Es gab einmal eine Zeit, da war der Mensch ganz alleine. Er hatte gar kein Gedächtnis und er hielt sich in seinem Stolz für unendlich. Er irrte durch schwarze Wälder, baute umfriedete Ställe für schwarze Schafe, er sang laute Lieder unter der Dusche und er versteckte sich in einem Gemisch aus Freiheit und Terrorismus. Manchmal bellte er den Mond an, dachte aber dabei an etwas Unbestimmtes in der Ferne – an etwas das aussah wie eine goldene Kugel. Doch wenn er sich ihr näherte, dann sah es aus wie eine Ratte, eine Spinne, ein Kamel oder auch nur wie eine Schachtel Zigaretten, die gerade in einem Whiskyglas ertrank.

Müde nach seinen irrenden Tagen, die sich in seine irre Welt verirrt hatten blickte er irrsinnig an sich herunter. Und während er so an sich herunterblickte, wünschte er sich ein Bild von sich mit keinen Haaren auf den Unterarmen, eines mit aufgewölbten, glatten Brüsten, mit schlanken feingliedrigen Fingern am Ende schöner Hände, die wiederum am Ende von haarlosen, schönen Unterarmen zu finden sein sollten.

Erschrocken blickte er auch auf sein Geschlecht, fragte sich nach dessen Sinn oder Unsinn, erschrak dabei noch einmal und wünschte sich, daß es etwas in seinem Blickfeld gäbe, das an dieser Stelle etwas anderes habe. Etwas, das geheimnisvoll in eine heimelige Tiefe gehe und diese heimelige Tiefe wiederum seine verarmte, leergehasste Phantasie bereichern würde, mit einem blühenden Sein voller Honigdüfte – wenn es so etwas überhaupt gab – damit er sich bereichern könne an einem Leben im Rausch!

Wieder bellte er den Mond an, doch der konnte ihm auch nicht helfen. Aber eine Wolke kam vorbei, blähte die Backen und sie blies einen eigentümlichen Frieden in das Herz des einsamen Menschen, der darauf in einen einjährigen Tiefschlaf verfiel, aus dem er nur zeitweise in Traumphasen auftauchte, die nur etwas weniger tief als sein Tiefschlaf waren.

Im Traum ging er einsame Wege durch schwarze Wälder, baute umfriedete Ställe für schwarze Schafe, sang lauter Lieder unter der Dusche und er versteckte sich hinter einem Fell aus dichten, verfilzten Haaren. Er achtete nicht auf den Mond und bellte etwas in einer unbestimmten Ferne an, das aussah wie eine Spinne, eine Ratte oder wie ein Kamel. Doch als er, träumend, näher kam sah es aus wie er selbst. Aber er war haarlos geworden, außer am Kopf, er hatte schöne schlanke Arme mit feingliedrigen Händen und er duftete wie ein ganzer Garten aus exotischen Räuschen und Terrorismus.

Schließlich erwachte der Mann aus seinem einjährigen Traum, konnte sich aber nicht mehr bewegen, denn er war zu einem einzigen Glied geworden! Alle anderen Glieder waren ihm abgestorben, doch sein Gehirn besaß an Stelle der leergehassten Phantasie eine ganz konkrete Sehnsucht: riesengroß stand sie im Freien Raum und diktierte ihm seine Gedanken. Da wusste er auf einmal wer er vielleicht war, vielleicht auch nicht.

Von nun an hielt der Mann Ausschau nach etwas, das aussah wie er selbst und doch wieder nicht, das träumte und handelte wie er selbst und doch wieder nicht – er dachte an eine Mischung aus sich und dem Mond – das genauso dachte wie er selbst. Doch an dieser Stelle musste sogar er herzhaft lachen, denn er wusste: das konnte nicht gut gehen… Aber er stellte sich jemanden vor, der etwas konnte was er nicht konnte. Das sollte doch möglich sein. Dabei fiel ihm siedend heiß ein, daß er eigentlich eine Mutter gehabt haben müsste. Und auf einmal wurde er endlich! Er fing an zu fließen, drehte sich wie eine Amöbe mehrmals um die eigene Achse, orientierte sich um, fiel von sich ab und entstand auf seiner Rückseite neu – völlig fremd zu sich selbst – als ein anderes Wesen.

Erschrocken, aber erfreut zugleich blickte er in den Spiegel um festzustellen was sich da hinter seinem Rücken herausgebildet hatte. Dann traute er seinen Augen nicht, denn er entdeckte ein goldiges Bild…wunderschöne große, vertrauenswürdig wirkende Augen schauten aus einem runden Gesicht, das von einem Strahlenkranz üppigen Haupthaars umgeben war. Unwillkürlich entglitt dem Manne ein obszön klingendes Pfeifen, das sich ganz von selbst seinen gespitzten Lippen entrang. Wenig später entdeckte er an diesem seinem rückwärtigen Spiegelbild Dinge die ihn an das pure Entzücken glauben ließen und er dachte sofort auch, dieses Spiegelbild dächte nur an das pure Entzücken.

Verzweifelt drehte sich der einsame Mensch um, nur um plötzlich nicht mehr einsam zu sein und durch schwarze Wälder zu irren, um nicht mehr umfriedete Ställe für schwarze Schafe zu bauen, sondern Ziegen zu hüten, um nicht mehr unter der Dusche zu laut zu singen, sondern vom Bett aus flüsternd die Sterne zu zählen, oder gierig nach sternigen Schnuppen zu schnuppern. Um nicht mehr den Mond anzubellen, sondern sich anbellen zu lassen. Kurz: Um nicht mehr so zu sein wie er war!

Im Verlauf dieser Anstrengungen fiel seine Rückseite krachend von ihm ab, wurde zu einem selbständigen, lebendigen Phänomen. Sein Traum wurde wahr – er war plötzlich verheiratet! Nebenbei registrierte ihn dieses nunmehr selbständige Phänomen. Sogleich kritisierte es ihn, bog ihn grade, denn er hatte sich beim Umdrehen den Hals verrenkt, und es setzte ihm dabei an die Stelle im Gehirn, an der einst die leergehasste Phantasie und später die konkrete Sehnsucht gehaust hatte, einen neuen, vertrauenswürdigen Irrtum, der von nun an sein ganzes Denken ausnahmslos beherrschen sollte…

Zufrieden gingen der Mensch und das Mädchen in eine verschiedenartige Zukunft hinein, die früher nur einfältig gewesen, jetzt aber zwiespältig war. Sie gingen Hand in Hand, Arm um Arm, Mund auf Mund, Körper in oder um Körper, mit weit voneinander entfernten Gedanken, die sich bei jedem ihrer Schritte weiter voneinander entfernten. Doch sie gingen glücklich, denn sie übersahen auf einmal beide: Daß sie von Natur aus fürchterlich gleich waren. Und sie waren einander wert!


© Alf Glocker


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