Orecchio © by Jack E. Griss 2006

Die ganze Welt kennt die Geschichte von Pinocchio mit der hölzernen Nase. Anders dagegen verhält es sich mit Orecchio. Über diesen, eigentlich recht unscheinbaren Mann, welcher seit Jahren in Altstätten lebt, ist bis anhin noch keine Geschichte und schon gar kein Buch geschrieben worden. Das ist jedoch in höchstem Masse verwunderlich, denn Orecchio verfügt über eine Gabe, die ihn weit von den üblichen Bewohnern der Stadt abhebt. Natürlich besitzt Orecchio einen ganz gewöhnlichen, bürgerlichen Namen, er ist verheiratet, hat zwei nette Kinder, eine liebe Frau und arbeitet als ... Halt! ... mehr darf ich nicht verraten. Ich habe Orecchio versprochen, das Geheimnis um seine spezielle Fähigkeit insofern zu bewahren, als dass ich auf keinen Fall seine Identität preisgeben würde. Nicht einmal seine Familie weiss genau Bescheid über die ganz besondere Gabe, mit welcher ihr Vater, beziehungsweise Ehemann versehen ist.
Während seiner Schulzeit wunderte sich Orecchio, der im übrigen ein recht guter Schüler war, oft darüber, dass er bei Meinungsverschiedenheiten mit seinen Kameraden nur einmal scharf in die Runde blicken musste und diese wichen dann sogleich zurück. Dieses Zurückweichen war nach aussen gar kein besonders auffälliger Vorgang, es war einfach ein In-Ruhe-gelassen-werden. Orecchio glaubte viele Jahre, das hätte etwas mit seinem Blick, mit seinen Augen zu tun. Erst anlässlich einer Tanzveranstaltung der Universität, wo er studierte, wurde ihm klar, dass es nicht die Augen sein konnten, die ihm auf Wunsch Distanz zu unliebsamen Zeitgenossen zu verschaffen vermochten.
Schon den ganzen Abend hatte Orecchio nur mit – nennen wir sie einfach Monika – getanzt. Er war schon seit Wochen in sie verliebt und es gelang ihm kurz vor Mitternacht, die junge Dame zu einem kleinen Spaziergang im Hotelpark zu überreden. Es wäre müssig, hier die ganze Ouvertüre nach zu zeichnen, welche in dieser sommerlich warmen Nacht schliesslich zu der sehr innigen Umarmung des Paares auf einer mondbeschienenen, lauschigen Parkbank geführt hatte. Diese zärtliche Annäherung hatte eigentlich auch nur bedingt mit der speziellen Fähigkeit des verliebten Studenten etwas zu tun, muss jedoch erwähnt werden, da er genau an diesem Abend einen ungefähren Überblick über das Ausmass seiner Eigenschaft erhielt.
Also, - jedenfalls konzentrierte sich Orecchio gerade voll auf Lippen, Zunge und auch andere Körperteile von Monika, als aus dem Gebüsch hinter dem lauschigen Bänklein Gekicher und Geflüster zu vernehmen war. Dem liebestollen, nun jedoch leicht verunsicherten Studenten schossen plötzlich heftige, ja sogar wütende Gedanken daran durch den Kopf, dass eventuell einer oder gar einige seiner Konkurrenten um Monikas Zuneigung sie nun hinter den Sträuchern beobachten, oder sogar ganz bewusst stören würden. Obgleich er die Verursacher der Geräusche nicht sehen konnte, verstummte bei seinem ersten wütenden Gedanken das Gekicher und die Leute, wer immer sie auch gewesen sein mochten, entfernten sich.
Monika hatte einen Moment lang ihr wohliges Schnurren gestoppt und sich danach etwas verwundert an der Schläfe gekratzt, wo Orecchio sein Ohr an ihren Kopf gepresst gehabt hatte. Irgendwie vermeinte sie, ein Vibrieren an der Schläfe verspürt zu haben. Sie hatte allerdings keine Gelegenheit, ihrem Freund darüber zu berichten. Zum einen hielt sie es nicht für besonders bedeutsam und zum anderen vergass sie ob der neuen, auf sie zukommenden Liebesbezeugungen jeden Gedanken an eventuelle kleine Vibrationen an ihrer Schläfe. Ja, etwa ein Stunde später hielt sie in Orecchios Bett derartige Empfindungen für durchaus normal. Orecchio hingegen konnte ganz klar feststellen, dass der Rückzug der Menschen hinter dem Busch, seine konzentrierten Gedanken und auch das etwas gerötete, rechte Ohr etwas miteinander zu tun haben mussten.
Leider ging die Romanze mit Monika erstaunlich bald zu Ende, was eigentlich alle, auch die indirekt Beteiligten wie Freunde und Bekannte sehr schade fanden. Sehr wahrscheinlich war ein eigenartiger Tick von Orecchio mit daran schuld, denn immer öfter hatte er bei den unpassendsten Gelegenheiten einen Moment lang wie versteinert in die Luft gestarrt, hatte danach um sich geblickt und dann gelacht. Von Monika auf dieses Verhalten angesprochen meinte er nur, das würde sie sowieso nicht verstehen und es sei eigentlich nichts vorhanden, worüber er ihr eine Erklärung schuldig wäre.
In der monikalosen Zeit vertiefte Orecchio nun das Studium, wie auch das Trainung um seine Fähigkeit. Er stellte sich beispielsweise auf dem Trottoir in die Nähe des Postboten, der gerade Briefe in die Kästen verteilte, und wünschte ihn sich auf die andere Strassenseite. Sogleich begann das rechte Ohr leicht zu vibrieren und der Postbote überquerte, mitten durch hupende Autos und fluchende Velofahrer schreitend, die Strasse. Völlig verdutzt schaute der Postbote in die Gegend, kratzte sich, seine Mütze nach hinten schiebend am Kopf und kam danach auf dem Zebrastreifen wieder auf die ursprüngliche Seite zurück.
Nach einiger Übung gelang es Orecchio sogar, einen Linienbus von der Strasse abzudrängen. Dabei achtete er aber sehr darauf, dass er sein rechtes Ohr, welches durch die aussergewöhnliche Anstrengung sich relativ auffällig hin und her zu bewegen begann, auf der, der Strasse abgewandten Seite hatte und dass er die Abstossungsaktion nur soweit betrieb, dass niemand dabei zu Schaden kam. Nach derartigen Kraftakten musste er eine Zeit lang sein Ohr sozusagen auskühlen lassen, beziehungsweise neue Kräfte sammeln, denn er spürte, dass die praktische Ausführung seiner Begabung auch Einfluss auf seine körperliche Konstitution hatte.
Natürlich ging neben diesen, von Orecchio’s Umwelt nicht registrierten Vorgängen, das Alltagsleben seinen Gang. Dieses Alltagsleben allerdings, war eben ein Alltagsleben, worüber es sich nicht lohnt, eingehender darüber zu berichten. Er lernte eine andere, sehr nette Frau kennen und lieben, welche er nach kurzer Bekanntschaft heiratete und die ihm zwei liebe, gesunde, jetzt sich schon im Schulalter befindliche Kinder geboren hatte. Auch an der Arbeitsstelle ging alles seinen gewohnten, mehr oder weniger zufrieden stellenden Gang.
Sicher mögen diese Feststellungen über die Familiensituation und die Arbeit des Helden dieser Geschichte durchaus erfreulich und auch hervorhebenswert klingen und manche könnten vielleicht denken, dass sich Orecchio in einer doch recht angenehmen Situation befände, über die, sich darin zu befinden, tausende anderer junger Männer froh wären, - doch: phantastisch waren diese allgemeinen Umstände keineswegs.
Das grösste Problem für Orecchio waren jedoch seine krampfhaften Bemühungen darum, dass niemand, und schon gar nicht seine Frau oder seine Kinder etwas von der ungewöhnlichen Eigenschaft, welche in seinem unphantastischen Leben nun doch auch vorhanden war, bemerkten. Einerseits die, von ihm immer wieder durchgeführten Aktionen der wundersamen Abstossung, und andererseits die verdammte Geheimniskrämerei, das an den Nerven zehrende Versteckspiel, waren seinem gesundheitlichen Zustand in keiner Weise zuträglich. Vor allem sein Gemütszustand litt gewaltig unter der extremen Spannungssituation.
An einem, bei herrlichem Wetter durchgeführten Augustmarkt in Altstätten, kam es dann zu einer kleinen Sensation: Orecchio war mit seiner Familie am Nachmittag unterwegs, um durch die Gassen mit den vielen bunten Ständen zu schlendern, mit den Kindern auf den Stossplatz zu gehen, wo ein kleiner Vergnügungspark aufgestellt war, und natürlich auch diese oder jene Bekannte zu treffen oder sogar irgend etwas, von dem er noch nicht wusste was, zu erwerben.
„Schatz, ist dir nicht gut?“, hörte er plötzlich seine Frau fragen. Während sie sich zu viert durch die in grosser Zahl aufmarschierten Marktbesucher drängten, immer wieder die Kinder ermahnend, bei ihnen zu bleiben, da sie sich sonst verlieren würden, schossen bei Orecchio völlig absurde Gedanken durch den Kopf. „Papa, darf ich eine Zuckerwatte haben?“, hörte er und dachte dabei, wie komisch es sein müsste, wenn er alle Marktstände um vielleicht nur einen halben Meter verschieben würde. In seine Überlegung, ob er allenfalls mit seiner Ohrenkraft auch das kleine Karussell antreiben könnte, drang noch einmal wie aus weiter Ferne die ängstlich fragende Stimme seiner Frau, die sich erneut nach seinem Wohlbefinden erkundigte. Er war ausserstande eine Antwort zu geben, denn urplötzlich durchzuckte ihn der Wunsch, selbst abheben, sich entfernen, sich davon machen zu können. Orecchio glaubte, sein Gehirn würde glühen und sein rechtes Ohr fühlte sich an, als würde ein Brenneisen darauf gedrückt. „Schaaatz!“ und „Papaaa!“, hörte er rufen und er nahm sogar noch einen blauen Luftballon wahr, der, ein weinendes Kind zurücklassend, langsam zwischen den Dächern dem blauen Himmel entgegenschwebte.
Das Erwachen im Spitalbett war für Orecchio fast wie ein gewaltsamer und dennoch behutsam vor sich gehender Rückzug aus einer Welt, in der er sich befunden, in welcher ihn aber niemand vermutet hatte. Es war für ihn fast, als würde er seine Geburt bewusst erleben. Er war da! Er war wieder da! Er erkannte die Gesichter seiner Frau, seiner Kinder, die sich liebevoll über ihn beugten. Auch erkannte er nach und nach und mit Unterstützung durch die freundlichen Erklärungen seiner Frau wo er war und in welcher Verfassung er sich befand und dass er trotz allem nicht nachvollziehen konnte, wie er aus der Marktgasse in das Spital gelangt war.
Genau vor dem Stand, wo sie auf dem Markt frisch gebrannte Mandeln anboten und wo auch Zucker zu Watte gesponnen wurde, genau dort vor dem Schuhgeschäft gegenüber der Apotheke sei er auf einmal so komisch im Gesicht geworden. Sein rechtes Ohr sei ganz rot gewesen und er sei dann hinauf in die Obergasse, äh.. gewandelt, das heisst, äh ... gegangen, oder nein, eher, ... also man könne nicht genau sagen wie, er sei einfach dann in der Obergasse neben der Brockenstube auf dem Trottoir gelegen. Dort, sehr schnell von einer grösseren Menschenmenge umringt, habe er keinerlei Lebenszeichen mehr von sich gegeben. Mit dem eilends herbei gerufenen Rettungswagen sei er dann ins Spital gebracht worden. – So berichteten ihm seine Frau und auch später eintreffende Besucher übereinstimmend.
Über die Art und Weise, wie Orecchio von der Marktgasse in die Obergasse gelangt war, gab es sowohl in der Presse und vor allem auch in der stammtischlichen und plaudertäschlichen Gerüchteküche sehr viele verschiedene Ansichten, welche auch hemmungslos verbreitet wurden. Zum Teil widersprachen sich die Berichte der Augenzeugen tatsächlich auf haarsträubende Art, dennoch war aus allen heraus zu spüren, dass der doch beachtenswerte, spontane Standortwechsel von Orecchio, den natürlich alle bei seinem bürgerlichen Namen nannten, irgendwie als geheimnisvoll, seltsam, um nicht zu sagen „phantastisch“ empfunden worden war.
Nach seiner Entlassung aus dem Altstätter Spital, welche erfreulicherweise schon nach wenigen Tagen erfolgen konnte, und wo nach umfassender Betreuung und trotz intensiver Untersuchungen ausser totaler Erschöpfung und einer Kreislaufschwäche bei Orecchio keine anderen, eventuell lebensbedrohenden Krankheitszeichen festgestellt werden konnten, gelang es dem, auf seltsame Weise sich selbst abgestossen Habenden, in seinem Kopf einigermassen Klarheit über die verworrene Situation zu schaffen.
Orecchio hatte während der drei Tage, die er noch zu Hause, sich der Ruhe und Rekonvaleszenz hingeben müssend, verbrachte, ausreichend Zeit und Gelegenheit, das aussergewöhnliche Marktereignis tiefgründiger zu überdenken. Er konnte mit einer Art fröhlichem Entsetzen feststellen, dass er, bei entsprechender Konzentration natürlich, fähig war, sich dank seiner Ohrenkraft auf fliegend-schwebende Art fort zu bewegen. Kurze Trainings- und Testeinheiten während der Abwesenheit seiner Familie bestärkten ihn in seinen Erkenntnissen und lieferten auch den Beweis, dass er, ausgeglichene Verfassung und gutes Flugwetter vorausgesetzt, sogar längere Strecken mit seinem Ohr fliegen konnte.
Bis heute ist es Orecchio gelungen, seine besondere Kraft und auch ein, man darf schon sagen, beispielhaftes Familien- , Berufs- und Gesellschaftsleben unter einen Hut zu bringen. Er nutzt seine Kraft dann und wann, übt sogar noch mit dem linken Ohr, lebt aber dennoch glücklich und völlig unbehelligt sein reich erfülltes Leben.


© Jack E. Griss


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