals, als er sich im Park geritzt und sie dies angewidert beobachtet hatte. Von ihr empfing er keine wahre Attraktivität.
Zigaretten erregten ihn ja auch nicht bis tief ins Herz, wenn er sie nebenbei ausdämpfte, während er Stunden von Glory träumte und mit den Schwingungen seines Herzens die ihren suchte, sie liebkoste, sodass es Glory spürte, über Kilometer hinweg.
Dies war der Grund, warum sie so beflügelt träumte, und niemand wusste davon. Sie selbst vergaß es zu hinterfragen, lächelte einfach und summte.
Das war der „kleine“ Unterschied zwischen Glory und Mira, zwischen der Suche nach einer wahren Liebe und ficken.

Für eine Party die Leute zu organisieren war kein großes Ding für die hübschen Mädchen gewesen, wenngleich Mira das ganz alleine tat und sorgfältig wählte – damit sie wählen und Glory bloß reden konnte.
Das war okay, denn die Leute konnten gar nicht alle so ordinär sein, dass Glory schließlich nicht doch einen wunderbaren Abend, ja, ohne Hurerei hatte, während sie gleich einer Seerose war, die auf einem Fluss, in eine Richtung, auf jemanden zutrieb, der sie sehnsüchtig suchte, nicht ahnend, dass auch sie nach ihm rief.
Das Schicksal sprach in Rätseln, aber deutlich.

Nahe der Party…

Es war, besser gesagt, es begann in einem gepflegten Rahmen. Doch gab es zu trinken und man rauchte dort Dope. Das war selbstverständlich. Zwei bis drei Stunden später waren doppelt so viele Leute und die üblichen Gesellen im schon fortgeschrittenen Rauschzustand da. Ein paar Typen hatten Designerdrogen als ständige Begleiter und zudem auch „brauchbare“ Medikamente dabei.

„Wäre nett dort aufzutauchen!“
Riev hatte eine Flasche Whisky von Poet „mitbekommen“, unter der gutgemeinten Anregung, allmählich bei der Heilung seiner Seele und dem Pflegen seiner ganzen Person alles zu geben, damit er in der kommenden Zeit aus dem Schatten emporsteigen könne.

Poet wollten Rievs Potential freilegen und rechnete mit enormen Änderungen, die Rievs Natur schneller schaffen sollte, als es bei den meisten Menschen dieser Problematik zu bewerkstelligen war.
Riev musste sich zu etwas entwickeln, was zwar in ihm war, aber die Seite, die zum Leben hinblickte, noch nicht ganz gefunden hatte. Er war sich dessen nicht bewusst. Er ignorierte offenbar, dass da etwas zu tun war und zwar von ihm.

Nun, gut …
Riev war an jenem Tag besser gelaunt als es sein Standard war. Das bedeutete aber nicht, dass er bereits erheblich stabiler war, oder er sich auf sicheren Pfaden bewegte.
Mira Ziem hatte ihn bei sich abgespeichert und wusste vielleicht bald genau, wer er war. Ausgerechnet sie hatte ihn auf ihrer Abschussliste. Nicht nur, weil sie Typen wie ihn häufig als Bedrohung sah, weil es Menschen waren, die sie mied.
In Wahrheit war sie nicht weit davon entfernt, bald selbst in einer solchen seelischen Notlage Derartiges tun zu müssen, als Ersatz für wahre Gefühle. Ob diese nun aus Schmerzen oder sonst etwas bestanden, man musste sich abreagieren, das Leben und den Tod spüren. Eine Tragödie, aus der man aber ausbrechen konnte, wie schwierig es auch schien. Aus jedem Loch konnte man rauskriechen.
Hauptsächlich war Mira aber empathisch genug, das Gesicht von Riev mit Glorys Zustand in Verbindung zu bringen. Natürlich war dies für sie unerklärlich, aber falls es so wäre, hätte Mira ihn als das gesehen, was sie sehen wollte: Einen eindeutig als verrückten, ja vielleicht sogar als einen gefährlich asozial Einzustufenden, der sein lausiges Leben nicht ertragen konnte, und vermutlich auch andere in den Abgrund mit hinabziehen wollte. Sie müsste ganz ehrlich aber erkennen, dass Riev nicht mehr so war.
Diese Tatsachen verwoben sich mit seinen Träumen und ängstigten ihn.

Rievs Träume

Sie saßen damals bei Kerzenlicht und Wein in Poets Haus und lauschten den Klängen von Frederics Klavierspiel, es verzauberte und linderte Schmerzen, gab Geborgenheit, ja verstärkte auch Gefühle. Joschuan war ernst gewesen und Riev war davon ausgegangen, dass Poet, als verborgenes Haupt der „Nebelkinder“, Bescheid wüsste, und er und Joschuan, dessen Einfühlungsvermögen und Weisheit eine rätselhafte Kraft besaßen, sich dazu entschlossen hatten, ihn weiter in ihre Neuigkeiten einzuweihen.

Joschuan sprach plötzlich etwas an: „Wir wissen, wie in etwa du deine Kindheit verbracht hast. Es tut mir immer weh, wenn es mir in den Sinn kommt und ich versuche, mit dir zu empfinden, auch wenn ich solche Schmerzen vermutlich nicht kenne, aber sie verstehe. Doch wir haben ein paar Informationen über diesen Ort, die wir dir mitteilen wollen. Wir wissen zwar nicht, wo er liegt, doch die falschen Priester und die Verbrechergruppe innerhalb der unantastbaren Adelsfamilien machen Unaussprechliches … dort im Kerker.“

Joschuan hatte Riev dann angeblickt, und seine Augen waren der Spiegel von Trauer und dennoch einer bevorstehenden Hoffnung gewesen.

„Ich weiß, dass es dort nicht schön ist, aber da ich mich nicht mehr erinnere, nicht mehr als in wenigen Träumen, die womöglich von dort emporstiegen und mir zeigten, was ich dort teils erlebte, finde ich, dass es ganz gut ist, Totes ruhen zu lassen. Meinst du nicht auch?“
Riev hatte daraufhin eine Zigarette angezündet, war in einen beinahe lethargischen Zustand geglitten, starrte weiterhin geradeaus und dennoch: Er vertraute Joschuan. Offensichtlich hatte er bei diesem Gespräch da schon gerochen, dass er davon nicht unberührt bleiben würde.

Joschuan hatte trotz der Starre in Rievs Gesicht etwas deuten können – mit wenigen Gedanken – hatte gefühlt, wie bedrückend allein dieses Thema für ihn gewesen war.
„Du musst unter allen Umständen vorsichtig sein, Riev! Es ist ein Wunder, dass sie dich nicht wieder eingefangen haben. Ein Glück, dass Nachtgard für SIE unübersichtlicher war, als es ihnen bewusst gewesen ist. Doch nun… es hat sich in den drei Jahren etwas verändert. Der Feind sucht dich und wittert auf seine Art, was du durch deine Gefühle bewirkst. Du wirst schneller stärker, als wir es geahnt haben – was gut ist, doch es strahlt förmlich, sie … der Mann namens Zeran, er verfügt über die Mithilfe von mächtigen …“

Riev zuckte, als er diesen Namen hörte, und ein quälendes Drücken schmerzte in seiner Brust.

Zeran!

„Wir wissen es noch nicht. Bitte gib acht, wenn du dich ins Stadtinnere begibst. Du stehst auf dem Spiel mit allem, was dich ausmacht, und diese Villa soll als Versteck nicht auffliegen. Ein unerwarteter Krieg würde zu früh hereinbrechen und womöglich ALLES verkomplizieren, wenn nicht gar zunichtemachen. Du weißt bestimmt, wie du damit umgehen sollst. Hier ist auf keinen Fall ein Ort, der dich gefangen halten soll.“
Joschuan nahm Riev am Unterarm und blickte tiefernst in seine Augen. Die zuckten und Tränen standen darin.
„WIR tun dir das bestimmt nicht an, mein Junge.“
Joschuan hatte seine Worte gewählt, wie es nötig gewesen war.

„Ich werde euch nicht enttäuschen und es wird alles gelingen. Doch ich will Glory sehen. Von ihr zu träumen, in die Fugen ihrer Fantasie zu reisen ist schön, doch …“

„Schon gut, mein Junge. Wir vertrauen dir und deinem wohlgearteten Charakter, dein Leben, die heilige Mission unseres Ordens, nicht zu gefährden, geschweige denn, dem „Kerker“ nicht wieder zum Opfer fallen zu wollen. Aber ich muss dich darauf hinweisen, dass du NICHT unsichtbar und sehr wohl einem gewissen Risiko ausgesetzt bist.“

Dann hatte Joschuan sich verabschiedet und war in die Nacht hinausgewandert. Poet hatte am Flügel wie in Trance weitergespielt und Riev wortlos wieder auf eine Reise geschickt, bei der er sich gewahr gewesen war, dass sie ihn auf starken Schwingen durch die Weiten der Fantasie geführt hatte.

Riev erinnerte sich gerade jetzt so deutlich daran.
Deswegen war er nur ein Staubkorn am Rahmen dieser Feier hier, die ihn im Grunde gar nicht interessierte. Doch die Einsamkeit machte sich erneut bemerkbar.
Dieser Junge war beschädigt und ein Wunder musste ihn heilen, da sein Fluch ihn verstümmelt hatte.

Daher fehlte es ihm, wenn er nur wenige Tage weit von Glory entfernt war und nicht aus einer näheren Distanz zumindest in ihre Wahrnehmung spähen durfte. Wenn er sich dort aus einem Urgefühl der Zuneigung, innerhalb ihrer subtilen Wahrnehmung, nicht so bewegen konnte, wie er es grundsätzlich zu tun verstand, dann beunruhigte es ihn zutiefst.

Glory wurde sich dessen an der Schwelle ihres Realitätsempfindens allmählich bewusst. Noch fehlte ihr ein klarer Blick auf den Menschen, der sie am innigsten liebte.

Doch nun war für Riev die Zeit einer Wende gekommen.
Er wollte sich aus dem Schatten lösen und mutig in das Licht der ersten Reihe treten.
Ein Funke fehlte dafür noch.
Ein Ruck:

Mira: Wie sehr waren er und Glory den Auswirkungen ihrer immer gehässiger werdenden Willkür – egal in welche Richtung - ausgeliefert? Wie weit war er ihr vor Augen, nachdem sie ihn in einem Moment gesehen hatte, da er durch das Spiel mit seiner alten „Freundin“, der Rasierklinge, sein Leben geschändet hatte?
Auch der Bezug zur damaligen Beobachterin Mira war ihm völlig unklar. In ihrem Leben spielte er eine Rolle im Hintergrund, doch bei jedem Schritt, den er dort machte, wirbelte er den Nebel Nachtgards wie wild auf.

Was sollte er nun tun?

Er hatte sich vorgenommen, zumindest damit aufzuhören, sich zu verletzen. Er war darüber hinweg. Auch wenn er mit sich einen wilden Kampf ausfocht. Er fühlte sich schuldig, wertlos und alleine, wenn nicht jemand oder etwas ihn davon wegzog und ihn rief.
Selbst in den frostigen Tiefen seiner Gedanken wollte er aber derartige Selbstverstümmelung, zu Gunsten des Blickes in eine Vorstellung mit Glory an seiner Seite und seiner Aufgabe durch die „Nebelkinder“, in Hinkunft sein lassen. Dieses bizarre Gefühl der Befriedigung fehlte ihm zwar, doch neugeborene Kräfte hielten seine Hand.
Bis dahin war es ja okay, wenn er trank oder Sams geheimnisvolle Kräuter rauchte. Er musste ja kein Heiliger werden. Außerdem hatte er es Joschuan und Poet versprochen, soweit es destruktive Taten an sich selbst betraf. Auf andere ging er für gewöhnlich nicht los. Auf keinen Fall wie in den dämmrigen Erinnerungen an den „Kerker“, wo er die Kraft, die ihm als „Griff des Kriegers“ bekannt gewesen war, noch genutzt hatte.
Das Versprechen gegenüber Poet und Joschuan war ein Anker für ihn, der es vollbringen sollte, dass er nicht wieder in mit seinem Blut gemischten Gewässern ruderte. Er wusste auch, wem er hier den Dank zollen müsste, wenn er nicht darin bestärkt worden wäre, dass Poet, Joschuan oder sonst jemand, keinen Dank verlangten, außer dem, sein Schicksal zu erfüllen.

Er hatte, nebenbei bemerkt, noch kein weiteres „Nebelkind“ bewusst gesehen. Doch er kannte die „Einsamen“, deren Weg in diese Bruderschaft führte, wenn sie nicht aufgaben – jeder für sich.

Jetzt, wo er neue Möglichkeiten hatte, waren andere Gedanken und Gefühle in ihm dabei, in Bewegung zu kommen.

Die beiden weisen Männer hatten ihm ein neues Leben gezeigt. Poet hatte ihm ein Heim gegeben und sprach oft viele Stunden am Tag mit ihm. Sie waren schnell zu äußerst guten Freunden geworden. Poet war an Rievs Gedanken und Ideen interessiert und machte kein Geheimnis daraus, dass es um diese eine wichtige Angelegenheit ging, wofür er wohl unentbehrlich war.
Poet lehrte ihn auch, mit dem Schwert zu kämpfen und mit der Kampfausrüstung der „Nebelkinder“ umzugehen, die sie für Einsätze trugen, wenn sie gegen mächtige Verbrecher vorgingen, denen sich niemand sonst entgegenstellte. Doch hier bat Poet Riev noch um Geduld.

Sie teilten sich auch die Kunst. Riev erwies sich als beeindruckend kreativ, fantasievoll und des Zeichnens begabt. Er bewies auch einen feinen Sinn für die Sprache. Poet zeigte ihm so viel er wissen oder können wollte. Es war zwar nicht das Zentrum dieser Zeit und ihres Zusammenhalts, aber es festigte ihren Bund.

Ein Windhauch rauschte in der Ferne …

Nachts, nahe der Party…

Bis etwa Mitternacht beobachtete Riev den Eingang zur Wohnung mit einem Fernglas, das durch den Nebel blicken konnte. Er konnte sich kein Bild machen, wer diese Leute waren, aber es waren nicht nur Schüler. Das wenigstens konnte er mit Sicherheit ausmachen.
Es waren ein paar düstere Personen aus der Gothic-Szene nahe im Park gewesen und hatten sich dort betrunken – er wusste es nicht, doch ihnen hatte sich Riev intuitiv näher gefühlt als jenen unbekannten Jugendlichen auf dieser Party. Aber wie dem auch war, er war keiner dieser Teenager, die johlend feierten.
Vielleicht, da die Leute auf der Party es warm hatten, während er sich mit diesen Typen auf und um eine Parkbank wohl die Kälte alleine teilte, nicht jedoch die Weltanschauung. Sie sahen ihn nicht, aber er war sich ihrer Mentalität sogar bewusst und verstand sie, aber er war er, und keine Jugendszene vermochte ihn zu definieren.

Es war auch nie wirklich anders gewesen. Er sah Menschen, keine Gruppen. Und wer wusste, was in deren Herzen vorging, da sie schließlich doch nach Rievs Auffassung zu düster gesinnt schienen und sich damit auf das Negative konzentrierten, es sich zum Merkmal machten.
Sein Herz pulsierte nun deutlich dem Licht zugewandt. Verurteilen konnte er die rebellische Haltung per se ganz und gar nicht. Da war er mit ihnen synchron. Doch seine Wege lagen in der Hand wohlgesinnter Brüder und Schwestern und waren durch keinen infantilen Geist purer Provokation gezeichnet.

Er verstand es noch. Innerhalb der Profession der „Nebelkinder“ sah er den Erzfeind, doch dies mit Bedacht.

Die Kreatur Zeran war ein Perverser, ein größenwahnsinniger Egomane, der das Menschsein wohl für Macht und speziell den „Griff des Kriegers“ aufgegeben hätte, oder schon hatte …
Riev war einst in dessen Klauen beinahe zerbrochen. Nur ein „Engel“ am Ende des Tunnels hatte ihn genau zur rechten Zeit empfangen.

„Es war immer nur dieser eine, Glory …“, hörte er sich sehr oft sagen.

Sie war sein Ziel, seine Heimat, seine Hoffnung und der Kurs seiner Schritte war auf sie gerichtet. Das wusste Riev.

Poet beobachtete das mit einem unerklärbaren Blick in die Ferne. Nun, es gab da noch einiges mehr, doch dessen Tragweite war ihm nicht in der angemessenen Klarheit bewusst.
Das war es, was Poet und Joschuan kaum übers Herz brachten, es auszusprechen: Glory würde vielleicht nie erreicht werden. Rievs Rolle im Gesamtgefüge sah Glory nicht vor …

„Sogar sein Überleben ist nirgends in den Mythen bestätigt, Poet“, sprach Joschuan, den Tränen sehr nahe, gegenüber Poet aus, ehe er dann wieder verschwand.

Fern:

Als er wegkippte, betrat er wieder das verwüstete Luftschiff und es war plötzlich Tag.
Nicklas saß wie immer im Rollstuhl, blickte aus dem Fenster und paffte seine Pfeife.

„Hey Nick … Du hast mir gefehlt.“
Riev setzte sich an den Tisch gegenüber von Nicklas hin und prüfte die Temperatur des Tees, indem er daran nippte. Er stand schon für ihn bereit wie immer.

„Ich habe jetzt ein Zuhause. Ich wohne bei dem Künstler Frederic vin Nord, der eigentlich als Poet bekannt ist. Er hat mir angeboten, bei ihm zu wohnen. Er ist einer von „uns“, den Guten. Er half mir, nachdem wir nur einen Nachmittag miteinander verbrachten. Joschuan war auch dabei, den lernte ich zuerst kennen und es war so, als betrete ich eine neue Welt. Es offenbarte sich eine neue Perspektive, Nicklas. Aber unter all dem habe ich auf dein Rufen gewartet, hörst du?“
Riev sprach mit zurückgelehnter Körperhaltung und hielt seine Zigarette auf Augenhöhe, fuchtelte schon fast heiter damit herum.

„Ist dir klar, was Poet dir da bietet?!“, waren Nicklas erste Worte gewesen.
Riev erinnerte sich wie durch einen Backflash an das, was geschehen war.

„Wie hast du reagiert, als er dir das anbot?“, erkundigte sich Nicklas, als er das hörte, doch sein Blick führte weiterhin zu etwas jenseits des Wahrnehmbaren. Zumindest was Riev betraf.

„Ich bat ihn: Das ist sehr, sehr großzügig, aber bitte gib mir ein paar Tage, darüber nachzudenken, war meine Reaktion“.

„Und du hast dich aber natürlich angemessen verhalten, hab` ich recht, Riev?!“
Nicklas wandte sein Gesicht Riev zu und lächelte so, dass es Riev abermals nicht einordnen konnte.

Riev fügte beinahe hastig hinzu: „Ja, aber ich ersuchte, wie gesagt, um Bedenkzeit – natürlich höflich. Schau, welche Kleidung er mir verpasst hat. Und er ist teilweise über mein momentanes Unterfangen im Bilde. Und dennoch…“

„Und du hast ihm natürlich auch von mir erzählt, hab´ ich recht?!“, fragte Nicklas wieder mit sanftem, aber auch bitterem Unterton.

„ Ja. Ich erzählte viel über mich und ja, ich erwähnte auch dich, Nicklas. Ist doch okay, oder?!“ Rievs Augen zuckten unsicher.

„Na, jetzt kannst du es ja nicht mehr zurücknehmen. Also ist es egal …“.

Nicklas klang getroffen, worauf Riev sich schuldig fühlte.
Er nahm eine neue Kippe heraus und steckte sie an, während die vorherige im Aschenbecher langsam und vergessen „verstarb“.

„Es tut mir leid. Ich sah keinen Grund, dich zu verheimlichen.“

„Besteht ja auch keiner. … Doch eine prinzipielle Diskretion wäre ein Schutzengel für dich. Besonders ab nun.“

Nicklas grinste Riev vielsagend an und alsbald wurde sein Blick wieder ernst.

Riev wurde durch Nicklas Mienenspiel unruhig und schämte sich wegen seines untreuen Betragens, das er im Grunde damit gezeigt hatte, da er kaum an seinen kleinen Freund im Luftschiff gedacht hatte, während er sich mit Poet verbrüdert hatte.

„Ich werde mich daran halten, Nicklas. Aber ich musste mich ihnen anvertrauen. Ich bin dabei, verrückt zu werden – das wurde noch immer nicht besser. Aber es ist nun wie eine Geschichte in der Fantasie einer interessanten Person. Seltsam und doch verführerisch. …, “ Rievs Stimme wurde gemäßigter und er klang nun besonnen, vielleicht sogar traurig.

Da lachte Nicklas laut und setzte nach: „Verrückt, ich glaube diesen Fluss hast du schon durchquert, doch du kommst damit zurecht. Das ist wunderbar. Aber es ist auch der Grund für deine Einsamkeit“, belehrte Nicklas den gut fünf Jahre älter wirkenden Riev.
Dabei blieb er aber fast gespielt anmutend locker.

„Da gibt es wohl mehrere Gründe. Doch du wirst mich wohl nicht im Stich lassen, Nicklas?!“
Riev klang ängstlich.

Nicklas war wie ein „Seelendoktor“ für Riev, der trickreicher nicht sein konnte, wie es nun in ihm aufleuchtete.
Nicklas trank einen Schluck Tee, hielt kurz inne und stellte daraufhin klar: „Niemals ,… sei dir dessen sicher!“

Endlich kam allmählich wieder die übliche angenehme Stimmung herbei und Riev war ein Stein vom Herzen gefallen.

Nicklas war grundsätzlich für Riev äußerst wichtig. Es war hier eine Art Parallelrealität, die auf das Alltägliche Einfluss hatte und umgekehrt.
Die Frage war, ob es wirklich lediglich parallel zueinander verlief, oder sich doch in derselben Wirklichkeit vollzog.
Vielleicht war ja Riev die Brücke zwischen zwei Sphären, die sich in jener Zeit kreuzten.
Aber Riev hatte schon gelernt, dergleichen erst gar nicht weiter zu hinterfragen.


Eines fügte sich in das andere. Wer könnte sich wahres Leben einfach ausdenken?


In Nachtgard war niemand darüber informiert, soweit es Rievs Herz beobachtete, dazu aber nichts sagte.




Nachtgard 10

Geisterhafte Schönheit

Als Riev am Mittwochmorgen, während es noch dunkel war, allmählich in die Richtung des Erwachens getrieben wurde, erlebte er noch immer etwas Wunderschönes.
Er war sehr weit in das, was hinter dem Schlaf war, vorgedrungen, trieb am Grund seines Daseins mit einem Boot auf einem See frei im Zwielicht ohne bestimmtes Ziel dahin.
Glory war bei ihm, gemeinsam winkten sie dem Fährmann ins Totenreich zum Gruße zu. Dieser - kurz, kaum merkbar - lächelte geteilten Herzens, denn eines Tages würde er auch diese Liebenden auf die andere Seite bringen müssen, und hob die Hand. Er hatte eine Träne im Auge, die das Licht des Lebens reflektierte; Glory und Riev sahen darin einen Leuchtturm, eine Erinnerung an eine gemeinsame, nie erlebte Freiheit in einer Welt, die es nicht kannte, in solcher Grenzenlosigkeit entdeckt zu werden.

Riev wusste nicht, ob er sich hier alleine etwas vormachte, oder synchron mit Glorys immer deutlicher werdenden Fantasie spielte.
Denn durch ihre Vorstellungskraft hatte er sie erreicht. Doch wie wirklich war diese Vorstellung in der Welt außerhalb seiner persönlichen Hoffnung? Er konnte es nicht sagen. War es doch das erste Mal, dass er in einer solch fraglichen Situation war, so wie man sie nur einmal in seinem Leben hatte, so wie nur ein Leben unter vielen ernsthaft seines Schicksals Gelingen auf den Pfad entlang der Vorstellungskraft baute.

Sterne bewegten sich wie Schmetterlinge, so klein und erhaben über jede Gebundenheit durch diesen Moment. Ihr Licht war zart, es war eine Nacht, wie sie Nachtgard vermutlich noch nie gesehen hatte, wie sie noch niemand erlebt hatte. So besonders und im Zwielicht zwischen zwei Seelen …

Glory und Riev waren hier trotz des Wunders ihrer Zweisamkeit wie selbstverständlich zusammen und ließen ihre Vorstellungskraft einen Bund eingehen, der ihre sinnlichen Fantasien – oder waren es gar wirkliche Erlebnisse – dort, wo es keine Realitäten gab, Stunden innerer Empfindungen zusammen sein ließ. Sie waren geflogen, bis sie sich daraufhin in das Boot niedergelassen hatten, zurück aus den höchsten Sphären.
Jede Beschreibung war hier nur ein Flackern einer Kerze, die sich im Atem einer überwältigenden Szene einmal ruhig, dann wieder wild – nahe dem Erlöschen- gehen ließ, schlicht jenseits oder am äußeren Rand der Vorstellung.

Denn Nachtgard war ein grauer Ort, der Nebel regierte bleiche Menschen und schwache Seelen, die ihre Verwirklichung nie erlangten. Generationen für Generationen zogen Scharen an verwirrten und fantasielosen Zombies durch.
Der Kuss im Traum widersprach und erlaubte es nicht, dass beides im selben Universum parallel existierte, das eine schloss das andere aus.

Was erlebte Riev da, ehe er, das Ende des Traumes nur schwer akzeptierend, erwachte und sah, dass Glory nicht ferner sein konnte?

Selbst nahe dem Tode tanzen Schmetterlinge frei…

Als sich dieser Traum aufzulösen begann, war das der Moment, da Riev Glory zum Abschied noch einmal küssen wollte. Doch stets konnte er sich lediglich dafür bedanken, nahe den Tränen, die jeden Traum beendeten:
„Bis bald, Liebster!“
„Ja, mein Licht!“

Er kämpfte noch.
Er wollte nicht loslassen.
Immer konnte es das letzte Mal sein, stets fürchtete er sich davor, am anderen Ende seiner Überzeugung für immer einem jener Leben übergeben zu werden, die nicht einmal die Hoffnung halten konnten, was er im Traum zurückließ: Seine innigste Sehnsucht nach liebender Ekstase, und, wie er hoffte, Glorys und sein Paradies in einem Garten vereint. Es war etwas, das er nicht mit sich tragen konnte. Noch lebte er, so nahe er auch der Schwelle zu einer ihm unbekannten Seite gelangen konnte.
Er hätte nicht entfliehen und bestimmt nicht alles hinter sich lassen können, so war der Tod als Schild tiefster Enttäuschung keine Option, auch wenn er mit dem Gedanken immer dann spielte, wenn die eiskalten realen Krallen von außen am Kokon der Traumrealität zu kratzen begannen.

Er hatte etwas zu tun, er war dem Leben verpflichtet, was auch immer er erlebt und durchgemacht hatte.

Er sah, während er nach oben fiel, fiel wie ein Tropfen, Freunde: Poet und Joschuan. Er sah Nachtgards Wege und weiter dahinter kreuzte ein Luftschiff, undeutlich wegen des Nebels, sein Sichtfeld. Er wollte auch dorthin lächeln, als er sich erinnerte, und dann schauderte es ihn.

Das grinsende Gesicht Zerans wandte sich ihm zu und suchte seinen Augenkontakt.

„Riev!“, hörte der Junge diesen Mann sagen. Er kam näher. Angst. Er mochte womöglich auch wahrlich ein boshaftes Monster sein, das Riev durch dessen Sehnsucht ausfindig machen und zerquetschen wollte. Die Sehnsucht nämlich……sie glänzte, damit die wärmende Liebe nicht vorüberzog wie ein geistloses Wolkenfeld.

Dann riss ihn endgültig etwas Kaltes aus seiner Wanderschaft und hielt ihm die Tatsachen oder den Teil davon vor Augen, den er kannte, aber nicht wollte. Denn darin bestand nicht nur die Schönheit, sondern genauso die Unsicherheit der Wahrhaftigkeit seines Erlebens, von dem was real war. Schließlich stellte er sich die Frage, wer es wusste. Wer wusste es, was sich als Wahrheit in den vom Nebel umgebenen Ereignissen beweisen konnte?
Vielleicht waren die intensivsten und stabilsten Eindrücke nicht die wirklichsten, sondern lediglich die nächsten in einem Ozean aus Fantasie, wo es in jede Richtung endlos weiterging, bis tatsächlich das Nichts hinter der Grenze aller Möglichkeiten wartete. Vielleicht lebten die Passagiere des Fährmanns im Nichts, so wie er im Nebel.

Lediglich einen Teil seiner Erinnerungen zog er mit sich aus dem Schlaf. Wenn er an sie zurückdachte, lächelte er und wand sich aus dem Bett – manchmal fiel er auch vom Sessel, wenn er darauf geschlafen hatte.

Riev war, angeregt durch Poet, künstlerisch aktiv und schrieb nieder, was ihn bewegte, oder zeichnete einiges auf. Dabei schlief er oft ein.
Manchmal las er auch nur, doch er war dabei, einen Zug an sich zu finden, den auch Poet hatte. Er war ruhelos und wollte nie einfach nur schlafen. Am Werke zu sein oder zu träumen war gut und das, was er wollte. Doch einfach wie tot nur dazuliegen, vermochte er nicht. Dazu hätte er sich mehr als zwingen müssen.
So gewöhnte er sich rasch den Lebensstil seines Freundes und Lehrers an, der sehr wenig Schlaf, aber sehr viele und intensive Träume beinhaltete, die ineinanderflossen, und weder durch Kunst, Gespräche oder die Trivialitäten des Lebens den sanften Schleier verloren, der in Rievs Erleben, aber auch zu Poet, neu gekommen war.

Alles, was er kannte, hatte und wusste, war erkämpft worden. Sogar innerhalb seiner Erinnerungen war so etwas wie ein Krieg, der aber in unregelmäßigen Abständen zu etwas wurde, das er akzeptieren konnte.

Die Güte Poets war ein Geschenk, eine große Wohltat, ein Akt der Nächstenliebe – für den Künstler keine Frage.

Riev war wegen dieses Kontrastes zu seinem Vorleben wie verzaubert und fühlte sich wie ein gefundener Prinz, der durch eine ihm zuteil gewordene Gnade mit silbernem Besteck Gutes zu sich nehmen konnte, Leckerbissen- so viel er wollte, ja, natürlich nicht nur Mahlzeiten, sondern auch den Rausch, der wohl über gewisse Personen Nachtgards hereinkam.
Poet erkannte an Rievs künstlerischen Fortschritten, dass nun wirklich eine neue Zeit angekommen war. Der Junge war von einem Geist erfüllt, der wunderbar war.

Poet bestärkte Riev hinzu noch, dass nach all der Pein der verdiente Friede über ihn kommen sollte. Selbst war er über die Ausmaße überrascht. Poet saß sehr oft lange am Flügel und improvisierte über das Wachbewusstsein hinaus.
Dann waren da die Gespräche, die beide zu so guten Freunden hatten werden lassen, dass Poet sich gegen Joschuans Prognosen wehrte; und es war das Einzige, was er Riev nicht offen mitteilte, sondern nur von Risiken sprach, wenn das Thema nicht selten Rievs Rolle betraf.
Poet und auch Joschuan, der regelmäßig auftauchte, dabei ganz offensichtlich Abkürzungen wusste, die nur unter besonderen Vagabunden verraten wurden, sie kannten die Risiken…

Die „Einsamen“ fanden manchmal selbst die Eingänge und reisten so durch Nebelpfade, wurden zu Kindern der Schleier und hörten von Riev, Riev aber nur am Rande von ihnen. Sie trugen seinen Namen auf den Lippen, im Geist und auf Händen.
Riev begriff dies alles gar nicht, denn die Mythen verlangten nicht danach, dass der „Angekündigte“ in die Strukturen seiner Brüder eingeweiht wurde.

Daher träumte Riev stundenlang in der schönen Villa Poets von Glory.
Die Atmosphäre dieses Ortes lud mehr und mehr dazu ein, ja, es war eine Kapelle der Sehnsucht und immenser Vorstellungskraft.
Mehr noch: Visionen und sichtbare und fühlbare Wünsche versprachen Weiten an Erfüllung.
Darin badete Riev; und wunderschöne Musik kam entweder aus fernen Sphären oder Poet zauberte auf dem Flügel Melodien herbei, die im Gehör einen harmonischen Widerhall fanden und es taten sich orchestrale Klangkulissen auf, wie sie auch bei Niklas im Luftschiff vom Grammophon erschaffen wurden.

Hier in Poets Villa waren die Tage voller Wunder und Erlebnissen. Wenn sie sich bei Wein und Kräutern ganz ausgelassen Utopien hingaben, sich angeregt austauschten, so war dies harmonisch, und sie wurden tatsächlich zu Brüdern im Geiste.

Poet schwor sich im Stillen, alles zu tun, um Rievs Sehnen zu erfüllen. Dann, wenn der Moment herbeikommen sollte, würde er eher sterben, als des Jungen Untergang zuzulassen.

Joschuan sah das und immer tiefer erforschte er die Mythen und deren Geheimnisse, die in Nachtgard verteilt waren, und es wurden mehrere, die nach Möglichkeiten suchten. Joschuan tat viel. Er sprach es meist mit Poet ab.
Riev wurde immer noch nicht darin eingeweiht. Alleine deswegen wollte Poet dessen Geleit sichern, wenn er das tat, wovon sie noch nicht im Detail sprachen. Ein Sturm sollte wohl herbeigeführt werden, wozu der Held von Nachtgard alleine imstande sein würde …

Es war hinter dem Leuchten!

Es war Rievs Schicksal, von dem keiner genau wusste, was es bringen würde.
Poet hatte es zu Beginn nur angedeutet und die Mythen erzählt.
Riev kannte die Rolle desjenigen, der den Sturm entfachen sollte. Aber was nicht in ihm aufging, war die Akzeptanz, dass er es sein konnte, dessen Zukunft nicht im Schein dieser Träume hier verlaufen könnte.

Glory war der Inhalt seiner glücklichen Bilder im Bewusstsein. Die Hoffnung, sie einst in den Armen halten zu können, war hier so real, ja so wirklich, dass es eine Lüge sein konnte, so hoffte Poet.

Denn der, der den Sturm bringen sollte, war kein Held, der Ruhm ernten würde. Er konnte auch geopfert werden und als Diener der Sache selbst aber untergehen – zumindest, was dieses Leben betraf.
Und darüber hinauszublicken war etwas, was man als freie Fantasie und wunderbare Vorstellung auch spekulativ betrachten konnte, nicht mehr und nicht weniger…

Eine Religion hatten gerade mal die „Nebelkinder“ und vereinzelte Personen, die ihre Gedanken für sich behielten. Wer nicht an das Göttersystem der Kirche glaubte, war in Gefahr und wurde der Freiheit entrissen- Qualen kamen über ihn, bis zum grausamen Tode.
Der Fährmann weinte bei jedem, den er gerade deswegen in ein unbekanntes Land brachte, denn der Mann der Fähre kannte nur die Gewässer, wusste nicht, was dort dahinter war. Er fragte auch nicht.

Die „Nebelkinder“ hatten ihre persönlichen Hoffnungen.
Man zwang niemandem einen Glauben auf. Ein gerechter Mensch würde sein Schicksal meistern. So wollte es ein Teil des Kodex, der unausgesprochen eine natürliche Geburt erfuhr.

Das Ziel war der Sturm, der alle Geheimnisse offenbaren würde.
Dazu musste aber der kommen, der ihn entfachte!

Gab es jenseits von Nachtgard etwas? War das Nichts nicht ein ewiges, sich selbst verschlingendes Paradoxon, unbegreiflich- als Frage gar nicht in den Köpfen der Menschen?
Nur wenige waren es, die es hinterfragten…
Rievs Erwachen…

Momentan baute Riev sich in Poets Villa eine Kraft auf, die durch Bewegungen des Geistes allein in ihm entstand. Er musste nicht trainieren, indem er rannte oder sich Gewichte stemmend plagte- nichts dergleichen.
Alleine der Geist und das Herz dahinter waren die Macht, die seine Bewegungen und Gedanken formten. Gefühle, Vernunft und Moral. Diese Stränge mussten sich treffen.

Auch die Feinde waren immer klarer von den vielen auseinanderzuhalten, die einfach die Herde waren, die im Sturm, so gut es ging, an einen Ort geführt werden sollte, der noch nie von jemandem innerhalb von Nachtgard gesehen worden war.

Riev hatte gespürt, dass da der „Griff des Kriegers“ in ihm tätig geworden war, sein Werk tat. Eine zuvor nicht gekannte Kraft füllte sich in den Jungen. Er hatte relativ viel Zeit damit verbracht, darüber nachzudenken, seit er den Blick zurück in die Zeit getan hatte. Dort, wo sich eine finstere Hölle verbarg, die er überwunden hatte.
Der „Griff des Kriegers“, aber auch etwas unerwartet Gütiges hatten ihm einst große Kraft gegeben. Sonst würde es ihn gar nicht mehr geben, da war er sich sicher. Und so war es ja schließlich auch: Er hatte zwar eine beschädigte Seele, aber sie war am Leben. Nun wurde sie gepflegt.

Als Poet dem immer mehr zusah und von der vergessenen gütigen Kraft erfuhr – Riev erinnerte sich eines Tages – schöpfte der Mann Hoffnung.
Seine einstige Liebe hatte sich selbst gerichtet. Nun hatte ihm das Leben einen Bruder geschenkt. Er wollte diesen nicht verlieren. Er wollte ihn unter allen Umständen so lange behüten, bis seine eigenen Fähigkeiten einfach nicht mehr reichen würden. Daher betete er.

Für Poet war es zur Norm geworden, seine Anliegen in eine Richtung darzubringen, die er jetzt zwar nicht verstand, aber er begann zu verstehen, was vielleicht eines Tages selbstverständlich sein sollte. Er wusste, dass eine Person über sie alle wachte. Eine Person, die alles erschaffen hatte und sich auch rechtzeitig darum kümmern würde.
Das war für die Verhältnisse in Nachtgard schon sehr weit und womöglich der Beginn von etwas …

Und so…

Riev hatte intensiven Erinnerungen, die eine bizarre Verbindung zu einer grotesken Maschine zu haben schienen, die trotz einer gewissen antiquierten Art die Gefühle seiner Seele beherrscht haben musste, und er wähnte, dass sein Bewusstsein als eine Art Antrieb hineingezwungen worden war oder man es zumindest versucht hatte.
Diese Vorstellung löste in seinen Gedanken etwas höchst Hässliches aus. Er fühlte sich missbraucht und seelisch vergewaltigt durch diese Maschine, der er sogar ein Eigenleben zuschrieb. Denn er spürte den bitteren Nachgeschmack von qualvollen Verhören, in denen er gar nicht freiwillig die Antworten herausgerückt hatte, sondern eine Apparatur sie aus ihm herauszuquälen versucht hatte, ohne dass er eine Möglichkeit gehabt hatte, seinen Mund zu „versiegeln“.
Dennoch war er loyal gegenüber etwas geblieben, was erst nun allmählich zum Vorschein kam – seine Willenskraft war tief in ihm so enorm, so mächtig, zwar verletzlich, doch erfüllt von Kraft und im Grunde unbeirrbar.

Alleine deshalb hatte Joschuan sehr schnell seine Aufmerksamkeit auf Riev gerichtet gehabt. Das war schon vor drei Jahren gewesen, als er ihn plötzlich in der Straßenszene auftauchen gesehen hatte. Mit einer Kleidung, die er dann sehr schnell abgelegt hatte und in der Altkleidersammlung sein Outfit fand.
Joschuan war aufgefallen, dass Riev nur schwarze Sachen trug, während seine Augen manchmal leuchteten, was eine Neigung zum Licht aufwies, denn das Leuchten machte seinen Blick klar und offen, signalisierte den Wunsch, Liebe auszutauschen – auf vielen Ebenen. Das war hier in Nachtgard nicht die Norm.

Aber was immer auch war, alles Gute, das man Riev gegeben hatte, hätte man jedem gegeben, der in einer solchen Situation war. Doch nur jemand wie er brauchte so viel Unterstützung. Es ergab das eine das andere. Nichts war umsonst. Riev hatte jene Gefühle hervorgerufen, da er der war, der vom Wesen her diese Rolle übernahm.

Egal: Auch, wenn er noch so nach Glory strebte - hätte er gewusst, was er zu tun haben würde, wäre er das Risiko eingegangen. Er hatte ja auch selbstlos den „leuchtenden Jungen“ einst beschützt.

Rievs Erinnerungen glitten zurück zu den quälenden Verhören, bei denen es um die Schlägereien gegangen war. Man hatte wissen wollen, woher er seine Kampfkraft gehabt hatte. Es war damals auch um andere Dinge gegangen, doch, wenn er daran dachte, kam schnell der „gute“ alte Nebel, der alles umgab, in sich einschloss, einhüllte, erfüllte.
Aber: War das ein Schutz oder ein weiterer „Kerker“?
Das war eine Frage, die lange schon zu beantworten gewesen war. Eine grundsätzliche Frage über den Sinn des Nebels. Doch wer hinterfragte schon etwas, was überall und immer war?

Man hatte mit brutaler Gewalt versucht, die Freiheit seiner Gedanken und Gefühle zu zerstören, ihn so zu verkrüppeln, dass man da gerade noch etwas rausholen hatte können. Nun fügten sich immer mehr Ereignisse zu anderen ihrer Art und das Bild wurde vollständiger.

Sie hatten ihn unter allen Umständen zu neutralisieren, auszudämpfen versucht – aber seine Existenz hatte er deswegen behalten dürfen, weil er alleine zu etwas imstande war. Man brauchte ihn. Damals war das so gewesen und …
Man hätte ihn einfach abknallen können. Dort, von wo er herkam, wäre er niemandem abgegangen der zählte. Nur dem kleinen „leuchtenden Jungen“.
Vermutlich war es etwas gewesen, wo es nicht ausgereicht hätte, ihn einfach in einer Zelle einzumauern oder ihm einfach in den Kopf zu schießen.
Die Rolle des „leuchtenden Jungen“ hinterfragte Riev nicht. Denn er war eben genauso ein Gefangener gewesen und einer, dem sie etwas wegnehmen wollten. Irgendjemandem war daran gelegen, zu erfahren, was er gedacht hatte oder wie seine Gefühle geartet waren? Oder sonst etwas, woran Riev sich nicht erinnern konnte, es vielleicht nie gewusst hatte.

Als Riev sich in den Gedanken verlor, die er in sich bereits über den „Kerker“ gefunden hatte, sank er ernüchternd mutlos in sich zusammen.
Poet war nicht in der Villa und Riev saß auf seinem Platz im Arbeitswohnzimmer und eine melancholische Musik kam gemäß seinen Gedanken von irgendwo her.

Er lauschte und fiel in Trance, schlief dabei aber nicht ein, sondern es veränderte sich stattdessen alles um ihn herum.
Er war in einer Art Halluzination, der „Kerker“ kam wie ein Geist hervor, und gleich einem Hologramm manifestierte er sich am selben Ort mit der Villa in einer unheimlichen Verbindung.
Korridore des Kerkers bohrten sich durch die Wände seines neuen Zuhauses, dennoch war da weder der entsprechende Lärm noch zerbrach die Villa – zwei Orte verschmolzen und bewegten sich unharmonisch zu der Musik, die Riev in diesen Bewusstseinszustand versetzt hatte, in dem er das alles nun mit Angst und Schrecken sah.

Plötzlich war da Geschrei; Schläge von Fäusten und Knüppel auf menschliche Körper ließen ihn ahnen:
Da kamen zwei große Männer mit Hundemenschenköpfen um die Ecke, beim zweiten Blick waren es einfach nur sehr hässliche, zornverzerrte Gesichter, dennoch waren sie unnatürlich animalisch, eigentlich monströs.
Da sah Riev sich selbst in die Augen.
Es war ein Paradoxon, das er noch nie so erlebt hatte.
Er war sich fast sicher, dass die Version seines jüngeren Ichs ihn kurz angestarrt hatte, doch es war wohl ein zufälliger Blick, bei all den eckigen und brachialen Vorgängen, die hier nun abliefen. Allein davon starr, musste er mitansehen, wie diese Wärter mit seiner jüngeren Version gnadenlos verfuhren, es staubte tatsächlich bis in die Villa hinein, als der vierzehn Jahre alte Riev mit dem Gesicht am Boden aufschlug. Sie taten dies, während sie ihn abführten und dabei quälten.
Der junge Riev wehrte sich wie ein Besessener, war wie ein wildes Tier, brach einem der Monster die Nase, worauf sie ihn wieder niederknüppelten.

Riev schrie in der Villa, sah das höchst bestürzt und begann zu zittern, er spürte den Schmerz von damals, wie ein Echo, das durch die Zeit zwar leiser geworden war, aber sich vervielfältigt hatte und eine Vibration in Rievs Seele erzeugte.
Als er sah, wie man ihn damals gegen eine Tür gestoßen und verhöhnt hatte – er sah den Gesichtsausdruck der Wärter – sackte er in sich zusammen – synchron.
Die hässlichen Männer beförderten den jungen Riev mit Tritten in eine Zelle, die Tür war ohne jede Öffnung, Rievs Blut rann am Metall hinab.

Riev setzte sich in der Villa auf einen Stuhl und betrachtete mit Verzweiflung, wie ein Mann in Robe in die Vision trat und mit einem ironischen Blick in den Raum sprach, in den Riev nicht hineinsah, von dort, wo er in der Gegenwart war.
Doch er hörte die Worte von ZERAN: „Genieße die Dunkelheit da drinnen, stör dich nicht daran. Du musst hier mindestens zwei Wochen dein Gemüt etwas abkühlen!“
Dann lachte Zeran und wies einen der Wärter an, die Tür zu schließen.

„Neiiiiiin!“, schrie der Junge und kauerte sich nun am Boden zusammen, womit er dieselbe Haltung einnahm, wie damals vor etwas mehr als drei Jahren.
Es wurde stockdunkel um ihn. Er verlor die Orientierung.

Rauschen. Zischen. Zirpen. Summen. Klirren.
Dies alles zerstach sein Gehirn. Er war irgendwo zwischen damals und jetzt eingeschlossen. Die Dunkelheit brach durch Raum und Zeit.
Als er unter Tränen in eine Lethargie verfiel, kam eine Erinnerung über ihn, sie schloss direkt an die Vision an, die er eben im Wachzustand gehabt hatte.

„Ich war in der Finsternis selbst. Stunden und Tage schaukelten nach vor und zurück. Manchmal schlug die Tür vor mir zu, manchmal wähnte ich mich in der Hoffnung, dass die zwei Wochen vorüber waren. Ich bewegte mich kaum, lag einfach am Boden oder klebte an der Decke. Der „leuchtende Junge“ war auf sich selbst gestellt. Mit Anstrengung stellte ich mir sein Gesicht vor.
Ach, du?!
Ich verlor Hoffnung und Ängste, verirrte mich ohne Gefühle in den wirrsten Träumen. Als ich dann wieder zu mir kam, rüttelte es mich, so stark brachen die zuvor gelähmten Herzensregungen über mich herein. Doch nach einer langen Zeit der Schmerzen und der Verzweiflung erwachte ich in einem Moment über den normalen Wachzustand hinaus auf, und es kam ein Licht auf mich zu. Es war Güte, Liebe und Hoffnung. Es nahm mich in seine Arme und streichelte mir übers Gesicht. Ich schmiegte mich daran und ließ meinen Gefühlen ihren Lauf. Dieses Licht gab mir Trost und zeigte mir etwas, was ich gar nicht benennen konnte. War das Liebe in der reinsten Form? Kein Wort wurde gesprochen, doch ich begriff, dass dieses gütige Licht immer über mich wachen würde, egal, was geschehen sollte, ich war darin geborgen …“

Riev schlug seine Augen auf und blickte sich verwirrt um. Wie lange war er fort gewesen?

Er erfuhr es, als Poet kurz darauf in die Villa kam und es draußen dunkel war. Der Künstler sah Riev an und sofort erkannte er, was ungefähr gewesen sein musste.
Er streckte Riev seine Hand entgegen und klopfte ihm sanft auf die Schulter, dann umarmten sie sich.

„Ich hatte eine seltsame Vision, Poet“, war das Erste, was Riev daraufhin sagte, und erzählte seinem guten Freund, was geschehen war.
Poet ging auf Riev ein und sie redeten, bis der Junge einschlief.

Dann hob Poet ihn ohne Anstrengung auf und bettete ihn auf das wenige Meter entfernte Sofa.
Er nahm Rievs Decke, die dem Jungen schon so lange gehörte, die ihn in vielen Nächten auf der Straße, im Park und in Sträuchern gewärmt hatte.
Dann dämmte er etwas das Licht und setzte sich selbst nahe von Riev an den Computer und schrieb bis in die Morgenstunden, bis Riev erwachte.



Sie frühstückten und Poet holte schelmisch lachend eine Flasche Wein hervor, blickte Riev an.
Der nickte ebenfalls lächelnd und sie tranken etwas. Die Musik dazu kam aus den Sphären der Ewigkeit und erfüllte diesen wunderbar seltsamen Morgen.




Nachtgard 11

Kreuzungen im Traumland

Eine schwarz gekleidete Person mit Kapuze und Tuch über dem Mund eilte leise zu einem Zaun, übersprang ihn, indem sie in der Luft noch einmal auf eine unsichtbare Stelle trat und sich so hochstieß.
Sie strich zügig und sachte wie ein Lufthauch in die Richtung eines großen Gebäudes. Es war ein Herrenhaus. Die einbrechende Person ächzte kurz auf, die Stimme war zwar nicht übertrieben tief, aber eindeutig männlich.
Der Mann war bewaffnet und seine Kleidung war stellenweise mit hartem Kunststoff verstärkt wie auch gepanzert.
Der schwarz gekleidete Krieger konzentrierte sich, ging in die Hocke.
Dann schloss er seine Augen und suchte mit seinem Feingefühl, einem Empfindungsorgan seines Geistes, die Wachhunde.
Da es ein Rudel war, schaffte er es, sie mit einem geistigen Impuls dazu zu bewegen, dass sie ausgelassen und freundschaftlich miteinander spielten, zahm wurden und sie alles vergaßen, wozu sie abgerichtet worden waren. Mit wedelnden Schwänzen tollten sie herum gleich Welpen. Vergessen waren auch die Schläge, Tritte, der Hunger und die Zeit des Abrichtens. Der Mann in Schwarz hatte sie ihrer Natur zurückgegeben, um nicht zerfetzt zu werden.

Gewalt war an jenem Ort zugegen. Das erkannte der Krieger, begleitet durch eine geistig steuerbare, unterstützende künstliche Intelligenz, als er sah, welches Aufgebot an Wachleuten hier vor Ort war. Er war nicht umsonst hier im Einsatz.
Die Gardisten von dem, der hier sein Anwesen hatte, trugen schwarze Masken. Die Hunde fielen ihnen noch nicht auf, dennoch war Eile für den Eindringling geboten, was er auch tun wollte.
Der Eindringling warf einen Blick auf ihre Ausrüstung und Fähigkeiten, die er in einer geistigen Projektion praktisch aufgelistet sah. Alles Entbehrliche blieb aus der Vorstellung, da sein Bewusstsein klar filterte, was er an Informationen brauchte. Er wusste ja, was er wollte, im Gegensatz zu jeder allein arbeitenden Technologie, dadurch waren Computersysteme, in die sein Geist floss, seine Verlängerung.

Es war hier das Anwesen eines Adeligen, der einer Randgruppierung der Kirche vorstand und ein Geldgeber der Kirche innerhalb der Stadt war. Er hatte einen Konzern und besaß Häuser in Nachtgard.
Doch was das Bedrohliche war: Er war ein erfahrener Okkultist.
Der Eindringling hatte zuvor eine kurze Charakterisierung überflogen, die ihm in verschiedenen Formaten zur Verfügung stand.
Dieser Adelige war größenwahnsinnig. Sein egomanischer Narzissmus lockte dämonische Kräfte an, die der eingedrungene Krieger in Schwarz, während er das große Grundstück überquerte, fühlte – im Gebäude bildete sich ein wahres Zentrum an dämonischen Menschen. Personen, die Böses im Sinne hatten. Diese Leute opferten Menschen – die Mission war klar.

Nötiges Hintergrundwissen war einsehbar. Es erschien in den Gedanken dieses geheimnisvollen Kämpfers; dort, wo sein Wissen nicht ausreichte, kamen aus Datenbanken seiner Ausrüstung Gedanken in sein Bewusstsein und unterstützten ihn, das Hochsicherheitsgebiet zu überrennen, ohne geortet zu werden.
Doch es war nicht die Ausrüstung allein. Geistes - und Körperkontrolle gemeinsam mit dem fühlbaren Beistand von Verbündeten führten ihn förmlich.

Es waren keine Autos in der Nähe des Anwesens, das auf einem der nördlichen Hügel war, auszumachen. Der Mann in Schwarz überlegte kurz, als innerhalb weniger Bruchteile eines Moments eine Erklärung auf seinem geistigen Display erschien.
Es waren die Gäste zu dieser Versammlung höchst unauffällig hierhergebracht worden, und bestimmt waren die Wagen in einem Sicherheitsabstand gut verteilt, um die Rückreise zu gewähren – dorthin, von woher sich diese Gesellschaft hier auch immer zusammenzog. Der Krieger vermutete, dass es Gäste aus ganz Nachtgard waren.

„Was genau macht dieser Graf Zandorf? Er ist ein Geschäftsmann, Spiritist und perverser Psychopath!“

Die in schwarze Kampfkleidung gehüllte Person spürte, dass in dem Gebäude auch Personen waren, die ein hohes Maß an Angst fühlten, und so stach die Verzweiflung in des Kriegers Herz.
Er war sehr empathisch, was hilfreich, aber zugleich auch eine Schwachstelle sein konnte, wenn man ihn mit fürchterlichen, dämonischen Empfindungen angegriffen hätte.
Dafür hatte er ein Präparat an der Vene angesetzt, das ihn stufenlos beruhigen und desensibilisieren konnte. Man konnte damit sogar seinen Tod vortäuschen.
Im Notfall spritzte er sich die ganze Menge, die auf seine Konstitution abgestimmt war. Sofort wäre er starr und fingiert als tot durchgegangen. Einen Toten konnte man wohl kaum quälen und befragen. Es wäre so auch für seine Verbündeten einfacher gewesen, ihn wieder herauszuholen, falls der Feind sich seiner bemächtigte.

Der Mann spürte die Qualen von Menschen aus dem Hauptgebäude und ortete dadurch seinen genauen Einsatzort. Er war im Zeitplan, durfte jedoch nicht unnötig aufgehalten werden. Was bevorstand, wusste er selbst nicht genau. Er hatte lediglich die Informationen, die seinen nächsten Schritt effizient ausführbar machten.
Zu viel Übersicht hätte mehr Gedanken verursacht und den Krieger abgelenkt.
Er sprintete auf einem schmalen Grat, seine persönlichen Angelegenheiten und Probleme konnten zeitweilig unterdrückt werden.

Wenn Menschen um ihr Leben fürchteten und mit einem bösen Zauber belegt
waren, war es dennoch nicht so einfach, die präzisen Vorgaben einzuhalten, da das Einfühlungsvermögen in die jeweilige Situation wichtig war. Es geleitete ihn und verhinderte, dass er zu einer Marionette gemacht wurde. Er hatte immer eine Wahl. Doch um nichts in der Welt hätte er den Einsatz abgebrochen. Das fatale Ausmaß des Scheiterns war ihm bewusst. Auch wenn er erst sehen würde, was da auf ihn zukam, saßen die Informationen an der richtigen Stelle.

Er war schon beim Gebäude, bereit für den Aufstieg auf das Dach, und die Sicherung seiner Waffe Halfter öffnete sich mit einem kaum hörbaren Klicken.
Der ohnehin schon dichte Nebel wurde durch die spiritistischen Vorbereitungen und das Rufen in die Schattenwelt noch undurchsichtiger.
Das war ein Vorhang, der das Treiben im Gebäude ummantelte. Doch da der Nebel so dicht war, bildete sich damit die Möglichkeit, sämtliche visuellen Überwachungsgeräte zu umgehen. Die Wärmebildkameras sahen die schwarze Einmannarmee nicht, da der Kampfanzug gekühlt wurde. Bewegungssensoren wurden mit enormen Kräften verwirrt und unbrauchbar gemacht.
Alles gelang reibungslos, da der „Gast“ mit dem Tuch vor dem Gesicht und Brillen vor den Augen nicht erwartet wurde.

Wie gesagt: Nicht einmal er wusste, was er sehr bald machen würde. So war es für den Eindringling einfacher, an den Wachen vorbeizuhuschen, die anscheinend mehr zur Abschreckung um das Gebäude verteilt auf- und abmarschierten, als dass sie das Treiben im hinteren Saal – in einer Art Kapelle- mit vollem Einsatz schützten.

Da lachte der Eindringling noch in sich hinein und schlüpfte durch ein zuvor ausgeforschtes Loch im Dach.
„Zu einfach!“

Der Krieger sah hinunter in den Saal, wo die Gefangenen gehalten wurden.
Die Gefangenen: Sie wurden körperlich und seelisch geschändet und gequält. Tränen, Speichel, Blut und mehr tropften auf den Boden. Ihre Schreie und ihr Ächzen hallten durch den Raum. Es war ein widerliches Spiel, das die Anwesenden mit ihnen trieben, dabei hatten sie erst begonnen. Die Dämonen hatten den Krieger überholt, ohne dass er es gemerkt hatte. Schon zu viel war geschehen. Der Krieger erschrak, als er gefolterte Kinder, Jugendliche und Erwachsene sah und hörte. Es waren fast nur weibliche Gefangene. Der Schwerpunkt war damit geklärt.

„Ihr dreckigen…!“
Der hochsensible Infiltrant, der diese perversen und mörderischen Götzendiener erblickte, trachtete sofort nach dem baldigen Ende der hier stattfindenden Verbrechen, denn ihm war klar, was hier geschehen sollte.
Es sollte ein ritueller Massenmord, eine Opferung durchgeführt werden, um mit den Schmerzen und der Angst der Opfer die Geister zu füttern.
Die Anwesenden befanden sich in höchster Erregung und glaubten, mit dieser Opferung tatsächlich etwas zu erreichen.
Die Qualen der Jugendlichen dienten einem Zweck, der für die Personen in den eng anliegenden, futuristischen Kutten wichtig war. So wichtig, um bedenkenlos Grausamkeiten zu begehen. Es verlief wie ein Spiel im Rausch, integriert in ein Ritual, abscheulich und unverzeihlich für das Gemüt des Kriegers, der nun verstand, wie schnell und effektiv er handeln musste.

Der völlig vermummte Krieger glitt wie eine Sternschnuppe dahin. Er rannte auf der Decke des Korridors einige Schritte, wechselte auf die Wand, und bei all seinem lautlosen Sprinten offenbarte sich ihm die ganze Situation- was ihn antrieb und sein Tempo auf Kampfgeschwindigkeit steigerte.
Etwas in ihm wurde immer stärker und dennoch war er nicht völlig stabil in seinem Handeln.

In der festlichen Halle hielten für die Kuttenträger Fackeln und Kerzen allein die Dunkelheit zurück.
Die Opfer hatten mit ihrem Leben schon abgeschlossen. Sie akzeptierten ihr Schicksal nicht und schrien, doch sie sahen keinen Ausweg. Sie wussten nicht, dass jemand gekommen war, dem ein Ende zu bereiten und sie zu befreien.

Der Eindringling überlegte noch, wie er sie evakuieren konnte, doch da kam eine Nachricht als Antwort von einem geheimen Ort, von wo aus der Einsatz geleitet wurde.
Die wehrlosen Opfer, die ihre Auflösung im Nichts herbeisehnten, würden durch eine „Chaostruppe“ innerhalb von drei Minuten herausgeholt werden. Der schwarz gekleidete Eindringling sollte die Tore öffnen und die Feinde auskundschaften und dezimieren.

Er allein sollte die Feinde vernichten!

Er schluckte, als er diese Anweisung verstand, doch sofort sprang sein Schwert in seine rechte Hand und er hob es zum Angriff. Er hatte schon zuvor von der Ampulle etwas in die Vene geleitet, da er sehr betroffen war, doch nun musste er loslegen.
Es war die einzige Aussicht, die man den Opfern der Qualen bieten konnte. Die Gefangenschaft innerhalb des Harems eines „Gottes“, in dem schon Tausende Jugendliche waren, musste hier und nun verhindert werden.
Zumindest für diese Opfer hier.
Man sagte diesem gewaltigen Dämon nicht nach, barmherzig zu sein. Er wurde verehrt, da er seinen Dienern den Mammon bescherte, den sie in Ewigkeit genießen durften. Dabei ging es nur um Prunk, Macht und Lust.
Welch grausame Sekte! Es waren auch absehbare Ziele - ob Taschendieb oder Ritualmörder – immer ging es schließlich um Mammon.

Eine entschlossene männliche Stimme sprach: „Schluss damit!“
Die Stimme des Eindringlings klang durch das dichte Tuch vor dem Mund abgedämpft. Dennoch hörte man einen gerade noch kontrollierten Zorn heraus. Er machte sich auf, dort hineinzugelangen, wo die Opferung stattfinden sollte, hatte aber einsehen müssen, dass er früher hätte auftauchen sollen.
Das dunkle Ritual da drinnen hatte sich bereits seinem Höhepunkt genähert: Dem Brandopfer.

Der Maskierte war zum Äußersten bereit.
Sein Herz stach, als er die Pein der Opfer fühlte. Ein Funke eines Moments noch und er lief in der Luft schon auf die Opferstelle zu. Er analysierte mit seiner Brille, die durch geistige Kräfte gesteuert wurde, die Anwesenden und das, was sich in der Umgebung tat. Seine Gedanken waren beschleunigt, seine Sinne waren mit geistigen Methoden und etwas Doping geschärft.

Während der Mann sich wie ein Geist auf die gefährlichen Okkultisten hinabstürzte, flogen Körperteile. Als er am Boden auftrat und das Schwert sprechen ließ, waren bereits acht der Henker selbst dort, wo sie ihre bedauernswerten Opfer hinschicken wollten. Oder wo auch immer man hinging, wenn man starb. Dort wusste es niemand im wahren Sinne. Aberglaube und Spekulationen reichten sich die Hände. Den götzenhaften Dämon gab es aber wirklich.

Der maskierte Mann schrie: „Ihr werdet mit jenen Dämonen tanzen, die ihr anbetet! Für Mammon, und um ihn schließlich von jenem Ort zu erstreiten, den niemand genau kennt, der jedoch nur ein Abgrund sein kann!“

Er sprang ins Licht und mit seinem dünnen Schwert focht er die hereinstürmenden Wachen nieder. Kugeln zerstörten diesen Ort, so wie der Krieger die zurückweichenden Söldner dezimierte. Er war schnell, präzise, zögerte nie und strahlte absolute Sicherheit aus. Innerlich fühlte er aber, dass er zu wenig Kraft einsetzte.
Die Klinge reflektierte das Licht der flackernden Fackeln, als sie durch die Luft glitt und erst ruhte, als eine Totenstille in die Halle eintrat. Lediglich die Opfer waren übriggeblieben. Die Okkultisten und Wachen waren teils geflohen, schwer verletzt oder tot.

Der Krieger befreite die vorgesehenen Opfer des Rituals, so wie es geplant gewesen war. Dann ging er zur Steuerkonsole des Anwesens, die in einem Nebenraum angebracht war, entriegelte alle Tore und machte Licht.

Plötzlich stürmte ein Trupp seiner Verbündeten herein und versorgte die gepeinigten Opfer des Rituals. Für manche war es zu spät. Es war ein Versagen für die Organisatoren. Da es der erste Einsatz dieser Art war, nahm man es zwar trauernd hin, machte keine Schuldzuweisungen, doch das erhoffte Ziel war nicht erreicht worden. Aber ohne diese Gruppe an Kriegern, allen voran der Maskierte, wäre jedoch niemand der Gefangenen hier noch am Leben gewesen.

Der Mann, der die Vorhut gewesen war, war verletzt. Doch schlimmer waren seine seelischen Wunden, und so rannte er einfach weg. Er flüchtete in die Richtung des Waldes, drückte die beruhigende Substanz in seine Vene. Er wollte schlafen. Er torkelte noch wenige Schritte und sank am Waldrand zusammen und blieb liegen.
Er war im Tiefschlaf.


Etwa zur selben Zeit, anderorts:

Als es etwa vier Uhr war, verließ Mira die Wohnung und meldete sich nur kurz bei Glory ab.
„Ich treffe mich mit ein paar Leuten zum…. Abhängen im Park. Ich nehme an, dass du nicht mitkommen willst?“, rief sie und war sich dessen sicher.

Ehe Glory etwas dazu sagen konnte, war Mira schon weg. Aber sie hatte recht. Glory wollte wirklich nicht mitkommen. Sie überlegte dennoch einige Momente, einfach nur einen Spaziergang zu machen. Etwas lockte hier, etwas lockte da.

„Ich hoffe, die macht keinen Blödsinn. Sie ist ganz schön viel unterwegs in letzter Zeit “, dachte Glory und war sich nicht klar, dass ihre Freundin dabei war, hinterhältigen Gedanken zu folgen.

Glory selbst beschloss, ein Schläfchen zu machen, es zog sie förmlich in diese Traumwelt. Es war so, als würde dort - und sie schlief schon ein – als würde dort jemand auf sie warten.

Glory war nicht die brave Prinzessin, für die viele sie hielten. Sie war ebenso in der Laune, sich einen Jungen zu angeln, wie es Mira tat.

Doch Glory wusste, dass da einer war, den sie noch nicht ganz gefunden hatte. Und keiner dieser Typen, die Mira gewöhnlich für sie anschleppte, war dieser EINE.
Ehrlich: Riev war auch kein Musterknabe. Doch welche Chancen hatte ihm das Leben bisher auch schon gegeben?

Glory hatte eine tiefe Sehnsucht nach sinnlicher, aber auch jener Liebe, die Bestand hatte. Eine Liebe, die man nur tief im Herzen finden konnte. Ihre Sehnsucht wäre beinahe schon zu einer Melancholie geworden.
Doch dann hatte das mit den rätselhaften Empfindungen angefangen und die Einsamkeit war wie Glas zerbrochen. Noch bevor sie ihre eiskalten Hände, ja Klauen, in Glory drücken konnte.
Riev hatte sie davor bewahrt, so wie sie sein Grund war, überhaupt mehr zu tun als im Seelenschmerz unterzugehen. Er agierte nach einer Intuition, die darauf abgestimmt war, Glory auf jede erdenkliche Art zur Hilfe zu kommen.
Das machte sein Tun gerecht und ließ nicht zu, dass sein Stalking etwas Kriminelles war.

Tief in sich fühlte sie jetzt im Moment des Einschlafens schon die Spur, die zu Riev führte. Sie kannte ihn nur noch nicht persönlich im wahren Leben…
Sie waren beide Träumer und waren in ihren Träumen soweit fortgeschritten, gewissen Idealen Platz zu machen, ihnen zu folgen- und wenn es Mauern durchbrach.

Sie wusste nicht, wer der unglücklich wirkende Schwarzhaarige mit den türkisen Augen im Park, an den Kreuzungen, im Stadtzentrum, in den Lokalen, wo sie hinging, war. Manchmal huschte er in Seitengassen, mit einem Tuch vor dem Mund, so als wäre es gegen die Kälte und den Wind, an ihr vorbei und schaute zu Boden.
Dennoch hatte Glory seine innere Einsamkeit wahrgenommen und erkannte ihn sehr wohl immer, auch wenn er es nicht für möglich hielt.

Es hätte so einfach sein können!
Doch Riev war ein blinder Passagier in Nachtgard, in der Obdachlosenszene bekannt, und er hatte Dinge getan, wo man noch immer nach jemanden suchte, der es ausgefressen hatte, um an Geld zu kommen. Er hatte auch mit Zeug, selten aber doch, Schulden bezahlt und ein paarmal an Studenten Gras verkauft. Er hatte generell mit Drogen zu tun, trank und rauchte.
Die Leute des „Kerkers“ suchten nach ihm. Es war ein Wunder, dass sie ihn noch nicht aufgegriffen hatten. Doch es gab viele Menschen in der Innenstadt, die seltsam wirkten. Das Schicksal hatte Riev nie fallen gelassen. Er war kein Monster, aber nicht der Vorführfreund für reiche Eltern. Er hatte, sozial gesehen, keine Zukunft gehabt, bis Poet ihn aufgenommen und ihn zu schützen begonnen hatte und mit allem versorgte, was er brauchte. Dennoch waren da so viele Schwierigkeiten.

Doch Riev hatte etwas vor.
Auch wenn der seltsame Junge Glory gefiel, war da etwas, was sie von ihm wegzog. Es war das verräterische Prinzip dieser Welt. Es waren die arroganten Menschen, es war ein gewisses Denkmuster, ein System. Es würde immer jemanden geben, der diese Beziehung sabotiert hätte – aber solche Dinge wurden Glory mehr und mehr egal.

Aus anfänglich klaren Gedanken wurde ein Halbschlaf. Dann öffnete sich ein Traum. Er kam mit dem Nebel daher, doch hob sich davon ab. Dieser Traum wollte den Nebel nicht. Er sehnte sich danach, alles klar zu sehen. Zumindest wollte da jemand seine Gefühle offenlegen. Und damit …war er nicht allein.
Es war noch unklar. Schwaden schoben sich zwischen Bäumen durch und machten eine klare Sicht unmöglich. Doch da war jemand.

Andere Bilder wollten sich hineindrängen, doch Glory war neugierig und nicht korrupt, wenn es darum ging, einer bestimmten Sache den Vorrang zu geben. Sie war neugierig und der märchenhafte Zauber dieses ihr irgendwie bekannten Waldes war zu verlockend.

Es lag Schnee. Man hörte ein Geflüster, das Gelächter von winzigen Wesen, und es raschelte im Unterholz, in dem kargen Geäst; und alles war wie ein Traum, der schon beinahe wie wirklich anmutete.
Auf dem Waldweg kam eine vermummte Gestalt daher. Sie sah Glory nicht und schien auch nicht zu vermuten, dass da jemand sein könnte.

Dann ..

Die Person blieb erschrocken stehen, als sie Glory sah - und begann dann zu flüchten.

„Wer ist das?“, wunderte sich Glory und verfolgte die Gestalt. Diese war schnell und geschickt, doch im Grunde wollte sie gar nicht entkommen. Glory spürte das und sie wollte tatsächlich wissen, ob ER es war oder …

Glory legte an Tempo zu.
„Wer bist du?“, rief sie. „Renn nicht weg von mir!“, bat sie die vermummte Gestalt- dann wuchsen Glory Flügel und sie hob ab.
Sie jagte die Person mit dunkler Kleidung beharrlich, bis sie sie erwischte. Die vermummte Person stolperte vor Schreck, hatte eine Wurzel übersehen und stürzte.

Glory kniete sich auf die gestürzte Gestalt, lachte verspielt, es war so, als tollten sie bloß herum. Sie merkte zuerst gar nicht, wie verängstigt der Junge war, dem sie das Tuch vom Gesicht wegzog. In diesem Traum war sie stärker als er und in gewisser Hinsicht war sie das ja auch.
Es war tatsächlich Riev.
Sie kannte seinen Namen nicht, doch sie wusste, wer er war. Der aus den wenigen anderen Träumen, die sie mit ihm gehabt hatte und er darin auftauchte – stets als erfreuliche Person, als etwas Besonderes. Nun hatte sie ihn viel deutlicher vor Augen und sah jeden Zug seines Gesichts. Und er konnte sie endlich so wirklich anschauen, so nahe wie noch nie, so frei wie noch nie.

Das war ihr Eingang in einen Traum, den schließlich beide erleben sollten.

Zeitgleich ruhte auch Riev- und egal, wo er war, er war noch fern in gewisser Weise. Nun war er aber so nahe bei ihr, dass es egal war, welche Grenzen sich zwischen die beiden schieben wollten. Sie hatten nun gegen die Gefühle der beiden keine Chance mehr.

Glory staunte, als sie Rievs Gesicht sah und dennoch war sie überglücklich. Endlich wusste sie, warum er ihr so nahe vorgekommen war, auch wenn er durch die Straßen huschte. Es war der, den sie suchte, und dies hier ein Traum, in dem sie auch ihr Leben außerhalb davon sah.

„Du hast mich also doch gefunden? Ich hätte nie gedacht, dass du mich hier aufspürst. Wie konntest du mich einholen?“

Riev schaute Glory auf dem Rücken liegend an und sein Blick verriet ihn. Er war ihr seiner Gefühle wegen ausgeliefert. Nicht, weil sie ihn jetzt zu Boden gerissen hatte – vorsichtig, aber bestimmt. Nein, sein Blick erzählte ihr, dass er sie liebte und es nicht leugnete, es nicht leugnen wollte.
Dieser Traum war so wirklich!

Der Junge war jener, der schon seit drei Jahren hinter ihr her war. Nur sein Stalking verunsicherte ihn selbst mehr, als es Glory irritierte. Zumindest verhielt es sich im Traum so, dort, wo die Karten auf dem Tisch zu liegen schienen.

Glory half Riev auf. Er trug eine seltsame schwarze Kampfbekleidung, was ihm selbst nicht bewusst war.

„Ich bin Riev Risenbach. Ich freue mich, dir endlich gegenüber zu stehen!“
Er gab ihr die Hand, woraufhin sie lachte und sich auch vorstellte: „Ich bin Glory Diesman, mich freut es auch sehr!“

Nun spazierten sie durch den Wald und sie hielten sich an den Händen. Es war beinahe wie in einer Form der Wirklichkeit, die Riev sich immer gewünscht hatte. Ein seidener Schleier verbarg noch einige Gedanken, die klare Sicht und die Sicherheit.
Ob dies tatsächlich beide synchron erlebten?
„Als ich dich in all unseren Reisen an meiner Seite hatte, dachte ich, dass dies schon etwas Außergewöhnliches war. Doch dies ist ein Schritt vor…, wie wirklich ist es?“ Riev stutzte.

„Das wüsste ich auch gerne“, flüsterte Glory.

Hier waren sie ein Paar und in diesem Augenblick war es den beiden beinahe völlig klar.
Aber wenn sie danach wieder aufwachen würden … - was war dann?
Es würde sich etwas in der realen Welt verändern.

Glory hatte Rievs übertriebene Schüchternheit einfach verjagt. Und so beschloss Riev etwas.

Er wollte aufs Ganze gehen!

Sie hatten sich weit umherbewegt, hatten sich jedoch nie erblickt, nicht in der Wirklichkeit, die doch weit über dem hier stand. Auch wenn hier alles so wunderschön gedieh, es war ein Traum.

Riev hatte mit viel Gefühl an Glorys Fantasie geklopft. Und nun hatte sie das Tor geöffnet. Sie hatte ihn ja sogar dabei erwischt, als er einen Hinweis auf sich im Wald befestigen wollte. In jenem Wald, von dem aus er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Das jedoch wollte er ihr in der Wirklichkeit erzählen.

Er wusste nicht warum, aber da es ein Traum war, waren Raum und Zeit keine Hürden. So hatte er ihr einen Ruf zuflüstern wollen in dem Moment, in dem er sie dort auf diesem Grundstück ihrer Eltern dabei beobachtet hatte, wie sie mit dem Hund gespielt hatte.
Ja, dieses Erlebnis hatte Riev in Nachtgard willkommen geheißen. Nicht, dass er sich in dieser Stadt wohlgefühlt hätte. Doch ein Ziel zu haben, war wohl das Beste, was einem widerfahren konnte, wenn man tief in der Depression verschollen war.

„Glory?“ Seine Lippen zitterten.
„Ich will mir über etwas im Klaren werden. Es stellt sich mir die unumgängliche Frage, ob ich träume, oder ob wir hier tatsächlich stehen – auf eine besondere, aber dennoch wirkliche Art und Weise. Wollen wir ein Date im wahren Leben ausmachen und schauen, ob wir uns dort treffen? Uns vergewissern, ob wir durch ein mächtiges und schicksalhaftes Band vereint werden sollen, oder ob alles nur lose Träumereien sind, die in der Wirklichkeit keinen Bestand haben?“

Bei der letzten Frage war seine Stimme deutlich geschwächt und zittrig, gerade als Hauch, als eine Art Gespenst, erschaffen aus tiefster Angst, hervorgetreten. Es war die Prüfung, die er da vorgeschlagen hatte, die sein ganzes geistiges Erleben bestätigen - oder eben nicht - würde.

Riev hatte all seinen Mut gebraucht, um dies vorzuschlagen.

„Du weißt aber, was es bedeuten würde, falls einer von uns dort nicht erscheint?“, entgegnete das Mädchen und sah tief in seinen Augen einen Ozean an Licht, den er nicht ohne sie bereisen wollte.
„Okay. Wo wollen wir uns treffen?“

Glory war also einverstanden – natürlich. Es war für beide etwas Wunderbares, was sie voneinander aber nicht sicher wussten. In Wahrheit hatte sie die große Sorge, dass einfach nichts geschehen könnte. Das würde ihren Zustand plötzlich wieder ausblenden, der ihr die letzte Zeit beinahe paradiesisch gemacht hatte. Es würde sich herausstellen, dass ihr Gefühl im Bauch, das goldene Licht hinter allem, verschwinden könnte.

„Bist du dir sicher?“ Riev investierte ALLES und dennoch brauchte er diese Antwort, die ihm das Leben geben sollte.

„Ja, ich bin mir da ganz unsicher, aber es ist eine gute Idee, eine reife Entscheidung. In einen Traum verliebt zu sein, ist zwar schön, doch dessen Verwirklichung wäre alles, was ich mir zurzeit wünsche.“

„Ich weiß, es ist etwas unromantisch, aber ich will nicht, dass du es dir aus Angst vor mir doch anders überlegst. Also denke ich, dass wir uns an der zentralen Bushaltestelle treffen sollten. Dort sind viele Menschen. Morgen am Abend, bestimme du die Uhrzeit!“

Riev hatte es zu einer beschlossenen Sache gemacht.

„Ich werde um sieben Uhr abends dort hinkommen. Ich würde es dir gerne versprechen, doch nur, wenn dies hier mehr als ein Traum ist, werde ich pünktlich, werde ich überhaupt anwesend sein. Ansonsten findet dies hier gar nicht statt. Der Pfad in die Wirklichkeit ist sehr schmal. Wir kennen uns ja dort überhaupt nicht.“
Glory war besorgt.

Da fuhr sie plötzlich hoch und Riev konnte sie nicht mehr greifen.

„Du schläfst?“
Mira war nach Hause gekommen und hatte nicht damit gerechnet, dass Glory hier um diese Zeit schlafen würde. Es war sieben Uhr am Abend. Draußen war es natürlich bereits dunkel.
Glory war verwirrt.
„Hi, Mira! Schon zurück?“, fragte sie gähnend und konnte sich im Moment gar nicht erinnern, dass Mira überhaupt weggegangen war.

„Na, ja. War nicht besonders spaßig. Der Typ mit dem Dope ist nicht aufgekreuzt.“

Glory dachte kurz nach, schüttelte dann den Kopf, lächelte und drehte den Fernseher auf. Es war noch zu früh, um schon wieder zu schlafen. Dabei hatte sie Riev so abrupt verlassen.

„Tut mir leid, mein Traum! In vierundzwanzig Stunden treffen wir uns“, flüsterte sie und starrte verklärt durch das Fenster.

Mira hatte das verstanden, reagierte jedoch nicht. Die Stimmung war sehr, sehr seltsam und undefinierbar.

Morgen um diese Zeit würde sich Glorys Leben mit Sicherheit verändern. Entweder sehr, oder sie musste sich neu orientieren.
Vielleicht konnte sie den Typ in Schwarz einmal ansprechen. Aber das war so fern der Wirklichkeit. Sein soziales Stigma war das eines Herumtreibers, wie man offensichtlich erkannte.

Und wie würde er wirklich sein?



Würde er dieser Traum sein, von dem sie nicht genug bekommen konnte?




Nachtgard 12

Himmel und Hölle

Der Bus rumpelte die unebene Straße hinab. Sein Weg führte über den Simaberg zurück bis ins Zentrum. Das waren schon ein paar Kilometer.
Der Bus bremste, es zischte und der Motor brummte bei der Abwärtsfahrt etwas unregelmäßig.
Die Scheiben waren teilweise beschlagen, es war nicht mehr der neueste Bus, doch sein Zustand reichte locker aus, um problemlos seine Route, nun in Richtung Stadt, zu fahren.
Gerade war er dabei, von den Höhen des Hügels in die unteren Gegenden zu rattern und würde bald in den dichteren Nebel eintauchen.

Es war bereits dunkel.
Riev starrte sich selbst an, als er sein Spiegelbild im Fenster sah. Er war in einer enormen Spannung, doch dies subtil. Er verdrängte etwas, wissend, dass es seine Pflicht war, auf diese Art die Freiheit über etwas zu bringen, was bisher alles war, was existierte. Daran hatte er nie geglaubt.
Konnte er jetzt Poet und Joschuan so weit vertrauen, dass dieses gestrige Ereignis tatsächlich in seinen Bereich gefallen war? Er war doch ein einsamer Junge von der Straße … gewesen.

Er bemerkte bei all diesen Gedanken, wie unsicher seine Augen flackerten. Er war sich der Wirklichkeit nicht ausreichend bewusst, um die nötige Gewissheit zu haben, woraus sie bestand. Und nun ging es um die Kehrseite von dem, was er nicht zu einer Einheit zusammenzufügen vermochte.

Dennoch konzentrierte er sich nun ganz auf die kommende Situation und auf das Schöne darin. Er konnte es aber nicht wahrnehmen, so, als wäre es nicht wahr.
Die schlimmsten Zweifel überfielen ihn, je näher der entscheidende Augenblick kam.
Es ging hier um jenen Augenblick, der Wahn und Realität unterscheiden würde. Er legte Irrsinn und den Sinn für Wahrheit frei, offenbarte beide Seiten und hielt Riev dies vor Augen, was er gewählt und angestrebt hatte, wofür er sich stark gemacht und schließlich entschieden hatte – letztlich alleine für das Leben, wie er es führen wollte.

Der Eingang ins nahe Ende sollte ab nun ein Gesicht haben, dessen Augen Riev standhalten musste, bis er sein finales Schicksal entgegennehmen konnte.
Die Härte der unabänderlichen Welt der Tatsachen würde Riev treffen.

Würde es ein Kuss oder ein Schlag ins Gesicht werden?
Noch nie standen sich Enttäuschung und Triumph so direkt gegenüber.
Der Junge erkannte, dass er viele Dinge als wahrhaftig festgelegt hatte, die letztendlich doch bloß der Rahmen von mehr oder weniger wahrscheinlichen Spekulationen sein konnten.

„Wie weit kann man sich dem gegenüber sicher sein, was ohne Zweifel feststeht?“
Dieser Gedanke trat immer wieder in seine Vorstellung und wollte ihm offenbar mehr Leid zufügen, als der Moment es verlangte, ja mehr, als er vielleicht verkraftete….

„Blöde Frage!“, tat er unwillig die Zweifel ab, obwohl er wusste, dass er so leicht nicht davonkam.

Er hatte nun vor, sich mit Glory zu treffen, und dies zum ersten Mal auf dem Boden Nachtgards von Angesicht zu Angesicht.
Eigentlich war er ihr schon sehr oft nahe gewesen. Einst vor drei Jahren, als er sie als ersten Menschen in Nachtgard erblickte, hatte Glory lediglich zwei türkise Lichter gesehen, die aus dem Wald beim Anwesen ihrer Eltern stachen und so zittrig wie jetzt geflackert hatten. Dennoch war es damals eigentlich das erste Mal gewesen, dass sie sich direkt in die Augen geschaut hatten. Hatte sie das vergessen?
Man fühlt ja weit mehr als nur die Sinnesreize bei einem schicksalhaften Anblick, wie deutlich er auch sein mochte.
Die Farben ihrer Augen waren so verschieden, doch auch darin lag ja etwas, das Riev in seinen Träumen immer als so romantisch erachtete.
Ihre haselnussbraunen Augen mit dieser sanften Tiefe, sie war reizend und zugleich beschwichtigend, zog einen ganz zu sich … in sich.

Dann eine Unebenheit auf der Straße, es gab Riev einen Stoß! Damit kam Ernüchterung.

Alle Berührungen und Worte, die bis jetzt ausgetauscht worden waren – in einem Traum - konnten wahnhaft gewesen sein, nur ein Rausch, durch Wunschgedanken hervorgerufen, oder einfach nur eben ein Traum, den Riev zu ernst nahm. Hier im Nebel war die Wahrscheinlichkeit klarer Sachbestände unter diesen Voraussetzungen äußerst wackelig.

Riev war ein Träumer, er hatte beinahe seine ganze Kindheit vergessen und wusste nicht, woher die Spuren führten, die sich hinter jedem Schritt auflösten, den er tat. Dies auch, wenn er wusste, was das für ein Ort wahrscheinlich gewesen war, den er immer als „Kerker“ bezeichnete, seit er wusste, was ein Kerker vermutlich war. Irgendwann musste er verstanden haben, dass es mehr als diese quälende Tiefe gab.
Da war die Seite der Hoffnung. Riev glaubte auch daran, dass das Mädchen begriffen hatte, dass er wirklich existierte, wie wandelbar diese Welt auch war, und auf welchem Pfad Riev es geschafft hatte, sich in ihre Träume zu schleichen, da er als Junge von der Straße, bekannt in Nachtgard als Penner, nie wirklich in ihre Nähe gekommen war.

Das war seine Sicht, jene Perspektive, die mit der Einsicht zerbröckelte, dass Glory nicht so oberflächlich war, eben nicht diese Art von Mädchen war, die einen Prinzen auf einem weißen Ross, wie im Märchen, wollte, nur weil sie nicht herumhurte.
Hätte sie Letzteres getan, wären Rievs Gefühle nie zu dem geworden, was sie jetzt waren.

Aber was Glory tatsächlich betraf: Sie suchte eben einfach den Richtigen und erst in den letzten zwei Wochen wirklich mit Nachdruck, da Riev in ihre Traumwelt gekommen war und seine Liebe dies im Grunde wusste. Er war nur kein naher Bekannter oder Freund von ihr gewesen, was aus der Sicht von Riev ein größeres Hindernis war als aus Glorys Perspektive.
Eigentlich hätte es ihn schließlich überrascht, wenn seine Liebe, die er für Glory empfand, die Liebe, die sie war und immer sein würde, nicht auch den Pfad der lebendigen Hoffnung gekannt hätte. Dies wusste er zwar nicht sicher, sie mussten aber doch verwandte Seelen sein!
Riev zweifelte zumindest an seinen eigenen Gefühlen nicht im Geringsten.

Er wusste, was er sich erwartete, und warum er jetzt in diesem Bus saß, die warme Luft der Heizung seine Beine und Füße wärmte, er den Simaberg hinabrumpelte, und trotz enormer Vorfreude fast in verzweifelte Augen blickte, wenn er den Blick wieder und wieder auf sein Spiegelbild richtete und darin jemand sah, den er womöglich nicht richtig kannte. Nicht im Sinne seiner tatsächlichen Motive, seines Sinnes und in Rücksichtnahme auf seine emotionale und menschliche Entwicklung.
Vielleicht träumte er wirklich nur dahin.

Der Geist der Welt war etwas, worin zahllose Seelen nach Wegen suchten. Doch gerade jetzt hatte er nicht das Gefühl, dass sein Bewusstsein nur ein Partikel davon war.

Er hatte so viel in den letzten drei Jahren alleine gelebt, gelernt und noch mehr als Möglichkeiten verstanden, die in Betracht zu ziehen waren. Aus ihm sprach der Wanderer einer bewegten Reise, die kaum jemand in seinem Alter hinter sich gebracht hatte – ja, der eigentlich jetzt erst in die ersten wahren Herausforderungen stolperte, da sein Weg die Straßen der Wirklichkeit kreuzte, jetzt da er erwachsen wurde und wie jeder seine Verantwortung übernehmen musste.
Alles davor war nicht mehr als der Weg hierher, und was kommen würde, war noch nicht völlig sichtbar.

Riev wusste es nicht so sicher, worin er sich zurzeit befand, auch wenn Poet seinen Geist gestärkt und Joschuan ihm Weisheit zur Verfügung gestellt hatte; hoffte aber so sehr, dass er hier im richtigen Bus saß und es der richtige Tag und die richtige Uhrzeit waren, und riskierte es einfach, schwer enttäuscht zu werden.
Denn seine beiden Freunde hatten sich in sein Liebesabenteuer nur so weit eingemischt, wie Riev sie darum gebeten hatte und es nötig war.
Nicklas war in dieser Sache sein Ansprechpartner. Doch der blieb ein Rätsel.
Zumindest gab er selten klare Auskünfte, sondern wirkte zwar selbstbewusst, aber weltfremd, auf ferne Dinge fixiert. Trotzdem riet er ihm dann doch wieder das eine oder andere und hatte Rievs Hoffnung aufrechterhalten.

Riev kannte Glorys Gedanken nicht, doch so wie ihre Persönlichkeit war, hätten sie ihn auch auf diesen untypischen Pfaden nicht von sich gewiesen. Das machte ja ein Märchen aus: Es war ungewöhnlich. Und etwas märchenhaft durfte es sein.
Glory war weiter als Riev sie einschätzte, doch ob sie es in Bezug auf ihn nun wirklich war, konnte er nun selbst herausfinden. Vielleicht war er ja irgendwo zwischen einer fremden Vision und der Realität. Das wäre zu wenig gewesen. Nur weil es so wäre, war es aber nicht unbedingt so, dass es auch wirklich so war.
So schwer das für Riev zu durchblicken war, so schwer hatte Nicklas es ihm gemacht, völligen Aufschluss über sich zu geben. War das seine Vorbereitung auf JETZT gewesen? Weil es konnte ja gut sein, dass Überzeugungen die Wirklichkeit prägten, oder zumindest eine Wechselwirkung mit ihr hatten.

Daher musste Riev völlig von dem überzeugt sein, was er im Begriff war zu tun.

Er erinnerte sich, dass ihm Nicklas erklärt hatte, dass er noch sehr an Sicherheit gewinnen und weit mehr bestehen musste als das, worin er damals gerade verstrickt war.
Taten seine Lehrer nicht alles, um ihm diese Sicherheit zu vermitteln?

„Jede Schulung des Geistes ist wichtig. Wenn es weh tut, dann wirst du an den richtigen Stellen in dir stärker, stärker als wenn du ausgelassen Freude und Erfolg feierst“.
Das hatte Poet ihm an jenem Tag gesagt. Hatte er ihm dabei nicht ermunternd zugezwinkert? Was wusste der Mann?

„Hätte ich ihn nur darum gebeten, mir in dieser Angelegenheit die Wahrzeit zu offenbaren! Hätte er mir diese Lektion dann erspart? Er wollte und will mich die ganze Zeit auf etwas vorbereiten, das jeden Moment beginnen kann. Gestern war ein Ernstfall. Was ist es heute?“

Rievs Gedanken dazu waren entschwunden. Er war auf die letzte Frage fixiert und das gehörte mindestens gleichermaßen zu seinem Leben. Nur was war für Nachtgard bedeutsamer?
Der Moment, in dem Riev sich befand! Egal, wo er war und was er machte!
Ebenso formten seine Wünsche und Entscheidungen den beispiellosen Weg, für den er Teil eines Mythos geworden war.
Es war hart, das Zentrum von etwas zu sein, wovon man nicht wusste, ob es existierte oder nur die verzweifelte Hoffnung von Leuten war, die sich im stürmischen Ozean der Elemente, aus denen die Wirklichkeit spross, selbst nur an Visionen und günstige Wogen des Schicksals klammerten- falls es diese gab.

„Nein! Zweifle nicht an ihnen! Sie sind das Fundament deines neuen Lebens!“, versuchte Riev sich selbst zu besinnen.
„Aber was ist das für ein Leben … und wie lange wird es noch dauern?“

Er hatte einfach nur einen flauen Magen – Schmetterlinge vor dem ersten Kuss!

So tröstete er sich und wollte sich zugleich in die aktuelle Situation zurückrufen. Bei all dem musste Glory jedoch wissen, wer Riev wirklich war, und sie war hoffentlich glücklich, eine Person aus wundersamen Träumen und Visionen nun zum ersten Mal als Menschen so nahe zu begegnen, der immer nur subtil in ihr Sichtfeld eingetreten war und dessen ganzes Auftreten ohnedies aus einer Fantasiewelt herankam.
So gesehen war Glory einer weit umfassenderen Veränderung ihres Weltbildes ausgesetzt, wenn diese Wahrheit für sie beide sprach.
Riev war durch Glorys Träume, ihre Fantasie, in ihr tatsächliches Bewusstsein gekommen und sie hatte sich darauf eingelassen, oder nicht.
Dies würde der Junge nun herausfinden.

Nun: Es geht eben auch kompliziert …

Jemand, der so lange um etwas gekämpft hatte, eine Vergangenheit überstanden hatte, die so furchtbar gewesen sein musste, dass er bis auf ein paar Blicke zurück, die abermals einen Kampf ums Überleben gezeigt hatten, alles in Vergessenheit zurückgelassen hatte – so jemand trug allein in seiner Aura eine Kraft, dass er interessant wurde.

Riev war ein guter Mensch, und seit er Glory das erste Mal gesehen hatte, wusste er genau, dass er sie wollte.

Da ansonsten in Nachtgard der Mammon zählte, war Riev eine Besonderheit. Glory war durchaus in der Lage, die wahren Qualitäten eines Menschen zu erkennen.
Riev ging weiter auf das ein, woran er glauben wollte.

Das Mädchen, das für Riev die Verwirklichung des Gegensatzes dessen war, was ihr Umfeld an Wertvorstellungen hochhielt und vorlog, welche Welt Nachtgard angeblich war, wurde in Glory zum Leben erweckt.
Der Widerspruch gegen ein Regiment, das Riev schon immer dafür verurteilte, dass er etwas wusste, was ein Tabu war!

Er sah in seinen Vorstellungen hinter den Nebel. Man sah es ihm an und deswegen war er vermutlich – so dachte er - als Kind diesem „Kerker“ ausgesetzt gewesen.
Er zählte die Dinge immer schneller zusammen. So als erföchte er sich eine Verwirklichung, die ihm Glory gönnte, wahrmachte und tiefe geistige Verirrungen ausschloss.
Da war etwas zu ihm gekommen, was ihn unterstützte und es erklärte ihm, dass er allein wegen dieser fortschrittlichen Gedanken obdachlos und einsam gewesen war, bis das Schicksal ihm Joschuan, Poet und dann schließlich den Moment schenkte, der nicht mehr fern war und ihm mehr bedeutete, als er sich in seiner Vorstellung ausmalen konnte.

Würde sich die ersehnte Wirklichkeit durchsetzen, wäre es ein bedeutsamer und so innig ersehnter Sieg!

Der Bus näherte sich den inneren Stadtteilen.

„Was denkst du, Joschuan? Wie wird es verlaufen? Wir sahen es noch nie, obwohl wir schon lange wissen, dass es nicht nur möglich ist, sondern eines Tages geschehen wird. Sogar unsere Feinde wissen das. Die Fantasie eines Wunsches und der Weg, den sich der Junge damit zu einem Menschen gebahnt hat, den er liebt, das ist…es wäre ein Zeichen mit Macht und der Beginn einer Folge von wichtigen Ereignissen“, verkündete Poet nahezu euphorisch.
„Ereignisse, die für den Durchbruch Nachtgards, dem Gefängnis so vieler Herzen, und die freie Sicht ohne Nebel unerlässlich sind. Wenn Glory und Riev sich wirklich treffen und lieben können, Joschuan – was haben wir dann erreicht?“

Joschuan und Poet saßen in des Künstlers Villa und blickten mit geistigen Kräften durch Rievs Augen und waren einerseits in Sorge, andererseits sehr neugierig.
Sie vertrauten Rievs Stärke. Er hatte gestern bewiesen, dass der „Griff des Kriegers“ noch da war. Nur war er noch ein Schatten seiner selbst, was auch immer passiert war.
Die beiden fieberten auch heute mit ihm mit. Ja, es ging um Glory, doch der Feind war nun auf der Hut, sie waren ans Licht getreten. Und nun hatte es sich so ergeben!

Poet hatte dafür gesorgt, dass Riev für jene „sichtbar“ war, die ihn liebten und auf ihn achteten. Er wusste, dass Riev in all dem einer gewissen Gefahr ausgesetzt war.

„Wenn der Sturm kommt, Joschuan, was wird rund um Nachtgard auftauchen? Was verbirgt der Nebel deiner Meinung nach wirklich?“

Der Bus fuhr in die Haltestelle ein.

Riev stieg mit zwei weiteren Personen aus dem Bus, hauchte eine Dunstwolke aus, blickte sich kurz um und stellte mit einem Blick auf eine Taschenuhr, die Poet ihm geschenkt hatte, fest, dass es noch einige Minuten bis sieben Uhr waren.

Es war kalt.

Einige Personen standen herum und warteten auf ihre Busse. Die Tram fuhr diesen Moment los und gab ein Läuten dabei von sich.
Trotz der Uhrzeit und der zentralen Lage war es ruhig, nur wenige Fahrzeuge fuhren auf der nahen Straße für Autos, die keine dreißig Meter von hier vorbeiführte.
Die „Bühne“ war aufgelockert, die Kulisse umgab still die Szene.

Schritte!
Riev kannte sie, doch er könnte sie auch verwechseln.
Nein, es waren die Schritte einer anderen bekannten Person. Riev war ein Stalker gewesen und hatte eine herausragende Sinnesschärfe.

„Mira? Sie ist hier irgendwo! Warum?“

Er täuschte sich womöglich wirklich, er war aufgeregt und mehrere Schritte vermischten sich hier.

Das hatte ihn aber noch nie daran gehindert … Ein weiterer Bus blendete ihn, zugleich Lärm - und für Riev eine fast chaotische Wendung des Augenblicks.
Er vergaß, was er zuvor gedacht hatte.

Rievs Aufmerksamkeit war am Limit. Jemand beobachtete ihn.
„Hat Glory etwa Mira zur Sicherheit hier irgendwo platziert?“
Er wurde ganz am Rande seines Bewusstseins ironisch: „Wie romantisch!“
Ein Flüstern im Schatten des Verdrängens.

Dann vertraute Schritte!
Er begriff, dass es Glory war.
Ihre Schritte klangen aber nicht ängstlich, nur vielleicht etwas schneller als sonst.

„Es ist ja schon fast sieben Uhr …“

Wie zwei Hände auf den Schultern ließ sich die Ruhe eines Engels auf ihn nieder.
Es waren Glorys Schritte und es war eine Melodie in seinen Ohren.

„Es ist also wirklich … Diese Art, auf den Boden aufzutreten, kenne ich, wie den Sog meines Atems.“

Wie oft hatte er diese Schritte schon gehört? Und keine Unsicherheit, keine Furcht trugen sie.
„Normalerweise ist hier viel …“ Der Moment unterbrach ihn.

Nun war diese Bühne ruhig und frei – was den Lärm des Verkehrs betraf. Sogar der Nebel wich, als die Schritte aus dem Park kamen und anhielten, als jene Person stehenblieb.

Riev stand mit dem Rücken zur Richtung zum Park. Von dort waren die Schritte gekommen. In seinen Gedanken hallten sie, wurden lauter und leiser. Bis es still wurde und sich alles miteinander zusammenfügte. Der Moment war ein Teil der Straße, der Park wuchs aus den Häusern, die Menschen tauchten aus dem Nebel auf und die Autos der nahen Straße waren Verlängerungen der Äste der Bäume.

Schatten legten sich ums Licht, das aus zwei Herzen kam.

Sie, Glory hatte innigst gehofft und sich auf Erwartungen gestützt, wie Riev. Die Veränderung ihres Weltbildes hatte sie angenommen und war dabei fast immer lächelnd an der Schwelle ins Unbekannte gestanden.

Riev wandte sich nun um ….. schaute einfach, was da war.
Der Nebel war freigiebig und das Licht großzügiger denn je. Dennoch sah er erst nur die Konturen seiner Liebe.

Stille.
Da erklang Glorys Stimme: „Riev? Bist du Riev Risenbach?“

Er sank in einen Zustand, der wohl alleine ihnen beiden gehörte, denn auch Glory überkam etwas Unbekanntes und nahm sie an der Hand, umhüllte sie ganz. Es geleitete sie in diesen Momenten des Wandels ihres ganzen Lebens.
Erinnerungen wurden zurückgehalten, lediglich zwei türkise Lichter strahlten aus einem Wald der Vergangenheit in die Gegenwart und legten sich in das noch vom Schatten verdeckte Gesicht von Riev. Er zitterte, hatte die Hände in den Taschen, nahm sie heraus und fuhr sich durch die Haare.

Dann senkte er den Blick etwas und das Türkis leuchtete auf.

Er schritt ungeachtet aller Gegebenheiten des Umfeldes beinahe aggressiv anmutend auf Glory zu. Es waren keine zwanzig Meter zu überwinden, doch die Zahl seiner Schritte überquerte eine ganze Welt, die zu seinen Füßen lag, er sputete sich, ehe die „Brücke“ zwischen JETZT und Ewigkeit noch zerbrechen würde. Da war natürlich keine zornig – offensive Haltung, er fokussierte nur sein einziges Ziel mit voller Entschlossenheit.

Er sah, wie Glorys Silhouette sich aus dem Nebel löste und der Dampf ihres Atems sich endlich durch den Lufthauch des Abends verlor, so zog ein Sog vorbei und gab den Blick in ihre Augen frei.

Riev vergaß alles andere!
Er fühlte ein Pochen in seiner Brust und seine Gedanken gerieten durcheinander. Zugleich erhob sich sein Herz zur Freude, diese wurde zur Erleichterung.

Riev nahm das Forsche aus seinem Gang, als Glory sich zögernd aufmachte, sich auf ihn zu bewegte.
Riev wurde noch um einen deutlichen Schub aufgeregter.

Glory steuerte Riev an, noch hatte er nicht geantwortet.

Von beiden bröckelten Ängste ab, beiden legte sich ein Teppich unter die Schuhe, beide fanden den Blick des Gegenübers, sie waren nur noch wenige Momente davon entfernt zu verschmelzen. Sie waren sich fremd, doch zugleich schon so vertraut.
Ihre Träume wuchsen in die Wirklichkeit und boten eine neue Kulisse für ihre Herzen.
Sinneseindrücke fügten sich zur Einheit, die der Raum und dann auch noch die Zeit, der Sinn der Dinge, aufnahmen.

Das Paradies wuchs für diese Augenblicke durch diesen Punkt im Sein.
Dann trafen sie aufeinander und nahmen sich zuerst vorsichtig in die Arme, blickten sich dabei in die Augen.

„Ja. Ja, ich bin Riev ... Risenbach. Glory?“
Riev lächelte, strahlte das Mädchen dabei mit einer Wärme an, die alle Reste an Zweifeln alsbald löste, so wie die Frühlingsluft den Schnee nur über Tage verblassen ließ.

„Ich bin Glory Diesman, ja. Ein Blind Date, was?“

„Ich sah dich schon immer“, erwiderte Riev und küsste sie einmal zärtlich, für Momente. Dann sah er sie an und betete kurz zum Dank in eine unbekannte Richtung.
Ihr Duft wirkte auf Riev wie ein Schritt in eine lange vermisste Heimat.

Glory fühlte, wie sich ihre Wünsche aus ihrer späten Kindheit, so märchenhaft sie waren, tatsächlich verwirklichten.
Es war doch ein „Prinz“. Nur war er auf Wegen zu ihr gekommen, die sie selbst
nicht verstand. Sie suchte auch nicht danach. Alle Antworten waren ja schon gegeben. Rievs Augen wurden leuchtend türkis und erwiderten damit die Schönheit ihrer haselnussbraunen Iris.

Dann glitten sie sich in die Arme. Er war unerfahren und Glory hatte noch nie zuvor so geküsst, wie sie es schließlich mit Riev tat – leidenschaftlich, bis sie sich stürmisch in den Armen wiegten und zu einem Licht in Nachtgard wurden. Empfand man so füreinander, spielten Erfahrungen keine Rolle. Es hing allein von den Gefühlen ab, und das erfuhren Glory und Riev schließlich auch.
Es strahlte am hellsten und in allen Farben zugleich, jede einzelne davon sah man in diesem Moment, der wohl das wertvollste Erlebnis beider bisher war, abgesehen von ihrer Geburt natürlich.
Es sollte für immer anhalten, er und sie, sie und er, beide hatten eine weite Reise in einer kleinen Welt, mit jedoch verzweigten Pfaden hinter sich, wie es nicht anders möglich gewesen war, und doch ergaben sie ein Muster mit Sinn.

Bisher war es die Geschichte von Riev Risenbach gewesen. Nun war er nicht mehr allein.
Die Liebe selbst war hier überall. Es funkelte und dennoch hatte jedes Licht seinen … Schatten.

Glory und Riev redeten miteinander, sie glaubten daran, dass die Zeit niemals enden wollte. Doch so nahe sie sich im Moment waren, so viel Raum gab es, der zwischen sie treten konnte, wenn nur ein Rad des Schicksals aus der Fuge springen würde.

Es verging gerade eine Viertelstunde. Man hatte sie ihnen geschenkt und vielleicht war es tatsächlich der Beginn einer Ewigkeit in vollkommener Liebe.

Doch Riev hatte vergessen, dass er ein vielgefragter Junge … Mann war.
Es näherte sich etwas …

„Ich bin schon so lange dein geheimer Verehrer! Wie lange warst du bloß ein Traum in der Ferne?“
Riev hatte seine Worte weise gewählt.

So vergingen Minuten und all die Zeit in den Träumen, in denen sie die Mauern überwunden hatten, in denen Fantasie und Träume in eine Realität übergingen, die nun zur Wahrheit geworden war, hatte so viel bewirkt. All der Lohn dafür band ihre Herzen aneinander.

Die Sehnsucht, die stets in beiden geblüht hatte, war erfüllt worden!

Blitze der Zeit, als Riev sie von weit weg beobachtet hatte, blinkten zum letzten Mal auf. Riev hatte sein Ziel vorerst erreicht. Er war noch nie so fern von klaren Gedanken gewesen.
Sie spielten mit ihren Gefühlen ein Spiel ohne Regeln, träumten ineinander.

„Siehst du Joschuan? Wir wissen nun, wie sich die Wirklichkeit und das Schicksal bewegen – ein Etwas mehr zumindest als zuvor. Das ist ein Zeichen für den Beginn der neuen Zeit.“
Poet war ergriffen, während Joschuan nicht so voreilig sein wollte. Sie wussten
noch keineswegs, wie es weiterging.

Riev spürte in sich immer noch die Spuren der Depression. Mit einem Schlag ließ sich ein Kratzer, der über zehn Jahre lang ins Herz geritzt worden war, nun auch nicht verschließen und heilen. Und da war ja noch was. Noch einiges …

Da: Riev erblickte plötzlich Mira. Er erschrak, sodass auch Glory hinsah. Miras Augen konnten niederträchtigeren Ausdrucks nicht sein. Der Nebel hatte einen kleinen Tunnel freigegeben, durch den trafen sich Glory und Mira nun auch frontal von Angesicht zu Angesicht.

Entsetzen.

„Was ist los, Mira?!“, rief Glory, und das Mädchen, das schon längst nicht mehr Glorys Freundin war, hatte offensichtlich etwas bewirkt.
Auch wenn sie sich der Ausmaße nicht bewusst war und im Hintergrund nur zusehen wollte, hatte sie etwas geöffnet, was nun Rievs Untergang sein konnte und wie ein Sargdeckel war.

„Komm mit, Glory! Lass diesen Straßenköter los und sei vernünftig. Du hast nur diese eine Option!“, brüllte irgendein hochgewachsener Mann. Er war hässlich, kaum menschlich, trug eine seltsame Uniform. Riev erkannte sie.
Der Mann war wie aus dem Nichts aufgetaucht.

„Ein Hundemensch!“, schauderte es Riev bis ins Innerste. Dennoch stellte er sich tapfer zwischen ihn und Glory.

„Da sind noch mehrere davon!“, schrie Glory und zog Riev weg, egal wohin, sie wollte ihn retten. Sie verstand die Situation ohne zu wissen, was da geschah.

Dann traten Männer in Polizeiuniformen von der anderen Seite an die Liebenden heran und zogen sie auseinander, ohne sich auszuweisen.

Riev brach das Herz, als Glory und er sich nicht mehr halten konnten.
Welch Schmerz.!

Diese Uniformen, die sie im Kerker getragen hatten – es waren DIE!
Das Gerüst seines Vergessens wackelte mit jedem Schlag, den sie ihm versetzten.

Riev musste kämpfen und verlor Glory aus den Augen.
Wie wild wehrte er sich. Er machte Sprünge und kickte, schlug mit der Faust so fest er konnte auf diese großen und beängstigenden Männer ein. Knüppel sausten auf ihn, als wollte man ein wildes Tier unter Kontrolle bringen – oder es töten.

„Wo ist der „Griff des Kriegers“?!“, brüllte Riev.

Zorn, Grauen und Verzweiflung fuhren durch ihn, doch die Kraft erwachte nicht. Nicht so, dass es annähernd ausreichte.

Nach wilden Schlagabtauschen hatten sie ihn am Boden und traten auf ihn ein. Blut floss. Doch auch Wunden schlossen sich wieder. Riev rang und zerrte am „Griff des Kriegers“.

„Verdammte Scheiße!!!“ KNOCK.

Dunkel.


Riev war ohnmächtig und wurde in einen Kleinbus gestoßen. Der verschwand im Nebel.




Nachtgard 13

Qualen bis zum Ende

Die Bruderschaft der „Nebelkinder“ war etwas Stilles. Wie der Nebel waren die Mitglieder auch überall zugegen, man bemerkte ihre Anwesenheit nur nicht. Sie standen durch Gefühlsbewegungen und Gedanken in Verbindung.
Ihr Kodex, das Gesetz, nach dem sie immer schon agiert hatten, wurde durch das mystische Buch Omega - es war auf einer Reise, deren Kurs niemand kannte und war das Zentrum dieses Kollektives- bestimmt.
Die Gründer der ersten Nebelkinder hatte Omega zusammengerufen. Omega hinterfragte man nicht, so wie man es nie erforschen konnte. Denn Omega war immer das Ende von Umständen, so wie sie nun in Nachtgard gipfelten, da die „letzte Generation“ in der Jugend war – still und leise war dieses Ende gekommen.

Die Mitglieder, die nun von Frederic vin Nord angeführt wurden, hatten es nun an Riev übergeben, einen Jungen, der eigentlich nur die Liebe gesucht hatte.
Dennoch kämpften sie nun mehr denn je. Es gab viele Perversionen, Unlauterkeit, unedles Treiben und Impertinenz auf ganzer Ebene, gegen das sie seit einiger Zeit im Stillen vorgegangen waren.

Das Geschehen am Vortag, auf Graf Zandorfs Anwesen, war der Schrei gewesen, mit dem sie als Vorboten des Sturms die Wende angekündigt hatten. Riev selbst hatte diesen Einsatz vorbereitet und war vorangegangen. Er hatte dem unheiligen Ritual mit den wachsenden Kräften, die ihm der „Griff des Kriegers“ allmählich übertrug, ein Ende bereitet.
Es war ein kleiner Krieg gewesen, denn diese Sekte stand im Zentrum der Führungsschicht in Nachtgard, die sich auf jener Seite befand, wo Gerechtigkeit und Güte keine Rolle spielten.

Natürlich verband jeder persönliche Motive mit dem Sturm, den Riev rufen sollte – er, da er gestützt auf entschlüsselte Mythen, dafür in Nachtgard erschienen war.
So brachte es ihm Joschuan allein bei. Schon seit er den Jungen zum ersten Mal bewusst beobachtet hatte, war es ihm klar gewesen. Er war sich auf Wegen sichergegangen, die sonst niemand beschreiten konnte, in all der Zeit, da er nur noch dafür wanderte, suchte und es Poet mitgeteilt hatte.

In kürzester Zeit, nachdem sich Riev und Poet – Frederic vin Nord als der Anführer der „Nebelkinder“ dieser Zeit - kennengelernt hatten, waren sie wie Brüder füreinander geworden. Obwohl Poet etwas mehr als zwanzig Jahre älter war und eigentlich als Sohn einer Adelsfamilie ein Sir hätte sein können, war der Junge von der Straße auf Augenhöhe mit ihm wunderbar ausgekommen, ja, sie waren in der Seele verbunden.

Daher tat es Poet so unendlich leid, das, was nötig war, zu tun, und das Riev unweigerlich miteinbezog. Wie viele Tränen hatte der Künstler deswegen vergossen?
Denn er wusste: Der Bringer des Sturms ist kein Heiliger, sondern lediglich einer, der tut, was getan werden muss. Was aus ihm wird, spielt gemäß den Mythen keine Rolle. Es konnte auch der Stich einer Biene sein. Von einer großen Romanze war auch keine Rede, dies, obwohl die Aufzeichnungen sehr genau waren.

Die „Nebelkinder“ taten all das, was nun kommen sollte, für die Freiheit, Gerechtigkeit und aus der Verpflichtung heraus, die sie klaren Geistes eingegangen waren, nachdem sie als „Einsame“ der Gesellschaft und dem System darin, den Rücken gekehrt hatten, und sie hatten alle ihre besonderen, individuellen Fähigkeiten, mit denen sie bereit waren, besonders jetzt hier einzugreifen.
Sie waren auf diesen Tag vorbereitet gewesen und daher lief beinahe alles nach Plan.

Riev war zwar wie ein wildes Tier abgeführt und niedergeprügelt worden, doch seine angestrebte Realität hatte sich davor verwirklicht.
Für Riev war ein Wunder geschehen: Ein Wunschtraum war zur Wirklichkeit geworden. Das hieß, dass die „Mauern“ des Nebels zu zerbröckeln begannen.

Riev war als letzter Einsteiger derjenige, der die Ziele dieser Organisation zum Abschluss bringen würde. Dieser Kampf stand noch bevor!

Hoffentlich schaffte Zeran es nicht, ihm die Kraft aus dem Herzen zu ziehen, den „Griff des Kriegers“, um ihn dann einfach den Hunden vorzuwerfen! Denn er sah Riev ja auch nur als Hund an. Er war für ihn ein Straßenköter, der jetzt wieder im Zwinger bereit zum Einschläfern war.
So sehr jedoch Zeran Riev lebendig brauchte, so sehr musste er ihn aber quälen und auf ihn einwirken, damit er den „Griff des Kriegers“ loslassen würde.
Zeran wusste, dass er ihn aus Riev herauszerren musste! Er hatte das Werkzeug, die abgerichteten „menschlichen Hunde“ und die Bosheit, dafür bereit. Das war sein sehnlicher Traum.

Poet war dem Kleinbus, in dem Riev abtransportiert wurde, auf den Fersen, er hatte Mittel und Wege, sich sehr schnell zu bewegen. Es gab Abkürzungen durch den Nebel und er war mehr als „gut zu Fuß“. Er setzte all seine Kraft ein und entfaltete das, was ihn mächtig machte: Eine verborgene Kraft, die er Riev beigebracht hatte. Sie war ähnlich wie der „Griff des Kriegers“, doch nicht so
hart erprobt. Sie war nun dafür da, dem, der den Sturm bringen sollte, so lange beizustehen, wie es nötig war.
Poet hatte zwar damit gerechnet, dass etwas in der Art geschehen könnte, wie es ja auch geschehen war, doch er hatte sich in seinen Hoffnungen vergraben, als er etwas an Rievs Kleidung angebracht hatte, das man als Sender bezeichnen konnte. Nun würden sie den „Kerker“ endlich finden!

„Riev, du warst kein billiger Köder. Du bringst den Sturm! Es ist Teil deiner Aufgabe, alles dafür auf dich zu nehmen. Ich konnte es dir nie so ins Gesicht sagen.“
Poet flüsterte vor sich hin, während er über die Dächer rannte und durch Nebelpassagen glitt, schwebte und sprintete – immer dem Signal nach. Wie ein Jäger, der seine Beute verfolgte und sie nicht aus den Augen verlieren durfte.

Rievs Träume seines halbwachen Zustandes waren der Versuch, den „Griff des Kriegers“ zu aktivieren.
Er sollte zwar durch eine betäubende Injektion völlig ausgeknipst sein, doch wenn er in drei Jahren durch den Konsum von Betäubungsmitteln etwas „Gutes“ gelernt hatte, war es die bloße Resistenz gegen alle Substanzen, die ihn außer Gefecht setzen sollten.
So rang er damit, wach zu werden und verbarg dies, während er immer wieder ins Träumen hineinsickerte. Er reiste durch die Zeit und blickte in den Geist verschiedener Personen, sah sein Leben aus vielen Perspektiven. Trotzdem konnte er sich auf das einstellen, was nun auch immer kommen würde.
Er rief nach dem „Griff des Kriegers“, wie ein Kind nach seinen Eltern, wenn es allein in der Einsamkeit war. Und er war nun so einsam wie noch nie zuvor. Das fühlte er wie einen Eisklotz in der Brust. Der Zorn in seinem Kern wurde groß. Die Lethargie begann zurückzuweichen und die Kampfbereitschaft hob sich allmählich.
Es überkamen ihn Gedanken, die neu waren, und er sah Nachtgard so deutlich vor sich, obwohl er auf dem Weg zum letzten Loch dieses Ortes war. Er empfand Wut, aber auch Bedauern über die Menschheit. Zerans Kirche hatte die Menschen manipuliert und belogen.

Riev kippte wieder weg und irrte in sich umher …

Poet war im Geiste bei Riev und flüsterte ihm zu. Er wollte ihn aufwecken, dies jedoch in ganzer Hinsicht. Er gestand sich ein, es verabsäumt zu haben, Riev all die Hintergründe zu vermitteln, die er selbst über Nachtgard hatte. Er hatte den Durchblick, Riev aber nicht.
Diese Lügen, die täglich über die Menschen ergossen wurden, waren beinahe sein ganzes Leben lang ein Dorn im Herzen gewesen. Zeran hatte diese Tradition der Lügen nicht nur weitergeführt, sondern bis zum Gipfel getrieben. Poet hatte es bemerkt und hatte es nicht wahrhaben wollen.
Seit seiner späten Jugend und schon davor, hatte Poet begonnen, die Tendenzen weiterzuentwickeln, sich von seinen Mitmenschen abzuschotten und sich eine künstlerische Parallelwelt aufzubauen. Er begriff zwar, dass sie Opfer waren, aber zugleich zu Tätern wurden, wenn sie nicht gegen ihre Opferrolle vorgingen, sondern in Passivität versanken. Spätestens, wenn das Verbrechen an ihnen und anderen offensichtlich wurde.
Er schrieb ihnen durch seine Kunst Botschaften, im täglichen Leben mehr Liebe, Verständnis und das Miteinander zu fördern. Das waren Grundaussagen seiner Werke. Auch wenn es im Grunde Fantasiegeschichten von Orten und Wesen waren, die klar aus dem Märchenhaften kamen, damit die Verlage es veröffentlichen durften, denn wahre Geschichten über Nachtgard und die Realität waren verboten. Es war für die Kirche zu bedrohlich, wenn man gewisse Themen ansprach. Sie mussten als Fantasiegebilde dastehen.

Während Poet die letzten Vorbereitungen traf, Riev dorthin zu folgen, wo auch immer man ihn hinbrachte, um ihm den letzten Funken zu übermitteln, der wohl das Ende ihrer gemeinsamen Zeit als Brüder im Geiste war, lächelte er, wollte sich etwas vormachen, dann weinte er und gestand es sich damit ein. Aber er musste noch etwas tun.

„Seine Vergangenheit hat es ihm nicht einfach gemacht, doch er hat in der Liebe zu Glory eine Kraft entwickelt. In der grauen Realität hat der Junge seiner Glory nachgestellt. Er ist ein Stalker mit Herz gewesen. Er hat dies gebraucht, um die Nähe zu ihr aufrechtzuerhalten und nicht davon abzukommen, die Hoffnung zu bewahren. Dann hat er sich förmlich durch ihre Fantasie zu ihr begeben, in seinen und ihren Träumen hat er einen Tunnel in den Nebel gegraben. Er ist wie eine meiner Märchenfigur, die ich erschaffen habe. Es war die stärkste und größte, konnte das erst auf den letzten Seiten eines Romans beweisen…, aber dafür so richtig.“

Poet hatte den Kleinbus erreicht und hatte sich auf dessen Dach – bildlich- festgekrallt.

„Riev Risenbach ist ein Held. Möge jeder denken, was er wolle…“
Es waren Gedanken, die ihn wärmten, Poet in der Kälte dieser Situation Mut machten. Auch er hatte seine Rolle.
Es würde Opfer geben auf allen Seiten und danach noch mehr, wenn Nachtgard vom Sturm freigelegt werden würde.
Das wusste der Anführer der „Nebelkinder“, und bei dem Gedanken wollte er sich in seine Villa zurückziehen, ein Bild malen und seine Grafiknovelle fertig stellen. Aber er blieb und war bereit.
Für Poet war es klar: Riev war gekommen, um der zu sein, der er war, und hatte seinen Charakter von dort mitgebracht, wo er erdacht worden war, um dann ins Leben zu treten.
Der Künstler war angetan und inspiriert, denn Riev war scheu und hatte vor den meisten Menschen Angst. Der „Kerker“, in dem er seine Kindheit durchlitten hatte – so weit er es wusste – hatte ihn inzwischen jedoch so weit korrumpiert, dass er verzweifelt war und von dieser einen Macht auserwählt worden war: Riev nannte sie den „Griff des Kriegers“, ein Mythos, egal, wie man diese Macht nannte.

Poet ließ dies alles durch seinen Kopf gleiten, während sie Riev in ein Gebäude schleppten, mit ihm alles andere als zimperlich umgingen. Hier war eine Armee anwesend. Zerans Köter waren bereit, Riev so einzukerkern, dass ihn niemals jemand würde befreien können.

„Zu spät! Das war ungeschickt von mir, doch ich werde da einfach reingehen und ihn bereitmachen. Ich habe hier sein Schwert. Keiner sonst kann es führen, außer mir noch.“

Doch Poet hatte auch seine eigenen Waffen dabei. Mit seinen geistigen Kräften fühlte er sich bereit, nun loszulegen.
„Vermutlich startet dieses existenzielle Ereignis dann also von hier.“
In Poet kam eine Sorge auf.

Riev war an jenen Ort zurückgekehrt, an dem er so sehr gelitten hatte. Man hatte ihn in den Albtraum zurückgeholt. Was musste der Junge denn noch alles durchmachen? Poet fühlte mit ihm und rannte los.

Im „Kerker“:

Riev erwachte mit einem Gefühl, innerlich zerstört zu sein. Und das war er vielleicht auch.
Er hatte so viel Kraft investiert, diese kurze Zeit mit Glory zu verwirklichen. Das war ihm das Ganze hier wert. Egal, was nun geschehen sollte, er hatte jenes Mädchen in seinen Armen gehalten und geküsst, für das er alles getan hätte. Er lächelte in sich hinein, sie war es tatsächlich gewesen…

Er war in den ersten Momenten, in denen er wach war, noch immer dort bei ihr, jetzt, da alles in sich zusammengebrochen, zerstört und verdorben worden war. Man hatte ihn grob aus dem Kuss mit seiner Liebe Glory weggezerrt, sie selbst weggebracht – er wusste nicht wohin, und nun erwachte er in Finsternis und weinte Freudentränen aus dem einen Auge und ließ die Verzweiflung aus dem anderen fließen.
Seine Sinne mochten verwirrt sein, sein Geist erschüttert, das Herz beflügelt und gebrochen in einem Moment. Brennende Flügel sah er in seiner Vorstellung.
Da, plötzlich ein Zischen, Pfeifen, Zirpen und Surren im Kopf, ein Tinnitus signalisierte ihm, dass all seine Hoffnungen mit ihm durch einen Abgrund bodenloser Qualen stolperten. Seine Urängste, die seine Kindheit zum Inbegriff der Lieblosigkeit gemacht hatten und das klare Bewusstsein, niemanden mehr zu haben, waren ein Sog, der an ihm zerrte – sein Leben wirbelte wie wild herum.

Doch sein Kern, die Seele, leuchtete, und wusste von ganz alleine, was zu tun war. Daraus sprossen die Schwingen seiner Imagination.
Doch nun schrie etwas seinen Namen.

Ein Spalt zu dem, was er sich wünschte, warf Licht in einen Raum, der tausend Jahre blind gewesen sein musste, so finster war es hier drinnen. Es roch und fühlte sich an, als befänden sich hier die finstersten Geister des Nebels. Hier entstand er vermutlich und zeigte sich dann überall an der Oberfläche. Riev renkte sein Bewusstsein so gut es ging ein.

Er konnte keine geistige Verbindung zu Glory herstellen. Er war einfach zu schwach dafür. Es war auch nicht die richtige Zeit, auch wenn er nur wissen wollte, wo sie war, ob es ihr gut ging, sie zumindest besser gelandet war, nachdem sie beide aus einem „Nest“ der Liebe gestürzt waren, das sehr hoch oben geschwebt war. Doch darin waren sie im wahren Hauch des Lebens zusammen gewesen.

„Riev, du bist noch am Leben! Nun musst du kämpfen. Sie kommen dich holen! Sei dir gewiss: Ich liebe dich und werde auf dich warten. Eines Tages … bald … werden wir wieder zusammenfinden. Aber nun musst du deine Pflicht tun, ok!“

„Glory? Bleib doch, meine Liebe, bitte ... Glory!“
Riev spürte, dass es nur einfach das war, was er hören wollte. Er wurde allmählich zornig.

ES BEGANN. Es war nicht der Zorn eines wütenden Jungen, der nicht das bekam, was er wollte.
Die Erde bebte kurz. Riev wurde es heiß.
Er war enttäuscht. Er war über alle Maßen um sein Glück gebracht worden. Die Kraft, die er schon lange nicht gespürt hatte, kam in ihm allmählich zum Vorschein, ganz langsam, zog sich wieder zurück, kündigte sich wieder an und bewog ihn, mit Mut voranzuschreiten, mit Mut und kontrolliertem Zorn.

So fühlte es Poet, der näherkam.

„Hey! Hey! Mach diese Scheißtür hier auf! Ich… ich verrate euch, was ich über die „Nebelkinder“ weiß, ich gebe auf, bin ohnehin der Falsche – wenn ihr es schnell macht - kurz und schmerzlos!“
Er tat, was getan werden musste. Seine Strategie war ein Instinkt, der ihm diese seine aufkommende Kraft einflüsterte.
Sie ahnten vielleicht, dass er einen verzweifelten Versuch starten würde, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, aber was wussten sie schon? Ihre Gier nach dem Mammon, der sie antrieb und zog, ihr Futter war und den sie einatmeten, wollte sie glauben lassen, dass dieser für sie schädliche … Parasit, wahrlich so war wie sie, nur eben auf der Gegenseite.

Doch er bereitete alles vor ...

Einige Zeit tat sich nichts, doch dann ging die Tür des dunklen Raumes auf, es ratterte und knarrte …der Umriss einer ansonsten durch das Blenden unerkennbaren Person trat herein. Hinter ihr standen zwei weitere Personen. Beinahe Hünen, mit Schultern, die so breit wie die verdammte Tür waren.
Das Licht dieses Kerkerlochs ging an und ein altes Gesicht wurde sichtbar, eine Vision eines Albtraums öffnete sich wieder.

„Zeran!“, flüsterte Riev, offenbar doch eingeschüchtert.

Der Mann trug eine Würdenrobe. Er war der Inquisitor der Kirche von Nachtgard, die sich hier vor Riev zeigte – sicher, den Jungen schon bald zu zermalmen. ER hatte ihn seine ganze Kindheit immer wieder gequält. Daher hatte er eine gewisse Autorität über Riev.
War es Hass? Nach all der Zeit?

Alle übrigen waren unbekannte Personen, die im Verborgenen die Geheimnisse hüteten. Wissen, das sonst keiner kannte – noch…

„Du wirst deine Freunde verraten, um sie uns auszuliefern? Aus dir spricht Vernunft. Du machst in dem Fall das Richtige. Du hilfst der Zivilisation, auch wenn dir das vermutlich egal ist, du „loyales“ Mitglied der „Nebelkinder“! Ha! Ha! Ja, ich schneide dir selbst die Kehle durch.“

„Dito!“, flüsterte Riev und starrte Zeran direkt in seine stechenden Augen.
„Ein Versprechen!“, lachte er kurz und das Türkis seiner Augen leuchtete auf. Es erschallte seine verlorene, aber nun wieder gefundene Stimme.

Dieser Mann hatte Riev viele Male an die „Maschine“ angeschlossen, die furchtbare Dinge bewirkt hatte. Es fiel ihm wieder ein …Ja, es war eine fremde Technologie. Nichts innerhalb von Nachtgard funktionierte danach.

„Geleitet ihn doch bitte in den… Verhörraum. Wenn er sich wehrt, tragt ihn auf Händen, ha, ha!“, wies dieser ältere Mann mit schon schütterem Haar, frohlockend und siegessicher an.
Seine Schwäche war, dass er sich für den wahren Erben jener Kraft hielt, die Riev als den „Griff des Kriegers“ bezeichnete.
Kräftige, offensichtlich gewaltbereite „Hundemenschen“ näherten sich rasch und packten Riev. Ihre Gesichter waren die von Rottweilern, vermischt mit menschlichen Zügen. Erkannte er die? Riev rang gegen seine Angst. Sie waren abgerichtet und zerfetzten auf Befehl. Kreuzungen aus Menschen und Tieren?
Etwas kaum Vorstellbares!

Riev wusste, dass sein Leben hier nichts wert und er diesem hässlichen Priester ein Lieblingsfeind war. Niemand hatte sich jemals so gegen dessen Mittel und Wege aufgelehnt. Es war dessen PERSÖNLICHER Glaube, der hier alles bewegte und unter Kontrolle hielt. Nur diesen Riev hatte er jetzt das erste Mal SO erlebt: Resignativ und kooperativ. Natürlich war das Spiel in seiner Endrunde, aber noch nicht vorbei.

Riev musste schnell handeln. Es war kein Plan, der lange auf die Durchführung warten würde. Es musste alsbald losgehen.
„Griff des Kriegers ... wo bist du, verdammte Scheiße?“

Die Macht Zerans war groß.
So viele und starke Hundemenschen!

Poet hatte diesen Ort fast erreicht und rannte, so schnell er konnte, durch die Korridore. Dunkelheit war hier ein „Wächter“, mit Licht fiel man auf.
Vermutlich hatte noch nie jemand Poet so sprinten gesehen.
Poet war ein begnadeter Schwertkämpfer und kam Riev mit schnellen Schritten entgegen.
„Scharfe Hundmenschen“ ließen ihr Leben. Es ging um ALLES!

„Halte durch, mein Bruder!“, flüsterte Poet, während er sich in diesem Ort einen Weg schuf, Blut fließen ließ und das nicht schön fand, weil am Töten nichts Schönes war. Er hatte aber auch keine schnelleren Methoden! Es waren harte Zeiten!

Endlich wussten die „Nebelkinder“, wo der „Kerker“ war. Die Hölle so vieler Menschen, die fähig gewesen wären, zu erkennen, dass Nachtgard DOCH nicht das Einzige war, das existierte. Oder sie hatten sich anderwärtig „schuldig“ gemacht. Hauptsächlich ging es aber gegen Rebellen und speziell um „Wissende“.
Für die Kirche waren diese Personen gefährliche Subjekte. Die meisten wurden getötet, wenn sie bis etwa fünfzehn Jahren noch nicht umprogrammiert waren – nachweisbar. Man sollte es nicht glauben, aber dies war ihre Auffassung von Gnade!

Eine Gruppe von „Nebelkindern“ lauerte auf den richtigen Moment, den „Kerker“ zu öffnen, alle in Kampfkleidung und zu allem bereit.
Riev erzählte Zeran nur selbst zusammengereimten Schwachsinn, so brillant verkehrt, dass es fast schon komisch war. Er bereitete sich innerlich darauf vor, den „Griff des Kriegers“ über sich hereinbrechen zu lassen, während er leugnete, ihn zu kennen. Noch fühlte er ihn sehr schwach, auch wenn er in sich zornig, aber auch ängstlich war.

Zu all dem fehlte etwas. Es war die Kraft der „Güte und Geborgenheit“, das feminine Gegenstück zu Rievs Urgewalt.

Riev wurde geschlagen, wenn er spuckte und lachte, ihnen erklärte, welche Scheiße er ihnen erzählte. Sie merkten, dass er sich lustig machte – den sicheren Tod erwartend.

Zeran war ratlos. Er wollte Rievs Kraft.

„Du hast mich auch schon mal verarscht! Weißt du noch? WIEDER UND WIEDER, DU BESTIE!“, lachte Riev, während er geschlagen und getreten wurde.

Er erwies sich als extrem robust. Mit dieser Eigenschaft hatten sich Raufbolde in Nachtgard an ihm mehrmals die Zähne ausgebissen.
Ein normaler Mensch hätte das nicht überlebt, doch der „Griff des Kriegers“ raste herbei und schon stärkte er Riev immer mehr.

Sie prügelten weiter. Für wissenschaftlich präzise Foltermethoden hatte Zeran keine Zeit. Er war süchtig nach dieser Kraft und auch wenn er es nur mit Boshaftigkeit zeigte, begehrte er den „Griff des …“ so, dass er Kummer verspürte.
All seine Träume lasteten darauf.

Zeran stoppte seine Leute noch einmal, als er das Ganze sah. Er konnte nicht fassen, dass aus Riev nichts Brauchbares zu holen war.

Riev schloss die Augen und ließ locker. Er war jetzt schon verletzt. Aber NOCH waren es nur Prellungen, Cuts, zwei ausgeschlagene Zähne und eine angeknackste Nase, die blutete, gebrochene Rippen ...
Er blieb am Boden sitzen und rief in sich hinein. Wo war die Kraft, die er brauchte, um hier aufzuräumen?

Poet nahte. Er fühlte es einfach, dass Riev nicht zurechtkam. Noch nicht!

Einer der Wärter brüllte: „Steh auf Risenbach, sofort!“ Er trat ihn in die Seite.

„Kann nicht mehr“, keuchte der Junge verzweifelt. Sein Leben war vorbei. Er wurde in Stich gelassen – so dachte er und stellte sich noch einmal Glorys Gesicht vor.

Zeran erkannte, dass er nur noch etwas Zeit brauchte.

„Nun gut, du Ratte! Ich sehe, du bist verwirrt. Ich gebe dir noch eine Chance. Willst du jetzt … einem langsamen und grausamen Tod entrinnen oder nicht? WAS BILDEST DU DIR NOCH EIN?!“, schrie Zeran Riev an und stieg dabei auf das Gesicht des Jungen – nur leicht, und zog eine Pistole, zielte auf Rievs Gesicht, grinste mit bitterem Ausdruck ironisch und steckte die Waffe wieder weg.

„Ich schließe dich noch einmal an die gute alte Maschine an. Dann bringen wir es in deiner SEELE zu Ende –Riev, mein „Sohn“! Antworte auf die Fragen des Geistes dieser Maschine. Er will ALLES wissen, ha, ha!“

Man hörte, dass sich jemand näherte.

Kampfgeräusche.

Der Priester hatte dafür jetzt weder die Zeit noch die Lust, sich auf etwas einzulassen, was alles nur noch verzögern würde.
Er zerrte Riev aus dem Raum und rief noch ein paar Hundemenschen herbei.

„Wer das auch ist. Zerfetzt ihn! Ich habe bald, was ich brauche!“

„Riev hat am Boden eine Blutspur hinterlassen. Jemand muss das ja aufwischen …ha, ha …“ , knurrte einer der Hundemenschen, die ihre Knöchel an den Händen betrachteten. Sie waren rot. Die Hundemenschen lachten.

„Ich mach´s ni….“

Einer sackte tot zusammen.




Nachtgard 14

Traum der Weiten

Eine weitere Erinnerung….

Ich war wieder an jenem trostlosen und ausweglosen Ort. Das Böse trieb hier spürbar seine schrecklichen Spiele, die Schikanen untereinander waren schlimmer geworden. Immer mehr Leute taten sich gegen mich zusammen, aber auch untereinander war bei ihnen kein Frieden mehr möglich.
Verzweiflung fraß immer mehr Anteile der Herzen, und nur jene, die ein starkes Herz hatten, konnten sich über der Oberfläche halten, die Geister schied; es waren wenige und die Übrigen ertranken in diesem geistigen Abgrund, der für uns ausgehoben worden war, weil wir nicht in ein strenges Konzept passten. Aus besonderen Kindern und Jugendlichen wurden hier Monster mit einem verstümmelten Bewusstsein geschaffen. Ich glaubte, dass sie Rekruten des Bösen waren.
Ich tat alles, um standzuhalten und nun überschnitten sich zwei Zeitebenen, eine Kreuzung war entstanden. Aber es würde die letzte sein, nach all den Straßen und Wegen, die ich hinabgeschritten, getorkelt und einfach gewandert bin.

Ich war die meiste Zeit mit dem „leuchtenden Jungen“ zusammen. Ich war sein Bruder, bewachte ihn und erhielt dafür seine Dankbarkeit in Form von Respekt und Freundschaft. Er vertraute mir alles an, was er träumte, wonach sich seine Sehnsucht ausstreckte. Ich verstand erneut nur einen Teil, dann driftete ich wieder in tiefe Tagträume.
Er war still, aber auch weise, so viel war mir bewusst. Ich hätte die Feindseligkeiten an sich verstanden, ich sah auch ein, warum sie gerade auch mich so hassten, doch was sie dazu brachte, den Kleinen so ins Visier zu nehmen, wollte mir nicht eingehen.
Zugleich fühlte ich einen scheußlichen Neid auf unsere Freundschaft, der wie eine offene Verletzung die Aggressoren blutdurstig machte, denn dieses Licht, das dem Kleinen alleine gehörte, war auch in meinen Augen wertvoll, und auch wenn ich es nicht verstand, leuchtete es über der bewussten Wahrnehmung aller Leute dort.

Nur Priester oder Vater Zeran, ein sadistischer und ironischer Mensch, sah es auch. Und das war es, was es tragisch machte…

Ich war bestimmt schon vierzehn und mein kleiner Bruder vielleicht zwölf, er konnte auch dreizehn Jahre alt sein. Es war hier nicht wichtig, was oder wer man war. Wir waren eine Ressource minderen Wertes, wenn wir nicht zu willenlosen und grausamen Kreaturen wurden – Hundemenschen: Dieses Wort geisterte in mich, kam von irgendwo her, und ich stand diesen Kreaturen mit einer anschwellenden Abneigung, aber auch Angst gegenüber. Ich sah mich selbst träumen, und dies hier war wie ein Albtraum aus der Kindheit. Es war klar, dass sich die Zeiten auf eine mir unverständliche Art überlagerten. Nur kannte ich die Zukunft nicht annähernd so wie die Vergangenheit, die ich von ihr aus beobachtete. Diese Einsicht war sehr undeutlich und ich verstand meine Gedanken selbst kaum.

Der „leuchtende Junge“ war körperlich schmächtiger als ich. Doch ich trainierte, wenn sich eine Gelegenheit dazu bot, sehr hart und focht dann seine Kämpfe aus.
Ich wusste, er würde es mir einmal auf seine Art danken, wenngleich ich es nicht deshalb tat. Da aus uns vermutlich das werden sollte, was die hünenhaften Aufseher darstellten, hatten wir doch genug zu essen. Es schmeckte zwar so, als hätte es schon jemand vorher verputzt und nun sollten wir es noch einmal zu uns nehmen. Aber es war nicht giftig oder schädlich. Daher stärkte ich mich und machte Liegestütze, Klimmzüge, Bauchmuskeltraining, boxte gegen die Wand – oft so lange, bis ich blutig war. Doch ich tat mir nicht weh, wenn ich jemanden einen Zahn ausschlug.
Ich war drahtig, gelenkig und baute meine Muskeln nur dazu auf, den Feinden, die ich dort hatte, einen Respekt abzuverlangen, der auch dann da war, wenn der „Griff des Kriegers“ mich nicht führte. Er war damals ohnehin nur ein Flüstern und Säuseln …ab einer bestimmten Nacht wusste ich es, es so zu verstehen.

Im Schlaf träumte ich, wie ich in den Wolken frei umherflog, hoch über etwas, was wohl das besagte Nachtgard war.

Hochnebel und Wolkengewölbe verfinsterten die Sicht.

Nach einiger Zeit sah ich etwas rosa – orange durchschimmern und näherte mich dem neugierig. Dann zeigte sich mir etwas. Womit ich das erste Mal konfrontiert wurde! Ich stieß nach einer Weile aus den Wolkentürmen heraus und war vom Nichts umgeben – so meinte ich, aber ich schaute mich um …
Ich sah plötzlich in eine Ferne, die so schön war, wie sie mir Angst machte, ja Ehrfurcht einflößte. Es ging in jede Richtung so unheimlich weiter. Ich wusste damals nicht, was ich da sah. Ich zitterte und es wurde mir bewusst, wie klein ich in Wahrheit war.
Noch nie zuvor war es mir so deutlich geworden, dass Nachtgard größer sein musste, als man dachte. Ich wusste schon, dass es über meinem „Zuhause“, dem „Kerker“, einen Ort gab, den man „Nachtgard“, „Stadt“ oder „Welt“ nannte, und ich kannte grob dessen Aussehen und vermutete ein paar Eigenschaften. So viele Bilder waren zu mir gekommen, ohne dass ich wusste, woher sie gekommen waren.
Ich fuhr herum, mir war es panisch zumute, doch ich zwang mich so lange, wie ich es nur irgendwie ertrug, die „Weiten“ zu betrachten. Ja, so konnte man das hier nennen.
Unter mir war die Stadt, doch der Nebel überdeckte sie. Dennoch wusste ich, dass da das verdammte Nachtgard war – „alles“, was existierte. Als ich diese Furcht zwar überwunden hatte, mich aber nicht länger der Gefahr aussetzen wollte, fortgesogen zu werden – wohin auch immer - kehrte ich um und wähnte mich, zurück innerhalb der Wolken und des Nebels, in Sicherheit. Oh, wie dumm ich doch war: Ich floh vor der weiten Freiheit und brachte mich in der Gefangenschaft in „Sicherheit“.

„Erkennt ihr euch wieder?!“, flüsterte ich, wusste aber nicht warum. Zuvor waren wahnsinnige Ängste über mich hergefallen, nun wähnte ich mich sicherer, weil ich nicht sah, was da war – aber glaubte es zu wissen …

Plötzlich sah ich einen tobenden Riesen. Er zerstörte einen Teil dieser Welt. Rasend, außer sich, brüllte er. Die Menschen unterhalb schrien, ich vernahm panisches Chaos, nur leise und mehr als Idee, denn als tatsächliche Sicherheit. Zorn brach über die Stadt herein. Das machte mich mehr als ängstlich - warum? Was tat denn dieses Monster da und wer hatte es dazu gebracht?
Natürlich überschlugen sich zahllose Fragen … aber es war doch ein Traum, daher vergaß ich sie sogleich wieder – ihre Antworten sollten aber zu mir kommen, bald …
Ich wurde durch das Gebrüll eingeschüchtert, näherte mich dennoch diesem Riesen, obwohl ich am ganzen Leib bebte und ganz bestimmt überfordert und vom Entsetzen überwältigt war. Wie eben vor dem grenzenlosen Anblick.
Dieser aber sollte meinen Geist für immer in eine bestimmte Richtung vorantreiben. Über all die Zeiten der Tragik und der Dramatik meines mehr oder weniger verstörenden Lebens hinaus, zumindest, wenn man von einer gewissen Distanz darauf blickte und doch hörte, was immerzu ich dachte, ja weit darüber hinaus.

Ich flog wirklich gekonnt und hatte meine Bewegungen völlig im Griff, unter Kontrolle. Die gute Beherrschung meines Körpers hatte ich trainiert, aber öfter einsetzen müssen, wenn ich wieder und wieder gegen Gruppen von gewalttätigen Einfaltspinseln einfach nur das tat, was ich tun musste.
Während das eine Frage des Herzens und der Unbeugsamkeit war, musste ich hier das vollbringen, was mir mehr als Mut abverlangte; da ich nicht wusste, dass ich träumte, aber mein „Ich“ aus der Zukunft hier irgendwo mitfieberte, stellte ich mich nun dem Riesen gegenüber – in den Höhen meines Fluges, den ich mit Muskelanspannungen meiner Arme alleine kontrollierte.

Als ich auf Kopfhöhe des Riesen angelangt war, versuchte ich, ihm irgendetwas mitzuteilen, Augenkontakt aufzunehmen und mit ihm zu sprechen.
Er wehrte sich dagegen, doch so, als wollte er mich vor sich schützen. Worum es ging, hatte bereits begonnen, meine Ahnung zu betreten, doch was da genau geschah, wurde mir alsbald gezeigt: Der Riese war nicht nur wütend, er war traurig, einsam, er vergoss Tränen und sein Gebrüll war das Weinen eines ungezähmten Monsters, das gar nicht tun wollte, was es tat.

Ich rief perplex: „Geh aus den Wolken hinaus! Fern von hier geht es weiter, immer weiter, ohne Ende! Schau in die Weiten!“

Ein solcher Riese würde dort bestimmt die Schönheit erkennen, die ein freier Blick in einen Rahmen einer untergehenden Sonne und mit kleinen Lichtern, die aus dem Dunkel wie Hoffnung hervortraten, freigab, und sich nicht so fürchten wie ich zuvor.
Er wurde ruhiger, es interessierte ihn vielleicht und er blickte mir ins Gesicht. Dann erkannte ich in seinen Augen etwas, das mich vor Verwirrung und Schreck zum Absturz brachte.

Es war „ICH“, der da wild und zornig versucht hatte, etwas zu vernichten, das diese Trauer verursacht haben musste.

Es hob mich aus diesem Traum und ich kotzte beinahe, als ich mich von der Matratze auf den Boden rollte und mich mit dem Gesicht nach unten abstützte, sodass ich liegen blieb. Ich atmete, halbwegs zur Besinnung gekommen, aus, und es staubte mir ins Gesicht. Ich setzte mich hoch und rieb mir kurz die Augen und ich spuckte. Dann hielt ich still, da ein Wärter vorbeistolzierte, dabei trotzdem einfach nur wie ein Tier wirkte, das sich nach Fressen sehnte.

DAS WOLLTEN SIE AUS MIR MACHEN!!! Der Schrei hallte lange Zeit in mir noch nach, bis ich verzweifelt an der Wand in der offenen Zelle saß und den Kopf zurücksinken ließ. Ich wischte mir erneut die Augen und ein Gebet stieg aus mir in eine Richtung, die meine Worte alleine kennen mussten.


Zurück im Alltag …

Kaum jemand wusste seine genauen Daten, manche hatten nur Namen, die ihnen die Jungs hier gaben, man fragte genauso wenig nach Geburtstagen. Feiertage wären ein Witz gewesen, ein Tag war wie der davor und noch einmal. Es gab keinen Grund, so etwas zu feiern, gab es schon gar nicht für jene, die in dieser Hölle hier sich untereinander das Leben noch schwerer machten als es ohnehin schon war.

Keiner wäre jemals auf die Idee gekommen, dass es etwas Schönes war, auf der Welt zu sein.
Was einmal Freude hätte werden können, nahm uns Zeran täglich gleich am Morgen, wenn er durchging und heiter herumblickte.
Er musste ausgekotztes Menschenfleisch sehen, wenn er den dreckigen Haufen ansah, der wir waren. Doch er schritt flott und munter. Mir warf er gerne mal einen Blick zu und vielsagend hielt er ihn, so lange ich es tat.
Er hatte die Maschine, die wir alle fürchteten, und niemand beschützte uns vor ZERAN oder diesem Höllengerät. Er riss „es“ aus uns heraus und reichte es an die Götter weiter – Futter!
Wir alle waren Müll ohne nennenswerte Hoffnung.

Ich aber war Riev Risenbach, und das wusste ich. Ich gab auch nichts auf den genauen Tag meiner Geburt, doch ich wusste, dass sich in der kältesten Zeit mein Leben irgendwann jährte, und das entsprach der Ordnung, die mit Sinnbildern daran arbeitete, mich systematisch zum Aufgeben zu zwingen. Alle hatten es getan. Nur der Kleine und ich nicht.

Ich hielt mich am „Griff des Kriegers“ fest und der „leuchtende Junge“ an mir.

Auch wenn ich nicht die geringste Ahnung hatte, wo meine Wurzeln in den Eingang zum Leben mündeten, wusste ich mehr als die Jungs, die meine und die Feinde ihrer selbst waren. Wie dem auch war - ich fragte mich manchmal, wie wohl meine Eltern waren? Zugleich wusste ich, dass ich sie niemals sehen würde und mir für immer das vorenthalten wurde, was es hieß, jemanden zu haben, der seine eigenen Belange hinter die meinen stellte, weil er und sie mich liebten.
Jeder Tag war eine Tragödie, wenn man niemanden hatte, der einem etwas bedeutete.

Daher waren der „leuchtende Junge“ und ich Brüder, und ich warf mich immer vor ihn, wenn etwas auf ihn geworfen wurde. Ich wusste nicht, wie viele Brüche ich schon gehabt hatte und wie viele Schnitte meinen Körper interessant machten. Aber jeder „Makel“ war eine Zierde meines brennenden Herzens, das lauter schlug als alles andere, was da am Boden dahinkroch und Dreck fraß – was das auch war ...

Der „leuchtende Junge“ hatte mir nie verraten, wie er hieß. Ich meine, wir wuchsen heran und unsere Körper veränderten sich.
Manche bekamen karge Informationen von Zeran- wenn sie sich untereinander und mich verrieten- was ihre Abstammung betraf. Doch die Lieblosigkeit und Identitätslosigkeit war auch hier mehr als deutlich. Wir waren Tiere… Das wurde sichtbar, wenn einer von uns mit gesenktem Haupt aus Zerans Büro und Verhörzimmer, es war auch als Maschinenraum bekannt, schlich, und alleine irgendwo zusah, dass er seine Hosen nicht vollschiss.
Verletzungen an Leib und Seele waren danach die Norm.
Sie beobachteten uns den ganzen Tag, wie wir unsere Zeit totschlugen und soziale Gefüge bildeten, Kriege führten und Hierarchien entstanden.

Dann wurden wir wieder ausgefragt und an die Maschine angeschlossen.
Es gab auch Arbeiten zu erledigen, doch das war nicht der Sinn dieses Ortes. Ich ahnte, worum es ging, doch war zu dumm, mich zu verstellen und ihnen zu sagen, was sie hören wollten. Hätte es funktioniert, was wäre mit dem Kleinen passiert? Er war der Grund, hier zu bleiben.
Als ob ich eine Wahl gehabt hätte! Doch ich grollte ihm nie.

Das Zentrum waren Zeran und seine Maschine. Sie saugte Leben und spritzte Gift, raubte Gedanken und kämpfte gegen das Herz. Ich hatte dieselbe Panik, angeschlossen zu werden, wie die anderen auch.
Doch nur der „leuchtende Junge“ und ich redeten miteinander darüber.

Wir hatten keine Ahnung, was oder WER diese Maschine war. Es musste wohl der Teufel sein!

„Riev?“, fragte mich der „leuchtende Junge“.
„Was ist denn?“, erwiderte ich.
„Wir werden bald frei sein. Ich verspreche es dir.“
Es klang so, als ob er es ernst meinte.
„Wie?“, entgegnete ich lethargisch, nach einer kurzen Phase des Schweigens.

Ich weiß noch, wie er strahlte, während er mir dies verkündete, und dennoch waren seine Augen tief drinnen verräterisch und sagten mir, wie er sich tatsächlich fühlte. Ich verstand ihn wohl nicht so genau, aber ich hatte gemischte Gefühle. Von da an wusste ich, dass etwas geschehen würde und ich konnte es bestimmt nicht aufhalten.
Was es auch war, Hoffnung … war es vermutlich nicht, wovon der Kleine gesprochen hatte.


Ein Sprung … in der Zeit:

Ich erschien etwa eine Woche später. Ja, so fühlte es sich an. Es war etwa Mittag, kurz davor vielleicht, und ich bewachte den „leuchtenden Jungen“, als er sich so schnell er konnte, duschte. Das musste so schnell gehen, da man ihn schon mehrmals missbraucht oder es zumindest versucht hatte. Er sagte nichts dazu. Ich wusste es besser.
Um diese Zeit waren fast alle im „Futtertrog“, im Speiseraum.

Wichtig war, dass die Wärter dort waren. Sie waren wie Tiere, und seit es fast wöchentlich Massenschlägereien und Widerstände gab, waren es große, sehr kräftige Männer, die jedoch wie Hunde wirkten. Hin und wieder waren ihre Köpfe einfach wie die der Tiere aus den Zeitschriften, in denen es um Tiere ging.
Ich und der Kleine konnten lesen. Dennoch: Wir sahen auch die Bilder an. Wir hatten harmlose Zeitschriften, manchmal konnten wir auch gewisse Videos sehen und wurden so unterrichtet, dass wir, wenn wir uns Mühe gaben und überall mitmachten, als Erwachsene in Freiheit leben konnten.
Ich kannte Fotos vom nebligen Nachtgard. Sie waren schwarzweiß. Auch wenn der Nebel allgegenwärtig regierte, waren die „Hallen“ dort draußen so groß. So wussten wir wenigstens etwas über Nachtgard.

Dennoch wurden mein Bruder und ich von etwas oder jemand anderem belehrt, denn im Gegensatz zu den Rüpeln hatten wir die Gabe zu lieben – wie Brüder – besser gesagt, nutzten wir diese Gabe, um füreinander da zu sein, uns auszutauschen, Trost zu spenden, Zwischenmenschlichkeit nach der Art zu leben, wie sie vermutlich erdacht worden war.

Ich bewachte also meinen Bruder beim Duschen und riet ihm, schneller zu machen, da ich Stimmen näherkommen hörte. Der „leuchtende Junge“, der mein Bruder war, beeilte sich also. Es waren keine fünf Minuten gewesen, dann machten wir, dass ich ihn in Sicherheit bringen konnte.
Doch bei dem Herumeilen ließ er ein paar persönliche Habseligkeiten liegen, die ihm offenbar sehr wichtig waren. Er wollte nicht, dass ich sie unbedingt sehe. Es war schon einmal um einen Gegenstand daraus gegangen, als ich das erste Mal im Kampf wie ein wildes Tier herumgewütet hatte, als mich der „Griff des Kriegers“ aufgesucht hatte, um mich zu testen – so vermutete ich es danach. Daran erinnerte ich mich jetzt und in der Zukunft dachte ich auch daran. Unerklärbar, aber ich sah es einfach.

Aber was war an diesem einen Tag los?

Der Kleine haute ab und ich folgte ihm, blickte die ankommenden Jungs noch finster an. Das musste ich machen, damit sie mich fürchteten. Als sie mich sahen, wurden sie still und flüsterten miteinander, das Tempo zügelnd.
Ich schwor, ich wollte sie fertigmachen!
Ich hasste ihre Blicke, die nur in meinem Kopf wahre Formen annahmen, da ich immer noch alles mal mehr, mal weniger, verschwommen sah.

Irgendetwas geschah, während ein Bruch in meinen Erinnerungen den Schauplatz wechselte, um wenige Minuten katapultierte es mich aus dem Augenblick, in dem etwas passiert sein musste, was mir völlig entfallen war.

Ich war plötzlich auf der Suche nach dem Kleinen und machte während der „Mittagsfütterung“ Terror, weil er nicht hier war.
Dann erkannte ich die verräterischten Auren, die jemals hier aufgetaucht waren.
Die da wussten es!!!

Oder war es der Wahn, der über mich kam, als ich verstand, worin das hier aufgehen würde?
Ich brüllte sie an und wurde fast schon wieder gewalttätig, da ich panisch um den Kleinen besorgt war.
Der „Griff des Kriegers“ war noch nie so stark gewesen, ich fühlte einen Zorn, doch ich sollte jetzt nicht zu raufen beginnen.

Ich sah durch Zufall im Hintergrund den Kleinen nach oben rennen. Ich folgte ihm, doch er reagierte auf meine Rufe nicht. Er war wie besessen. Ich brüllte, ja kreischte immer lauter, je höher er die Treppen hochlief.

Ich vernahm, wie er fast unsichtbar, aber hörbar weinend, etwas vor sich hin stammelte.
Etwa: „Das muss enden, das muss aufhören, ich will nicht mehr ...“

„Nein, nicht!“ Ich war zu weit hinter ihm nach.

Ein letzter Schrei … und … alles verschob erneut die Zeit, ich wurde langsam und hörte nicht die Stimmen, sondern offenbar die Gedanken aller, die zusammenliefen.

Er fiel etwa dreißig Meter, zwischen den Treppen, den Geländern vorbei, hinab in den Keller.

Die „letzte Generation“, wie Poet sie einmal genannt hatte, vielleicht zur selben Zeit, als das hier geschah … War der „leuchtende Junge“ einer von ihnen gewesen?

Er war gesprungen!

Ich erstarrte und alle anderen waren hier auch kurz eingefroren und anderswo erwacht ,sie erblickten sich alle untereinander und erkannten sich tatsächlich so wie sie waren, als sie kurz auftauchten.
Alsbald kehrten sie aber wieder in die Düsternis zurück, wo beinahe alle das vergessen hatten, was innerhalb dieses „Splitters“ aus Zeit, in dem sie aus dem Bodennebel der oberflächlichen Kämpfe um ihre Unterschiede- für alle so offensichtlich- aber kurz erwacht waren: Ihre Zusammengehörigkeit, die in der Wahrheit existierte.
Ein Wind dessen hatte jeden in dem Moment berührt, als der „leuchtende Junge“ am Boden aufschlug und zerbrach …
Der kurze Moment war voller Ruhe und klarer Sicht gewesen, und: Einer von uns allen hatte sich das Leben genommen. Obgleich wir Feindschaft untereinander hegten, waren wir kurz eins gewesen, offenbart durch den Aufprall des „leuchtenden Jungen“.

Ich stieg langsam zu meinem kleinen Bruder hinab und wusste nur, dass er sich selbst getötet hatte, weil er mich erlösen wollte. In verdrängten Albträumen hatte ich das kommen gesehen. Und der schuldige Blick, wenn es wieder einmal zu einem Schlagabtausch gekommen war! Ich wusste zwar nicht, was der letztendliche Auslöser gewesen war, doch als ich ihn auf den Rücken drehte, hatte er seinen wichtigsten Gegenstand in der rechten Hand umklammert und seine noch offenen Augen sprachen mir in die Seele.

„Nimm es an dich, Bruder!“

Und das tat ich dann auch, kniete neben der Leiche, und während ich da stumm in mich hineinweinte, ließ mich jeder in Ruhe. Sie wichen alle vom toten Jungen und mir, schauten betroffen und vielleicht verstanden sie nun, was wahrer Tod war. Ich fühlte, dass dies nur eine Pause war, aber sie ließen sie mir, da ich ohnehin besiegt war … ja … so dachte ich zuerst in dem Moment.
Dann aber implodierte ich beinahe durch den „Griff des Kriegers“. Er rüttelte und hob mich auf. Tat so, als würde er sich gegen mich stellen, bis ich ihn in mich sog und so stark wie nie zuvor war.
Ich konnte dem Kleinen nicht mehr helfen, es war zu spät. Doch ich konnte diesen Schub und die Tatsache nutzen, dass mich hier nichts mehr hielt.

Ich musste hier raus!!!
„Ich musste aus diesem „Kerker“ heraus!“

Ich blickte den Gegenstand an und sah, dass es ein kleines Bild war. Eine eingerahmte Zeichnung – von mir. Ich war darauf noch jünger, jedoch gut zu erkennen. Das sah ich klar und deutlich. Es würde mich immer an „Mich“ erinnern und an den Schutz, an die Liebe,
die ich dem Kleinen gegeben hatte. Niemals sollte dieses Gesicht von mir zulassen, dass ich mich vom Guten abwandte. Unterschrieben war es mit Nicklas! Nicklas und einem M. dahinter, was auch immer dies hieß.
Ich hatte mich selbst bis dahin noch nie durch die Augen von jemandem gesehen, der mich liebte. Egal, wer da aus den Spiegeln gestarrt hatte. Ich hatte sie gemieden, so gut es gegangen war.

Ich trauerte nur kurz, doch der Schmerz würde ewig in mir bleiben.

Dann begann meine Flucht. Ich improvisierte, rannte und rannte. Ich war voller Kraft, trat Türen ein und kletterte Leitern hoch. Es waren da Wartungsschächte und verlassenen Tunnel. Ich erblickte, als ich da in Trance war, sogar Knochen und Blut. Uraltes Blut.
Ich war umgeben von Geistern, die mich riefen und manche meinten es sogar gut, doch ich musste für mich bleiben, wenn ich diese Zwischenwelt überstehen wollte.
Es war der traurige „Traumabgrund“ des Nebels und nur mein Wille schleifte mich durch. Ich hatte keine Kämpfe in dem Sinn auszutragen und stieß nur von Zeit zu Zeit das Knie, den Kopf oder den Ellbogen an.
Rutschte aus und streifte unsichtbare Wände entlang. Ich wurde immer sicherer und fühlte eine herannahende Freiheit, auf die ich nicht zu hoffen geglaubt hatte. Endlich war ich…

Ich blickte mich um und als ich nach oben schaute, brach ich nur kurz in Panik aus. Ich fürchtete, dass mich etwas nach oben ziehen könnte, weiter als es mir lieb gewesen wäre. Dabei waren es nur Wolken und Nebel.
So weiß war der Nebel, dass er beinahe leuchtete. Das hellste Licht bis zu diesem Zeitpunkt blendete mich und erweckte so meine Augen für eine neue Art zu sehen. Nun erinnerte ich mich an den Traum mit dem Riesen, mit diesen Weiten, in die ich ihn geschickt hatte. Die wahre Bedeutung dessen war jedoch noch nicht ganz erfüllt.

War dieser Nicklas der Junge aus dem Luftschiff? Ich lächelte beim Erwachen und sagte mir:„Natürlich, wie könnte es anders sein.“

Das Schicksal einer Person war nicht viel größer und enthielt bei einer solchen Intensität nicht mehr Varianten. Es reichten jene „Figuren“ aus, die bereits auf dem „Spielbrett“ standen.

Ich „erwachte erneut im Traum“, als ich mich durch den Wald auf ein Anwesen zu bewegt hatte und die Konturen einer Person sah…

Hinter einem hohen Zaun stand da Glory und spielte mit ihrem Hund. Wandte sich plötzlich zu mir und sah zwei türkise Lichter aus dem Wald hervortreten, die zum ersten Mal diese frische Luft erlebten und diese Art der Liebe verspürten.


Sie verging nie wieder …




Nachtgard 15

Amen
Es war einmal …

Riev Risenbach kam im Alter von etwa vierzehn Jahren hastig rennend, sonderbar gewandet und völlig verwirrt in einem Wald im Norden Nachtgards zu sich, brauchte einige Zeit, in der er seine Situation annähernd begriff und allmählich zum Stillstand kam. Er fand erst einmal Ruhe, während er sich umblickte und zu akzeptieren begann, dass er nicht verstand, was geschehen war, was da passierte …

Er hatte die Dämmerung durchschritten, daher die Finsternis gesehen, und aufs Licht zustrebend, war er plötzlich bar jeder Erinnerung an die Zeit davor, in die Straßenszene integriert, obwohl er selbst dort nur ein depressiver, introvertierter Typ war und viel Zeit für sich verbrachte, herumziehend und durch die große Stadt streunend als ein Einsamer, und er begann einem Mädchen nachzustellen; er stakte es, aber auf eine friedliche Art. Er wollte ihm kein Leid tun, sondern sehnte sich nach Liebe.

Nach seinem seltsamen Erwachen lebte er also die folgenden drei Jahre auf der Straße und kämpfte dort gegen den Wahnsinn, gegen „Geister“ aus dem allgegenwärtigen Nebel, trank Alkohol, nahm immer wieder Drogen, darunter auch harten „Stoff“, und rauchte natürlich, wenn er das Geld dazu hatte.
Er überstand die Kälte Nachtgards durch seinen eisernen Willen und … sozialen Einrichtungen, für die sich ein Kreis aus Politikern, Firmenbesitzern, Amtsträgern, Idealisten aus allen Schichten und Sparten stark machte, und sich in der Großstadt für Obdachlose, Süchtige und psychisch Kranke, Einzelgänger ohne Halt, einsetzte.
Die meisten Reichen und Adeligen hatten nichts für diese „Straßenköter“ übrig. Sie verachteten sie.

Riev Risenbach war schlank, hatte mitternachtschwarzes Haar; ein Junge, der durch besondere türkise Augen - wenn man gerade in sie hineinblickte – auffiel, und sich so manchmal in den Erinnerungen von Menschen wiederfand, auch wenn er nur einem flüchtigen Blick ausgesetzt gewesen war, oder er der war, der hingeblickt hatte. Diese Augen verrieten viel und doch waren sie geheimnisvoll. Und das war er auch sein Leben lang gewesen.

Er litt. Depressionen sind ein vielgebrauchtes Wort, doch sie nagten ebenso an seiner Seele, und was das Entscheidende war: Glory, das Mädchen gleichen Alters – er war meistens in ihrer Nähe – war ihm so wichtig, dass er viel riskierte, drei Jahre lang ihr „Schatten“ zu sein – er kam ihr lange Zeit nicht auf normale Art vors Angesicht, außer einem Mal: Sie war auf einem Anwesen gewesen, das an den Wald grenzte, in dem er vor drei Jahren zu sich kam, hatte dort mit ihrem Hund gespielt. Sie war der erste Mensch, den er in Nachtgard gesehen hatte.

Er belästigte Glory nicht, beobachtete seine Liebe zwar oft, während sie auf dem Schulweg war oder am Abend mit Freunden ausging. Er war dann allein und schaute einfach, so verborgen er nur sein konnte, in ihr Gesicht, war verliebt und voller Sehnsucht, reiste durch die Pfade des Nebels, der Macht über Nachtgard hatte. Darin hatte die Realität eine Verbindung zu Wunschträumen, Ängsten, Sehnsüchten und der Fantasie.
Man vermutete, dass dies des Nebels Kraft war und dass man sie erlernen konnte. Riev war sich aber noch mehrerer Dinge bewusst und schrieb der Liebe einfach die Möglichkeit zu, Wege zu bahnen, wo sonst Mauern und Abgründe Grenzen bildeten.
Er wusste, dass er einen Weg finden würde, obwohl er als „Straßenköter“ kaum die Chancen hatte, die Tochter reicher Eltern als Freundin zu gewinnen, noch dazu, wenn ihre eifersüchtige und von der Dunkelheit geprägte beste Freundin alles tun wollte, dies zu verhindern, auch wenn es ihr erst im letzten Moment bewusst wurde.
Allem Anschein nach behielt er damit recht. Seine Hoffnung zerbrach die rings- herum gebaute Verzweiflung.
Seine eigentliche Pflicht tat er, wie sie ihn behandelte …

Rievs Erinnerungen begannen eines Tages zu erwachen. Darin tauchte ein jüngerer „leuchtender Junge“ auf – Riev sah alles nur verschwommen - und um ihn zu beschützen, kam eine Kraft über ihn, die er den „Griff des Kriegers“ nannte. Durch ihn konnte er meisterhaft kämpfen. Doch wurde er dann aber auch sehr brutal und ungezähmt, wurde selbst niedergeprügelt.

Es gab jenseits von Nachtgard nichts mehr – so hieß es, doch Riev vermutete etwas anderes, doch darüber hatte er gelernt, nicht zu sprechen.
Alle Menschen waren schon damit geboren, das Weltbild nicht zu hinterfragen, in dem Nachtgard eine Laune im Nichts war und alles, worauf man im materiellen Bereich hoffen konnte, darstellte.
Ein inhaltlich hinkender Vielgötterglaube, mit Randgruppen, die bizarre Dämonen beschworen, war die Kirche Nachtgards. Sie legte gemeinsam mit der Wissenschaft fest, was denkbar war und was jenen zur Gefahr wurde, die ewig das Reich der Götter genießen wollten – wie immer waren es die Reichen und Mächtigen, Adelige und Besitzer von Dingen und Macht – die Anbeter des „Mammon“, die so gut wie alles kontrollierten. Doch es ging noch schlimmer als dieses …

Riev wollte sich Glory nähern, zugleich aber hatte er viel damit zu tun, seine Visionen zu verarbeiten und zu ordnen. Nicht alles war Fantasie, nicht alles real. Doch wer entschied das?

Er war ein Underdog, doch er war auch recht adrett und hatte hinter seiner Unsicherheit Charisma und war ein freundlicher, sensibler Mensch, der nach Frieden, Geborgenheit und Liebe suchte.

Doch eines Tages kam er zu den „Nebelkindern.“ Sie brachten, was notwendig war, aber den Frieden musste er sich erst erkämpfen.
Er testete seine Fähigkeiten im Kampf gegen Graf Zandorf und dessen Sekte – der Einsatz wurde von ihm vorbereitet und geleitet. Er störte das Ritual, öffnete die Tore und sorgte für Chaos … die meisten Entführten konnten gerettet werden, doch einiges ging schief.

Joschuan und Poet erkannten zuvor schon sehr bald seine Besonderheit.
Die Organisation, über die man nicht viel wusste – nicht wissen durfte - brachte Riev Risenbach in Bewegung, gewährte ihm aber auch Schutz und vorläufigen Wohlstand.
Doch seine Pflicht war kein Geheimnis.

Poet, der bekannte Künstler in Nachtgard, war und erwies sich erneut als eine zentrale und wichtige Person, und Joschuan war ein Weiser, der mit Offenheit und Milde Rievs seelische Wunden zu heilen begann.

Doch Riev brauchte Glory, so wie sie ihn brauchte.
Seine und ihre Logik, Fantasie und Träume waren miteinander sehr verbunden, doch das wussten sie voneinander nicht. Und am Ende war Riev erfolgreich darin, über ihre Fantasie und Träume in ihre Wahrnehmung zu kommen.

Joschuan brachte Riev aber erst einmal zur Villa Poets, von wo aus dann alles seinen Weg nahm.

Gerade jetzt …

Poet hatte Rievs Ort der Folter gefunden und einige Wachen zur Strecke gebracht. Wie ein Assassine hatte er sich durchgeschlagen!

Ja, sie waren einmal Menschen gewesen, doch nun waren sie nur noch aufrecht gehende Bluthunde und zum Töten erschaffen worden. Trotzdem hatte sie Poet nicht gerne mit dem Schwert in Händen getötet – bald würde eine Legion dieser „Hundemenschen“ sowohl hier sein, als auch sonst überall, wo es zu Brüchen im Gefängnis „Nachtgard“ kommen sollte …

Dann, wenn der STURM kommen würde!
Ein Krieg hatte begonnen.

Die „Nebelkinder“, sie waren zu allem entschlossen, hatten auf Poets Zeichen gewartet, er auf Rievs Voranschreiten, und nun „brannte“ alles allmählich, und wie am Vortag bei Zandorf zog das Chaos auf – ein kontrolliert herbeigeführtes Chaos, dessen Gewalt an den Gittern Nachtgards rüttelte, doch noch fehlte der STURM.

Jene Urgewalt, die durch einen Diener, einen Kämpfer, der kein Heiliger sein würde, entfacht werden sollte, würde den Nebel verjagen und mit ihm alle Mauern und Gitter, und hier kam Riev ins Spiel.

Poet hatte den Raum unter Kontrolle gebracht, aber nur noch wenig Zeit, bis er selbst fliehen musste. Er hatte etwas zu tun.
„Zeran, es ist vorbei! Der Junge wird diese Kraft nicht loslassen!“, brüllte er und trat immer wieder gegen die Tür, hinter der Zeran, Riev und die teuflische Maschine sich befanden.

Riev erwachte langsam, aber doch zügig aus seinem letzten Albtraum, und – so hoffte er – wusste nun mehr.

Zeran war dem Wahnsinn, so wie es auch Riev war, überlegen, und wollte bestimmt nicht aufgeben.
Er wollte Riev zu Tode quälen und dabei den „Griff des Kriegers“ aus dem Jungen herausziehen, wie die Innereien aus einem erlegten Tier, um dann den leeren Körper den Hunden vorzuwerfen.

„NEIN!“, ächzte Riev, als er zu sich kam, und wehrte sich gegen die Einflüsse der Maschine.
Doch dieses furchtbare Gerät erwachte nun selbst zu eigenem Leben.

Zeran hatte nur den einen Weg direkt auf sein Ziel zu. Dafür hatte er stets und würde er immer alles geben und sich nehmen.
„JA, JA, sie entfaltet ihre seit Urzeiten erdachte Macht! Sie wird mir den Weg freimachen und dann … ERHEBE ICH MICH!“
Zeran war überwältigt vor manischen Ekstasen, als er beobachtete, wie die Maschine selbst zu handeln begann.

Inzwischen aber hatte Riev sich, erfüllt von jener Kraft, die IHM versprochen war, von den Ketten losgerissen und eine Raumverschiebung fand statt.

Zeran schwebte weiter weg, die Mauern stürzten ein und im Zentrum eines riesigen Orkanes, einer Windhose aus reiner Gewalt, bewegte die Maschine Tentakel, um die Macht zu behalten.
Doch ehe dies alles geschah, hatten Riev und Poet es vermocht, vielleicht ein letztes Mal aufeinanderzutreffen.
„Du hast ihn entfacht. Es liegt nun an dir, welchen Weg Nachtgard nimmt, doch
es sind nicht mehr so viele Optionen offen“, sprach Poet tief bewegt.
Während er sprach, zog er einen Gegenstand aus seinen Sachen.

„Ja, wie es aussieht, geht es jetzt los. Ist Glory wohlauf?!“, war Rievs erste Frage.

Poet beruhigte ihn: „Joschuan tut im Moment alles, was notwendig ist. Mach du, was zu tun deine Pflicht und unser aller Hoffnung ist! Ich bitte dich. Vertraue!“

„Es ging unerwartet plötzlich los, viel eher als ich erwartet habe.“
Riev schien im Moment dennoch völlig gefasst und ruhig zu sein.
Beinahe lag ein friedliches Licht auf dieser Situation. Dennoch: Niemand von den beiden wusste, was kommen würde.

„Hier, dein Schwert! Es ist die schnellste, wertvollste und wird die legendärste aller Waffen sein, die man in Nachtgard je hergestellt hat.“
Poet vergoss Tränen, obwohl Rievs Gesicht so entspannt, fast erlöst aussah – vielleicht zu erlöst, etwa den Tod erwartend. Poet wusste es einfach nicht. Gewisse Dinge ignorierte er. Gutes und Schlechtes.

„Ich habe Nicklas über den Kaufmann Sam eine Botschaft zukommen lassen. Das gehört auch zu seinen Angeboten. Es besteht der Funken einer Chance, dass er dich hier rausholen kann, ehe alles außer Kontrolle gerät. Doch verlasse dich nicht darauf! Mach deinen Frieden ..., Bruder!“
Poet behielt die Fassung, verbarg aber auch keine Gefühle. Er war ein Anführer und musste es so lange bleiben, bis ihr Traum und die Legende sich verwirklicht hatten.

Ringsherum rotierte die Zeit in einer Schleife und man sah nur die Fangarme der Maschine immer wieder dieselben Bewegungen machen.

„Poet? Du weißt, dass dieser Augenblick bald zerbricht.“
Riev nahm sein Schwert entgegen, blickte dabei nur kurz darauf, steckte es aber erst gar nicht weg, sondern behielt es in seiner Hand. Er wusste, was kommen sollte. So ziemlich …

„Riev, auch Joschuan ist mit dir im Herzen. Er und ich geleiten deine Liebe persönlich aus der Gefahr – von einem geheimen Treffpunkt aus geht’s los. Sie ist bei ihm. Die „Nebelkinder“ haben ihr Werk getan und ziehen sich nun auch zurück. Freiheit ist der Sold vieler. Manche bleiben aber noch, bis alles geklärt ist.“
Dies musste Riev noch wissen.

„Bitte sag ihr …!“, begann Riev dann.
„Verlass dich darauf!“
Poet wollte es Riev leichter machen.

Der lächelte glücklich, doch sein Blick führte so weit weg es nur ging. Die Wahrscheinlichkeit, dass er einen von ihnen jemals wiedersehen würde, war gering. Im Traum hatte er gesehen, wie weit die Weiten außerhalb von Nachtgard waren. Das, was ein Nichts sein sollte, war eine Ewigkeit. Was Nicklas auch tun würde, alles vermochte auch er nicht. Beide wussten nichts Genaues.

„Bitte pass auf sie auf …, bis ich komme und wir uns alle ... wiedersehen. Ich liebe euch alle auf eine ganz besondere Weise. Durch euch habe ich doch noch erfahren, was eine Familie ist. Selbst Glory konnte ich wenigstens einmal küssen. Mehr als ich jemals …, egal. Leb wohl…, bis bald!“

Kaum hatte Riev diese Worte ausgesprochen, sprang er in die Zeitschleife, um sie zu zerschmettern, um den „Griff des Kriegers“ zu entfesseln, damit auch alles so geschah, wie es sein sollte. Sein persönliches Schicksal war weiter nicht so bedeutsam, das wusste er.
Poet wollte das bis zum Ende nicht akzeptieren, sondern ertrug es lediglich.

Poet hörte von allen Seiten Kampfgeräusche und sie kamen näher, er musste auch los.
„Leb wohl Riev Risenbach! Du wirst die Freiheit bringen, uns ALLE retten!“, flüsterte er.

Riev hatte es wohl nicht mehr vernommen.
Er begann, was er versprochen hatte, im Vertrauen, dass Poet Glory wirklich in Sicherheit bringen würde … Es bedeutete Riev alles.
Glory war die Freiheit Nachtgards in Riev Risenbachs Universum.

Der Orkan sog alles in sich auf. Er bildete eine letzte Arena, in der Riev sich Zeran mit dessen Maschine entgegenstellte.
Zeran war nahe und würde eher zu Staub verbrennen, als davon abzulassen, nach Rievs Kraft zu gieren. Nichts sonst interessierte ihn noch. Sein Leben war ab einem gewissen Augenblick darin nur das, was er hier nun endlich erreichen wollte.

„Ich bin die Ewigkeit!“

Krieger …, Hundesoldaten fochten gegen all die „Nebelkinder“, die Nachtgard zur Evakuierung vorbereiteten, den „Kerker“ öffneten, und somit viele verzweifelte Seelen retteten.

Es war eine riesige unterirdische Anlage.
Die Hundesoldaten stellten sich hier im Trichter der Kräfte Riev entgegen. Doch es waren hier mehr an Feinden und Gefahren. Alles verspottete, verhöhnte und drohte Riev, sogar die Luft alleine wollte seinen Untergang.
Er fühlte das Widerstreben von Nachtgards Bosheit. Auch sie war daran, sich aufzubäumen. Mehr und mehr wurde ihm klar, dass er der Feind war, der die Zerstörung brachte.
Doch er vertraute jenen, die ihn gelehrt hatten, dies zu tun, und war sich der Sache sicher. Es bedeutete jedoch nicht, dass ihm dies leichtfiel.

Mit viel Widerstand nutzte er mit Geschick sein Schwert und wehrte alle Angriffe ab. Er wollte nicht töten, doch vor etwas mehr als einem Tag hatte er es zum ersten Mal getan und er hatte es gehasst.
Wäre der „Griff des Kriegers“ nicht in ihm gewesen, wäre er nun gebrochen und zusammengesunken, hätte gewimmert. Er spürte das in sich, bis der erste Feind fiel. Seine Klinge hatte einen Hundesoldaten geköpft.
„Scheiße, verdammt!“

Dann Zerans Stimme, laut und deutlich:
„RIEV, du existierst gar nicht. Ha, ha, du bist nur ein Traum dieser Narren. Du bildest dir ein, du wärst lebendig. Doch sobald der Kopf deiner Glory in eine Blutlache rollt und Poet aufgespießt daneben liegt, erlischt du im NICHTS!“

Die Worte waren bewusst platziert und verunsicherten Riev kurz. Lange genug, dass ein Fangarm der immer größer werdenden Maschine ihm einen Schlag verpasste und verletzte. Doch seine Kraft war groß und der „Griff des Kriegers“ regenerierte Wunden, machte ihn körperlich und auch geistig robust.

Erneut attackierten ihn Hundesoldaten mit allen Arten von Waffen. Es waren überzüchtete Missgeburten ihrer Art. Scheinbar war das die Elite. Sie hatten teilweise zwei Köpfe, waren riesig und mit panzernden Geschwüren übersät oder hatten drei Augen, entartet und grässlich.

„Bei meiner Seele: Kann man Menschen mit Hunden kreuzen, damit Ungeheuer daraus werden? Wie sieht denn die Paarung dann aus? Wie die Geburt? Wie sehr quälen sie die Köter, bis sie gewissenlos alles zerfetzen, was sich bewegt?“
Fragen rasten durch Rievs Geist.

Er übergab sich, als er einem dieser Kreaturen in die Augen starrte und mit dem Schwert ausholte. Der Anblick dieses Feindes erschreckte ihn. Er wollte ausweichen. Er hatte das Gesicht eines Jungen erkannt, das jetzt das Gesicht eines Ausgewachsenen geworden war. Riev schrie vor Entsetzen und wurde zorniger. Sofort brauste der Sturm wilder auf.

„Das war einer der Typen, die ich im „Kerker“ schon als Feinde hatte. Er hat aus ihnen die Garde gezüchtet?! Dieses Scheusal!? Ich habe ihm einmal die Nase gebrochen und er mir. Jetzt habe ich seinen Schädel weggefegt …“
Riev war mit dem Grauen konfrontiert. Vor allem, da er mehrere Gesichter, die er kannte, auf dieser Monster Köpfe zu erkennen meinte.
„Sie waren einst Gefangene wie ich …“
Der „Kerker“ war ein Ort der Zucht und des Züchtens gewesen … Die Raufbolde waren die Welpen gewesen, aus denen nun die Köter geworden waren, die ihn in Stücke reißen wollten. Man hatte sie zusammengepfercht, damit sie „scharf“ wurden.

„Ich bin der Mörder von meinesgleichen“.

Er fühlte sich ihnen näher, als er es verkraften konnte. Doch er musste sie trotzdem töten. Sie sprangen ihn an, rannten auf Beinen und Händen, bissen ihn und fügten ihm Verletzungen zu.

Und immer wieder wusste Zeran, was Riev fühlte und dachte.
Der Mann lachte und drohte mit infernaler Vergeltung. Er hieb auf Rievs Seele ein und ließ nicht locker. Er zerrte an seinen Kräften.
Schmerzensschreie und Stöhnen.

„Ja, Riev, so bist du. Einer von ihnen könnte jetzt der „große“ Held sein und dein Kopf im hohen Bogen fliegen und auf der blutigen Schnauze landen – tot. Ha! Jetzt siehst du, was du wert bist. Nur diese Kraft macht dich zu diesem Traummännchen. Spiele noch etwas damit, bald zerbrichst du … DU GEFÄSS, und die Kraft ergibt sich mir!“

Das saß.
Riev musste sich immer wieder besinnen. Zeran hatte eine Grausamkeit in sich, die hier im Duett mit seiner Maschine sang.
Das Lied war abscheulich, gemein und ohne jede Menschlichkeit. Riev war doch erst ein siebzehn Jahre alter Junge.

„Und da fliegt erneut der Kopf eines BRUDERS von dir. Hoppla, den hast du mal ein paar Zähne ausgeschlagen und nun tötest du ihn, vollendest, was du begonnen hast, du Tier!“

Riev sah sich immer wieder als Verlierer und Opfer. Immer zuckten die Klauen Zerans durch seine Gedanken, sie schnitten in sein Herz … sein vernarbtes Herz.
Aber er hatte doch Zeran alles – fast alles – entgegengesetzt.
Doch noch lebte dieser scheinheilige Perverse und ernährte sich von Rievs Herzensschmerz, ein Dämon war er und wollte ein Gott werden.

Zeran griff nach der Unendlichkeit!

Deshalb musste Riev ein Gemetzel anrichten, ohne es zu wollen.
Bei sich hoffte er auf einen direkten Kampf gegen die Maschine und gegen das, was Zeran jetzt war. Was konnte das sein? War er ein Teil der Maschine? War es umgekehrt? Was verband sie? Warum war dieser Mann so vom Hass, von der Gier zerfressen?
Riev hatte doch als Kind auch nie Liebe bekommen und stand jetzt auf der Seite der Freiheit. Denn Nachtgard war lediglich die Vergrößerung des „Kerkers“.
Und wieder erschlug er einen Hundesoldaten.

„Beenden wir es! Du kannst mir nichts mehr tun, Vater Zeran. Ich bin zu stark HÖR JETZT AUF!!!“, schrie Riev in die Richtung, aus der Zerans Stimme kam.

Doch irgendwie erschallte diese von überall und dann doch von nirgendwo her. Die Worte des wahnsinnigen und zugleich genialen Soziopathen und Egomanen waren das Zeichen einer Situation, wo man nicht mehr aufhören konnte.
Entweder machte man weiter oder man ging zugrunde. Ja, das hatten sie gemeinsam.

Riev blickte auf sein Schwert.

Es war rot und glänzte nur noch wenig. Das Licht in diesem Trichter aus Chaos und Kraft war unberechenbar. Es blitzte und dann brach Finsternis über alles herein, Flammen fuhren durch diese Nacht, die Sonne selbst loderte hier.

Hitze, der Wirbelsturm, gezüchtete Hundemenschen und ein Krake mit vielen, vielen Armen bildete das Zentrum, es wollte Riev in sich einsaugen und zermalmen.
Es war die Hölle selbst, wo sie hier auch waren.

Es war das Herz des „Kerkers“. Es pulsierte jenseits des normalen Nachtgard, doch wenn Riev es zerstören würde, wäre der „Kerker“, das Gefängnis, das Nachtgard für alle Menschen dieser Welt hier war, endlich aufgeknackt!

Das war seine Rolle. Ein Blitz schlug neben ihm ein.

Wie das auch möglich war: Riev war entschlossen, es jetzt zu beenden. Ehe er diese Maschine nicht in Trümmer gelegt hatte, war die Faust um sein eigenes Herz noch geballt.
Riev sprintete immer schneller, wich den Soldaten aus – er wollte niemanden mehr töten. Nur Zeran musste vernichtet und die Maschine zerbrochen werden.

Da griffen die Arme der Maschine – sie waren vielleicht vierzig Meter lang – massiv an und führten der Anzahl nach viele Klingen.

Nun brannte der Kampf los.
Weitere Flammenzungen und Schockwellen fuhren durch diesen Trichter. Es war eine Falle und hetzte den, der in ihr gefangen war so lange, bis er nur aufgeben konnte.
Die viele Klingen schwangen an Riev vorbei, ein Treffer hätte ihm vermutlich schwer zugesetzt, dennoch überlebte er einige Schnitte, denen er nicht ausweichen konnte. Mit brachialer Kraft prügelte er auf die feindlichen Hiebe ein und wehrte sie immer geschickter und zorniger ab.
Das Tempo nahm zu, die Hitze war enorm.

Er schwebte. Zuerst vorsichtig, dann musste es aber schnell gehen.
Und schließlich flog er wie in seinem Traum, als er dann den traurigen Riesen gesehen hatte, der daran gewesen war, Nachtgard zu zertrümmern. Diese Erinnerung versuchte er auszublenden. Doch sie zwängte sich hartnäckig zu ihm durch.

Sein Schwert focht teilweise wie von selbst.

Seine Gedanken gaben Kraft und Wucht, seine Arme waren entspannt und führten das Schwert so sanft wie ein Seidentuch, mit dem er Engeln Tränen abwischte ... ohne den Tropfen zu zerbrechen. Ihn lediglich mit der Bewegung aufzunehmen und wegzulegen, wie das Streicheln von Seelen, fühlte es sich an. Und doch sprangen Funken, und Arme der Maschine knickten um.

Bald war es der Sturm, den er mit seinem „Griff“ führte, und so um das Heil und die Freiheit einer Welt kämpfte, die er aus den Augen, ja fast aus der Erinnerung verloren hatte.
Nie noch war sie sein Zuhause gewesen. Er war hier nicht daheim. Es fühlte sich so fern an, als wäre die Ewigkeit zwischen ihm und Nachtgard; trotz allem lag dort der Anker seiner Seele, der verhinderte, dass er sich zu weit von Glory entfernte.
Gegensätze wurden eins und geeinte Kräfte zersplitterten in seiner Vorstellung, während Riev sich dem Zentrum der Maschine näherte.
Es war ein harter Krieg.

Hass!

Es wurde nicht harmloser. Die kurzen Tentakel waren schneller und er wirbelte abermals mit Leib und Waffe herum, die Wege des Sturmes fegten manchmal unvermeidbar den Staub gegen seine Haut. Er brannte dort wie Feuer, so groß war die Wucht.
Rievs Kraft hielt die Verletzungen zurück. Ohne den „Griff des Kriegers“ wäre er bereits selbst zu diesem Staub geworden.

Erneut tauchte Zerans Stimme auf:
„Riev! Du BIST ein Teil von MIR, ein dienender Teil! Ich habe dir Leben gegeben, das ich anderen vorenthielt. Ich flehte die Götter an, dich und deine Freunde zu verschonen. Denn Riev, SIE, die Götter sind außer sich über deinen Kampf. Sie toben ungleich mehr als du es je könntest. Wenn du jetzt NICHT aufhörst, verbrennen alle, die du liebst, und du wirst für immer alleine im Chaos umherziehen, umhertreiben. Die ewige Nacht wartet. Es gibt für dich kein Gewinnen, nicht SO!“

Die Stimme klang wie die eines Vaters, der sein krankes Kind beruhigen wollte. Zeran hatte schon viele Menschen überzeugt, nicht sie selbst zu sein.

Es war hart für Riev, er hatte dies doch alles nie gewollt, er war so leicht zu beeinflussen, doch er weigerte sich mit allen Konsequenzen, nun seiner Pflicht den Rücken zu kehren!
Es waren wohl viele Tausende Worte gewesen, die Zeran zu ihm in allen Tonlagen bereits gesprochen, geflüstert, geschrien und einfach nur gelogen hatte. Riev hatte lernen müssen, diesen Teufel zu ignorieren.

„Du hast schon alles gesagt, was du kannst. Immer noch sage ich: DEINE GÖTTER GIBT ES NICHT! Nicht für mich und nicht für dich!“

Stille …

„UND ich will es nicht wissen, was du da sagst. Selbst wenn es wahr wäre, scheiterte ich lieber, als deinen „Rat“ zu befolgen“.

Riev setzte zum Sturzflug an, wich geschickt und elegant, wie Poet es ihm vorgelebt hatte, den Hieben aus und erreichte die Maschine.
Es stürmte weiter, doch die Arme zogen sich kurz und plötzlich ins Innere zurück.

Da stand Zeran.

Er trug wie meistens die Würdenrobe und lächelte gespielt verständnisvoll, während er sich nicht mehr mühte, seine Augen zu verstellen.
Blitze zuckten, wieder und wieder. Es war ein Raum, den es so nicht geben konnte. Die Wand war ein Teil des Sturmes.
„Schau, wer sich bei dir für alles bedanken will: Nicklas, komm her!“

Da saß plötzlich Nicklas im Rollstuhl und leuchtete wie eine goldene Statue.

Riev erschrak. Was war das? Nicklas?! Warum? WARUM GERADE DU?!
Riev schwieg, war außer Atem, jenseits seiner Fassung und tarnte es – vorerst.

„Ich habe dich über Jahre hinweg ausgehorcht. Ich habe deine Geheimnisse alle in mich aufgesogen und dir dann den besten Freund, ja den Bruder, vorgegaukelt. Und so sehen wir uns hier wieder.“

Es war wirklich der „leuchtende Junge“, der ja Nicklas war, wie aus seinem Traum kam er gerollt. Es war keine Illusion, so weit Riev das beurteilen konnte. Riev hatte diesen Jungen wie einen Bruder geliebt, er hatte sein Leben für ihn mehr als erschwert – damals im „Kerker“.

„Nicklas …“, Riev sank zusammen und blickte auf den Boden.
Schweiß und Blut tropften von ihm und versanken sofort im Untergrund. Es saugte ihn etwas auf. Er musste sich beeilen.

„NEIIIIN! Du hast mich nicht belogen und verraten?! Ich habe dir alles gegeben, damit sie dich nicht … und du wusstest alles, ALLES, verdammt. Wie konntest du mich so verraten? Wie kann man so böse sein?!“

Riev war überzeugt, dass Zeran nicht in der Lage war, diesen Nicklas zu erschaffen, der hier vor ihm stand, gefesselt an einen Rollstuhl.
Alles war viel zu echt.
Es war ein Kampf. Es war wohl die größte Enttäuschung, der größte Schock, den sich Zeran bis zum Moment aufgehoben hatte, als der Träger des „Griffs des Kriegers“ am mächtigsten und am nächsten war.

So knickte er ihn.

Nicklas wirkte stark und selbstbewusst, so als bereue er nichts. Er begann zu sprechen und sagte Riev lauter Geheimnisse. Geheimnisse, die er über ihn gesammelt hatte – in all den Jahren. In den Jahren, als sie im „Kerker“ waren, in den Jahren danach, als Nicklas Riev stets ins Luftschiff geholt und dort bei Tee und regem Austausch empfangen hatte.
Die Worte entblößten Riev vor Zeran, doch einiges war vertauscht. Warum das?

… Riev hatte Zerans Einfluss unterschätzt und nun kniete er enttäuscht am Boden. Nicklas hätte ihn doch im Idealfall hier herausholen sollen. Diese Hoffnung schien zerstört.
Niedergerungen hatte er ihn!
Doch irgendetwas war an Nicklas nicht überzeugend. Riev kannte ihn besser. Er wurde unsicher, doch er musste für klare Verhältnisse sorgen, den STURM entfachen und obsiegen. Opfer waren miteinberechnet.

Zeran und Nicklas wussten so vieles, so viel von Riev, dass es Messerstiche für sein Herz waren.
Zeran lachte, während Nicklas fröhlich verkündete, was er so wusste, und suchte dabei immerzu den Augenkontakt zu Riev.

Doch Riev wich dem aus, denn er hatte sich natürlich noch nie so bloß gefühlt. Jetzt musste er beide töten. Riev holte gerade weit aus, man sah es nicht, doch Flammen umhüllten seine Aura.

Zeran glaubte, dass er das nicht könnte.

„Schau mich an, Riev!“ sprach Nicklas.
„Ich konnte sterben, oder mein Leben dazu erhalten, um dich zu verraten, BRUDER“.

Er blickte ihm doch in die Augen, und Riev wollte jeden Moment auf die beiden zustürmen, um wenigstens Zeran zu vernichten, wenn er auch wusste, dass er auf Nicklas nicht mehr zählen konnte.
Wie sollte er ihn nicht …?

„Warte“, dachte er. „Nicklas zwinkert mir doch zu. Er gibt mir Signale mit seinen Augen. Ich kenne ihn: Er tut nichts ohne Grund. Er entfernt sich immer weiter von Zeran, Hundesoldaten versammeln sich und fletschen die Zähne“.

„Zeran hat durch meinen Schmerz Kraft aus mir ziehen können. Doch …“

Riev verstand plötzlich, was Nicklas sein Leben lang wirklich für ihn getan hatte. Er war kein Verräter, sondern ein Held. Er musste lediglich das Timing gut wählen, diese Tatsache preiszugeben.

„Ich musste dich nur fest genug treffen. Gut, dass ich das vom ersten
Moment an wusste, da ich sah, dass du den „Griff deines geliebten
Kriegers“, wie du ihn nennst, hast, der aber MEINE Kraft schon immer war und du nur der Wirt meiner Kraft, die er mir jetzt zu Füßen legt. Dann lasse ich dich und all die anderen Ratten von meinen Kötern auffressen!“, geiferte Zeran.

„Du hast dich Nicklas aufgeopfert. Was hast du nicht alles für ihn in Kauf genommen und nun, mein Sohn, hat er dich SO enttäuscht, dass du keinen Mut mehr hast, die auch seinetwegen herbeigerufene Kraft auch einzusetzen, da ER nicht länger beschützt werden muss. Wie spaßig für mich. Aber nun brauche ich euch beide nicht mehr, ihr habt eure Aufgabe gut gemacht, ihr Ratten. Tut mir leid, Nicklas … Nicklas??? NICKLAS!“

Zeran fuhr herum und konnte nicht glauben, was geschah.
Seine Geheimwaffe war fort. Gerade als er ihn auch einfach wegwerfen wollte, kam dieser kleine Bengel ihm zuvor.

Sein Spion hatte in Wahrheit eigentlich ihn verraten und war nun wohl davongelaufen. Im Rollstuhl?
Zumindest dachte er das. Und es sollte einer seiner letzten Gedanken auf dieser Welt sein.

Oh weh, wie schmerzhaft ist der Moment, da das Kartenhaus des Bösen zusammenfällt und das Gute so zu neuer Kraft aufsteigt!
Er hatte nicht verstehen können, dass Nicklas seit damals, für einen bis dahin unbekannten Jungen, schweigend alle Versprechen und Köder von vornherein abgewiesen hatte – nur aus einem angeborenen Gerechtigkeitssinn heraus.

„Was ist nun mit diesem … Verräter?“

Riev knurrte dabei und schritt auf Zeran zu.
Das Schwert hielt er hoch und zeigte damit herab. Ein direkter Angriff! Er war dabei angeschlagen und der „Griff des Kriegers“ hatte aufgehört zu toben, doch Riev sog ihn sehr schnell neu in sich auf. Die Moral eines Kriegers musste aufgerichtet sein.

Zeran zog auch eine Klinge. Einen Dolch. Einen Zeremoniendolch.
„Du zerstörst mir … Ich hole mir jetzt meine Kraft!“
Zeran verlor jegliche Kontrolle. Sein Schalter war umgelegt.
„Ich schneide dir kurzerhand die Kehle durch und trinke, was du mir schuldest.“ Zeran schwitzte, seine Augen flatterten, er bebte. Gier war so mächtig. Sie war so mächtig wie die Götter und größer. Zeran mochte ein meisterhafter Nahkämpfer sein und okkulte Techniken beherrschen.

Aber sollte der Kampf von vorne beginnen?!… Die Maschine setzte sich wieder in Betrieb.

Rievs Gang auf Zeran zu schien so lange und weit, fast ewig …

Die Greifarme der Maschine schwangen herum. Riev begann auf Zeran loszustürmen. Es musste sein, obwohl alles in der Schwebe war.

Doch da: Ein Luftschiff stieß in diesen Hexenkessel hinab und stoppte fünfzig Meter darüber. Es war viel beweglicher als es ein normales Luftschiff war.
Zeran: „NICKLAS?!!!“
Riev: „Nicklas?“

Riev hielt an, zog sein Schwert zurück und wirbelte hoch zum Luftschiff.
„Nicklas, du musst hier weg. Ich kann den STURM nun rufen, wenn ich den „Griff des Kriegers“ zerstöre, ihn mit einem Schlag zerstöre, ihn explodieren lasse. Das mache ich jetzt. Zeran hat die falschen Worte gewählt, sodass ich es weiß, wie es geht. Ich kehre ins Zentrum zurück, mache, was getan werden muss! Los, flieg in die Freiheit!“

Nicklas sah Riev an: „Es gibt hier kein Überleben. Wir lassen dieses Luftschiff jetzt im Sturzflug auf den Feind fallen und du entlädst den „Griff des Kriegers“ als Explosion in dem Moment, da alles in Flammen aufgeht. Einen kleinen Moment davor vielleicht. Dafür sind wir beide hier. Dieses Luftschiff lag mir deswegen nie so am Herzen, da es eine Waffe ist, weißt du?“

„Dann setze sie ein!“

Riev begab sich in das Schiff. Er vertraute Nicklas, denn er hatte verstanden, was dieser Junge für ihn schon alles getan hatte. Nun war es nur fair, mit ihm zu sterben, um Nachtgard zu retten.

„Bereit?“, erkundigte sich Nicklas mit ruhigem Ton und fuhr sich durch sein lockiges Haar. Dann zog er an seiner Pfeife, lächelte und nutzte seine Gedanken, das Schiff kippen zu lassen…..

Zeran blickte hoch und hielt inne.

„NEIN!“
…………

Als der STURM Nachtgard vom Nebel befreite und das Nichts zerstieß, öffnete sich eine unvorstellbar lebendige und vielseitige Welt ringsherum. Sie war sehr bunt. Während die Menschen aus Nachtgard flohen und sich verteilten – waren es Stunden, Tage, Wochen – halfen ihnen in dem weiten Gelände dieser Welt die verbliebenen „Nebelkinder“, wo es ging.
Chaos und Schönheit waren noch nie so nahe beieinander gewesen.

Der STURM hatte nur wenige Momente gedauert, doch die Kraft war stärker als die Mythen es schilderten. Alles Böse wurde mit ihm weggestoßen und zerstreut.

Auf dieser Welt gab es große menschenähnliche Wesen. Sie arbeiteten mit den Tieren, Pflanzen und machten Versuche mit kleinen Welten. Sie dauerten nur wenige Stunden, doch in ihnen verging offenbar mehr Zeit. Es gab hier viele Sonnen, es waren die Weiten des Weltensystems Nimmerends in einer Welt verwoben.

„Sind das die Götter, Nicklas?“, wollte Riev wissen, doch Nicklas zuckte nur mit den Schultern.

„Schau ihnen zu und mach dir ein Bild. Du hast Zeit.“

Jetzt waren diese zwei Personen, Riev und Nicklas, in neuen Körpern, und sie befanden sich in einem wenig dichten Wald, der wiederum Welten bedeckte.

„Sind wir beide nur noch hier, um uns vom Leben zu verabschieden?“, wollte Riev interessiert wissen.

Nicklas schaute ihn an und lächelte dann:
„… Wir sind nicht … tot. Nimmerend um uns, … unser aller Leben ist größer als das hier, das was in Nachtgard lag, ist mehr als wir uns je erträumt haben. Aber: … Siehe selbst! Du musst immer in die Richtung weitergehen, dort wo die Sonne, die am hellsten strahlt, heller als, … alles. So geh dann wirst du sehn, dort in die Richtung des Sonnenaufgangs – immer gleich am Morgen … ins Morgen, in die Ferne ... Du … du wirst dann bald. … bald bei ihr, bei Glory deiner Liebe und wieder vereint mit jenen, die dir zur Familie wurden Poet, Joschuan sein… Stelle dir ihre Gegenwart immer zu vor und geh dorthin, woher die Sonne kommt, nicht vergessen! Deine innigste Sehnsucht ist deine Richtung! Also, geh!“

Riev schaute Nicklas an und wollte noch etwas sagen, eine Frage stellen.

„Ich habe auch einen Weg“, kam ihn der goldlockige Junge zuvor.
„Er führt in die Gegenrichtung. Es wird mir „dort“ an nichts fehlen, so wie es dir an deinem Ziel an nichts fehlen wird. Das ist unsere Erlösung von … Nachtgard und dem Nebel … Eines Tages sehen wir uns wieder.“ Eine Träne glitzerte im Licht, das sich in Nicklas Auge brach.
Nicklas wandte sich dann um, wanderte los, löste sich auf - im Licht - entschwand aus Rievs Sicht.

Ein Windhauch fuhr Riev durchs Haar. Es war sehr ruhig, so friedlich, dennoch lebendig und es bewegte sich die Umgebung im Geflüster zahlloser Seelen.
Riev lächelte.
„Ja, leb wohl! Nicklas. Ich danke dir, Bruder, … bis dann!“

ENDE


© Friedrich Pierbaumer


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Beschreibung des Autors zu "Nachtgard"

mystisch, märchenhaft, poetisch, fantastisch, düster, surrealistisch, abenteuerlich, sehnsüchtig

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Kommentare zu "Nachtgard"

Re: Nachtgard

Autor: Callme-ismael   Datum: 30.10.2019 14:19 Uhr

Kommentar: Aloha Friedrich,

schön Dich auch hier vorzufinden!

ich bin schon auf Deine Gedichte hier gespannt; Du weißt... ich bin ein Fan
:)

Grüße & Ahoi

ismael Alexander

Re: Nachtgard

Autor: Wolfgang Sonntag   Datum: 30.10.2019 18:42 Uhr

Kommentar: Lieber Friedrich,
du bist neu hier bei uns im Schreiber Netzwerk. Deshalb möchte ich dir nicht vor den Kopf stoßen. Aber ich glaube, du bist an meiner ehrlichen Meinung interessiert: Ach du Schande, was für ein Monumentalschinken. Konntest du nicht was schreiben, wo man beim Lesen auch nur einen Hauch von Spaß am Weiterlesen verspürte?! Schade um den Speicherplatz hier im Netzwerk. Bei Fantasiegeschichten muss es knistern beim Lesen, und nicht der Ofen ausgehen. Meine Bitte: Nicht noch so ein Ding.
Liebe Grüße Wolfgang

Re: Nachtgard

Autor: Callme-ismael   Datum: 30.10.2019 19:10 Uhr

Kommentar: ... ach Wolfgang
sei nit so harsch mit ihm, gleich zu Beginn ;)

Der Speicherplatz hier im Netzwerk berührt weniger, als... die Leute, welche sich zB selber mit "unregistrierten User" Likes... habgierig auf die Schulter klopfen

oder die abscheulichen Gossengedichte von manch einem... & nein: ich bin ein Bukowski Fan, aber... manches kitzelt doch den Gaumen hinten am Rachen & verursacht... na Du weißt schon was :)

... wie auch diese pubertären Phantasien von manch einem - oder in dem Falle Vielen :D

... oder die schreckliche Rechtschreibung von Anderen

Dies sind eher Dinge, welche ich als "Problem" hier sehen würde... mitunter auch das Niveau der Seite sehr - bishin zu den bekannten Kreuzschmerzen - drückt & das auch Leute vertreibt... wie die jüngste - traurige - Vergangenheit bezeugt

Just my 2 Cents... meine Meinung eben :)

Grüße & Ahoi

ismael Alexander

Re: Nachtgard

Autor: Freidrich Piebaumer   Datum: 30.10.2019 20:33 Uhr

Kommentar: Wolfgang: Ich bediene mich in meinen Geschichten einer gewissen Sprachwahl und einer Tiefsinnigkeit. Mit beiden vermittle ich komplexe Gefühle und Gedankenwelten, die auf Erfahrungen stammen und einer tiefen Vorstellungskraft gründen.
Bitte bei Unverständigkeit einfach weitergehen.
Danke!

Re: Nachtgard

Autor: Wolfgang Sonntag   Datum: 31.10.2019 7:44 Uhr

Kommentar: Hallo Friedrich,
ich habe mir deinen Kommentar und den vom Callme-ismael durch den Kopf gehen lassen ... und habe dein Werk noch einmal (doch!) gelesen. Es sprießen tatsächlich Nuancen, die den Leser bei Laune halten. Für meinen harschen Ton bei unserem ersten Kontakt möchte ich mich entschuldigen.
Ach so ja, erstmal herzlich willkommen hier im Schreiber Netzwerk. Ich hoffe, wir werden noch viel voneinander lesen.
Liebe Grüße Wolfgang

Re: Nachtgard

Autor: Freidrich Piebaumer   Datum: 31.10.2019 18:34 Uhr

Kommentar: Grüße Wolfgang!
Bitte mach dir keine Gedanken, ich bin es teilweise gewöhnt, dass meine Schriftstücke kritisch betrachtet werden ... aber ich finde auch Menschen, denen es gefällt. Es muss nicht gleich ein Bestseller werden, daher vielen Danke, für das Zugeständnis dieser "Nuancen", ich weiß das schon zu schätzen.

Danke für´s "Willkommen", ich bin auch froh hier zu sein und nehme keinen irgendetwas langfristig krumm, auch wenn ich zur Impulsivität neigen kann ... ;)
Wir werden bestimmt noch voneinander lesen und einen gemeinsamen Nenner finden :)
Alles Gute! Von Friedrich, hoch erfreut!

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