Kapitel 1

Als Peter Jahre später seine letzten Atemzüge in dieser Welt tätigte und sich mit Bedauern an den Moment seines Erwachens erinnerte, fiel ihm auf, dass er verdächtig unspektakulär war. Kein grelles Licht, keine mysteriöse Stimme und keine dramatische Musik begleiteten unterstrichen die Bedeutung dieses Augenblicks. Nein, er wachte an diesem ominösen Tag auf, wie an jedem anderen auch. Indem er seine müden Augen langsam öffnete und mit sich selbst rang, ob er sich heute krankmelden sollte. Ein Kundensupport Angestellter hat noch nie die Welt gerettet und er hatte keine Ambitionen der Erste zu werden. Jedoch waren heute zwei Dinge anders. Sein Wecker klingelte nicht und die Matratze war härter als sonst. Um genau zu sein, war sie steinhart und unbequem.

Das Adrenalin in seinem Blut stieg rapide an. «Ich bin zu spät», schrie er in Gedanken. Jetzt, wo er hellwach war, fielen ihm weitere Unregelmässigkeiten auf. Seine Matratze war steinhart, weil er auf einer schweren Steinplatte lag und sein Wecker klingelte nicht, weil es keinen Wecker gab. Wo er war, wusste er nicht, aber mit Sicherheit war das nicht seine heruntergekommene kleine Wohnung in Bern. Er kam zu dieser Ansicht, weil er sich tatsächlich in einer Höhle befand. Die Tropfsteine, die wie bizarre Schwerter bedrohlich über ihm hingen, waren ein deutlicher Hinweis.

Eine geradezu verschwenderische Anzahl von Kerzen brannten halbkreisförmig um ihn herum. Peter erachtete sich nicht als einen überaus intelligenten Mann, auch wenn er im fünften Semester Literatur studierte, aber selbst er wusste, dass es keine gute Idee war, Hunderte Kerzen in einer Höhle anzuzünden. Mehr Gründe, um aufzustehen, brauchte er nicht. Als ob all das nicht schlimm genug wäre, realisierte er, dass er splitterfasernackt war. Von seinen Kleidern fehlte jegliche Spur. Waren in meiner Cola Drogen, fragte er sich. Er rauchte zwar ab und zu einen Joint, aber von härterem Zeug liess er die Finger. Er strengte seine grauen Zellen an, aber erinnerte sich nur, wie er auf seinem Fahrrad die Länggasse entlang radelte und versuchte diesen schrecklichen Justin-Bieber-Song auf seinem Spotify-Radio wegzubekommen. Wie zur Hölle bin ich hier gelandet, fragte er sich verwirrt. Gleichzeitig schossen ihm etliche andere Fragen durch den Kopf. Zum Beispiel warum er rote Fussabdrücke auf dem Höhlenboden hinterliess. Wieso hatte jemand seltsame Symbole auf dem Boden gemalt? War er in die Fänge eines satanistischen Kults geraten? Seine Ex-Freundin bezeichnete sich zwar als Meisterin der okkulten Künste, allerdings teilte er ihre Faszination nie wirklich – darum das ˈExˈ vor ˈFreundinˈ.

Aber eines nach dem anderen. Raus hier. Vielleicht hatte er seine Kleider draussen gelassen. Glücklicherweise befand sich direkt vor ihm eine steinerne Treppe, die hoffentlich zum Ausgang führte. Peter war dermassen überfordert mit seiner Situation, dass er sich gar nicht fragte, wieso eine Treppe in eine Tropfsteinhöhle führte.
Als er den Fuss auf eine kalte Stufe setzte, rangen rätselhafte Schriftzeichen um seine Aufmerksamkeit. Er bestaunte den Text auf der glatten Oberfläche der Höhlenwand, die knapp grösser war als er selbst. Was da auch immer geschrieben stand, war bestimmt von immenser Bedeutung und schwerer Tragweite. Dummerweise konnte Peter nichts davon lesen. Allerdings kam ihm die Schrift vertraut vor, als ob er sie schon einmal gesehen hätte. Als guter Literaturstudent würde er normalerweise stundenlang die Wand anstarren und viel Gravitas in seinen Blick legen, doch diesen Morgen hatte er andere Prioritäten.

Und hier lag die nächste Überraschung, denn anstelle eines lauwarmen Sommermorgens, begrüsste ihn draussen eine eiskalte, pechschwarze Nacht. Er konnte kaum die Hand vor seinen Augen sehen, geschweige denn erkennen, wo er war. Als niemand seinen irritierten Hilfeschrei quittierte, entschloss sich Peter das zu tun, was er sonst nur in besonders schweren Fällen von nächtlicher Trunkenheit tat – was besorgniserregend häufig vorkam. Er lief nackt in eine zufällige Richtung und hoffte irgendwie nach Hause zu finden. Wenn es früher geklappt hat, warum jetzt nicht? Zumal er gar nicht betrunken war – wobei er diesbezüglich noch nicht alle Zweifel ausgeräumt hatte. Seine Füsse ertasteten trockenes Gras auf einem leicht gefrorenen Boden. Als ob jemand sein Leben noch miserabler gestalten wollte, spürte er zaghafte Regentropfen auf seinem Nacken. Eine eiskalte Brise liess sein Alter Ego schrumpfen und er wollte reflexartig sich vergewissern, dass wenigstens da unten noch alles in Ordnung war, allerdings hatte er schon seit Jahren keine freie Sicht auf da unten. Das viele Sitzen, exzessiver Süssigkeiten-Konsum, Alkohol, Netflix und Videospiele haben seinen noch jungen, 25-jährigen Körper gezeichnet. Selten wurde ihm dies so bewusst wie jetzt, wo er doch nackt und orientierungslos auf einer – mutmasslichen – Wiese lief und bereits ausser Atem war. Ob er doch noch vom Fitness Abo gebrauch machen sollte, welches ihm seine Oma letzte Weihnachten geschenkt hatte?

Der Regen prasselte auf ihn herunter und Peter beschleunigte seinen Tritt, womit er sein Atemproblem nicht gerade löste. Er war zu weit weg von der Höhle, um zurückzukehren, musste aber schleunigst Unterschlupf finden, wenn er sich nicht die Erkältung seines Lebens holen wollte. Dieser Alkohol wird mich eines Tages noch umbringen, dachte er leicht frustriert und schwor sich, ab Morgen seinen Lebensstil fundamental zu ändern. Gerade als seine Lunge kollabieren wollte und die Beine drohten den Dienst zu quittieren, erreichte er einen Baum, der den Beginn eines Waldes ankündigte. Der Regenschutz nützte dem inzwischen durchnässten Peter auch nichts mehr und als ob sein Körper ihm recht geben wollte, nieste er so laut, dass er sämtliche Bewohner in einem Kilometerradius geweckt haben dürfte. Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, freute sich aber über die allmählich einsetzende Morgendämmerung. Weil der Regen aber nicht nachgeben wollte, entschied Peter durch den Wald zu laufen, der ihm etwas Schutz bieten dürfte.
Nach einer Weile liess ihn ein nervöses Rascheln zusammenzucken. Hat sich da etwas im Busch bewegt? Wahrscheinlich eine verirrte Katze, hoffte er unsicher. Doch die Wahrheit war viel schlimmer, als er sich vorstellen konnte und liess Peter an seinem Verstand zweifeln. Die roten Glupschaugen eines waschbärartigen Wesens starrten ihn gierig an. Das olivgrüne Fell und die markanten, stickmusterartigen schwarzen Linien wollten zu keinem Tier passen, das er kannte. Wobei das so nicht ganz stimmte. Er hatte dieses Wesen schon einmal gesehen, «aber das kann gar nicht sein! Das ist unmöglich». Peter löste sich aus seiner Schockstarre erst, als der kleine Lepras ihn ansprang und seine Krallen in Peters Oberschenkel bohrte. Reflexartig packte er das Wesen am Nacken und schleuderte es zu Boden, doch der kleine Kerl war härter, als er aussah. Eine Waffe! Ich brauche eine Waffe, dachte Peter und sah sich um, während das Vieh, angespornt von Peters Widerstand, zum nächsten Angriff ansetzte. Es wäre auch überaus praktisch gewesen, wenn eine Faustfeuerwaffe einfach so im Wald rumlag, am Ort und Zeitpunkt Peters grösster Not. Leider musste er mit einem einfachen, aber harten Holzkloben vorliebnehmen, der nicht weniger praktisch neben ihm in einem Bett aus Laubblättern lag. Das lästige Biest hatte jetzt nebst seinen Krallen auch die messerscharfen Zähne zu Hilfe genommen. Anscheinend standen Peters Brustwarzen ganz oben auf dem Speiseplan. Der gequälte Peter wollte aber nicht als Mahlzeit eines Viehs enden, das kaum grösser war als ein Chihuahua und wahrscheinlich dreissig Mal leichter war als er. Er holte mit dem Holzkloben aus und zog dem Lepras eins über die Rübe. Benommen ging es Boden, riss aber ein Stück von Peters Nippel mit sich. Sein Schrei klang so gar nicht verzückt und prompt drohte ihm weiteres Ungemach. Ein Übel kommt selten allein, hat mal jemand gesagt und der kleine Mistkerl hatte Freunde. Drei weitere Lepras griffen den Geplagten an, der sich wild fuchtelnd zu wehren versuchte. Er konnte zwei Angreifer eher durch Zufall mit dem Kloben ausschalten und der letzte Übeltäter machte Bekanntschaft mit seinem Fuss und den gut neunzig Kilo Fressgewicht, das Peter auf die Waage brachte. Als alle Feinde besiegt waren, fiel er keuchend zu Boden und konnte nicht glauben, was sich gerade zugetragen hatte. Er blutete an mehreren Stellen und ihm war schwindlig. Peter wollte einfach nach hause, in sein warmes, kuschliges Bett und sich in einen traumlosen Schlaf weinen.

Peters Tag war bereits ruiniert, doch eine höhere Macht schien einen grotesken Humor zu haben. Peter spürte, dass etwas mit seinen Augen nicht stimmte. Er sah seltsame Dinge vor ihm. Zahlen haben sich in seine Netzhaut eingebrannt. Sie veränderten sich von kleinen zu höheren Werten und am Ende stand da eine Zwei. Um genau zu sein, stand da ein «Level zwei». Eine plötzliche Übelkeit überkam ihn und er musste erbrechen.

Es machte endlich «Klick» und Peter erinnerte sich, wo er die seltsamen Symbole und den teuflischen Waschbären gesehen hatte: im Einsteigerareal des online Spiels ˈWord of Worldsˈ, das er seit sechs Jahren – zugegebenermassen vielleicht ein bisschen zu viel – spielte. «Bin ich am träumen oder sind bei mir endgültig alle Sicherungen durchgebrannt», fragte ein nasser, nackter und blutender Peter.


© Boris Rikic


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Beschreibung des Autors zu "Das Spiel"

Dieser Text ist eine blosse Schreibübung. Die Geschichte ist noch nicht ausgearbeitet, soll aber in die Richtung eines episodisch erzählten Fantasy-Romans gehen. Ich habe den Text geschrieben, um mit einem für mich neuen Stil zu experimentieren und zu sehen, wie er bei den Leserinnen und Lesern ankommt. Darum bin ich für jegliches Feedback dankbar.

Ob ich mit der Geschichte fortfahre, weiss ich noch nicht. Es kommt darauf an, ob ich mit diesem Erzählstil weiter experimentieren will...

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