Das Angebot ©2005 by Jack E. Griss

Nachdenklich, mit einem verklärten Lächeln, sass Vitus in der schon ordentlich wärmenden Frühlingssonne auf der kleinen Bank im Garten seines Hauses. Er liess noch einmal alle die vielen Glückwünsche, die Gespräche und Darbietungen an seinem geistigen Auge vorbeiziehen, welche er auf der Feier zu seinem 60. Geburtstag geniessen durfte. Wirklich, – er hatte es genossen! Zusammen mit seiner Frau, den Kindern und Enkelkindern, Freunden und Bekannten! Natürlich waren auch die engeren Verwandten dabei und -- leider auch einige wenige Gäste, deren Anwesenheit bei Vitus keine grosse Begeisterung zu entfachen vermochte, die jedoch aus schwer erklärbaren Gründen einfach eingeladen werden mussten! Er konnte sich eines gewissen Gefühls des Stolzes nicht erwehren: Er, - ja er sass da an einer Feier und im kleinen Saale waren Vertreter von vier Generationen versammelt, von denen er, zumindest an diesem, seinem Geburtstag, der Mittelpunkt war.
Während er so vor sich hin sinnierte, war es ihm, als riefe eine Stimme nach ihm. Trotz grösster Bemühungen vermochte Vitus jedoch niemanden zu sehen. „Vitus!“, so vernahm er nun wiederum die Stimme, „Vitus, möchtest du nicht gerne zehn Jahre jünger sein? Ich könnte dir diesen Wunsch erfüllen!“ Nun war ihm allerdings ein gehöriger Schreck in die Glieder gefahren. Er erhob sich, blickte um sich und räusperte sich verunsichert, sozusagen um fest zu stellen, dass er nicht träumte. „Du kannst mich nicht sehen, Vitus!“, liess sich die Stimme vernehmen, „Ich bin auch kein böser Geist und keine Märchenfee. Ich bin einfach da, um dich zu fragen, ob du mir zehn Jahre deines vergangenen Lebens geben würdest und ich könnte dich dafür zehn Jahre jünger machen!“
Eigenartiger Weise verhielt sich Vitus in dieser doch etwas ungewöhnlichen Situation absolut ruhig und fand den Vorschlag durchaus überdenkenswert. Er begann sogleich angestrengt zu überlegen, welche Dekade seines Lebens er nun gegen die angebotene Verjüngung einzutauschen bereit wäre. Leicht würde der Entscheid wohl nicht zu fällen sein, da mit der Vergabe eines Lebensabschnittes auch die Erinnerungen daran verfliegen würden!
Vielleicht die ersten zehn Jahre? Von den ersten 3-4 Jahren wusste er sowieso so gut wie gar nichts und dies zum grossen Teil auch nur durch die Erzählungen seiner Eltern. Also die ersten zehn Jahre könnte er ohne weiteres….aber, halt! - Wo blieben dann die Ereignisse um den ersten Schultag? Die lustigen Streiche aus der Volksschulzeit? Die erste Schulreise? Die ersten langen Hosen? Und, und, … hunderte, für ihn ungemein wichtige, erste Dinge waren da passiert! - Nein, diese Dekade wollte er nicht missen. Es wäre, als würde man dem Jahr den Frühling rauben!
Über den Entscheid für die nächsten zehn Jahre brauchte er nicht lange nach zu denken. Wegweisende Meilensteine für sein ganzes Leben waren in diesem Abschnitt gesetzt worden. Liebeskummer und gewaltige Prüfungsängste, erste, zaghafte Begegnungen mit dem anderen Geschlecht und der Kampf um das Loslassen von Zuhause, Mutproben und Besäufnisse, Führerschein und militärische Tauglichkeitsprüfung. Wie kleine, nostalgische Filme zogen dutzende von Sequenzen an ihm vorbei, nötigten ihn gar, in der Vergangenheit zu verweilen. Dennoch kam er zum Schluss: Auf diese Jahre konnte und durfte er nicht verzichten!
Nun, die Jahre zwischen zwanzig und dreissig erschienen ihm auf den ersten Blick nicht so turbulent oder gar eminent wichtig gewesen zu sein. Als sich jedoch der Sturm im Kopf, den ihm die Gedanken an die Teenagerjahre entfacht hatten, etwas gelegt hatte, sah in der dritten Dekade seine Familiengründung vor sich. Bedeutsame Ereignisse in seinem Berufsleben, welche sehr entscheidend für sein weiteres Leben waren. Ausserdem sah er die schönen Erfolgserlebnisse, welche er mit seinem Hobby erzielt hatte. Na gut, ob er eventuell wenigstens das letzte Jahr dieser Dekade, in dem eben die Familiengründung geschah, behalten …..
„Vitus! Du bist nun schon mehr als eine Stunde am Überlegen. Du musst dich entscheiden! Übrigens das mit dem letzten Jahr behalten, das kannst du dir aus dem Kopfe schlagen!“
Etwas verstört stiess Vitus einen tiefen Seufzer aus und dachte an den vierten Zehnjahresabschnitt seines Lebens. Langsam wurde er etwas unruhig, machte einen Gedankensprung in den fünften Abschnitt, dann drängten sich ihm wieder Gedanken aus der 60.Geburtstagsfeier dazwischen. Plötzlich schossen ihm gar Gedanken an die relativ bald bevorstehende Pensionierung durch den Kopf. Der arme Mann war wirklich hin und her gerissen. Die intensive gedankliche Auseinandersetzung mit seinem früheren Leben, die unwirkliche Stimme, welche er in seiner Versunkenheit immer wieder ausgeblendet hatte, brachten ihn in einen Zustand, den er in diesem Moment als eher bedrohlich, denn als Chance empfand. Weshalb sollte er denn überhaupt jünger sein? Was sollte ihm dies bringen? Ob die Stimme nicht etwa gar eine Halluzination … Unsinn: Er war ja in einem gesundheitlich beneidenswerten Zustand! Er sah keinerlei Veranlassungen, von diesem seltsamen Angebot Gebrauch zu machen.
Natürlich gab es Momente in seinem Leben, welche er gerne vergessen und verschenkt hätte. Aber selbst die grausamsten und schmerzhaftesten Augenblicke schienen ihm unablösbar mit der Zeit, mit seiner Lebenszeit verknüpft zu sein. Ausserdem war ja da offensichtlich die Bestimmung: Ein ganzes Jahrzehnt und nicht nur Bruchstücke daraus! Je länger desto mehr wurde ihm klar: Ein ganzes, vertrautes, von ihm durchlebtes Jahrzehnt einfach wegzugeben für eine neue, völlig offene, unbekannte Lebensspanne war unmöglich für ihn.
Vitus stiess einen schweren Seufzer aus und atmete plötzlich ungestüm tief durch, als hätte er für längere Zeit die Luft angehalten gehabt. Fragend liess er seinen Blick im Garten umherschweifen, als suche er wiederum die Stimme. Plötzlich spürte er fast körperlich, wie er mit seinen Gedanken wieder in das Jetzt zurückkehrte. Schneeglöcklein und Narzissen schienen ihm zuzunicken und zu sagen: Ja, Vitus es ist wieder Frühling. Ein phantastischer Frühling im Herbst deines Lebens!
Nun bohrte sich Vitus mit seinen Gedanken in den gegenwärtigen Moment und er erkannte, dass er ja auch ohne die Annahme des verlockend klingenden Angebotes noch eine völlig offene, unbekannte Zeit vor sich hatte. Er sinnierte noch einmal, und diesmal wieder mit entspannter Genüsslichkeit, über sein schönes Geburtstagsfest. Und halblaut sagte er vor sich hin: „Nein, danke!“ Als Vitus keine Antwort auf seine Äusserung vernahm, stand er auf, streckte sich und sagte zu sich selbst: Ich fühle mich zehn Jahre jünger! Dann lachte er so laut, dass die Sonne, die gerade hinter dem nahen Hügel verschwinden wollte, noch einmal für einen Augenblick in ihrem Laufe innehielt.


© Jack E. Griss


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Beschreibung des Autors zu "Das Angebot"

Vitus (der Lebende) wollte nichts aus seinem vergangenen Leben wiederholen oder besser machen, - trotz Angebot!

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